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Das Buch

Pietro Rinaldi hat mit dem Leben abgeschlossen. Seit seine Frau gestorben ist, bleibt er am liebsten allein. Mit seinen Zeitgenossen will er möglichst nichts mehr zu tun haben ... Bis ein schlimmes Ereignis dafür sorgt, dass sich Pietro um seinen Enkel im Teenageralter kümmern muss. Diego bringt den alten Mann wieder auf Touren. Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Großvater und Enkel setzen sich in Pietros altes Citroën DS Pallas Cabriolet und fahren von Genua nach Rom, mit offenem Verdeck die ligurische Küste entlang. Auf dem Rücksitz thront der riesige Hund der Familie und wird Zeuge der Dialoge zwischen dem Alten und seinem Enkel. Es wird eine Reise, die in ihren Höhen und Tiefen für beide lebensverändernde Erkenntnisse bereithält.

Der Autor

Lorenzo Licalzi, geboren 1956 in Genua, leitete ein von ihm selbst gegründetes Seniorenheim, bevor er das Schreiben zum Beruf machte. Sein erster Roman »Io no«, war ein großer Erfolg und wurde für das italienische Kino verfilmt.

»Signor Rinaldi kratzt die Kurve«, 2015 in Italien erschienen, war dort für den Premio Bancarella nominiert und ist sein erstes Buch in deutscher Übersetzung. Der Autor lebt in Pieve Ligure.

Lorenzo Licalzi

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Roman

Aus dem Italienischen
von Luis Ruby

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Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

Der Autor dankt Anke Krügel, seiner ersten
deutschen Leserin.


ISBN 978-3-96161-503-2


Die Originalausgabe »L’ultima settimana di settembre«

erschien 2015 bei Rizzoli, Mailand.


© 2015 Lorenzo Licalzi

© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

Published in arrangement with Grandi & Associati

Covergestaltung: Favoritbuero, München

Autoenfoto: Gianni Ansaldi

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

für Camilla und Tomaso

Und als alles zerfiel,
sah keiner genau hin.

TALKING HEADS

1

Am 22. September 2008, dem Tag meines achtzigsten Geburtstags, verfasste ich gegen sieben Uhr abends den Brief, in dem ich meinen Selbstmord ankündigte. Es war kein typisch melodramatischer Abschiedsbrief voller Bedauernsäußerungen, Entschuldigungen oder selbstmitleidigem Gejammer, nein, ich ging es eher spielerisch an, der Brief sollte ein Geschenk zuallererst an mich selbst sein (ich muss zugeben, dass ich mich beim Schreiben amüsierte) und des Weiteren an meine alten Leser, für den Fall, dass man den Brief irgendwo veröffentlichen würde. »Alte Leser« deshalb, weil ich seit Ewigkeiten nichts mehr publiziert hatte und weil sie daher unweigerlich mit mir gealtert sein mussten.

Sagen wir’s einfach so, der Brief war die letzte literarische Ar­beit des Schriftstellers Pietro Rinaldi (Mailand 1928 – Genua 2008). Eines Schriftstellers von einer gewissen Geltung, wie ich hinzufügen möchte, zumindest bis zu seinem endgültigen Rückzug, der zu einem Zeitpunkt erfolgte, als er seine besten Zeiten hinter sich hatte, nämlich 1990 mit der Veröffent­lichung seines Romans Leckt mich doch alle am Arsch. Das Buch war ein Flop.

Auf dem Titel hatte ich bestanden, der Verleger war da­gegen gewesen, er hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, mich umzustimmen, aber ohne Erfolg, auch wenn er im Nachhinein betrachtet vielleicht nicht völlig unrecht hatte. Nur in Sachen Covergestaltung gab ich nach, dort hätte ich eigentlich gerne eine Hand mit hochgerecktem Mittelfinger abgebildet gesehen. Schließlich wollte ich sicherstellen, dass das mit dem Flop auch klappte (ja, der Misserfolg war tatsächlich geplant, denn dann würde man kein weiteres Buch mehr von mir haben wollen und mir damit den Vorwand liefern, das Schreiben endgültig an den Nagel zu hängen), aber um alle Eventualitäten auszuschließen, hatte ich im Vertrag noch zwei Zusätze untergebracht. Zum einen verbat ich mir jegliche Werbemaßnahmen für das Buch, die meine Anwesenheit erforderten. Zum anderen würde ich mich um keinen Literaturpreis bewerben (mit einem derartigen Titel hatte ich sowieso kaum Chancen auf den Premio Strega). Außerdem stellte ich klar, dass ich nicht die leiseste Absicht hegte, Bücher für Literaturkritiker zu signieren, zumal etliche dieser Typen in meinem Schlusskapitel Alle, die mir auf den Sack gehen namentlich aufgelistet waren. Das hatte logischerweise zur Folge, dass nur wenige Rezensionen erschienen, und diese wenigen waren mörderische Verrisse. In dem Schlusskapitel wurden übrigens auch Schriftsteller genannt.

Das einzige Zugeständnis an die Vermarktung meines Romans war gewesen, dass der Verlag Zeitungsanzeigen schalten durfte, was jedoch, wie ich später erfuhr, leider nicht gelang. Dass die Repubblica oder der Corriere della Sera eine Annonce auf die Titelseite druckte, die mit der Parole »Leckt mich doch alle am Arsch« warb, war zugegebenermaßen auch ziemlich unwahrscheinlich.

Hier also der Brief.

Morgen ist der letzte Tag meines Lebens:
Ich bringe mich um. Ich leide nicht etwa an Depres­sionen, nein, ich bin buchstäblich lebensmüde. Dass ich diese Entscheidung nicht früher getroffen habe, hat verschiedene Gründe, deren vielleicht wichtigster meine Scheu gegenüber der Aufgabe ist, das Ganze zu organisieren. Und da ist auch noch die Furcht, wiedergeboren zu werden, man kann ja nie wissen. Der Gedanke, mit allem neu anfangen zu müssen, würde mir doch sehr missfallen. Ich möchte nicht nochmal losheulen müssen, weil mir meine Rassel runtergefallen ist. Oder in Mathe nicht vorbereitet sein, obwohl ich weiß, dass ich in der Schule abgefragt werde. Oder mich in Liebesqualen verzehren, weil meine Freundin mich verlassen hat, nur um mich zwei Jahre später nicht mal mehr an ihren Namen erinnern zu können. Wiedergeboren zu werden hieße, die Last des Lebens wer weiß wie viele Male schultern zu müssen, und das muss ich nicht haben, dazu bin ich nicht bereit. Ich ertrage es mit Mühe, ich selbst zu sein, wie wäre es erst, in der Haut eines anderen
wiedergeboren zu werden, den ich noch nicht mal kenne, und der hätte dann zu vollenden, was ich unerledigt gelassen habe. Zum Beispiel leide ich unter Flugangst. So wie ich mein Karma kenne, würde ich im nächsten Leben wahrscheinlich Pilot und müsste einen Jumbojet fliegen. Darauf pfeife ich, ich will keinen Jumbo fliegen und auch sonst nichts, was die Lüfte durchpflügt. Außerdem bedeutet wie­dergeboren zu werden ja auch, dass man ein weiteres Mal alt wird und stirbt. Nein, danke. Mir reicht es, einmal alt zu werden und zu sterben, und die Flugangst behalte ich so­lange. Sterben und dann für immer verschwinden.

Gewiss ist auch denkbar, dass wir nur einmal geboren werden und uns nach dem Tod die Ewigkeit erwartet. Wenn dem so ist, dann komme ich als Selbstmörder garantiert in die Hölle. Da das Leben ein Geschenk Gottes ist, kennt der Allmächtige da sicher kein Erbarmen – wenn einer seine Gabe zurückweist, schickt er ihn also geradewegs in die Hölle. Was für eine Mimose! Kann Gott wirklich so empfindlich sein? Aber wer weiß, wenn es wirklich nach den klassischen Regeln des Christentums geht, dann haben wir ein Problem. Nehmen wir mal an, jemand bringt sich um, nicht ich, irgendjemand. Eine Sekunde später steht er vor Gott, und der sagt: »Ab in die Hölle mit dir.« Das wäre keine schöne Nachricht. Ich stelle mir den ­Dialog wie folgt vor:

»Wie, in die Hölle?«

»Ich hab dich gewarnt, du wusstest es seit dem Erstkommunionskurs.«

»Ach komm, Gott, das geht doch nicht.«

»Und ob das geht. Was glaubst du, wie oft ich diese Reaktion schon gesehen habe, vor allem bei den Linken ... Die kommen hier an und sind völlig von den Socken. Ich habe dir das Leben geschenkt, und du hast es dir genommen, also kommst du in die Hölle.«

»Nicht doch, ich bitte dich ...«

»Jetzt kommst du mir mit Bitten! Zu spät.«

»Lass uns doch in Ruhe reden ... Ich habe mir das Leben genommen, okay, aber davon ab­gesehen, scheint mir, war ich kein großer Sünder.«

»Davon abgesehen? Du hast dich umgebracht, findest du das wenig?«

»Schon klar, ich habe mich umgebracht, aber ... Entschuldige mal, nur so aus Neugier, was ist eigentlich aus Pippo Pardieri geworden?«

Gott denkt einen Moment lang nach, dann sagt er: »Paradies.«

»Paradies? Das gibt’s doch nicht! Der hatte doch alles Mögliche auf dem Kerbholz ... Schmiergelder, geheime Verbindungen bis in mafiöse Kreise, der hat diverse arme Schlucker übers Ohr gehauen, und außerdem, ich weiß nicht, ob dir das bekannt ist, er hat auch noch meine Frau gevögelt ...«

»Ich weiß, natürlich weiß ich das! Aber auf dem Sterbebett hat er Reue geübt.«

»Ach, großartig, auf dem Sterbebett hat er Reue geübt, aber nicht in meinem Bett, und was soll er bereut haben, wenn ich fragen darf – dass er meine Frau gevögelt hat?«

»Seine Reue war eher allgemeiner Natur.«

»Na klasse, dann leck mich doch am Arsch. Da macht einer jeden Scheiß, der ihm in den Sinn kommt, solange er’s hinterher nur bereut ...«

»He! Immer sachte, pass auf, wie du mit mir redest!«

»Ach ja, warum denn, was hast du sonst mit mir vor? Mehr als in die Hölle schicken kannst du mich ja wohl kaum.«

»Es gibt Hölle, und es gibt Hölle.«

»Nein, im Ernst jetzt ... Also wirklich, Gott, willst du mir etwa weismachen, es gibt da Kreise wie in der Göttlichen Komödie

»Nein, Dante ist reines Geflunker, der hat sich das alles bloß ausgedacht. Den habe ich übrigens auch in die Hölle geschickt.«

»Du hast Dante in die Hölle geschickt, weil er die Göttliche Komödie geschrieben hat?«

»Die Göttliche Komödie hatte damit nichts zu tun. Es gibt da ein paar Dinge, die du nicht weißt, Sachen mit Beatrice, und überhaupt, wenn du gestattest, sind wir die Verfasser der Bibel, die verkauft sich übrigens wesentlich besser als Dante.«

»›Wir‹? Ist das ein Majestätsplural?«

»Nein, ich sagte ›wir‹, weil wir die Bibel zu dritt geschrieben haben.«

»Zu dritt?«

»Klar doch, schon mal von der Heiligen Dreifaltigkeit gehört?«

»Also bitte ... Gott ... Du hast die Bibel zusammen mit Jesus und dem Heiligen Geist
geschrieben? Ich fasse es nicht ... Dann gibt es also auch Luzifer, die Flammen und den ganzen Scheiß?«

»Nenn du es nur Scheiß.«

Auch ohne Flammen und Luzifer wäre eine Hölle denkbar: Sie könnte zum Beispiel darin bestehen, sich in alle Ewigkeit zu langweilen, und zwar allein. Das wäre tausendmal schlimmer als jede Strafe, die Dante sich ausgedacht hat. Merkwürdig, dass der sommo poeta nicht darauf gekommen ist, aber vielleicht erschien ihm diese Strafe fantasielos, zu naheliegend. Und doch, man stelle sich mal einen Menschen vor, der mutterseelenallein in der Einöde steht und nirgendwohin sonst kann, weil die Lage überall dieselbe ist, oder noch schlimmer, es gibt nur einen einzigen Ort, und dort leidet er weder Hunger noch Durst, weder Kälte noch Hitze, nur eine unermessliche, endlose Langeweile. Wäre das nicht tausendmal schlimmer, als in Strömen von Blut zu schwimmen oder in stinkendem Schlamm festzustecken oder von wilden Hündinnen verfolgt oder von Harpyien zerrissen zu werden? Sicher, gewaltige Felsbrocken hin und her schieben zu ­müssen, und das für immer und auch außerhalb der üblichen Arbeitszeiten, dürfte eine furchtbare Mühsal sein, aber ich würde es ­einer ewigen und gelangweilten Einsamkeit doch vorziehen. In jenen zehnten Kreis der Hölle, den schrecklichsten von allen, würde ich jene verbannen, die sich der schlimmsten Sünden überhaupt schuldig machten, jedenfalls in meinen Augen: der Kleinlichkeit und der Heuchelei.

Also angenommen, es gibt die Hölle, dann sollte niemand dort hingeschickt werden, weil er den Mumm hatte, sich umzubringen, oder weil der zum Leben ihm fehlte, und schon gar nicht ausgerechnet vom Schöpfer selbst, denn der hat uns schließlich erschaffen. Statt sich also für sein Werk zu entschuldigen, wirft er einen in die Hölle?

Ich kann ruhig einen Schlussstrich ziehen. Außerdem haben wir die Hölle sowieso schon hier auf Erden. Wie könnte man so diabolisch sein und sich etwas noch Schlimmeres ausdenken? Allerdings halten ja die meisten Leute das Leben tatsächlich für schön. Zumindest sagen sie das andauernd. Sie denken in Klischees, bis das Leben sie schlagartig eines anderen belehrt. Der Sonnenuntergang, die Wunder der Natur, die Emotionen ... Alles ­Unfug, zu nichts gut als zu schlechter Poesie. Wenn einen das Leben hart anfasst, und das ist die Regel, nicht die Ausnahme, dann scheißt man auf die Wunder der Natur. Sicher, da wäre noch die Liebe. Trügerisch. Gerade die Liebe macht einen fertig. Bleibst du am Leben, ver­lierst du die Menschen, die du liebst; stirbst du, so verlieren sie dich. Das Leben ist grau­sam, der einzige Trost besteht darin, dass einem das erst spät klar wird, und wenn man kein Kretin ist, so gelingt es einem bis dahin, ab und zu glücklich zu sein. Tatsächlich merken es manche allerdings ­sofort, da braucht man nur am falschen Ort oder im falschen Körper geboren zu sein, etwa mit einem Gebrechen. Alle anderen merken es dann, wenn sie alt werden.

Ich bringe mich morgen um, weil ich später vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu habe. Klar, ich könnte mich genauso gut auch erst in einem Monat umbringen oder in zwei. Aber wer weiß, was bis dahin alles passieren kann? Ich meine, bei Leuten in meinem Alter. Man trifft sie auf der Straße, und es geht ihnen gut, so gut es halt gehen kann mit achtzig Jahren, jedenfalls sind sie gut zu Fuß, ­trippeln mit ihrem Einkaufsbeutelchen dahin oder führen einen scheußlichen kleinen Hund an der Leine oder ihre scheußliche kleine Frau an der Hand, und wenn man dann fragt: »Wie geht’s?«, kommt die Antwort: »Kann nicht klagen, Gott sei’s gedankt.« Aber Gott, der sich einen Dreck um ihre Dankbarkeit schert, lässt sie sich einen Monat später den Oberschenkelhals brechen, und zwei Monate später sitzen sie gelähmt im Rollstuhl, mit Katheter oder in Windeln und einer Pflegerin aus Osteuropa ausgeliefert (oder ihrer Frau, das ist noch schlimmer). Und wie soll sich da dann einer das Leben nehmen, guten Grund hätte man ja jetzt, aber ob es auch klappt, ist die Frage. Nein, dieses Risiko will ich nicht eingehen. Dass ich noch bis morgen Vormittag warte, liegt daran, dass ich, wenn ich nun schon so weit gekommen bin, auch die Achtzig noch vollmachen will, aber direkt an meinem ­Geburtstag Selbstmord zu begehen, würde mir auch nicht passen. Ich kann Leute nicht ­leiden, die sich an Weihnachten umbringen oder am Tag ihres Geburtstags, das ist doch der Gipfel des Selbstmitleids, und unter ­allen Schwächen, die ein Mensch haben kann, sehe ich Selbstmitleid als die unwürdigste an. Um zu verhindern, dass jemand meine Tat – Tag hin, Tag her – in diesem Sinne ­missverstehen könnte, hätte ich durchaus noch eine Woche gewartet, von mir aus auch zwei, aber dann rief mich gestern meine ­Tochter an, um mich zur Feier des Anlasses zum Mittagessen einzuladen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht abzulehnen, ihr war das wichtig, und außerdem, sagte sie, würde sie mir eigens Ravioli machen. Ein schöner Teller Ravioli – und die meiner Tochter, muss ich sagen, sind ganz hervorragend –, das war eine durchaus ver­lockende Aussicht, doch ging sie mit einer anderen Aussicht einher, die ich unerträglich fand, nämlich der auf ein ganzes Mittagessen in Gesellschaft meines Schwiegersohns, eines Klugscheißers, der einen schlauen Spruch nach dem anderen absondert – die meisten hat er aus den Medien –, und das mit einer Miene, als würde er große Neuigkeiten verbreiten, und gerne mindestens zwei Stunden am Stück (also viel länger, als man braucht, um seine Ravioli zu essen). Deshalb entschied ich mich dazu, den Abschied vorzuziehen, denn ich hatte meiner Tochter ja schon zugesagt, daran war nichts mehr zu ändern.

Zur Mittagszeit werde ich also tot sein, ich gedenke mich gleich nach dem Frühstück umzubringen (erst gehe ich noch runter in die Bar und gönne mir den letzten Cappuccino mit der letzten Creme-Brioche meines Lebens). Nur schade, dass ich das Gesicht meines Schwiegersohns nicht mehr sehen kann, wenn dieser eingebildete Fatzke mich findet (aber wer weiß, vielleicht flattere ich ja außerhalb meines Körpers herum, dann sehe ich ihn doch). Ich kann mir die Szene genau vorstellen. Sobald Roberta merkt, dass ich nicht komme, wird sie bei mir zu Hause auf dem Festnetz anrufen, mein letztes Handy habe ich nämlich vor drei Jahren weggeworfen. Da ich dann schon im Koma liegen werde und überdies alleine wohne (ich bin verwitwet, meine Frau Sara ist vor sieben Jahren gestorben), wird niemand rangehen, sie wird also in wachsender Unruhe noch ein wenig warten, um sich dann gegen eins so richtig Sorgen zu machen, und dann schickt sie meinen Schwiegersohn los, damit er nachsieht, was passiert ist. Mein Schwiegersohn steigt völlig entnervt und mit einem Bärenhunger in sein Auto (eine Vorstellung, die mich königlich amüsiert) und fährt zu mir. Er klingelt erst, und weil keiner aufmacht, öffnet er mit dem Ersatzschlüssel die Tür, ruft zwei- oder dreimal meinen Namen und findet mich schließlich mausetot. Ich glaube nicht, dass er sich vor Schmerz die Haare ausreißen wird, die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit, aber er wird ein unaussprechliches Bedauern darüber empfinden, dass ihm die Ravioli entgehen. Dabei wird er die sicherlich am Abend doch noch kriegen, wenn er zu der gramgebeugten Roberta sagt: »Was meinst du? Soll ich Diego was zurechtmachen?« (Das ist mein Enkel, den ich nie zu Gesicht bekomme.) »Der Arme ist sicherlich hungrig, er hat den ganzen Tag nichts gegessen. Du hast doch die Ravioli gemacht, vielleicht setze ich einfach Wasser auf und brühe sie auf ...«

Für Roberta tut es mir natürlich leid, für sie wird das ein harter Schlag, aber wenn erst ein wenig Zeit vergangen ist, wird auch meine Tochter sich berappeln und wieder lachen können, vielleicht über einen Komiker im Fern­sehen. In jedem Fall ist der Schmerz, den mir das Leben verursacht, größer als jener, den ich ihr durch meinen Selbstmord bereite. Also wähle ich den Tod. Ich bin Egoist. Wie alle anderen auch. Der Egoismus ist stärker als alles, nur der Liebe ist er unterlegen, sie ist die einzige Kraft, die ihn zu überwinden vermag; doch Liebe gibt es nicht genug, ­während der Egoismus weit verbreitet und tief in uns verwurzelt ist. Egoismus ist der Motor, der die Welt bewegt, deshalb läuft es ja so miserabel; gleichwohl wären wir ohne ihn längst ausgestorben.

Das eigentliche Problem ist nun das Wie.

Zwei der beliebtesten Methoden verwerfe ich auf der Stelle: Erschießen und Abgase.

Mich zu erschießen kommt nicht in Frage, weil ich über keine Pistole verfüge, ich wüsste gar nicht, wo ich eine hernehmen sollte (mit meinen achtzig Jahren fände ich es abwegig, durch die Gassen von Genua zu ziehen und irgendwelche dubiosen Typen zu fragen, ob sie vielleicht jemanden kennen, der mir ein Schießeisen verkaufen könnte). Und selbst wenn ich an eine Waffe herankäme, wüsste ich gar nicht, wie ich die Munition einlegen und das Ding durchladen sollte (die Wahrscheinlichkeit, dass ich mir versehentlich in den Fuß schieße, wäre ausgesprochen hoch). Überdies wüsste ich nicht recht, wohin ich genau schießen soll, sicher würde ich Ewigkeiten damit verbringen, den Lauf der Pistole mit maximaler Unentschlossenheit bald an die Schläfe zu führen, bald an den Mund und ans Herz. Schläfe Mund Herz. Schläfe Mund Herz. Schläfe Mund Herz. Wenn dann morgen um ein Uhr mittags mein Schwiegersohn bei mir klingelte, würde ich hundertprozentig immer noch mit der Pistole an der Schläfe dastehen, und dann würde er wieder klingeln, rasch an den Mund damit, und dann noch einmal, ans Herz, und dann sperrt er mit dem Schlüssel auf, und ich schiebe die Pistole hastig in eine Schublade und flöte: »Hier bin ich, entschuldige, habe dich nicht gehört.«

Auch den Selbstmord durch Abgase verwerfe ich aus zwei Gründen. Erstens kann ich den Geruch nicht ertragen, ich bekomme davon Husten, vielleicht bin ich allergisch auf Smog, keine Ahnung. Ich müsste also an Husten sterben, so weit kommt’s noch. Wie ist er gestorben? Bei einem Hustenanfall. Zweitens will ich nicht, dass mein Wagen mir den Rest gibt, ein herrlicher Citroën DS21 Pallas mit aufklappbarem Verdeck, der zudem seit 2001 unbenutzt in der Garage steht. Falls er überhaupt anspringen würde. Außerdem steht der Tank seit sieben Jahren auf Reserve.

Die mehr oder minder praktikablen anderen Optionen sind:

A) mich von einer Brücke stürzen (aus dem Fenster ist ausgeschlossen, ich wohne nämlich im ersten Stock und könnte allenfalls aufs Dach hochgehen, aber ich habe den Schlüssel verloren, mit dem man auf die Terrasse gelangt).

B) mich an einem Baum oder an der Zimmerdecke aufhängen.

C) nachts den Gashahn aufgedreht lassen.

D) im Meer ertrinken.

E) Schlaftabletten schlucken, und zwar in rauen Mengen, damit es auch wirklich klappt, das ist in solchen Fällen ja oft fraglich.

F) mir die Pulsadern aufschlitzen.

G) Rattengift einnehmen.

H) Sonstige, etwa mich vor ein Auto werfen oder vor den Zug, nachts über die Autobahn schlendern usw.

Die Optionen A und G (und auch H), womöglich die praktikabelsten, schließe ich aus, weil ich vor dem körperlichen Schmerz zurückschrecke. Ich möchte nicht auf dem Asphalt aufschlagen, das stelle ich mir unangenehm vor. Noch unangenehmer wäre der Moment vor dem Aufprall. Ich will sterben, daran ist nicht zu rütteln, aber ich will doch auch die Freiheit haben, mich jederzeit dagegen entscheiden zu können, falls ich es mir in letzter ­Sekunde vielleicht doch noch anders überlege. Das werde ich selbstverständlich nicht tun, aber hier geht es ums Prinzip. Als letzte Lebenshandlung auf das Kostbarste zu verzichten, was wir haben, den freien Willen, dieser Gedanke gefällt mir nicht. Was das Rattengift angeht, passt mir wiederum die Vorstellung nicht, mich unter grässlichen Bauchkrämpfen zu krümmen.

Option B verwerfe ich, weil ich keinen blassen Schimmer habe, wie man eine Schlinge knüpft, und ich kann das auch kaum jemanden fragen, etwa den Schwachkopf von unserem Hausmeister. Der mag zwar ein Schwachkopf sein, aber so etwas könnte ihn dann doch misstrauisch machen, und er würde mich sicherlich retten wollen und die Sache anschließend in der ganzen Nachbarschaft herumerzählen. ­Außerdem: Wenn ich mich schon nicht am Kronleuchter aufhängen kann, weil sowohl die Decke als auch der Kronleuchter in einem so jämmerlichen Zustand sind, dass sie mir entgegenkommen würden, so finde ich den Gedanken, mich an einem Baum aufzuhängen, doch ziemlich trist. Ich kann mir nicht vorstellen, von einem Ast zu baumeln. Der Tod erfordert, wie ­übrigens auch das Leben, ein Mindestmaß an Würde. Und um einen Baum zu finden, der sich zum Aufhängen eignet, ein robustes Exemplar an einem diskreten Ort (einem würdigen, wenn man so will), müsste ich den Bus nehmen, und in den Bus zu steigen, um mich umzubringen, wäre noch deprimierender als der Trübsinn selbst, der einen in den Selbstmord treibt.

Auch Option C (Gas) ist eigentlich nicht praktikabel. Zwar verläuft der Tod durch Kohlenmonoxyd, das sich um einen herum ausbreitet, schmerzfrei, man hört immer den Satz: »Sie wurden im Schlaf überrascht«, und auch wenn das keine schöne Überraschung sein mag, glaube ich doch, dass damit kein Leiden verbunden ist; aber es besteht das Risiko, dass andere dabei zu Schaden kommen. Ich muss frei­lich zugeben, dass der Gedanke, mein Schwiegersohn könnte beim Klingeln an der Tür zusammen mit einem Gutteil des Gebäudes in die Luft fliegen, einen gewissen Reiz hat (unter den Opfern wäre zudem auch der Hausmeister). Doch dann stünde der Vorfall zweifellos in den Zeitungen auf der ersten Seite, und das Letzte, was ich will, ist Aufmerksamkeit für meinen Tod.

Auch die Möglichkeit F (sich die Pulsadern aufzuschlitzen) würde ich streichen, ich hasse Blutvergießen.

Schweren Herzens verwerfe ich Möglichkeit D (Tod durch Ertrinken), weil in dem Fall zu vermuten ist, dass sich am Ende der Überlebensinstinkt durchsetzen könnte. Ich bin ­immer noch ein guter Schwimmer und würde letztlich ans Ufer zurückkehren. Im Übrigen habe ich gelesen, dass man für einen schnellen und nahezu schmerzfreien Tod durch ­Ertrinken auch den Faktor Kälte berücksich­tigen muss. Wir haben jetzt Ende September, es ist noch warm; wenn ich nicht nach Norwegen fahren will, um mich umzubringen, kann ich auch gleich versuchen, mich in der Badewanne zu ertränken (nebenbei bemerkt, eine unendlich traurige Vorstellung), was sicherlich schiefgeht. Natürlich bleibt auch noch die Option, sich einen Stein um den Hals zu binden, aber das ist mir nun doch ein wenig zu theatralisch. Und schwierig in der Umsetzung. Zuerst müsste ich einen mindestens zehn Kilo schweren Stein finden. Und was mache ich dann damit, bringe ich ihn mit dem Bus zum Strand? Da käme zu der erbärmlichen Vorstellung, in einem Bus zum Selbstmord zu fahren, auch noch die Schlepperei. Ein Taxi zu nehmen ist ausgeschlossen. Taxifahrer können ganz schöne Nervensägen sein. Wenn man ihnen lediglich sagt, wo es hingehen soll, und sich dann beschäftigt gibt oder auf ihre unvermeidlichen Fragen und Bemerkungen nur einsilbig antwortet (besonders beliebt: die Verkehrslage und die modernen Zeiten), könnte es noch angehen. Wenn der Fahrgast jedoch einen Gesteinsbrocken und ein Stück Seil mit sich führt und sich an den Strand chauffieren lässt, dann kann er so schweigsam auftreten, wie er mag, er ist von vorneherein angeschmiert. Gewiss, ich könnte auch mein Citroën-Cabrio nehmen, diesen wundervollen Wagen, den die Franzosen auch die Göttin nennen. Doch wie bereits erläutert, fahre ich schon seit Urzeiten auf Reserve, und bevor ich sterbe, noch tanken zu gehen, erschiene mir lächerlich.

»Was hat er vor seinem Tod gemacht?«

»Er war nochmal tanken.«

Der Wagen liegt mir ohnehin viel zu sehr am Herzen. Ich könnte ihn niemals einfach da draußen abstellen, für wer weiß wie lange einsam und verlassen, so kann man doch mit einer Göttin nicht umspringen. Ich will nicht, dass sie das Fahrzeug ist, mit dem ich in den Tod gehe, denn sie war für mich stets mit Freude verbunden, und mich umzubringen mag mein Wunsch sein, aber es ist deshalb noch keine freudvolle Tat. Von all diesen Erwägungen abgesehen, habe ich eigentlich schon immer gewusst, wie ich sterben möchte: Für mich besteht die beste Methode darin, eine große Menge Schlaftabletten einzunehmen. Weil Schlaftabletten alleine nicht ausreichen, habe ich nach langen Recherchen das Rezept für einen tödlichen Cocktail gefunden, zusammengesetzt aus verschiedenen Mitteln, die ich mir über die Zeit vom Hausarzt habe verschreiben lassen, unter Vorspiegelung der verschiedensten Zipperlein; nimmt man diesen Cocktail zusammen mit Psychopharmaka ein (und fügt zur Steigerung der Wirksamkeit auch noch Alkohol hinzu), so ist die Wirkung letal. So kann ich mir ganz einfach und ohne lästige Nebenwirkungen den Gnadenstoß versetzen. Ich werde einfach in engelsgleichem Schlummer ins Jenseits befördert.

Das ist alles, und mir bleibt nur, mich zu verabschieden. Also Gott befohlen ... oder auch nicht, hoffe ich.

P. S. Mein letzter Wille:
Ich bitte darum, dass mein Leichnam verbrannt und meine Asche ins Klo gekippt wird.

Bye bye Welt, vor zwanzig Jahren habe ich das nur geschrieben, jetzt kannst du mich wirklich ... kreuzweise.

PIETRO RINALDI

2

Gegen acht Uhr abends war ich mit meinem Abschiedsbrief fertig, hatte ihn nochmals gelesen und minutiös korrigiert. Da ich meinen Selbstmord für zehn Uhr vormittags geplant hatte, blieben mir noch gut vierzehn Stunden zu leben, zuzüglich Agonie. Wie sollte ich die Zeit nutzen? Ich schaltete den Fernseher ein und gab mich für eine Weile dem Zapping hin. Die Visagen sogenannter Fernsehpersönlichkeiten zogen an mir vorüber, und ich genoss außerordentlich, dass ich sie nie wiedersehen würde; schließlich waren viele von ihnen in den Top Ten meines ominösen Schlusskapitels Alle, die mir auf den Sack gehen, und zwar in der Kategorie »Berühmte Persönlichkeiten«. Leider ist die Liste inzwischen eindeutig veraltet (eigentlich sollte ich sie fortlaufend aktualisieren, was ich im Übrigen auch tue, aber nur in einem Notizbuch, das auf meinem Schreibtisch liegt), und die meisten der aktuellen Fernsehvisagen stehen daher nicht im Buch. Diese Prominenten haben eines gemeinsam, nämlich die innere Überzeugung, von ihrem Publikum geliebt zu werden; in manchen Fällen grenzt dieser Glaube ans Pathologische. Wenn ich schon dabei bin, möchte ich das hier ein für alle Mal klarstellen: Das Publikum liebt euch nicht, nicht einmal eure eingefleischtesten Fans. Sie mögen euch sehen wollen, sie mögen euch Briefe schreiben, und wenn sie euch auf der Straße begegnen, ziehen sie euch ins Gespräch, wollen Auto­gramme und Fotos, machen euch Komplimente, dass das Ego kracht, aber letzten Endes scheren sie sich einen feuchten Kehricht um euch. Böte man allen, die behaupten, euch zu lieben, einhundert Euro dafür, das nicht zu tun, sondern beispielsweise den Fernseher auszuschalten, sooft ihr auf dem Bildschirm erscheint, so würden neunzig Prozent der Leute die hundert Euro nehmen (viele wären auch für weniger Geld dazu bereit). Neun Prozent würden über den Preis verhandeln, sich aber letztlich auf den Deal einlassen, und bestenfalls ein Prozent würde sich zu keinem Kompromiss bereitfinden. Aber das sind Stalker, normalerweise erstattet ihr da Anzeige.

Ich stellte den Fernseher ab, in der befriedigenden Gewissheit, dass ich ihn nie wieder einschalten würde.

Dann sah ich auf die Uhr. Zehn nach acht. Und jetzt? Essen. Allmählich verspürte ich Appetit. Sollte ich zum Abendessen ins Restaurant gehen? Alleine in einem öffentlichen Lokal zu speisen, hat mir noch nie zugesagt, also kochte ich mir ein paar Nudeln: Penne all’arrabbiata, meine Spezialität. Gegen neun war ich mit dem Abendessen fertig. Ich steckte mir eine Zigarre an, eine Havanna, die ich mir eigens für den Anlass besorgt hatte, und gönnte mir dazu einen Jahrgangsrum, der fast noch älter war als ich. Dann schaltete ich den Fernseher doch wieder ein (die Macht der Gewohnheit). Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass diejenigen, die sich damit brüsten, dass sie »nie fernsehen« oder »gar keinen Fernseher haben«, im Kapitel »Alle, die mir auf den Sack gehen« ausführlich vorkommen. Ich sehe gerne fern, das unterhält mich, wenigstens fühle ich mich dann nicht allein. Ich mag Talkshows, Serien, Sportsendungen, sogar Talentshows oder Reality-TV (für die erste Big-Brother-Staffel sind Sara und ich sogar bis spätabends aufgeblieben). Auch Unterhaltungssendungen schätze ich. Sie sagen mir zu, wenn sie gut gemacht sind, und wenn sie schlecht gemacht sind, auch, ich sehe mir gerne mal etwas richtig Scheußliches an, da erkennt man, was alles möglich ist. Mit der Zeit hat sich die Scheußlichkeitsskala immer noch weiter ausgedehnt. Von bestimmten Gestalten und ihren Geschichten bin ich geradezu fasziniert. Natürlich in entsprechender Dosierung, nur als staunende Zwischenstation beim Zappen. Aber unter dem Strich hat mir diese leuchtende Kiste mehr als alles andere die Welt vermittelt. Nun verabschiede ich mich bereitwillig von der Welt und daher ebenso bereitwillig vom Fernsehen.

Ich legte mich zum letzten Mal in meinem Leben schlafen, nur um gegen zwei Uhr zum letzten Mal wieder aufzuwachen und danach kein Auge mehr zuzutun. Den Rest der Nacht grübelte ich über meinen Selbstmord nach. Eigentlich wäre es mir lieber gewesen, schlafen zu können, aber dazu hätte ich mindestens drei Tavor schlucken müssen, und ich fürchtete, die übrigen könnten zum Sterben nicht mehr ausreichen. Schon klar, ich habe sechs Schachteln und dann noch das ganze andere Zeug, aber eine ist schon über dem Verfallsdatum.

Um sieben Uhr quälte ich mich aus dem Bett. Kaum hatte ich die Füße auf den Boden gesetzt, kam mir der Gedanke: »Heute ist mein Todestag.« Das Privileg, dieses Datum zu kennen, ist nur wenigen gegeben, vor fünfzig Jahren hätte ich mehr (oder weniger?) davon gehabt, da hätte ich we­nigstens gewusst, dass mir noch fünfzig Jahre zu leben blieben, jetzt ist es ein wenig spät. In jedem Fall gefiel mir der Gedanke, in der letzten Septemberwoche zu sterben, das hat so etwas Nostalgisches, fast schon Literarisches. Später im Herbst zu sterben wäre viel zu traurig, im Hochsommer ist es wiederum zu heiß, im Winter zu kalt, ideal wäre der Frühling, aber bis dahin durchzuhalten, ist mir zu mühsam.

Es ist unglaublich, bei jeder Verrichtung musste ich denken: »Das mache ich jetzt zum letzten Mal.« Das ist das letzte Mal, dass ich mir die Zähne putze, das Gesicht wasche, mich rasiere (vor dem Sterben sollte man sich nach Möglichkeit immer rasieren, das ist eine Frage des Respekts, und zudem vermeidet man dadurch, als Toter rasiert zu werden, was wirklich erbärmlich ist – für den, der es tut, aber auch für den, der es über sich ergehen lassen muss). Etwas zum letzten Mal zu tun und das vorher zu wissen, hat irgendwie epische Qualität. Jede Handlung erhält einen besonderen Wert. Zu pinkeln beispielsweise war mir ein großes Vergnügen, ich habe bewusst gepinkelt, und das war durchaus spannend. Ach, ich vergaß, ich habe auch die letzte Seite meines letzten Buches gelesen, also, es war natürlich nicht von mir, ich meine, die letzte Seite im letzten Buch, das man im Leben liest. Da mir meine Tochter aus unerfindlichen Gründen kürzlich ein Buch von Margaret Mazzantini geschenkt hat, das ich in den letzten Wochen auf dem Nachttisch liegen hatte, wo ich es misstrauisch beäugte, hatte ich damit begonnen, aber auf Seite drei habe ich es dann wieder zugeklappt. Ich hatte keine Lust, bei der Lektüre eines Mazzantini-Romans zu sterben (wenngleich sie ein guter Grund wäre, sich umzubringen). Ich griff also zu dem Notizbuch, das auf meinem Schreibtisch liegt und in dem ich die Liste aller, die mir auf den Sack gehen, fortlaufend aktualisiere, und schickte mich an, unter M den Namen Margaret Mazzantini einzutragen, aber dann merkte ich zu meiner Befriedigung, dass er bereits dort stand.