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Hinweis zum Urheberrecht

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Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft - Steuern - Recht GmbH

[IV]CREABILITY: GEMEINSAM KREATIV

Prof. Dr. Martin J. Eppler, Ordinarius für Medien- und Kommunikationsmanagement, Direktor des MCM Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement, Universität St.Gallen;

Dr. Friederike Hoffmann, Leiterin von Contract Management und Billing für die Geschäftskunden der Swisscom und Dozentin an der Hochschule Luzern;

Dr. Roland A. Pfister, Leiter der Unternehmenskommunikation in der Migros-Industrie sowie assoziierter Professor an der IE Business School in Madrid und Dozent an der Universität St. Gallen.

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Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungsbeständigem Papier.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Print: ISBN 978-3-7910-3837-7 Bestell-Nr. 20165-0002
ePDF: ISBN 978-3-7910-3838-4 Bestell-Nr. 20165-0151

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2017 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft • Steuern • Recht GmbH

www.schaeffer-poeschel.de

service@schaeffer-poeschel.de

Einbandgestaltung: Malte Belau

Gestaltung und Satz: Malte Belau / Roland A. Pfister

Druck und Bindung: BELTZ Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

Printed in Germany

Juli 2017

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart

Ein Tochterunternehmen der Haufe Gruppe

[V]WILLKOMMEN ZUR 2. AUFLAGE VON CREABILITY

VORWORT

Willkommen zur 2. Auflage von Creability – gemeinsam kreativ. Auch wir selbst haben also an unseren Ideen gefeilt und sie weiter ‚aufpoliert‘, wie wir dies im Diamantenmodell von unseren Lesern fordern.

Wir haben die zweite Auflage dabei konsequent auf die Rückmeldungen ausgerichtet, die wir von Nutzern des Creability-Ansatzes in den letzten drei Jahren erhalten haben. Ihnen sei an dieser Stelle herzlich für die vielen positiven und konstruktiven Rückmeldungen gedankt. Konstruktive Kritik ist, das zeigt sich auch in diesem Kontext, das beste Mittel, um aus guten Ansätzen wahrhaft kreative Innovationen zu machen. Deshalb ist es schade, dass auch heute noch viel zu oft nach den klassischen Brainstorming Regeln („zunächst keine Kritik!“) gearbeitet wird, wenn ein Team kreativ sein möchte – und dies trotz den Dutzenden von Studien, die belegen, dass es sich dabei um keine ergiebige Methode handelt.

Deshalb ist es uns ein Anliegen, praktikable Alternativen zu liefern, die aus jeder Gruppe ein Kreativteam machen können. Dabei haben wir in den letzten Jahren jedoch bemerkt, dass es nicht ausreicht, verschiedene Entwicklungs- und Ausarbeitungsmethoden für den Kreativprozess in Teams vorzustellen. In zahlreichen Innovationsprojekten und Studien haben wir festgestellt, wie wichtig es ist, ein [VI]Team zunächst auf das kreative Arbeiten einzustimmen und es durch eine Einstiegsübung in den Kreativmodus zu bringen. Dazu finden Sie nun eine erweiterte Palette von kurzweiligen, kreativen Aufwärmübungen im Buch. Darüber hinausgehend haben wir in vielen firmeninternen Kreativitätstrainings, Seminaren und Coachings bemerkt, dass es weitere Ansätze für die gemeinsame Ideenbewertung und Selektion braucht. Auch diese einfachen Priorisierungs- und Feedbacktechniken finden Sie neu in einem gesonderten Kapitel. Neben diesen beiden Neuerungen finden Sie in der zweiten Auflage auch zahlreiche kleinere Verbesserungen und Ergänzungen. Wir freuen uns auf Ihre Anwendungserfahrungen und Rückmeldungen dazu, gerne auch über die Website zum Buch auf www.creability.ch. Dort finden Sie nicht nur alle Creability-Methoden als direkt nutzbare PDF-Vorlagen, sondern neu auch die Lösungen zu den Kreativitätsrätseln im Buch.

„MAN MUSS SICH UM KREATIVITÄT KÜMMERN. SIE IST WIE EIN KLEINKIND, DAS GENÄHRT WERDEN MUSS.”

SUSAN SONTAG

Wir hoffen, mit der zweiten Auflage von Creability den Mythos des ‚einsamen Kreativhelden‘ weiter demontieren zu können und aufzuzeigen, wie Teams ihr fantastisches kreatives Potenzial nutzen können; denn davon sind wir felsenfest überzeugt: Der beste Ort, um Ideen zu pflegen und sich um Kreativität zu kümmern ist das Team.

Martin J. Eppler, Friederike Hoffmann, Roland A. Pfister

St. Gallen, Juli 2017

[2]EINS

In diesem Einführungskapitel möchten wir Ihnen zeigen, dass Creability kein gewöhnliches Buch über Kreativität ist. Wir stellen Ihnen darin die Besonderheiten und den Nutzen des Creability Ansatzes vor. Anhand vier konkreter Beispiele möchten wir Sie dazu motivieren, Kreativität in Gruppen auszuprobieren und so Innovation eine Chance zu geben. Zum Schluss des Kapitels finden Sie einen Schnelldurchlauf durch das gesamte Buch.

EINFÜHRUNG

KREATIVITÄT ALS TEAMKOMPETENZ

Vor gut fünf Jahren hat sich einer von uns drei Autoren im Rahmen eines Kurses den Spaß gemacht, einen schriftlichen Kreativitätstest zu absolvieren (so was gibt es wirklich), den sogenannten Torrance-Test. Dieser psychologische Test ist eine Art Zwang zur Idee, denn man überprüft damit, wie schnell und flexibel jemand unter Zeitdruck Ideen entwickeln und variieren kann.

Die Resultate dieses recht schwierigen Tests waren eigentlich sehr erfreulich: Die Prüfungsauswertung bescheinigte ihm eine weit überdurchschnittliche Kreativität im obersten Segment aller Teilnehmer der Klasse. Doch statt Freude herrschte Konsternation, denn das überraschende [3]Resultat brachte ihn (und später alle drei Autoren) zu folgender problematischen Frage:

„Wenn ich wirklich so kreativ bin, warum gelingt es mir dann selten, mich und mein Team zu kreativen Höchstleistungen zu bringen?“

Oder anders formuliert: „Warum schaffen wir es nicht jeden Tag, neue und passende Lösungsideen für unsere Herausforderungen zu entwickeln? Warum greifen wir so oft zu altbekannten, konservativen Lösungen, wenn es bessere und innovativere Lösungen geben könnte? Liegt dies vielleicht an der Art und Weise, wie wir kommunizieren und zusammenarbeiten?“

PRÄMISSEN DES BUCHS

Genau diese Fragen bilden den Ausgangspunkt dieses Buchs. Es basiert auf drei zentralen Annahmen, die sich in den Jahren seit diesem Test immer klarer für uns herauskristallisiert haben:

Erstens: Jeder von uns kann – auch unter Zeitdruck – kreativ sein und tolle Ideen haben, wenn er oder sie es richtig angeht.

Zweitens: Wenn Kreativität eine Ressource für das Lösen echter, alltäglicher Probleme sein soll, dann muss sie in der Gruppe funktionieren. Wir können viele Probleme nur dann wirkungsvoll lösen, wenn wir dafür das Wissen und die Phantasie verschiedener Menschen gemeinsam aktivieren. Klassisches Brainstorming ist dafür erwiesenermaßen kein optimaler Ansatz.

Drittens: Ein Buch über Kreativität sollte nicht einfach zum Nachdenken anregen oder altbekannte Prinzipien und Kreativitätstechniken wiederholen. Es muss neue, aktive Impulse geben, um bestehende Praxisroutinen wirkungsvoll zu verändern.

Deshalb handelt dieses Buch vor allem davon, wie Sie Kommunikation in Gruppen organisieren können, sodass gute Ideen entstehen. Diese Fähigkeit, Kreativität in Gruppen dauerhaft zu ermöglichen, scheint uns heute mehr denn je von entscheidender Bedeutung zu sein, gerade auch um in einem globalen Innovationswettbewerb bestehen zu können. Sie können diese Fähigkeit nicht aufbauen, indem Sie sich in einen Sessel setzen und ein Buch über Kreativität studieren. Deshalb stellt dieser praktische und kompakte Leitfaden für das tägliche kreative Arbeiten in Gruppen auch einige Grundannahmen in Bezug auf das Lesen von Büchern in Frage. Diese Grundannahmen, die wir mit dem vorliegenden Werk bewusst relativieren, sind:

  1. Ein (gutes) Buch wird gelesen.
  2. Ein Buch wird jeweils nur von einer Person (gleichzeitig) genutzt.
  3. Ein Buch wird dadurch, dass es gelesen wird, nicht verändert.

[4]Warum entspricht dieses Buch nicht diesen Annahmen?

Es kann nicht nur gelesen werden, sondern auch individuell oder gemeinsam genutzt (z. B. ausgefüllt, gedreht, bemalt oder zerschnitten) und ergänzt werden. Es dient als visuelle Brücke zwischen Menschen (die es zwischen sich legen) und verändert sich dadurch bei der Lektüre und Nutzung. Es ist gleichzeitig Fachbuch, Methodenbrevier, Interaktionsplattform und visuelles Notizbuch. Nachdem Sie es gelesen haben, wird es (hoffentlich) nicht mehr gleich aussehen wie zu Beginn. Durch diese Interaktion mit dem Buch und mit anderen, glauben wir, können Sie eine Kompetenz aufbauen, die wir Creability nennen.

DIE CREABILITY-KOMPETENZ

Wir nennen die Fähigkeit, als Gruppe unter Zeitdruck kreativ zu sein, Creability. Creability ist die Kompetenz einer Gruppe, aus dem Stegreif heraus kreativ zu sein und Probleme mit neuen Ideen und Perspektiven gemeinschaftlich zu lösen. Creability besteht aus der Motivation, Einstellung und dem Vermögen eines Teams, anstehende Probleme kreativ zu lösen, neue Möglichkeiten und Perspektiven systematisch zu erschließen und so auch langfristig innovativ zu bleiben. Im gleichnamigen Buch versuchen wir Ihnen konkrete Wege aufzuzeigen, wie Sie diese Ad-hoc-Kreativität in Ihren Teams zum Tragen bringen können. Sie lernen darin auf abwechslungsreiche Weise, wie Sie gemeinsam kreativ sein können und im Hier und Jetzt neue, passende Lösungen für drängende Probleme entwickeln können. Daraus entsteht mit der Zeit fast automatisch eine kreative Teamkompetenz.

Im Buch zeigen wir Ihnen anhand zahlreicher Beispiele aus Organisationen von Zürich bis Hollywood, wie Sie im Alltag durch interaktive, visuelle oder spielerische Elemente innovativer sein können, neue Perspektiven entwickeln und festgefahrene Denkweisen in Ihrem Team aufbrechen können.

Wir tun dies anhand eines einfachen Bezugsrahmens (der Creability-Diamant), durch vier bewährte Prinzipien und mittels rund dreißig erprobter Methoden. Diese befähigen Sie alleine, zu zweit und vor allem in Gruppen rasch, d. h. unter Zeitdruck und quasi auf Abruf, originelle und passende Ideen zu entwickeln.

Es geht in diesem Buch also nicht um die seltenen Momente grandioser, epochaler Ideen oder um die geniale Kreativität von Künstlern, Visionären oder Forschern, sondern um die tägliche Dosis Innovation bei der Zusammenarbeit in Organisationen.

Viele der Methoden können dabei sowohl physisch vor Ort (z. B. während einer Sitzung) oder virtuell übers Internet zum Einsatz gelangen. Die meisten erfordern weder eine große Infrastruktur noch langwierige Vorbereitungen.

[5]DIE METHODEN UND IHRE UMSETZUNG

Ein großer Teil der hier dokumentierten Methoden sind neu und werden im vorliegenden Buch zum ersten Mal publiziert. Sie finden gerade einige der besonders innovativen Methoden in keinem anderen Buch und auch auf keiner Webseite im Internet. Einen großen Teil dieser neuen Kreativitätstechniken haben wir selbst entwickelt, in zahlreichen Praxisprojekten und Teams getestet und verfeinert und hier erstmalig dokumentiert. Dabei sind uns vor allem zwei Aspekte wichtig: Die direkte Umsetzbarkeit und die Illustration der Methoden anhand konkreter Beispiele.

Für die einfache Umsetzbarkeit haben wir uns bemüht, die Methoden möglichst kompakt und anschaulich zu dokumentieren und auch ihre Risiken und Erfolgsfaktorenbeim Einsatz offenzulegen. Zudem haben wir für jede Methode Einsatzvarianten beschrieben, sodass die Methode leicht an verschiedene Kontexte angepasst werden kann.

„EIN MANN, DER RECHT ZU WIRKEN DENKT, MUSS AUF DAS BESTE WERKZEUG HALTEN.”

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Als Beispiele haben wir Praxiserfahrungen aus eigenen Projekten sowie (zum Teil anonymisierte) Fälle anderer Organisationen zusammengestellt. Diese Anekdoten zeigen, was es braucht, damit eine Methode die Gruppe effektiv unterstützt. Uns ist dabei bewusst, dass die Methode nur ein Puzzleteil eines größeren Ganzen ist und allein den Erfolg nicht garantiert. Deshalb haben wir in diesen Beispielen oft weitere Kontextfaktoren (wie etwa Freiraum, Mut für Neues oder Fehlerfreundlichkeit) für kollektive Kreativität beschrieben.

Warum sind Methoden dennoch ein guter Zugang zu den kreativen Ressourcen in Gruppen? Nun, gerade in wirtschaftlich rauen Zeiten kann es sein, dass sich Ihre Kolleginnen und Mitarbeiter nicht getrauen, mutige, originelle oder verrückte Ideen in ein Team einzubringen. Hier können leicht formalisierte Methoden helfen, diese schädliche Art von Selbstzensur zu umgehen. Sie legitimieren quasi schräge Ideen und geben ihnen Raum und Zeit. Wie Kreativmethoden dies tun, möchten wir mit den zahlreichen Beispielen dieses Buches illustrieren.

[6]BEISPIELHAFTE KREATIVITÄT

Lassen Sie uns denn auch mit konkreten Beispielen beginnen, die Ihnen aufzeigen, was ein wenig Kreativität alles bewirken kann – wenn man ihr eine Chance gibt; und dies notabene auch dort, wo man normalerweise keinen Ansatzpunkt für originelle Ideen vermuten würde. Oder finden Sie, dass die Nachtschicht in einem IT-Center, die Stromversorgung in städtischen Slums, das Guerillaproblem einer Armee oder die Statussitzungen eines mittelständischen Betriebes etwas mit Kreativität zu tun haben?

Stellen Sie sich kurz die vier folgenden, gänzlich unterschiedlichen Herausforderungen vor und überlegen Sie sich, wie man das jeweils geschilderte Problem lösen könnte. Lesen Sie weiter, wenn Sie eine mögliche Lösungsidee gefunden haben:

SITUATION 1: AUSSICHT AUF NACHTSCHICHT

Sie sind im Managementteam einer großen IT-Sicherheitsfirma mit Sitz in Zürich, die viele internationale Kunden durch ein zentrales Betriebscenter betreut. Niemand in Ihrem IT-Betrieb möchte jedoch die wichtige (aber mühsame) Nachtschicht im Betriebscenter übernehmen. Da es sich bei Ihren Mitarbeitern um junge, aktive und hochqualifizierte (und damit umworbene) Profis handelt, wollen Sie nicht einfach jeden Monat eine Gruppe von Mitarbeitern zur Nachtschicht verdonnern und damit demotivieren. Es gibt jedoch auch keine Freiwilligen für diesen anspruchsvollen Schichtbetrieb.

Wie machen Sie aus diesem Problem mit ein wenig Kreativität (und Ressourcen) eine Chance? Wie konnte die Firma Open Systems mit der Lösung dieses Problems zu einem der attraktivsten Arbeitgeber in ihrem Segment werden?

SITUATION 2: ES WERDE LICHT

Sie sind Teil eines Entwicklungshilfeteams und haben das gravierende Problem erkannt, dass viele Familien, die in Entwicklungsländern in Slums leben, kein Licht in ihren Häusern haben, da Strom meist teuer oder nicht zugänglich ist. Da die Familien dicht aneinander gepfercht in selbst gebauten Hütten aus Stellwänden und Wellblechdächern leben, gibt es auch keine Möglichkeit, Fenster einzubauen. So können die Kinder in den Hütten kaum Hausaufgaben machen oder lesen. Zudem hat sich gezeigt, dass es in Hütten mit wenig Licht öfter zu gewalttätigen Übergriffen kommt als in hellen.

Wie verbessern Sie die Lebensqualität dieser Familien mit einem möglichst kleinen Budget? Wie konnten ein armer brasilianischer Mechaniker sowie Studenten des MIT in Boston oder der HSG in St. Gallen mit einer Dosis Kreativität Tausenden von Familien Gratislicht ins Zimmer bringen?

[7]SITUATION 3: DESERTIEREN MOTIVIEREN

Sie sind Berater eines Kommunikationstrupps der Armee im bürgerkriegsgeplagten Kolumbien und haben den Auftrag, die Quote an Deserteuren bei den feindlichen Guerillas im Dschungel zu erhöhen, sodass deren Truppen (gegenwärtig 6.000 Mann) weiter reduziert werden. Dabei handelt es sich aber um die älteste Guerillatruppe der Welt, mit einer starken Kultur und hohen Loyalität unter ihren Anhängern.

Wie bringen Sie die feindlichen Überzeugungstäter dazu, ihre Kollegen zu verlassen und das Guerillaleben (und damit den Kampf gegen die Regierung) für immer aufzugeben? Wie hat es ein kleines Team der kolumbianischen Armee geschafft, durch ihre Demobilisierungskampagne sofort mehr als 330 Soldaten zum Verlassen der Guerillabewegung FARC zu bewegen?

SITUATION 4: SITZUNGEN AUSSITZEN?

Sie sind Projektleiter in einem mittelständischen Betrieb. Mit rund 30 Kolleginnen und Kollegen betreuen und beraten Sie Firmenkunden bei der Entwicklung und Umsetzung von E-Learning Lösungen. Das Geschäft läuft eigentlich gut und ohne übermäßige Bürokratie, doch Sie regen sich über die wöchentlichen Statussitzungen auf. Ihrer Meinung nach wird viel wertvolle Zeit damit vertrödelt, sich in langwierigen Gesprächen und Präsentationen einen Überblick über die Akquise- und Projektlage zu verschaffen. Zusammen mit Ihren Kollegen möchten Sie eine neue Möglichkeit schaffen, wie man sich rasch und effektiv einen Gesamtblick über die momentane Lage verschaffen kann. Dabei ist Ihnen aber auch wichtig, dass gute Gespräche weiterhin möglich sind.

Wie können Sie mühsame Statussitzungen abschaffen und durch etwas Besseres ersetzen? Wie können Sie eine alte Haushaltsidee für ein effizientes Multiprojektmanagement neu erfinden, wie dies die Oberhausener Firma reflact seit einigen Jahren tut?

Überlegen Sie kurz, mit welchen Ideen diese vier Probleme gelöst bzw. reduziert werden könnten.

Nun betrachten wir diejenigen Ideen, mit denen die Informatiker, Entwicklungshelfer, Soldaten und Projektmitarbeiter jeweils zur – nicht ganz offensichtlichen Lösung – für ihr Problem gelangt sind.

LÖSUNG 1: AUSSICHT STATT NACHTSCHICHT

Statt Mitarbeiter zur Nachtschicht zu verdonnern und sich zu überlegen, wie man diese Nachtarbeit „versüßen“ oder weniger schlimm gestalten könnte, hat Open Systems die Nachtschicht einfach überflüssig gemacht; und zwar dadurch, dass Sie eine Wohnung in Sydney mietet und es ihren Ingenieuren ermöglicht, sechsmonatige Aufenthalte in dieser tollen Stadt zu verbringen. So entfällt die Notwendigkeit einer Nachtschicht in Zürich. Während in Zürich die Mitarbeiter schlafen, betreut das Sydneyteam die Kunden auf der ganzen Welt, die dann Hilfe benötigen. Zusätzlich ist es für sehr viele junge IT-Spezialisten [8]interessant, einmal ein halbes Jahr in Sydney zu verbringen. Mit dieser Möglichkeit eines Auslandaufenthaltes wurde Open System zu einer der beliebtesten IT-Firmen im Großraum Zürich. Durch die Veränderung der Fragestellung (ein Faktor, der uns in einigen Methoden begegnen wird) hat es diese Firma geschafft, aus einem Problem einen wichtigen Differenzierungsfaktor auf dem Arbeitsmarkt zu machen. Dazu war es aber nötig, über die erste Lösungsidee hinauszugehen und radikal anders zu denken. Viele der Methoden in diesem Buch helfen Ihnen genau dabei.

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Abbildung 1: Das Mission Control Center von Open Systems in Zürich (Bild mit freundlicher Genehmigung der Open Systems AG)

LÖSUNG 2: EIN LITER LICHT

Um eine Gratisbeleuchtung in Hunderte von Hütten zu bringen, hat der Verein „Liter of Light“ ein einfaches System entwickelt und tausendfach in den Philippinen, Kolumbien und weiteren Ländern installiert, um mit einem kleinen Loch in der Decke und einer alten PET-Flasche mit etwas Chlorwasser, einer kleinen Folie sowie mit etwas Leim ein ganzes Zimmer (tagsüber) zu beleuchten. Durch den Streuungseffekt des Wassers in der Flasche kann so fast eine ganze Hütte ausgeleuchtet werden und es einer Familie ermöglichen, wenigstens tagsüber ein helles Zimmer zu haben. Das Chlor im Wasser verhindert über Jahre, dass sich das Wasser trübt und damit an Leuchtkraft einbüßt. Gemäß der BBC erfand Alfredo Moser, ein armer brasilianischer Mechaniker, im Jahr 2002 diese Beleuchtungsmethode aufgrund eines Gespräches mit seinem damaligen Chef, indem er eine Flasche mit Wasser und Chlorwasser füllte und sie einfach von unten durch seine Decke stieß. Für etwas eigentlich so offensichtliches brauchte es eine gehörige Portion Kreativität, und zwar nicht nur, um auf die Idee mit der Flasche zu kommen (die hatte in ähnlicher Weise auch schon der österreichische Architekt Friedensreich Hundertwasser), sondern auch um anschließend Freiwillige (z. B. Studenten) zu mobilisieren und die Installationen der Flaschenlampen in den Slums effizient vorzunehmen. Es brauchte ebenso viel Kreativität, um Sponsoren wie etwa Pepsi zu finden, welche die Organisation finanziell unterstützen. Zu Beginn musste man vor allem [9]die Barriere der sogenannten funktionalen Fixiertheit, die Sie im nächsten Kapitel kennenlernen werden, überwinden und Flaschen nicht nur als Wasserbehälter sehen, sondern auch als potenzielle Lichtspender. Ein solches ‚Reframing‘ kann man durch verschiedene Methoden bewusst herbei führen – etwa durch die Matrix mit demselben Namen, die Sie in der Methodensektion kennenlernen.

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Abbildung 2: Die Funktionsweise der Liter Licht Lampe (Bild mit freundlicher Genehmigung von LitrodeLuzColombia)

LÖSUNG 3: WEIHNACHTEN((NICHT) IM DSCHUNGEL

Um Hunderte von Guerillakämpfern zum Verlassen ihrer Terrorgruppen zu veranlassen, griff die kolumbianische Armee zu einer kreativen und friedvollen Idee. Kurz vor Weihnachten schmückte sie zehn hohe Bäume mitten im kolumbianischen Dschungel (und nahe der Guerillapfade) mit je 2.000 Weihnachtslampen. Diese Lichtergirlanden versahen sie mit Bewegungsmeldern, so dass die Weihnachtsdekoration automatisch und sofort angeschaltet wurde, wenn immer Guerillatrupps an dem Baum vorbeizogen. Dabei wurde ein großes Poster beleuchtet auf dem stand:

„Wenn Weihnachten bis in den Dschungel kommt, dann könnt auch Ihr zu Euren Familien kommen. Demobilisiert Euch. An Weihnachten ist alles möglich.“

Auf diesem Poster war als Symbol ein Herz mit einer Weißen Flagge angebracht. Die Kampagne ist übrigens auch auf YouTube effektvoll dokumentiert (leider nur auf Spanisch). Um diese äußerst wirksame Idee zu finden, mussten sich die Erfinder der Kampagne in die Psyche der Guerillas versetzen und deren Schwachpunkt finden. Die Nostalgie nach der Familie vor Weihnachten war dabei ein sehr starker Ansatzpunkt. Nur durch ein hohes Maß an Empathie können Innovationen wie diese bei der Zielgruppe Resonanz auslösen. Deshalb schlagen wir Ihnen in diesem Buch auch einige Methoden vor, mit denen Sie die Ideenentwicklung aus Sicht der späteren [10]Nutzer vorantreiben können, so etwa die Empathiekarte, Bodystorming oder die Skizzenzeichen.

LÖSUNG 4: EIN MAGNET FÜR DIE PROJEKTAUFMERKSAMKEIT

Haben Sie auch eine Reihe von kleinen Magneten an Ihrem Kühlschrank angebracht und halten damit wichtige Informationen oder Erinnerungszettel im Blick? Falls ja, dann können Sie die originelle Lösung des Statutsmeeting-Problems gut nachvollziehen. Um jedem der dreißig Mitarbeiter der Firma reflact einen raschen, aktuellen und dennoch differenzierten Überblick über die Projektsituation im Unternehmen zu geben, hat eine Gruppe von Mitarbeitern eine große Magnetwand in einem zentralen Bürokorridor an die Wand gehängt und mit einem Poster bespannt. Darauf werden mittels Dutzenden von kleinen Magneten sämtliche Akquisevorhaben, Projekte und Dienstleistungsaufträge festgehalten. Als Struktur wird dafür die Metapher einer Insel verwendet. Akquisitionsvorhaben zur Gewinnung von Neukunden werden auf dem Meer der Möglichkeiten vor dieser Insel platziert. Die Prozentzahlen bzw. Meerzonen geben dabei die Wahrscheinlichkeit an, mit der das Projekt gewonnen werden kann. Gewonnene bzw. begonnene Projekte werden als Zeltmagnete positioniert, welche entlang eines Zeitflusses von links nach rechts wandern bzw. vom Verantwortlichen jeweils verschoben werden. Kleine Schlösser-Magnete stehen für permanente Dienstleistungsaufträge der Firma bzw. permanente Kunden. Jeder Magnet enthält dabei den Kundennamen, sowie die verantwortliche Person und, falls sinnvoll, den Starttermin. Ganz rechts auf der Insel werden mit kleinen Schatzkasten-Magneten kürzlich vollendete Projekte dokumentiert. Manchmal ist auf der Wand bzw. Insel auch ein Godzillamagnet neben einem Zelt oder Palast zu entdecken. Dieser symbolisiert Projektrisiken oder Krisensituationen und signalisiert somit für alle erhöhte Aufmerksamkeit oder Hilfeleistung für dieses Projekt. Die Abbildung auf der gegenüberliegenden Seite gibt dieses Statusbild leicht anonymisiert wieder.

Durch dieses Bild ist es nun möglich, dass sich jeder Mitarbeiter sofort, quasi im Vorbeilaufen, einen Überblick über die Projektlandschaft der Firma verschafft. Er sieht, welche Projekte kommen könnten, welche am Laufen sind und mit wem er darüber reden kann. Oft geschieht es dabei, dass zwei oder drei Personen zusammen vor der Wand stehen bleiben und über anstehende oder laufende Projekte reden. Diese Wandidee wird Ihnen in ähnlicher Form auch im Methodenkapitel begegnen, so z. B. bei der Methode der Ideenwand.

Diese einfache, wirksame und lockere Lösung war nur durch eine mehrfache Übertragung möglich: Erstens durch die Übertragung der Kühlschrankwandidee auf den Bürokontext und zweitens durch die Übertragung des Reisebzw. Inselsujets auf das Projektmanagementfeld. Analogien und Metaphern sind denn auch wirksame Vehikel für kreative Gedanken und kommen deshalb in mehreren Me[12]thoden in diesem Buch zum Tragen, so etwa in der Erfolgspfadmethode, dem Reizwortbanditen, der Bildmappe, der Methode Aufeinander aufbauen oder beim Kreativroulette.

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Abbildung 3: Die Magnetwand für die Projektlage (anonymisiert)

Wir haben diese vier Einstiegsbeispiele ausgewählt, weil sie für uns das große, oft vernachlässigte Potenzial kollektiver Kreativität illustrieren. Sie zeigen aber auch, dass wir Kreativität bewusst eine Chance geben müssen und eine Situation zuerst einmal als Möglichkeit für neue, kreative Lösungen erkennen sollten.

Die vier Beispiele geben Ihnen einen Vorgeschmack auf die Prinzipien und Methoden, aber auch auf die Barrieren kollektiver Kreativität. Sie zeigen: Mit Kreativität geht nicht alles leichter, aber vieles besser.

Die vier Beispiele haben noch etwas Weiteres gemeinsam: Wenn wir uns nicht mit der erstbesten Idee zufrieden geben, können wirklich elegante Lösungen entstehen. Dazu müssen wir uns aber bemühen, das ursprüngliche Problem anders zu sehen. Wir müssen unsere Sichtweise wechseln und mit Hilfe von Gesprächen, Empathie, Visualisierung oder Analogien neue Optionen erschließen. Gelingt dies, so können wir mit weniger Ressourcen mehr erreichen.

DAS BUCH IM SCHNELLDURCHLAUF

Mit einem Beispiel geht es auch im nächsten Kapitel weiter. Die Minifallstudie in Kapitel 2 soll Ihnen aufzeigen, wie Sitzungen im Kreativmodus ablaufen und worin sie sich von ‚normalen‘ Sitzungen oder Workshops unterscheiden. In dieser Fallstudie lernen Sie auch bereits einige nützliche Kreativitätstechniken kennen, so etwa die Empathiekarte oder die Ideenblaupause.

In Kapitel 3 schlagen wir Ihnen dann einen einfachen Bezugsrahmen vor, mit dem Sie Kreativität in Teams besser verstehen und nutzen können – den Creability-Diamanten. Das Diamantmodell strukturiert kreative Teamleistungen in drei Phasen, die durch fünf Prinzipien unterstützt werden können.

Das Kapitel 4 präsentiert Ihnen einige spielerische Antworten auf die Frage, wie man einer Gruppe von Menschen konkret dabei helfen kann, in den Kreativmodus zu wechseln.

Die Phasen des Modells aus Kapitel 3 ordnen die Methoden, die wir Ihnen im Kapitel 5 vorstellen. In diesem Kapitel öffnen wir die Werkzeugkiste und präsentieren Ihnen mehr als dreißig interaktive Kreativitätstechniken für Gruppen. Abschließend zeigen wir Ihnen, wie Sie eine Ideenselektion vornehmen und Ihre Ideen bewerten können.

In Kapitel 6 fassen wir die wichtigsten Punkte noch einmal kompakt zusammen und entwerfen einen möglichen Fahrplan für mehr Kreativität in der Gruppenarbeit. Das Kapitel schließt mit einem Ausblick in die Zukunft der Teamkreativität.

Ganz zum Schluss finden Sie noch ein informatives Literaturverzeichnis, das die Literaturverweise der einzelnen Kapitel bündelt. Wir schließen das Buch mit unseren Danksagungen und einigen Angaben zu den Autoren.

[13]Auf der Webseite www.creability.ch können Sie als Leser dieses Buchs übrigens die digitalen Versionen aller grafischen Kreativvorlagen als PDF-Dateien herunterladen. So ersparen Sie sich das Herauskopieren der entsprechenden Seiten und können jetzt auch direkt mit dem Buch arbeiten, ohne sich zu sorgen, dass Sie dabei eine Vorlage zerstören oder bloß einmal nutzen können.

WEITERFÜHRENDE LITERATUR UND LINKS:

Pfister, R., Eppler, M.J. (2011): Making the Invisible Visible: Knowledge Visualization at Open Systems Inc. University of St. Gallen Case Study, European Case Clearing House, Case Nr. 912-027-1.

Beispiel Open Systems:

Open Systems Magazin 360º Nr. 11/2013, S. 35.

www.open.ch/de/#!/3-3

Beispiel Liter of Light:

www.aliteroflight.org

www.bbc.co.uk/news/magazine-23536914

www.literoflightswitzerland.org/index.php

Kampagne des kolumbianischen Heeres:

www.youtube.com/watch?v=HKtpVFpbOJA

Beispiel reflact:

www.reflact.com

Die Softwareversion der Magnetwand mit zwei verschiedenen Inselvorlagen:

www.lets-focus.com

[14]ZWEI

Wie sieht eine Sitzung aus, wenn die Beteiligten Kreativität konsequent als Teamressource nutzen? Welche Vorteile können wir erzielen, wenn wir Kreativität in unsere Sitzungslogik mit einbauen und gezielt zulassen und fördern? Und welche konkreten Verhaltens- und Infrastrukturveränderungen erfordert dies in der täglichen Umsetzung?

FALLSTUDIE

EINE SITZUNG IM KREATIVMODUS

Diesen drei Fragen möchten wir anhand eines einfachen und realistischen Einführungsszenarios auf den folgenden Seiten nachgehen. Unser Einführungsbeispiel wird Ihnen aufzeigen, dass bereits kleine Verhaltens- und Infrastrukturveränderungen zu viel innovativeren und ergiebigeren Sitzungen und Workshops führen können. Zudem illustriert das Szenario den Einsatz verschiedener Kreativitätsmethoden, die wir Ihnen in diesem Buch vorstellen – vom magischen Koffer bis zur Ideenblaupause. Schließlich zeigt das Beispiel auch die drei zentralen Phasen von Kreativität am Arbeitsplatz auf.

[15]AUSGANGSLAGE

Stellen Sie sich folgende Situation vor:

Timo Wagner ist Projektleiter für ein Qualitätsmanagementprojekt, bei dem es darum geht, die Dienstleistungsqualität in seinem IT-Betrieb gegenüber Kunden stark zu verbessern. Nach zahlreichen Reklamationen, schlechten Umfragewerten und peinlichen Fehlern in diesem Bereich soll er mit einem Projektteam aus den Abteilungen Außendienst/Service, Call-Center und IT-Consulting ein entsprechendes Konzept erarbeiten. Um das Projekt in die Gänge zu bringen, hat er einen Startworkshop mit den sieben Teammitgliedern eingeplant. Als Vorbereitung hat er sämtliche Kundenumfragen analysiert und verdichtet und diese mit wichtigen Aussagen aus Kunden- und Mitarbeiterinterviews ergänzt. Er hat auch bereits recherchiert, was in Sachen Dienstleistungsqualität die maßgebenden Managementansätze sind.

VORGEHEN

Wie würden Sie diese erste Teamsitzung strukturieren? Timo Wagner wagt Kreativität:

Er erkennt, dass dieses Treffen eine Chance für kreative Lösungen bietet. Statt seine sorgfältig recherchierte Folienpräsentation über „Probleme und Lösungsansätze der Dienstleistungsqualität“ zu halten, entscheidet er sich dazu, der gemeinsamen Kreativität Raum und Zeit zu geben. Er möchte mit seinen Kollegen bewusst in den Kreativmodus schalten, um ein hoch wirksames Konzept der Dienstleistungsqualität zu entwickeln, welches die momentanen Probleme der IT-Firma auch wirklich effizient adressiert.

Als um 10 Uhr seine Kollegen im Sitzungszimmer eintreffen, sieht dieses bereits nicht mehr wie gewohnt aus: Timo hat die Sitzordnung verändert, indem er die Stühle in einem Halbkreis um eine große Stellwand arrangiert hat. Neben der Stellwand und in den Ecken stehen Flipcharts und eine weitere mit Papier und Postern bezogene Wand bereit. In der Mitte des Halbkreises liegt ein offener Aktenkoffer, in welchem Spielzeug, Büromaterialien und Küchenutensilien liegen. Daneben liegen farbige Post-it®-Zettel und Filzstifte. Ein wenig irritiert, aber neugierig setzen sich Timos Kollegen und harren der Dinge, die da kommen werden. Claudia aus dem Call-Center meint: „Zumindest gibt es frische Früchte, ist gelüftet, riecht gut und bringt Farbe in unser Sitzungsleben.“ Ihr Kollege Klaus meint: „Und das Poster hier hinten zeigt die wichtigsten Reklamationspunkte unserer Kunden, das hilft schon mal sehr.“

Da sich alle Teammitglieder bereits aus anderen Projekten kennen, startet Timo direkt mit einer Aufwärmübung. Er bedankt sich bei seinen Kollegen für die Pünktlichkeit und bittet jeden, einen Gegenstand aus dem offenen Koffer zu nehmen und sich zu überlegen, warum dieser ein Symbol für Dienstleistungsqualität sein könnte bzw. was einem [16]das Objekt über Dienstleistungsqualität zeigen kann. Claudia beginnt spontan, indem sie einen Jonglierball aus dem Koffer nimmt und meint: „Dienstleistungsqualität bedeutet oft, mehrere Bälle in der Luft zu halten, ohne dass einer zu Boden fällt. Für uns im Call-Center bedeutet dies, niemanden zu lange in der Warteschlange zu halten und Rückrufe bei schwierigeren Anfragen nicht zu vergessen.“ Klaus nimmt darauf eine Superman-Puppe aus dem Koffer und bemerkt dazu: „Ich finde es wichtig, Erwartungsmanagement zu betreiben und den Kunden früh zu erklären, dass wir keine Supermänner sind, die für jedes IT-Problem sofort die beste Lösung bereit haben. Manchmal braucht das eben Zeit.“ Ein weiterer Kollege nimmt nun ein Spielzeugpolizeiauto und kommentiert dies so: „Ich habe das Polizeiauto gewählt, denn um dem Kunden immer einen guten Service bieten zu können, brauchen wir gewisse verbindliche Standards und Regeln, sonst schaffen wir das nicht durchgehend; nicht dass wir eine Qualitätspolizei bräuchten, aber es muss uns allen klar sein, was erlaubt ist und was nicht.“ Die Kollegin neben ihm wählt ein gelbes Messband aus: „Es klingt komisch, aber ich finde wir müssen auch bei Dienstleistungsqualität mit gleichen Ellen messen, sprich genau Maß nehmen. Dafür braucht‘s wahrscheinlich gewisse Messindikatoren und Richtgrößen. Regeln allein reichen vielleicht nicht.“

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Abbildung 4: Die ausgefüllte Perspektivenwand als Grundlage für die Verbesserungsideen

Timo ist überrascht, denn Dank der Kreativität seiner Teammitglieder sind viele der Folien aus seiner ursprünglichen Präsentation nun hinfällig geworden. Seine Kollegen haben nämlich die wichtigsten Erfolgsfaktoren bereits anhand der Objekte eingängig auf den Punkt gebracht. Durch die Erfahrung bestätigt, fährt Timo unkonventionell und visuell fort.

Als zweite Aufgabe zeigt Timo seinen Teamkollegen eine einfache grafische Vorlage, die er mit ihnen in ungefähr zehn Minuten ausfüllen möchte. Jedes Teammitglied soll zunächst für sich notieren, was es an wichtigen Informationen zum Thema Dienstleistungsqualität hat, welche wich[17]tigen Fragen dazu offen sind bzw. besprochen werden sollten oder welche positiven und negativen Erfahrungen dazu im Betrieb bestehen. Nach drei Minuten frägt Timo dann im Plenum nach den notierten Fragen, Erfahrungen und Informationen und nimmt diese (mit den Post-it®-Haftnotizen) direkt auf der Vorlage auf. Ähnliche Punkte platziert er dabei nebeneinander. Auf diese Weise kommen rasch viele wichtige Punkte zusammen, die für die Lösungsentwicklung relevant sind. Zudem kann jedes Teammitglied frisch heraus sagen, was ihm oder ihr zum Thema unter den Nägeln brennt – eine wichtige Voraussetzung für wirkliche Offenheit und Teamkreativität. Dieses sogenannte Perspektivendiagramm (siehe Abbildung 4) ist nun eine wichtige Basis für die weitere Diskussion.

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Abbildung 5: Die gemeinsam komplettierte Empathiekarte ermöglicht einen Perspektivenwechsel

Weil in dieser Diskussion mehrmals die Kundensicht angesprochen wurde, entscheidet sich Timo jetzt dafür, gemeinsam eine sogenannte Empathiekarte zu entwickeln. Diese Technik hilft der Gruppe dabei, die Perspektive zu wechseln und so ihre Herausforderung neu zu begreifen. Dazu bringt er eine grafische Vorlage auf seinen Laptop und via Beamer an die Wand und füllt sie durch die Angaben seiner Kollegen zügig aus (siehe Abbildung 5). Nach zehn Minuten versteht das Team besser, wie der Kunde die Dienstleistungsqualität des IT-Betriebes wahrnimmt und wo aus seiner Sicht die kritischen Punkte liegen. Die Mitarbeiter verstehen, dass die Kommunikationsqualität ein wichtiger Faktor beim Servicedesk ist, und dass es wichtig ist, dem Kunden aufzuzeigen, dass erstaunlich viele der IT-Probleme sofort durch den Betrieb gelöst werden.

[18]Soweit so gut, doch wo bleiben die neuen Ideen, fragen Sie sich nun vielleicht.

Um Lösungen geht es im nächsten Schritt von Timos Treffen. Doch da die Sitzung nun schon fast vierzig Minuten läuft, schlägt Timo dem Team eine kurze Kaffeepause vor. Er bittet aber alle Teilnehmer, dabei auch kurz auf die Statistik-Grafik im hinteren Teil des Raumes zu schauen. Darauf sind die wichtigsten Reklamationsgründe der Kunden in absteigender Reihenfolge visualisiert (von zu langer Wartedauer, bis ein Spezialist vor Ort ist, bis zu überfragten oder unfreundlichen Service-Call-Center-Telefonisten). Eine Kaffeetasse in der Hand diskutieren einige Teammitglieder diese Resultate im kleinen Kreis und vergleichen sie mit der eben ausgefüllten Empathiekarte.

Nach der Pause bittet Timo nun jeden Teilnehmer für sich fünf konkrete Ideen zu notieren, wie man die Dienstleistungsqualität ab jetzt massiv senken bzw. verschlechtern könnte (siehe Seite 108 für diese Methode). Sichtlich amüsiert (und erstaunlich motiviert) machen sich alle sofort ans Werk und ersinnen während fünf Minuten fünf verschiedene Eigensabotagestrategien. Manche überlegen etwas länger, andere haben schnell fünf Zettel gefüllt. Danach bittet Timo jeden, seine besten (d. h. schlimmsten oder schädlichsten) Ideen vorzustellen. Diese Ideen reichen von „Öffnungszeiten des Servicedesks auf die Mittagszeit beschränken“ bis zur Idee, die Warteschlange am Telefon mit Iron Maiden Heavy-Metal-Musik zu ‚versüßen‘. Timo bittet die Teilnehmer sodann, diese Ideen in ihr Gegenteil umzudrehen und so echte Verbesserungsmaßnahmen für die Dienstleistungsqualität im IT-Betrieb zu entwickeln. Bei dieser Flip-Flop- oder Probleminvertierungsmethode merken die Teilnehmer auch, was sie im Moment selbst praktizieren und sofort aufhören sollten (z. B. unangenehme Wartemusik in der Warteschlaufe sowie zu kurze Öffnungszeiten des Servicedesks).

Aus dieser Übung ergeben sich auch folgende Ideen:

  • Eine schnellere Triage der Kundenproblematik zum Beginn einer Anfrage.
  • Die Schaffung eines Eskalationsmechanismus für schwierige Anfragen im Call-Center und ein effizienter Weiterreichungsmechanismus an die IT-Berater.
  • Eine Preisprämie für Kunden, welche extrem wenige Anfragen an den IT-Betrieb stellen.
  • Ein einfaches Cockpit zur Messung der Dienstleistungsqualität im Call-Center.

Danach bittet Timo jeweils zwei oder drei Personen zusammen eine ihrer bisherigen Lieblingsideen weiterzuentwickeln und zwar mit der Ideenblaupause (siehe Abbildung 6). Er gibt ihnen hierfür rund 15 Minuten Zeit.

Eine Zweiergruppe nimmt sich dabei des Messcockpits für die Dienstleistungsqualität an und entwirft folgende Ideenblaupause zur weiteren Ausformulierung der ursprünglich vagen Idee.

Jede Gruppe präsentiert nun die jeweiligen Ideenblaupausen und nimmt Verbesserungspunkte entgegen. Kritik ist also ausdrücklich erlaubt (im Gegensatz zu Brainstor[20]ming), denn sie macht aus einer guten Idee eine sehr gute und meist auch umsetzbarere Idee. Diese Kritik muss jedoch konstruktiv formuliert sein, das heißt sie muss wertschätzend sein und aufzeigen, in welche Richtung eine Verbesserung gehen könnte.

[19]Abbildung

Abbildung 6: Die Ideenblaupause zur Ausarbeitung der Cockpitidee

Nun ist es kurz vor der Mittagspause. Timo bittet die Teilnehmer im Nachgang zur Sitzung, erste Prototypen (siehe dazu Seite 171) ihrer jeweiligen Ideen zu entwerfen und diese bis zum nächsten Treffen in zwei Wochen mindestens drei anderen Personen vorzustellen. Statt also langwierig Ideen zu priorisieren und zu evaluieren, sollen die vorliegenden Ideenblaupausen zunächst einmal weiterentwickelt und mit Feedback von Kollegen und Kunden angereichert bzw. verbessert werden. Alle Teilnehmer sind mit dem Vorgehen einverstanden und zeigen sich überrascht, dass bereits das erste Treffen zu derart konkreten Resultaten geführt hat. Sie sind motiviert, an den Ideenentwürfen weiterzuarbeiten. Timo weist sie jedoch abschließend darauf hin, sich nicht voreilig einzig auf diese Ideen zu fixieren, sondern weiterhin offen für mögliche alternative Verbesserungsmöglichkeiten der Dienstleistungsqualität zu bleiben. Sehr leicht fällt das den Teams allerdings nicht.

Er schließt das Treffen mit einem gemeinsamen Mittagessen aller Teilnehmer ab. Dabei sammelt Timo noch Feedback zum Treffen ein, damit er es beim nächsten Mal noch besser machen kann.

LEHREN AUS DEM BEISPIEL

Und was lernen wir aus diesem Beispiel?

Zuerst lernen wir aus diesem kurzen Beispiel wohl, dass es für kreative Teamleistungen mindestens drei Phasen braucht. Eine erste Phase der Chancenwahrnehmung: Timo hat den Kick-off-Workshop als Chance für kreative Lösungen gesehen und das Treffen entsprechend vorbereitet. Zweitens braucht die Ideenentwicklung im Team einen entsprechenden (interaktiven, flexiblen, und motivierenden) Raum und entsprechend Zeit, sowie verschiedene Anregungen (wie etwa das Verschlimmern). Drittens braucht es für kreative Ideen auch deren Ausarbeitung: Man muss sich und seinen Kollegen die Zeit geben aus einem Rohdiamanten durch den Feinschliff eine wirklich wertvolle Idee zu machen. Dafür reichten im vorliegenden Fall die 15 Minuten mit der Ideenblaupause nicht. Vor allem ist es in dieser dritten Phase wichtig, rasch konkret zu werden und die eigene Idee mit möglichst viel Feedback von potenziellen Nutzern der Idee anzureichern.

[21]Und die Moral von der Geschicht? Ohne Schleifen geht es nicht.

Woran erkennen Sie, dass eine Sitzung vor Kreativität und Innovation sprüht? Und wie fühlt es sich an, Teil eines Treffens zu sein, bei dem originelle und umsetzbare Ideen durch den Beitrag aller mühelos entstehen und rasch weiterentwickelt werden? Wir hoffen, dass dies aus diesem Einführungsbeispiel erlebbar wurde: Durch gemeinsames, iteratives Arbeiten, das auf Perspektivenwechsel, neuen Impulsen und konkreten Fakten basiert, werden kreative und passende Ideen möglich.

[22]DREI

Im Englischen gibt es das freche Sprichwort „A fool with a tool is still a fool“, sprich das Werkzeug macht noch nicht den Meister. In der Tat kann der unreflektierte Einsatz einer Methode manchmal mehr schaden als nützen. Hier gibt es nichts Nützlicheres als eine gute Theorie oder ein systematisches Modell. Dies schafft Orientierung und Überblick.

DER CREABILITY-BEZUGSRAHMEN