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Danksagung
Impressum und Copyright

Danksagung

Ich freue mich sehr, dass das Buch im Verbrecher Verlag erscheint und bedanke mich insbesondere bei Kristine Listau und Jörg Sundermeier für die schöne Zusammenarbeit.
Mein Dank gilt den Expertinnen, die mir Rede und Antwort gestanden haben: der Diplom-Sozialpädagogin Sandra Bannert-Nagel von der Opferhilfe Sachsen e.V., der Rechtsanwältin Eve Leupold, der Kriminalhauptkommissarin Manuela Palitzsch von der Polizeidirektion Leipzig und der Psychologin Prof. Dr. Ariane Brenssell.
Ich bedanke mich für die kritischen Kommentare und Anmerkungen bei Lisa Füchte ebenso bei Frauke Meyer-Gosau und bei Philipp Enders für die Hilfe beim Exposé.
Außerdem danke ich allen Teilnehmer*innen der Autor*innenwerkstatt Prosa des LCB: Annina Haab, Kristin Höller, Sophia Klink, Simone Schröder, Sonja M. Schultz, Leszek Stalewski, Robert Stripling und Olivia Wenzel und insbesondere danke ich Pasquale Virginie Rotter. Zudem danke ich Thorsten Dönges und Antje Rávic Strubel für die Leitung der Werkstatt, von Antje konnte ich sehr viel lernen und den Blick noch einmal schärfen.
Ich bedanke mich bei meiner Familie für die Unterstützung, die Wegbegleitung und die Literatur: Bella, Chris und Nele, und vor allem bei Wolfi für die Gespräche, seine Zeit, Kritik, Anmerkungen und Korrekturen.
Zum Schluss bedanke ich mich für alles andere bei meinen Friends: Franziska, Jana, Annika, Dani, Lukas und meinem Liebsten: Martin.

A

Dass es im Mai war und dass er sich als Joni vorstellte, obwohl sie ihn nie so nennen würde und auch niemand sonst ihn so nannte. Vielleicht hatte sie sich verhört, sagte Anna. Sie kannte ihn schon vom Sehen – Leipzig war nicht so groß. Dass es an einem Dienstag oder Mittwoch war, unter der Woche jedenfalls.
Anna erzählte mir, dass sie an dem Tag, als sie Jonas kennenlernte, mit Hannes auf den Stufen der Universitätsbibliothek Albertina saß. Sie legten eine Zigarettenpause ein – nicht die erste an diesem Tag, vielleicht die dritte. Es war später Vormittag, und sie hatte einen Kater. Am Abend vorher hatte sie bis fünf im Lindental gearbeitet, einer Kneipe im Westen der Stadt. Eine Band aus Wien hatte gespielt, und sie hatte ein paar Wodka mit den Jungs getrunken. Als sie anschließend mit dem Fahrrad durch den Clara-Zetkin-Park nach Hause fuhr, ging die Sonne gerade auf, die Vögel zwitscherten, das mochte sie. Es war das erste Mal in diesem Sommer, dass sie die Nacht durchgemacht und den Sonnenaufgang erlebt hatte, einer ihrer liebsten Momente. Im Park begegnete sie niemandem, erst auf der Karli, der Karl-Liebknecht-Straße, sah sie Menschen, die schon wach waren, zur Arbeit mussten, vielleicht Ärzte oder Bäcker.
Sie wachte auf, als ihre Mitbewohnerin Verena die Wohnung verließ (gegen neun), und konnte nicht wieder einschlafen. Weil sie nichts Besseres zu tun hatte, ging sie in die Bibliothek und traf dort Hannes. Wie immer war er schon seit morgens um acht dort, hatte zwei Seiten geschrieben und drei gelöscht. Als sie ankam, machten sie ihre erste Raucherpause. Sie sprachen über Hannes’ Hausarbeit – damals schrieb er noch über Erinnerung an den Nationalsozialismus in der DDR am Beispiel von Schulbüchern. Anna erinnerte sich gut daran, weil Hannes an dieser Hausarbeit fast ein halbes Jahr gearbeitet hatte, obwohl sie nur fünfzehn Seiten lang sein musste. Er hatte sich da in etwas verrannt, hatte zu viele Texte gelesen und konnte seine Gedanken nicht ordnen. Anna hatte versucht, ihm zu helfen – Texte korrigieren lag ihr –, aber er hörte nicht auf sie und die Hausarbeit wurde schlimmer statt besser.
Anna sprach also an diesem Tag, als sie Jonas kennenlernte, auf den Stufen der Albertina über die Hausarbeit von Hannes. Sie hatte nicht gefrühstückt, ihr Magen war flau vom Wodka der Nacht zuvor, und die Zigaretten und der Kaffee machten die Situation nicht besser. Sie bemerkte Jonas, als er aus der Bibliothek auf sie zukam und fragte, ob er sich eine Zigarette drehen dürfe. Wortlos hielt sie ihm ihren Tabak hin. Sie dachte, er würde sich wegdrehen, um allein zu rauchen, aber er und Hannes begrüßten sich herzlich, klopften einander mit der flachen Hand auf den Rücken. Sie lästerten über jemanden, den Anna nicht kannte, machten einen Insiderwitz, erinnerten sich an einen Saufabend. Anna war verwirrt – woher kannte Hannes diesen Typen? Schnell klärten sie die Sache auf: Die beiden waren vor Kurzem auf einer Gedenkstättenfahrt in Buchenwald gewesen und hatten viel Zeit zusammen verbracht. Sie sprachen über einen Vortrag, den sie dort gehört hatten, und eine Diskussion entspann sich zwischen den beiden. Anna rauchte und hörte nicht zu. Als ihr die Debatte zu blöd und ihr schlecht wurde – sie hatte Angst, die Zigarette auf nüchternen Magen würde sich gleich rächen – bestand sie darauf, in die Mensa zu gehen, auch wenn es noch früh war. Zu dieser Zeit war die Essensauswahl besser und frischer. Auf dem Weg dorthin trafen sie Uli, eine Bekannte von Hannes, und sie gingen zu viert essen. Worüber sie sich genau unterhielten, wusste Anna nicht mehr. Die Erinnerungen an die Mensa verschwammen, weil sie zu dieser Zeit fast jeden Tag dort essen ging, oft mit Hannes und Uli. Sie redete nicht viel mit Jonas, das Gespräch spielte sich in der Gruppe ab, alle unterbrachen sich gegenseitig, hörten einander nicht richtig zu, wahrscheinlich ging es um ihre Pläne fürs Wochenende, Hausarbeiten oder die Fußball-WM.
Jonas sagte, dass es im Juni war. Er traf Anna das erste Mal bei einem Spiel der Fußball-WM. Ja, vielleicht, Deutschland–Portugal, so genau hatte er nicht hingesehen. Dass es ein Montag war, und eigentlich wollte er für seine Doktorarbeit einen langen Tag in der Bibliothek einlegen – meistens konnte er abends besser arbeiten als morgens. Aber er hatte sein Handy nicht auf lautlos gestellt, Hannes rief ihn an und fragte, ob er mit Fußball schauen wollte. Er kannte Hannes zwar noch nicht lang, nur von der Exkursion, doch er hatte das Gefühl, dass eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden war. Gemeinsam auf Alkohol abstürzen verbündet.
Nach dem Anruf konnte sich Jonas nicht mehr konzentrieren, also fuhr er mit dem Fahrrad in den Biergarten in Connewitz. Er war nie zuvor beim Public Viewing gewesen. Er interessierte sich nicht besonders für Fußball, auch nicht für die Weltmeisterschaft. Das Spiel begann am frühen Abend, und er konnte auch danach wieder in die Bibliothek gehen.
Dass ihm Anna bekannt vorgekommen war, sagte er. Er wusste nicht woher, wahrscheinlich war sie eines dieser Bibliotheksgesichter, die man vom Sehen kennt. Sie kam später als er, und neben ihm war noch ein Platz frei.
Sie war eine, die sich über alles beschwerte. Das gefiel ihm – er hielt nicht viel von Leuten, die alles gut fanden und jeden mochten. Nachdem sie sich gesetzt hatte, begann sie sofort, über Fußball und die deutsche Mannschaft zu schimpfen, und meinte, dass man eigentlich Männerfußballweltmeisterschaft sagen muss, weil es auch eine Frauenfußballweltmeisterschaft gibt.
Man konnte gut mit Anna diskutieren, sie beharrte auf ihrem Standpunkt, wechselte nicht einfach die Meinung, weil es angenehmer war. Jonas fand zwar nicht, dass man Männerfußballweltmeisterschaft sagen muss, aber er unterhielt sich lieber mit ihr, als dem Spiel zu folgen. Hoffentlich verliert Deutschland, sagte sie. Sie verunsicherte ihn, und er war sich bei der Hälfte ihrer Kommentare nicht sicher gewesen, wie sie sie meinte. Warum sie das Spiel ansieht, fragte er, wenn sie will, dass Deutschland verliert. Sie beugte sich zu ihm und flüsterte, dass sie nichts Besseres zu tun hat, ihre Schicht im Lindental erst um neun anfängt.
Anna erklärte Jonas, dass sie in den letzten Monaten viel mit Hannes unternommen hat und dass sie nicht daran denkt, das zu ändern, nur weil Weltmeisterschaft ist. Dass sie ihre Freunde nicht aufgeben will. Dass Jonas auch nicht besonders interessiert am Spiel zu sein scheint. Warum er hier ist? Es gefiel ihr, dass man ihn leicht ärgern konnte, er reagierte auf die kleinsten Sticheleien. Er gab zu, dass es ihm so ging wie ihr. Dass er nichts Besseres zu tun hat und dass gegen ein Bier im Biergarten nichts einzuwenden ist.
Sie hatte das Gefühl, dass er sie nicht mochte. Er wirkte arrogant, aber meistens ist Arroganz ja ein Schutzschild für schüchterne Menschen. Sie erinnerte sich nicht daran, wie das Spiel ausgegangen war, vermutlich hatte Deutschland gewonnen, sie wusste schließlich, wer am Ende Weltmeister wurde. Nach dem Spiel blieb sie nicht mehr lang, sie musste ins Lindental. Der Abend dort war ruhig, montags war nie viel Betrieb.
Das nächste Mal trafen sie sich ein paar Tage später, wieder zufällig. Es musste ein Freitag oder Samstag gewesen sein – das wusste Jonas, weil in der Bibliothek wenig los war, und wäre nicht wenig los gewesen, wären sie sich wohl nicht begegnet. Jonas wollte nach draußen an die frische Luft, eine Pause einlegen, eine rauchen. Anna stand im Foyer vor der großen Treppe, die zum majestätischen Säulenrundgang führt. Sie wirkte verloren, es sah so aus, als würde sie schon länger dort stehen.
Sie wusste nichts mit sich anzufangen. Das passierte ihr in diesem Sommer oft. Vielleicht lag es daran, dass sie gerade ihr Studium beendet hatte; eine Lebensphase hatte aufgehört, eine neue noch nicht begonnen. Sie hatte erst zwei Bewerbungen geschrieben – sie hasste es, Bewerbungen zu schreiben, und eigentlich hatte sie keine Lust zu arbeiten. BAföG würde sie noch ein paar Monate bekommen, bis Ende September, bis das Semester vorbei war. Bis dahin musste sie einen Job finden, einen richtigen, und zu dieser Zeit hatte sie nichts anderes zu tun, als im Lindental ein bisschen Geld zu verdienen. Früher oder später würde sie Arbeit als Dolmetscherin finden, vielleicht in Berlin oder einer anderen Stadt. In Leipzig war die Arbeitsplatzsituation schlecht. Früher hatte sie immer in Wien bei den Vereinten Nationen arbeiten wollen und hatte sich lang um ein Praktikum bemüht, aber es hatte nie geklappt, und dann war sie sich nicht mehr sicher, ob es das war, was sie wollte.
In dem Sommer zog sie in eine Zweier-WG nach Connewitz. Sie und ihre Mitbewohnerin kannten sich über einen Freund, verstanden sich gut, aber sahen sich kaum. Das Internet in der Wohnung funktionierte damals bereits drei Wochen nicht. Der Vertrag lief noch auf den alten Mitbewohner, und wie so oft schaffte der Anbieter es nicht, ihn umzuschreiben, ohne dass das Internet in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dass sie in die Bibliothek ging, weil sie im Internet surfen wollte, erzählte Anna.
An dieser Stelle unterbrach ich sie das erste Mal: Warum an einem Samstagabend? Hatte sie nicht etwas anderes vor? Sie erinnerte sich nicht daran. Wahrscheinlich waren die meisten ihrer Freunde nicht in der Stadt, und sie wollte nicht allein zu Hause sitzen und ein Buch lesen.
Zunächst war sie nicht wirklich davon angetan, Jonas zu treffen. Auf einmal schien er überall zu sein. Ob ich das kennen würde: Man findet eine Person weder richtig sympathisch noch unsympathisch. Es gibt auch keinen rationalen Grund, die Person nicht zu mögen, wahrscheinlich hat man sogar Gemeinsamkeiten und ähnliche Interessen. Gleichzeitig war sie fasziniert von ihm, berichtete sie; nicht unbedingt im positiven Sinne, sie war vor allem neugierig, wollte wissen, was das für einer ist. Nein, keine Begeisterung.
Ja, sie dachte, dass er gut aussah, doch sie fand ihn nicht attraktiv. Sie mochte den Bart – und die Brille. Er war einer dieser Möchtegern-Intellektuellen; und auch wenn sie diesen Style mochte, stieß er sie gleichzeitig ab, dieses Vor-sich-her-Tragen: Ich habe studiert, ich bin sehr schlau.
Sie war nicht hässlich. Aber keine, bei der er dachte: Wow. Das passierte ihm selten. Klar, er fand Frauen oft schön, aber das hieß nicht, dass er sie gleich begehrte. Es war ähnlich wie bei Männern: Auch deren Schönheit konnte er anerkennen. Richtig umgehauen wurde er selten. Er hatte sich in seinem Leben bisher nur in zwei Frauen verliebt, und eine davon hatte gerade mit ihm Schluss gemacht – nach sieben Jahren. Es war gar nicht so schlimm, das Ende der Beziehung war ein schleichender Prozess, seitdem fühlte er sich wie in einer Blase und versuchte, sich abzulenken, vor allem durch die Dissertation.
Er hielt nichts von One-Night-Stands und hatte das vorher nie gemacht.
Er ging die Treppe hinunter Richtung Ausgang, wollte sie gar nicht grüßen. Gerade hatte er einen Theorietext für seine Dissertation gelesen und war noch in Gedanken, aber sie stand in der Mitte des Foyers, er musste zwangsläufig an ihr vorbei und sie grüßen. Nur ein Nicken. Er blieb nicht stehen, ging zügig Richtung Ausgang. Draußen war es ein wenig kühl. Er überlegte, seinen Pulli zu holen, doch aus Faulheit blieb er stehen – auch weil er sonst wieder an Anna vorbeigehen hätte müssen. Er stand allein vor der Albertina, und als Anna herauskam, war es offensichtlich, dass sie ihn ansprechen würde.
Wahrscheinlich machte sie einen blöden Spruch: Na, heute gar keinen Fußball glotzen? Du hast wohl samstagabends nichts Besseres vor, als in der Bibliothek zu sitzen? Auf jeden Fall sagte sie etwas Provozierendes und zwinkerte ihm zu.
Dass er Leute hasste, die zwinkerten, sagte Jonas und ich nickte. Es erinnerte ihn an seinen Lateinlehrer aus der siebten Klasse, der hatte ihm auch immer zugezwinkert und gefragt: Welcher Fall? Dativ oder Akkusativ? Und Jonas hatte sich unwohl gefühlt, weil der Lehrer das sonst mit niemandem in der Klasse machte und das Gerücht herumging, er sei schwul.
Jonas ignorierte Annas Fußball-Seitenhieb, er fragte sie nach einem Feuerzeug, sie zog eines aus ihrer Hosentasche und drehte sich selbst eine Zigarette. Woran er gerade arbeitet?
Es änderte sich jeden Tag. An manchen Tagen sprach er gern über die Doktorarbeit, an anderen reagierte er gereizt, wenn Leute danach fragten – meist, wenn es nicht gut lief. Bald arbeitete er ein Jahr daran. Er lag hinter seinem Zeitplan, war noch in der Recherchephase: Die Primärliteratur hatte er bereits gelesen, bloß die Sekundärliteratur machte ihm zu schaffen. Natürlich Connell beim Thema Männlichkeit, aber im Endeffekt waren das nur die Basics. Bei der Fragestellung zum Thema Raum schwamm er im Moment, fand nicht die richtige Theorie und las sich in Anthologien zu Raum in der Literatur fest.
Dass er über ukrainische Popliteratur promoviert. Sie musste lächeln, sagte ihm aber nicht sofort, warum. Jurij Andruchowytsch und Serhij Zhadan? Sie lag richtig und schmunzelte über sein erstauntes Gesicht. Es war nicht schwierig zu erraten, die beiden waren die wohl bekanntesten zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller. Natürlich gab es auch andere, aber die waren nicht übersetzt oder wurden nicht so breit rezipiert. Außerdem konnte sie darauf wetten, dass einer wie Jonas fast keine Literatur von Frauen las.
Ob sie die beiden kennt? Ja, natürlich, gelesen hat sie nur etwas von Andruchowytsch, genau – Moscoviada. Ja, interessant, es hat sie aber nicht überzeugt, zu chauvinistisch.
Wie oft er das schon gehört hatte. Diese Leute, die keine Ahnung von Literaturwissenschaft haben, die die Hauptfigur mit dem Autor verwechseln und die bloße Thematisierung von Sexismus mit deren Reproduktion. Sie diskutierten über das Buch, anfangs hatte er Angst, die Stimmung würde kippen und aggressiv werden, aber beide blieben einigermaßen sachlich.
Was sie studiert? Studiert hat, korrigierte sie ihn. Sie wusste, dass die Leute sie oft jünger einschätzten, als sie war. Dass sie dachten, sie sei 21 oder 22 Jahre alt, obwohl sie 27 war und dieses Jahr noch 28 werden würde. Translationswissenschaften, Russisch und Spanisch. Davon war er sichtlich beeindruckt. Welcher Art ihr Russlandbezug ist? Sie hatte keinen direkten Bezug zu Russland, sondern ist in der Ukraine geboren worden, und ihre Familie war Anfang der 1990er nach Deutschland gekommen. Nein, keine Kontingentflüchtlinge. Russlanddeutsche.
Er erzählte Anna, dass er selbst zwei Mal für längere Zeit in der Ukraine war, in Lwiw und in Kiew.
Sie freute sich, dass er Lwiw sagte und nicht Lemberg und dass er nicht weiter nachfragte, warum sie als Russlanddeutsche aus der Ukraine kam. Meistens dachten die Leute, sie käme aus Russland, aber Russlanddeutsche gab es nun mal auch in der Ukraine. Vielleicht war das der Moment, in dem ihre Faszination für ihn konkreter und er ihr sympathisch wurde.
Natürlich kannte er Winnyzja! – Julia, eine gute Freundin, die er in Lwiw kennengelernt hat, kam aus dieser Stadt, und er war mehrmals bei der Familie zum Essen. Er hat auch eine Zeit lang geglaubt, Julia wäre in ihn verliebt, und seine Freundin dachte das auch, Ex-Freundin, verbesserte er sich.
Winnyzja, die Stadt mit der berühmten Fontäne, sagte er, und beide lachten. Er hatte die Fontäne nie gesehen – zwischendurch dachte er, die Bewohner hätten sie erfunden, bis sich herausstellte, dass er immer zur falschen Zeit in der Stadt gewesen ist: im Winter, wenn sie ausgeschaltet war. Ein bisschen witzig war es schon, dass eine Fontäne, die das Wasser aus dem Fluss mehrere Meter hoch in die Luft spritzt, die berühmteste Sehenswürdigkeit in Winnyzja war. Touristisch gab es dort wirklich nicht viel zu holen; aber er fand die Stadt gemütlich, sie war nicht so groß und laut wie Kiew. Er mochte den Fluss, die Parks, die Straßenbahn aus Zürich, die durch die Stadt fuhr und auf der Werbung für das Zürcher Opernhaus abgebildet war.
Sie war nicht oft in Winnyzja gewesen; sie hatte kaum Kindheitserinnerungen an die Stadt, sie war mit vier Jahren von dort weggezogen und erinnerte sich vor allem an die Wohnung der Großeltern, die später nachgekommen waren. Fuhr die Familie heute in die Ukraine, besuchten sie nur Lwiw, dort wohnte eine Tante. Anna hatte kein gutes Bild von Winnyzja, sie fand die Stadt langweilig und trist – nicht so wie Lwiw, wo sie sich vorstellen konnte, einmal länger zu leben, weil sie die Stadt mit den verwinkelten Gassen mochte, und obwohl sie Hunderte Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt war, besaß sie einen südlichen Charme, und Anna vermutete hinter jeder Ecke das Meer. Lwiw – die Stadt der verwischten Grenzen, die auch in Polen, Tschechien oder Österreich liegen konnte mit den Jugendstilhäusern und den hippen Kneipen.
Sein Freiwilligenjahr nach dem Abitur. Obwohl er ausgemustert wurde, weil er so schlecht sah (und wegen seines Gewichts, aber das erzählte er ihr nicht, verriet er mir), wollte er nach der Schule nicht sofort anfangen zu studieren. Er hatte nicht gewusst, welches Fach, deswegen ging er nach Lwiw und half ehemaligen NS-Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern in ihrem Alltag. Wegen dieses Jahres in der Ukraine hatte er anschließend Ostslawistik studiert. Leipzig, weil er weg aus Frankfurt wollte; Berlin war ihm zu hip, der Osten war irgendwie anders.
Was sie heute Abend vorhat? Sie wollte ihn zuerst anlügen, sich etwas ausdenken, eine Party von einem Freund, wo sie hingehen muss, doch sie war schlecht im Lügen, und er hätte es wohl gemerkt. Sie sagte die Wahrheit: Nichts. Und du?
Dass sie nicht das Gefühl hatte, er würde irgendeinen Plan verfolgen. Die Frage nach ihren Abendplänen war nicht so direkt gemeint: Wollen wir etwas zusammen unternehmen? Sie war eher eine Floskel – etwas, das man sagt, wenn keiner mehr weiß, was er sonst sagen soll.
Es könnte sein, dass er so etwas gefragt hat. Es war doch normal, so etwas zu fragen. Er hat die Frage nicht als Vorschlag gemeint, dass sie den Abend gemeinsam verbringen sollten. Er war selbst überrascht davon, wie der Abend endete.
Auch er hatte keine konkreten Pläne, er wollte weiter an der Dissertation arbeiten, aber es wurde immer später, und es nutzte nichts, auf den Text zu starren und ihn nicht zu lesen, weil die Konzentration fehlte.
Er begann, sich zu ihr hingezogen zu fühlen. Vielleicht lag es daran, dass sie aus der Ukraine kam, aber darauf wollte er nicht festgelegt werden, er wollte nicht rassistisch erscheinen. Es war schön, dass sie etwas gemeinsam hatten – noch dazu ein Thema, worüber er nur mit wenigen Menschen sprechen konnte. Auch im Studium waren ihm nicht viele Leute mit Bezug zur Ukraine begegnet, die meisten hatten Auslandserfahrung in Russland, Belarus oder ungewöhnlichen Ländern wie Kirgisistan gesammelt. Die wenigen Kommilitonen, die mal in der Ukraine gewesen waren, mochte er nicht. Doch das traf auf die meisten Menschen zu. Vor allem jetzt, nach allem, was passiert ist, sagte er verbittert.
Dass sie sich gegenseitig Geschichten über Lwiw erzählten, über die Bars, in denen sie abgestürzt sind. Ja, die Bar am Ende der Virmens’ka, die von außen nicht als solche erkennbar war, deswegen verirrten sich nur wenige Touristen dorthin, die Eingangstür führte direkt in den Keller.
Weil sie viel über Alkohol sprachen, mussten sie zwangsläufig trinken. Bei der Albertina gab es keinen Späti in der Nähe und der Konsum hatte bereits geschlossen. Sie spazierten die Karli entlang, kauften sich am Südplatz einen kleinen Wodka und gingen Richtung Clara-Zetkin-Park.
Dass sie sich auf die Brücke setzten, es war schon dunkel. Nicht die Sachsenbrücke, auf der sich so viele Leute trafen, die andere, die kleinere, bei der Pferderennbahn. Sie waren die Einzigen darauf, manchmal fuhren Fahrradfahrer an ihnen vorbei, und wenn diese ohne Licht unterwegs waren, erschraken sie sich.
Und die Dostojewski-Phase! Dass sie alle Bücher hintereinander gelesen hat, mit 16: Erst Schuld und Sühne, dann Die Brüder Karamasow, Der Idiot, Die Dämonen –an dieser Stelle unterbrach er sie und normalerweise hasste sie es, wenn Typen sie unterbrachen und ihr etwas erklärten; vielleicht lag es am Wodka, dass sie ihn reden ließ.
Die Dämonen? Schuld und Sühne? Ob sie nicht die neuen Übersetzungen von Swetlana Geier gelesen hat? Da hieß Schuld und Sühne Verbrechen und Strafe und Die Dämonen Böse Geister. Dass diese Titel viel näher am Original sind.
Die Sympathie, die sie für ihn zu empfinden begonnen hatte, schwand wieder. Offensichtlich einer von der Sorte: Ich weiß alles besser, ein Korinthenkacker.
Vielleicht hat es die Bücher noch nicht in der Übersetzung gegeben, zu der Zeit, als sie sie gelesen hat, antwortete sie ihm.
Dass er sich sicher war, dass die Neuübersetzungen in den 2000ern erschienen sind – wie alt sie war? 27. Und er? Nur ein Jahr älter als sie und bald schon den Doktortitel in der Tasche. Sie bekam schlechte Laune.
Er konnte sich noch genau daran erinnern: Wie er die Bände von seiner Mutter zum 17. Geburtstag geschenkt bekommen und auch alle hintereinander gelesen hatte, wie sie, Anna.
Sie konnte ihm nicht lange böse sein.
Und die Pfeifen-Phase! Er ging mit einer Pfeife in die Schule und stand allein auf dem Pausenhof in der Ecke bei den Blumenbeeten und las. Und die Pfeife war natürlich viel zu stark für ihn, den Teenager. Und in der großen Pause, die 20 Minuten dauerte, traute er sich nur zweimal, an der Pfeife zu ziehen, musste dann den Husten unterdrücken – sonst wäre es peinlich geworden. Wenn es zur Stunde klingelte, die anderen Schüler bereits Richtung Klassenzimmer strömten, steckte er die Pfeife ein, zündete sich schnell eine Zigarette an und rauchte sie in hektischen Zügen, um seine Nikotinsucht zu stillen.
Da musste sie natürlich lächeln. Wie sie ihn sich vorstellte, als Nerd in der Schule, der von den anderen Schülern gehänselt wurde, der nur einen Freund hatte und die beiden verstanden sich eigentlich nicht, hatten keine Gemeinsamkeiten – nur ihre Unbeliebtheit machte sie zu Verbündeten. Er war einer dieser Außenseiter, der seine erste Freundin erst mit Anfang 20 hatte, und in dieser Zeit änderte sich auch sein Image. Dieselben Eigenschaften, die ihn früher als Nerd abstempelten, machten ihn im Studium – Geisteswissenschaften – cool, vor allem weil es im Studiengang nur wenig Männer gab.
Und natürlich Sorokin. Katja Petrowskaja war ihm zu sentimental.
Er griff ihre Katja Petrowskaja an? Sie liebte ihr Buch. Sie fand sich in der Suche nach der Familiengeschichte in der Ukraine wieder, aber wahrscheinlich konnte er, Jonas, das als weißer deutscher Mann nicht verstehen. Natürlich liebte er Sorokin. Sie sagte ihm nicht, dass sie ihn pornografisch, vulgär und eklig fand.
Er freute sich, dass er mit ihr über Literatur reden konnte. Seine Freunde hatten entweder Philosophie oder Soziologie studiert und überlegten jetzt verzweifelt, vielleicht Lehrer zu werden, nachdem sie festgestellt hatten, dass man als Geisteswissenschaftler in Leipzig keinen Job findet. Sie lasen nur Theorie, keine Literatur. Manchmal hatte er das Gefühl, sie verachteten sie sogar. Er liebte genau das an der Literatur, was seine Freunde nicht mochten: dass man keine klaren Thesen daraus ziehen konnte. Überhaupt konnte man nicht in Worte fassen, was sich in einem veränderte, nachdem man ein gutes Buch gelesen hatte. Jonas sagte, er wäre heute ein anderer Mensch, wenn er als Jugendlicher nicht so viele Bücher gelesen hätte.
Ja, dass sie gern über Literatur sprach. Doch Jonas wurde schnell theoretisch, und er musste jedes Buch interpretieren und in einen postmodernen Zusammenhang bringen, darauf hatte sie keine Lust. Außerdem verkam mit ihm das Gespräch zum bloßen Namedropping.
Dass sie anstießen auf die Literatur, die russische! Und die ukrainische! Und überhaupt – die Literatur!
Dass sie schnell betrunken wurde, nach nur wenigen Shots, weil sie nicht zu Abend gegessen hat. Dass er noch einen Wodka hervorzauberte, obwohl sie sich sicher war, dass sie im Späti nur einen gekauft hatten. Nein, sie hat freiwillig getrunken.
Dass er sie nicht abfüllen wollte, sagte Jonas. Es war einfach ein normaler Sommerabend in Leipzig, an dem nicht viel los war, und deswegen tranken sie. Dass es von ihr ausgegangen ist. Seit der Trennung von Lisa hatte er mit niemandem geschlafen. Dass auf der Brücke noch nichts passiert ist.
Irgendwann sagte sie, sie habe Hunger, und er meinte, er würde nicht weit von hier wohnen und hätte noch etwas zu essen zu Hause. Sie schlug vor, zu ihm zu gehen. Nein, geplant hat sie nichts, erzählte Anna. Sie hat sich nichts dabei gedacht.
Er wohnte wirklich nicht weit vom Park, in der Arthur-Hoffmann-Straße.