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Fatima El-Tayeb

Anders Europäisch

Rassismus, Identität und Widerstand im vereinten Europa

 

Übersetzt aus dem US-amerikanischen Englisch
von Jennifer Sophia Theodor und Fatima El-Tayeb

 

 

 

 

U N R A S T

 

 

 

 

Fatima El-Tayeb ist Professorin für Literatur, Ethnic Studies und Critical Gender Studies an der University of California, San Diego. Sie ist Autorin von Schwarze Deutsche. ›Rasse‹ und nationale Identität, 1890-1933 (Campus 2001) und zahlreichen Artikeln zur Konstruktion von ›Rasse‹, Geschlecht, Sexualität und Nation in Europa. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf Rassismus in Europa, Schwarzer und muslimischer Diaspora, transnationalem Feminismus, Queer of Color Critique, Populärkultur und Widerstand

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

Fatima El-Tayeb: Anders Europäisch

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-037-6

 

Die Veröffentlichung dieser Publikation erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin

 

© UNRAST Verlag, Münster

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Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Vorwort

Einleitung
Theoriebildung zu urbanen migrantisierten Communitys im postnationalen Europa

Fawaka, Merhaba, Conta Bai, Hoe Gaat Het?

Rassifizierung und Europa

Ethnizität queeren

Kapitelübersicht

»Fremd im eigenen Land«
Europäische Identitäten, Migration und diasporische Klanglandschaften

Rassismus, Religion und die Konstruktion einer kollektiven kontinentaleuropäischen Vergangenheit

Nachkriegsvereinigung, Humanismus und das koloniale Erbe

Die französischen Aufstände und das Scheitern des Multikulturalismus

Rassifizierte Jugendliche, urbaner Einschluss und das Recht, Rechte zu haben

Hip-Hop als diasporische Lingua Franca

Das Pariser Massaker 1961 und seine Nachwehen

Dimensionen von Diaspora
Frauen-of-Color-Feminismus, Schwarzes Europa und Queere Erinnerungsdiskurse

Von den Rändern her die afrikanische Diaspora neu denken

Rassifizierte Europäer_innen, Migrationsforschung und afrodiasporische Theorie

Afrodeutsche, Dritte-Welt-Feminismus und (trans)nationale Genealogien

Die Poetik der Beziehung: Von Schwarzem Feminismus zu Queer-of-Color-Aktivismus

Säkulare Unterwerfungen
Muslimische Europäer_innen, weibliche Körper und performative Politiken

Die Rassifizierung von Religion im säkularen Nordwesteuropa

Kosmopolitischer Humanismus, Postsäkularität und westliche Voreingenommenheit

Niederländischer liberaler Feminismus und die unhörbare Muslimin

Geschichten vom Ausbruch aus dem muslimischen Untergrund

Dänischer Sozialismus, Euro-Islam und muslimischer Feminismus

Die Blickpolitik der fortschrittlichen Islamfeindlichkeit

»Weil es unser Stiefvaterland ist«
Europäische öffentliche Räume queeren

Schwule Konsumenten und queere Waren in der neoliberalen Stadt

Queer-of-Color-Aktivismus zwischen Homonationalismus und Identitätspolitik

Genderqueerer terroristischer Drag im Zentrum Europas

Die Subversion des multikulturellen Blicks

Versteckte Geschichten migrantischer Handlungsfähigkeit aufdecken

Die »Autonomie der Migration« und ihre Unzulänglichkeiten

Schlussbetrachtung
Eine grenzenlose und unbestimmbare Bewegung

»Unsere Geschichte!«: Alte Erzählungen von einem neuen Europa

Unsprechbare Identitäten und Methodologien der Umlenkung

Rassifizierung, Religion und Widerstand im postnationalen Europa

Literatur

Vorwort

Anders Europäisch erschien 2011 im englischen Original, fast genau zehn Jahre nach meiner ersten akademischen Studie, Schwarze Deutsche. »Rasse« und nationale Identität, 1890-1933, und thematisch eng mit ihr verbunden. Beide Texte – und die anderen Projekte, einige akademisch, andere nicht, die zwischen ihnen liegen – haben das gleiche Ziel: die Präsenz derjenigen, die aus Deutschlands und Europas Vergangenheit und weitestgehend auch Gegenwart gelöscht wurden und werden, wieder in diese Geschichte einzuschreiben. Ich will zu einem alternativen Archiv beisteuern, das die Kreativität und Widerstandskraft europäischer Communitys of Color dokumentiert, und so zu ihrer Stärkung beiträgt – und zur Schwächung eines europäischen Solipsismus, der sich in der beharrlichen Weigerung ausdrückt, sich auf einen echten Dialog mit denjenigen einzulassen, die allzu lange komfortabel auf Distanz und still, oder besser ungehört, gehalten wurden. Die Ausgrenzung rassifizierter Bevölkerungsgruppen, d.h. deren Positionierung außerhalb Europas, funktioniert durch ein nur selten explizit gemachtes, aber kontinentweit wirkmächtiges System vor allem visueller Markierungen, die nicht-weiße und nicht-christlich sozialisierte Menschen als notwendigerweise nicht-europäisch festschreiben. Ihre Präsenz, auch wo sie schon Jahrhunderte währt, erscheint so im besten Fall als eine Herausforderung für den Kontinent, im schlimmsten als eine Bedrohung.

Insofern ist es kein Zufall, dass dieses Buch zuerst in den USA veröffentlicht wurde, wo ich seit Längerem lebe und arbeite. Die normalisierten, weitgehend unhinterfragten europäischen Rassifizierungsprozesse machen Europäer_innen of Color zu ewigen Außenseiter_innen und verhindern so effektiv eine Kritik von innen. Rassifizierte Menschen im Allgemeinen und rassifizierte Forscher_innen im universitären Betrieb im Besonderen sind immer noch weitgehend ausgeschlossen – was die anhaltende Überzeugung widerspiegelt, dass sie und ihre Geschichte(n) »nicht wirklich dazugehören«. Um das zu ändern, ist es nötig, Europas internalistisches Narrativ grundsätzlich zu hinterfragen. Dieses Narrativ positioniert diejenigen, die Europas Außen verkörpern – Muslim_innen, Rrom_nja, Afroeuropäer_innen und andere – als ewige Störenfriede, für immer im Zustand verfangen, gerade angekommen zu sein. Für diese Störenfriede ist Widerstand alltägliche Überlebensnotwendigkeit, auch und gerade, wenn er Formen annimmt, die in dominanten Diskursen nicht (oder nicht korrekt) lesbar sind, weil sie eine radikal andere Realität von Europäischsein verkörpern. Diese Realität fällt außerhalb des analytischen Horizonts des angeblich farbenblinden Universalismus rassismusprivilegierter weißer europäischer Theoretiker_innen, die dennoch Theoriemodelle aus rassifizierten Communitys weitgehend ignorieren (und die Selbstorganisierung von Menschen of Color gern als limitierte, subjektive Identitätspolitik abqualifizieren).

Ich argumentiere dagegen, dass nur die Analyse des Prozesses der Rassifizierung aus der Sicht der Rassifizierten selbst die Werkzeuge zu dessen Dekonstruktion schaffen kann. Werkzeuge, die von anderen nicht nur benutzt und weiterentwickelt werden können, sondern müssen (so wie ich hier versuche, die bisher hauptsächlich auf die USA fokussierte Queer-of-Color-Kritik auf europäische Konstellationen anzuwenden). Es ging mir darum, Strategien nachzuverfolgen, die kontinentalen Rassismus explizit und kreativ angreifen und zwar aus der unmöglich gemachten Perspektive nicht-weißer /nicht christlich sozialisierter Europäer_innen. Besonders interessiert war ich an den Widerstandsstrategien derjenigen, deren Existenz kaum vorstellbar, marginal, irrelevant, lästig oder bedrohlich ist für jene, die sich (in welchem Kontext auch immer) normal, in der Mehrheit, zivilisiert wähnen: radikaldemokratische Queer-of-Color-Kollektive, trashige Transperformer_innen, feministische Hijabis, oder Guerilla-Videokünstler_innen. Ich gehe davon aus, dass ihre zentrale Rolle in der Destabilisierung europäischer Rassifizierungsstrukturen kein Zufall ist, sondern Produkt ihrer multiplen Marginalität, die eine Perspektive erlaubt, in der die Idee des Normalen, des Normativen an sich infrage gestellt wird. Und genau das ist nötig, um einen eurozentrischen Rassismus zu beenden, der nicht nur in Extremen, sondern genau in Europas Normalität begründet ist.

 

Als ich vor mehr als zehn Jahren an diesem Projekt zu arbeiten begann, zeichnete ich etwas auf, das gerade geschah. Gegen Ende des Schreibprozesses schien es dagegen schon weitgehend Vergangenheit: viele Gruppen hatten sich aufgelöst oder waren vereinnahmt worden (andere, wie ADEFRA – Schwarze Frauen in Deutschland, Mitte der 1980er gegründet, sind dagegen noch immer aktiv). Hip-Hop ist fest im Mainstream verankert, und zunehmend aggressive Islamfeindschaft hat zu einer Gegenbewegung weg von »postethnischen« Koalitionen hin zur Affirmation der attackierten Identität geführt. Die Bewegung, die ich hier nachzeichne, ein heterogenes, widersprüchliches, rebellisches Kollektiv aus Gruppen, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben, hat sich scheinbar verlaufen. Was sie vereinte, war die Weigerung, sich in etablierte Kategorien einordnen zu lassen, ob die nun aus der Dominanzgesellschaft kamen oder aus ethnisierten Communitys, der internationalistischen Linken oder progressiven queeren Gruppen. Ihr Aktivismus reflektiert so eine entscheidende, unumkehrbare Entwicklung: die Präsenz von Europäer_innen of Color, deren alltägliche Widerstandspraxis nicht nur Europas Verständnis von sich selbst als weißem Kontinent erschüttert, sondern auch eine neue Phase der Koalitionsbildung verschiedener rassifizierter Gruppen ermöglicht – über nationale Grenzen hinweg, aber ebenso sehr auf lokaler Ebene, innerhalb eines Viertels, einer Nachbarschaft.

Mir liegt nicht daran, diese Bewegung (oder Bewegungen) zu idealisieren, es ist mir aber außerordentlich wichtig, daran zu erinnern, dass es sie gab und gibt; dass Aktivismus ständig den Horizont des Möglichen, des Denkbaren überschreitet und Konstellationen schafft, die, wenn auch manchmal nur für einen kurzen Moment, neue Möglichkeiten aufzeigen und so langfristig die Grenzen des Denkbaren verschieben. Diese Bündnisse – sei es bei der Besetzung der Kreditaufsichtsbehörde in La Paz, auf Kairos Tahir Square, in Istanbuls Gezi Park oder innerhalb der europäischen Kollektive, die ich beschreibe – werden oft von denen getragen, denen es am wenigsten zugetraut wird, weil sie scheinbar nicht organisiert genug sind, nicht pragmatisch genug, zu undiszipliniert und weil sie Agitationsformen benutzen, die oft in den als apolitisch definierten Bereich von Alltags- und Populärkultur fallen. Das wird dann für ihr angebliches Scheitern verantwortlich gemacht, und allzu oft ist es dieses Scheitern, das politische und kulturelle Analysen bestimmt, nicht der Erfolg, den das Entstehen dieser Koalitionen und ihr radikales Infragestellen des Machbaren darstellt. Mein Ansatz ist nicht präskriptiv, sondern deskriptiv: Ich zeichne alltägliche Widerstandsformen nach, die bereits praktiziert wurden und die archiviert werden müssen, da sie keinen Eingang in dominante Geschichtsschreibungen finden – das Undenkbare bleibt undenkbar, weil es aus der kollektiven Erinnerung gelöscht wird.

 

Natürlich hat sich seit der Veröffentlichung von European Others 2011 einiges verändert – im Positiven wie Negativen. In Deutschland im Besonderen ist über die letzten Jahre, nicht zuletzt dank der unermüdlichen und weitgehend unerwähnten Arbeit von Aktivist_innen of Color, Rassismus erstmals als solcher benennbar geworden – nach Jahrzehnten des sturen Festhaltens an dem irreführenden Begriff »Ausländerfeindlichkeit«, der genau die Ausschlussmechanismen und ihr Unsichtbarbarmachen wiederholte, die der Begriff zu kritisieren vorgab. Rassismus, sicher in seiner deutschen Variante, hat nichts mit Staatsangehörigkeit oder »Fremdheit« zu tun, sondern mit Rassifizierungsprozessen, deren Wurzeln innerhalb der deutschen Gesellschaft liegen und nicht bei »Ausländern« und ihrer angeblich fremden Kultur zu suchen sind. Es ist wichtig, dass die Stimmen von rassifizierten Menschen Teil der Mainstream-Debatte werden. Diese Stimmen und die Argumente, die sie in die Diskussion einbringen, sind aber natürlich nicht neu, auch wenn es innerhalb der Dominanzgesellschaft, sei es in medialen, akademischen oder politischen Diskursen, gern so dargestellt wird. Neu ist die – immer noch sehr begrenzte – Bereitschaft der Mehrheitsdeutschen. sich auf die Kommunikation einzulassen. Die Grenzen dieser Bereitschaft sind allerdings ebenfalls überdeutlich – vom »Ende des Multikulturalismus« über Pegida und Beschneidungsdebatte hin zu euphemistischen Rassifizierungen wie »Bürger_in mit migrantischem Hintergrund« oder »Deutschtürke« und Black Studies ohne die Beteiligung Schwarzer Forscher_innen und »Flüchtlingskrise« ohne Analyse von (Neo)Kolonialismus. All dies ist nicht Reaktion – auf Überfremdung, Islamisierung oder was auch immer –, sondern Aktion aus der Mitte der Gesellschaft, in langer europäischer Tradition. Aber wie der Rassismus selbst, so setzt sich auch der Widerstand gegen ihn fort. Kollektive wie die Pariser Lesbiennes of Color oder Diásporas Críticas in Barcelona bewegen sich in der Tradition des intersektionalen Queerens von Europäischseins, das Gruppen wie Strange Fruit in Amsterdam oder der Berliner Salon Oriental im späten 20. Jahrhundert praktizierten, auch wenn Erstere wahrscheinlich noch nie von Letzteren gehört haben. Denn es gibt nach wie vor zu wenige Orte, materiell oder virtuell, an denen alternative Geschichten ausgetauscht und weitergegeben werden können. Dennoch gehört die Fülle neuer deutschsprachiger Veröffentlichungen zu internem Rassismus zweifellos zu den positiven Entwicklungen der letzten Jahre – das Archiv des anderen Europa wächst stetig.

 

Ich hoffe, das Erscheinen der deutschen Ausgabe zu diesem Zeitpunkt kann dazu beitragen, die Debatte voranzutreiben und historisch zu verankern. Zumal Deutschland zweifellos der Ausgangspunkt dieser Studie ist, auch wenn es eines meiner zentralen Argumente ist, dass ein spezifischer, europaweiter Rassismus existiert, der trotz nationaler Besonderheiten als solcher analysiert werden muss. In diesem Sinn beruht mein Ansatz auf queerer Identitätspolitik, mein analytischer Rahmen auf der Erfahrung, eine unmögliche Identität zu leben: die einer Europäerin of Color, genauer einer Schwarzen Deutschen. Schwarz in Deutschland aufzuwachsen, bedeutete, ständig und emphatisch darauf hingewiesen zu werden, dass diese beiden Dinge nicht zusammengehören und dass meine Existenz daher sowohl eine Anomalie als auch eine Provokation darstellte. Meine Reaktion auf diese konstante Botschaft war die Suche nach einer alternativen Community und einer anderen deutschen Geschichte. Erstere fand ich in der Schwarzen Diaspora – im Vor-Internetzeitalter war zunächst die Dorfbücherei mein Tor zur Schwarzen, primär afroamerikanischen Welt, später die entstehende afrodeutsche Bewegung. Der zunehmende Austausch mit anderen Schwarzen Deutschen bestärkte mich in der Überzeugung, dass Deutschland historisch nicht so weiß sein konnte, wie behauptet wurde. Und obwohl die Existenz von Europäer_innen of Color innerhalb meines Geschichtsstudiums gänzlich unerwähnt blieb, gab dieses Studium mir immerhin die nötigen Werkzeuge, um zur autonomen afrodeutschen Geschichtsschreibung beizutragen. Nach dem Studienabschluss verließ ich das gleichbleibend rassistische wiedervereinigte Deutschland für das scheinbar viel tolerantere Amsterdam. Es dauerte jedoch nicht lange, bis mir klar wurde, dass hier – und in Kopenhagen, Paris oder Madrid – erstaunlich ähnliche Vorstellungen und Praktiken der Rassifizierung nationaler Identität bestanden. Und, ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, dass rassifizierte Bevölkerungen in ganz Europa ähnliche Widerstandspraktiken entwickeln. Was sie miteinander gemein haben, ist nicht eine imaginierte kulturelle oder »rassische« Essenz, sondern die Erfahrung des Ausgelöscht- und Unmöglich-gemacht-Werdens, der Zuschreibung einer Identität, die notwendigerweise mit gelebter Erfahrung kollidiert. Anders europäisch bietet daher sowohl eine intellektuelle Genealogie der systematischen und zum Schweigen gebrachten Präsenz von Rassismus im Zentrum europäischer Identität als auch des subversiven kulturellen Aktivismus marginalisierter Gruppen. Beide zusammen präsentieren eine dringend notwendige Korrektur der dominanten Repräsentationen europäischer Geschichte und Gegenwart, die immer deutlicher mit der Realität kollidieren.

 

Mein besonderer Dank gilt Jodi Melamed und ihren Student_innen an der Humboldt Universität Berlin, die zuerst die Idee einer Übersetzung ins Deutsche hatten. Ein Treffen mit einigen dieser Studentinnen of Color war sowohl inspirierend als auch deprimierend: in den letzten zwanzig Jahren scheint sich wenig im Uni-Betrieb geändert zu haben – (fast) keine Dozent_innen of Color, keine Berücksichtigung von Theoretiker_innen of Color (zumindest, was den deutschen Kontext betrifft); Weißsein als unhinterfragte Norm sowohl auf dem Lehrplan wie im Seminarraum und Hilflosigkeit bis Aggressivität als Reaktion auf Kritik an der Abwesenheit nicht-weißer/nicht-christlich sozialisierter Positionen, Theorien, Körper. Inspirierend dagegen war die Widerstandsfähigkeit und Kreativität der Studentinnen, ihr Unwille, sich der weißen Norm zu unterwerfen. Ohne Jodis Energie und die großzügige Unterstützung durch Eva Bösenberg und Kai Linke an der HU wäre aus der Idee zur Übersetzung nie eine Realität geworden. Ebenfalls dankbar für ihre Hilfe bin ich Grace Hong, Co-Herausgeberin der Difference Incorporated Reihe der University of Minnesota Press, in der European Others erschien. Schließlich ein großes Dankeschön an Jen Theodor für die fantastische Zusammenarbeit im nicht immer einfachen Übersetzungsprozess.

Einleitung

Theoriebildung zu urbanen migrantisierten Communitys im postnationalen Europa

»Heimsuchung [haunting] erschien mir tatsächlich als eben jener Bereich des Umbruchs und der Unruhe, dieser Moment (gleich welcher Länge), wenn Dinge nicht an ihren zugewiesenen Orten sind, wenn die Risse und Manipulationen [rigging] offenliegen, wenn die Menschen, die unsichtbar sein sollen, auftauchen und ohne Anzeichen des Gehens bleiben, wenn verstörte Gefühle nicht zur Seite gelegt werden können, wenn etwas Anderes, etwas vom Vorherigen Verschiedenes, als etwas erscheint, das getan werden muss. Es ist dieser soziopolitisch-psychologische Zustand, auf den sich Heimsuchung bezog.«

Avery Gordon, Ghostly Matters

 

»Wenn untergeordnete Gefüge [formations] zu Methode und Theorie werden, dann rücken neue Analytiken in den Vordergrund, die die Universalismen, mit denen wir heute leben, von unten nach oben und von innen nach außen kreolisieren.«

Shu-mei Shih und Françoise Lionnet, The Creolization of Theory

Fawaka, Merhaba, Conta Bai, Hoe Gaat Het?

Im Sommer 2007, inmitten fortwährender Diskussionen um Islam, Migration, »Schwarze Schulen«[1] und holländische Kultur, präsentierten die niederländischen Medien ihrem Publikum ein von ihnen als neu erachtetes Phänomen: Straattaal, oder Straßen-Slang, eine neue Jugendsprache, die in Städten des ganzen Landes gesprochen wird. Die liberal-christliche Zeitung Trouw versuchte eine autoritative Definition: »Straattaal – die holländische Version amerikanischen Slangs – stammt aus multikulturellen Jugendgruppen (insbesondere in Damsko, Amsterdam) und beinhaltet unter anderem Wörter aus dem Englischen/US-Amerikanischen, Sranantongo und Marokkanischen« (Pronk 2007).[2] In ihrem Bericht von einem Treffen zu Straattaal bringt die Journalistin der Trouw Beispiele aus dieser, vor allem von allochthonen Jugendlichen gesprochenen, »geheimen Sprache« – einschließlich des mehrsprachigen Grußes, der diesen Abschnitt betitelt und Wörter aus Sranantongo, Arabisch, Papiamento und Niederländisch enthält und sich etwa als »Was ist los, willkommen, wie geht’s?« übersetzen lässt. Sie beendet ihren Artikel mit Spekulationen darüber, ob dieser neue hybride Code die Integration seiner Sprecher_innen (vornehmlich niederländische Staatsbürger_innen of Color) behindert oder fördert.

Mein Buch wird einige Fragen aus der niederländischen Diskussion aufgreifen und sie in einen breiteren und in mancher Hinsicht recht anderen Kontext stellen. Statt als neues Phänomen oder als Zeichen der »Amerikanisierung« niederländischer Jugendlicher sehe ich Straattaal und andere lokale Variationen dieser »Multi-Ethnolekte« (Wiese 2009, 782) in ganz Europa als symptomatisch für einen schon lange begonnenen Prozess; nämlich für die Entstehung multikultureller minorisierter Gemeinschaften in kontinentaleuropäischen städtischen Zentren, die sich durch die unklaren und prekären Lebensbedingungen ihrer Bewohner_innen auszeichnen.[3] Seit ihrer verstärkten Ankunft in den 1950er Nachkriegsjahren stehen Migrant_innen und ihre bestrittene Fähigkeit, sich europäischen Gesellschaften anzupassen, im Zentrum öffentlicher und politischer Debatten. Paradoxerweise haben sich diese Debatten in den letzten 50 Jahren wenig verändert – ihr Fokus liegt oft noch immer auf dem Moment der Ankunft und »Was wenn«-Szenarien, nämlich: Was geschieht mit Europa, wenn diese Menschen bleiben (siehe u.a. Schramma 2001)? Ein halbes Jahrhundert später sollte es ziemlich offensichtlich sein, dass die große Mehrheit der Immigrierten geblieben ist und sich das Gesicht Europas entsprechend verändert hat. Die logische Schlussfolgerung, dass sie nun ebenso europäisch sind wie jene, die sich ihretwegen sorgen, wird jedoch selten gezogen. Sie wird von einem oft unausgesprochenen, und dennoch scheinbar sehr präzisen, rassifizierten Verständnis echten Europäischseins verhindert, das weiterhin bestimmte Migrant_innen und ihre Nachfahren ausschließt.[4]

Als Ergebnis hieraus entstanden seit Mitte der 1980er Jahre in den Metropolen des Kontinents neue Netzwerke, die auf der Erfahrung einer zunehmend jüngeren, ethnisch diversen, städtischen Bevölkerung basieren. Diese ist mit widersprüchlichen Projektionen, Anforderungen und Zuschreibungen hinsichtlich nationaler und ethnisierter Identifikationen konfrontiert, die oft in starkem Gegensatz zu ihren komplexen Lebensrealitäten stehen. In Reaktion auf die spezifischen Formen ihrer Exklusion und Marginalisierung, beziehen sich migrantisierte[5] Bevölkerungen regelmäßig auf Widerstands- und Analyseformen von außerhalb Europas, die in transnationalen Diaspora-Diskursen kursieren – von Hip-Hop-Kultur bis Frauen-of-Color-Feminismus[6] –, und verändern sie.[7] Anders Europäisch erkundet diese Widerstandskulturen und ihre kreative Kreolisierung politischer Bewegungen mithilfe einer innovativen theoretischen Linse. Ich schöpfe aus einer Reihe von Methodologien, die üblicherweise in und auf Europa nicht angewendet werden, wie Kritische Rassismustheorie (Critical Race Theory), Queer-of-Color-Kritik, karibische Créolité. Dies ist dementsprechend ein Buch, das Rassismus, Identität und Widerstand thematisiert und dabei eine Gruppe in den Blick nimmt, die in öffentlichen und akademischen Diskursen weitgehend unsichtbar ist, nämlich Europäer_innen of Color.

Die Begriffe »of Color« und »Europa« bedürfen der Klärung und da beide für meine Studie zentral sind, will ich mich bemühen, sie exakt zu verwenden. Dennoch beansprucht meine Definition von »Europäer_innen of Color« keine wissenschaftliche Präzision. Obwohl Rassifizierungen immer vorgeben, natürliche, unveränderliche, offensichtliche Tatsachen zu benennen, sind sie immer uneindeutig, veränderlich und instabil. Dies wird durch etwas versteckt, das Étienne Balibar die »fiktive Ethnizität« nennt, auf der alle Nationalstaaten aufgebaut sind:

»Keine Nation besitzt eine natürliche ethnische Grundlage. Vielmehr werden in der Nationalisierung sozialer Formationen die Bevölkerungen, die in ihnen eingeschlossen, zwischen ihnen aufgeteilt oder von ihnen beherrscht werden, ethnisiert – d.h. in der Vergangenheit oder Zukunft so repräsentiert, als ob sie eine natürliche Gemeinschaft bildeten, die von sich selbst eine Identität der Ursprünge, Kultur und Interessen besitzt, die individuelle und gesellschaftliche Bedingungen transzendiert.« (Balibar 1994, 224)

Balibar zufolge wird fiktive Ethnizität durch zwei primäre Werkzeuge konstruiert, Sprache und Rassifizierung [race][8], die beide durch meine Studie hindurch zentral bleiben. Denn ich untersuche ihre Bedeutung in der Schaffung sowie in der Unterwanderung [queering] und Destabilisierung der fiktiven europäischen Ethnizität.[9]

Die Geschichte der Rassifizierung in Europa betont Rasse mehr als soziales denn als biologisches Konstrukt (Mosse 1978; Gilroy 2000) und in ihrer aktuellen Konfiguration ist sie eng verwandt mit dem, was Rey Chow im US-Kontext »die Ethnisierung von Arbeit« nennt (Chow 2000). Dies ist »ein flexibler sozialer Mechanismus zur Herstellung einer internen Grenzziehung zwischen dem, was auf der einen Seite als richtig und wertvoll gilt und auf der anderen Seite als fremd und minderwertig« (Adelson 2005, 8). Chow meint weiter, dass »die Erfahrung der Migration […] schlicht die Verbindung zwischen kommodifizierter Arbeit und Ethnisierung hervorhebt und verstärkt, die in einer Gesellschaft hergestellt wird, sogar wenn es keine Migrant_innen gibt, sogar wenn Migrant_innen Staatsbürger_innen geworden sind« (Chow 2002, 34). Das »Ethnische« ist somit das Ergebnis hierarchisierter Strukturen der Arbeit, die »ethnische Differenz« nicht einfach verwenden, sondern sie herstellen. Das »Ethnische« ist somit nicht, wie oft im neoliberalen Diskurs vorgegeben, eine neutrale, genaue und nicht-binäre Begrifflichkeit für eine weitgehend objektifizierbare regionale Differenz, die den aufgeladenen und uneindeutigen Begriff der »Rasse« ersetzt (Hong 2008). Stattdessen ist es genau der Prozess der Ethnisierung, der ethnisierte Bürger_innen permanent als »Migrant_innen« definiert – sie migrantisiert. So entsteht eine Sackgasse, die unvermeidbar

»die positivistische Ansicht [verstärkt], dass Ethnisierte tatsächlich Fremde von anderswo sind, und schließlich ein Konzept von Ethnizität als a priori, essenzialistischen Zustand der Fremdheit unterstützt […]. [D]as Ethnische als solches steht in der Moderne als Stätte einer Fremdheit, die von innerhalb privilegierter Gesellschaften hergestellt wird und durch die hierarchischen Arbeitsteilungen dieser Gesellschaft bestimmt wird und zugleich für sie konstitutiv ist.« (Chow 2002, 34)

Wie Leslie Adelson für den deutschen Kontext gezeigt hat (Adelson 2005), kann Chows Definition enorm hilfreich sein, um zu untersuchen, wie Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg eine ethnisierte Bevölkerung produzierte, die trotz ihres häufigen Erwerbs der Staatsangehörigkeit weiterhin als migrantisch, als »Fremde von woanders« wahrgenommen wird. Im Folgenden schlage ich vor, dass dieses Argument auf Nachkriegsprozesse der Ethnisierung in ganz Europa ausgeweitet werden kann, die sich eng mit längerfristigen, teilweise vorkapitalistischen Prozessen der Rassifizierung überlappen (Balibar 2004; Goldberg 2006; wird später genauer besprochen).

Der geographische Fokus dieser Studie auf Kontinentaleuropa beinhaltet in seiner üblichen Verwendung die Nationen westlich des Urals. Alle Teile Europas setzen auf »Weißsein« als Norm, für die Ethnisierung als Werkzeug der Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Ausgeschlossenen fungiert – das ist eine Schlüsselthese dieses Buchs. Was dieses Verständnis von Weißsein im europäischen Kontext ausmacht, kann jedoch nicht vorausgesetzt werden. Wie die sich entwickelnde europäische Weißseinsforschung gezeigt hat, unterscheiden sich die rassistischen Paradigmen Kontinentaleuropas in einer Reihe von noch weiter zu untersuchenden Aspekten vom US-Kontext, aus dem Weißseinsforschung stammt.[10] Es ist nichtsdestotrotz offenbar, dass der Anspruch auf dieses Weißsein durch Ost- und Südeuropa uneindeutiger ist als im Nordwesten des Kontinents. Seit dem Ende des Staatssozialismus sind Migrationsmuster zunehmend durch die Ungleichheit zwischen reichem Westen und armem Osten strukturiert. Und Zentral- und Osteuropäer_innen bilden die bei Weitem größte migrierte Gruppe in Westeuropa (Europäische Kommission 2008). Osteuropäische Immigration, besonders aus Noch-nicht-EU-Ländern, lässt sich selbstverständlich als ethnisierte Arbeit fassen. Und während sie durch die aktuelle Hervorhebung einer kulturell-religiösen Rahmung von Ausschlüssen eine gewisse Zugehörigkeit als »christlich« gewannen, leiden Südeuropäer_innen, die im Rahmen von Gastarbeitsprogrammen der Nachkriegszeit in großen Zahlen nach Norden kamen, oft noch immer an den Effekten von Rassifizierung (siehe z.B. Klimt, in: Eder 2003). Wenn ich also von rassifizierten Minderheiten in Westeuropa spreche, sind Gruppen mit ost- und südeuropäischem Hintergrund somit meist eingeschlossen. Dies soll aufzeigen, dass das Othering[11] dieser Gruppen, obgleich eng verknüpft mit der Ethnisierung von Arbeit, Teil eines größeren Wissenssystems ist, das über den Kontext kapitalistischer Arbeitsproduktion hinausgeht (siehe Gutiérrez Rodríguez/Steyerl 2002; Ha, Lauré al-Samarai/Mysorekar 2007).[12]

Doch gängige Diskurse über Migration – insbesondere wenn sie in negativen Begriffen formuliert sind – zielen weitgehend auf »sichtbare Minderheiten«, vertreten durch Menschen mit nicht-europäischem Hintergrund und Muslim_innen (einschließlich jener mit osteuropäischem Hintergrund), deren Situation sich daher in mancher Hinsicht deutlich von jener von Migrant_innen und Migrantisierten aus der europäischen »Peripherie« unterscheidet. Der Begriff »Europäer_innen of Color« soll sich daher auf jene Bevölkerungsgruppen beziehen, die aufgrund einer rassifizierten und kulturalisierten Differenz, die an einen nicht-europäischen Ursprung geknüpft wird (einen Ursprung, der, wie im Fall der Rrom_nja, Jahrhunderte in der Vergangenheit liegen mag), als inhärent »uneuropäisch« definiert werden.[13] Wie ich im nächsten Abschnitt genauer bespreche, beziehen sich die Mittel, durch die Migrantisierte – oft mit Migrationsgeschichten aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten – von »echten« Europäer_innen unterschieden werden, auf vorgeblich angeborene, sichtbare, unveränderliche Differenzen von dem, was die verbreitete Vorstellungswelt als europäisch betrachtet. Es handelt sich hierbei um eine Wahrnehmung, die ein essenzialistisches Verständnis von Kultur zugrunde legt, das weitgehend den früheren Zuschreibungen ähnlicher Eigenschaften zu denselben Gruppen unter der Rubrik ›Rasse‹ folgt.

Sich auf Rassifizierung als heimisch im zeitgenössischen europäischen Denken zu beziehen, widerspricht jedoch dem machtvollen Narrativ von Europa als ›farbenblindem‹ [colorblind] Kontinent, der weitgehend von der zerstörerischen Ideologie unberührt geblieben sei, die er in die ganze Welt exportierte. Dieses Narrativ, das Kontinentaleuropa als einen Raum einfasst, der frei von »Rasse« (und darin impliziert auch von Rassismus) sei, ist nicht nur zentral für die Selbstwahrnehmung von Europäer_innen, sondern hat auch nahezu globale Akzeptanz gewonnen. Trotz des geographischen und intellektuellen Ursprungs des Konzeptes von Rasse in Europa – ganz abgesehen von den explizit rassistisch begründeten Strukturen, die sowohl seine faschistischen Regimes als auch seine kolonialen Imperien charakterisierten – ist der Kontinent in Diskursen über Rassifizierung und Rassismus oft bestenfalls am Rande des Blickfelds. Insbesondere hinsichtlich zeitgenössischer Konfigurationen, die oft eng mit den USA als einem Zentrum expliziten Rassismus-Diskurses und des Widerstands dagegen identifiziert werden.

Diese Position ist beispielsweise in Pierre Bourdieus und Loïc Wacquants einflussreichem und umstrittenem Aufsatz »Die List der imperialistischen Vernunft« (1998) nachdrücklich vertreten worden. Hierin wird behauptet, dass die gegenwärtige US-Dominanz auf jeder Ebene internationaler Beziehungen, einschließlich akademischer Diskurse, weltweit Konzepte und Themen auferlegt, die eigentlich nur für diesen US-Kontext spezifisch seien, was eine »›Globalisierung‹ amerikanischer Problematiken« verursache (Bourdieu/Wacquant 1998, 11). Eines der zentralen Beispiele der Autoren ist die schädliche Einführung von »Theorien der Rassenbeziehungen« [sic] als analytischem Rahmen in Kontexte, wie dem Europäischen oder Lateinamerikanischen, denen er fremd sei. In starkem Kontrast zu Chows Theorie einer Ethnisierung von Arbeit, präsentieren Bourdieu und Wacquant »Rasse« und »Klasse« als Alternativen zueinander und beenden ihren Text in einer Bekräftigung von Klasse als universell relevanter Kategorie gesellschaftlicher Analyse, während sie Rasse auf den minderen Status des (US-)Partikularismus verweisen (Bourdieu/Wacquant 1998, 19).[14]

Die polemische Beschaffenheit des Essays unterscheidet ihn von differenzierteren Abwägungen der Nützlichkeit der Kategorien der Rassifizierung für kontinentaleuropäische Forschung insbesondere zu Migration (genauer in Kapitel 2). Nichtsdestotrotz drückt er eine Reihe von Annahmen, Haltungen und Strategien aus, die vor allem im politischen Diskurs gängig sind, aber auch in der kontinentaleuropäischen Forschung. Darunter sind: der Verdacht, dass »rassismuskritische Analytik« nicht viel mehr leistet als den relevanteren Blick auf »Klasse« zu trüben; die Idee, dass der US-Kulturimperialismus organische, authentische und formal vollständige analytische Konzepte zerstört, die den betroffenen Regionen inhärent sind, indem er unorganische Kategorien wie »Rasse« aufzwingt; die Diskreditierung von Vertreter_innen der Nützlichkeit von Rassismusanalysen auch außerhalb der USA als Kollaborateure mit dem US-Imperialismus, (was ihnen eine stellvertretende Macht zugesteht, die sie nicht innehaben, wenn wir nicht die volle Kraft der einzigen Supermacht hinter ihnen wähnen); und ein Verständnis von US-Theoretisierungen von Rassismus, das – insbesondere in seiner Erfassung der Forschung von Autor_innen of Color – meist oberflächlich ist (und etwa etablierte Konzepte wie Intersektionalität, Crenshaw 1991, zugunsten einer vereinfachten Binarität von Rasse und Klasse ignoriert; siehe z.B. Griffin/Braidotti 2002).[15]

Des Weiteren produziert Bourdieus und Wacquants defensiver Tenor – »Das Konzept des Rassismus wird so also nicht zu einem analytischen Werkzeug, sondern zu einem simplen Anklageinstrument; unter dem Deckmantel der Wissenschaft wird der Prozeß gemacht […]« (Bourdieu/Wacquant 1998, 9) – das Gefühl einer Belagerung, eines enorm ungleichen Kampfes, in dem intellektuelle Ehrlichkeit und Wissenschaft gegen den Angriff einer US-basierten »political correctness« verteidigt werden muss, die sich oft in einer Terminologie über Rassismus ausdrückt, die jeglicher feministischen und queeren Kritik an migrantischen Gruppen den Mund verbietet (ebd., 6). Dieser Tenor und die Vorstellung von Europa als bedroht – durch kulturelle und intellektuelle »Amerikanisierung« sowie politische Korrektheit auf der einen Seite und durch migrantischen Anti-Aufklärungs-Fundamentalismus auf der anderen – platziert den Kontinent in der Position des Opfers, das viel mehr mit der Verteidigung seiner Werte beschäftigt ist als damit, diese anderen aufzuerlegen. Das Bild einer europäischen Kultur, die von möglicher Auslöschung oder zumindest Verwässerung bedroht ist, erlaubt eine binäre statt interaktive Sicht auf kulturellen Austausch und ist ein gängiger Grundzug im europäischen Diskurs geworden; insbesondere über die muslimischen Bevölkerungen des Kontinents, wie in den Kapiteln dieses Buches genauer besprochen wird.

Statt einer völligen Ablehnung von begrenzten US-fokussierten Theorien zu Rassifizierung haben David Roediger und andere betont, dass ein kontextualisiertes Verständnis dieser Prozesse eine konstruktivere Antwort wäre (Roediger 2006; Patterson/Kelley 2000). David Theo Goldberg verwendet den europäischen Fall als Paradebeispiel für die Notwendigkeit dieses Paradigmenwechsels, wenn er für ein Konzept miteinander verwandter, aber spezifischer »Regionalisierungen von Rassismus« argumentiert. Er erörtert die Abwesenheit eines Diskurses über Rassifizierung nicht als Zeichen der Abwesenheit von Rassismus, sondern als massives Hindernis für dessen wirksame Adressierung. Goldberg zufolge

»beginnt Europa als Beispiel dafür zu dienen, was geschieht, wenn keine Kategorie verfügbar ist, um eine Reihe von Erfahrungen zu benennen, die in ihrer Herstellung oder zumindest Flexion, historisch und symbolisch, empirisch und politisch, mit rassifizierten Ordnungen und Verbindlichkeiten [racial arrangements and engagements] verknüpft sind. Die europäische Erfahrung ist eine Fallstudie der Frustrationen, Begrenzungen und Ungerechtigkeiten der politischen Rassenlosigkeit [racelessness][16].« (Goldberg 2006, 335)

Die kontinentaleuropäische Form der Rassifizierung erfährt relativ wenig akademische Aufmerksamkeit, zum einen, weil sie von traditionell dominanten Modellen im Diskurs über Rassifizierung abweicht, und zum anderen, weil ihre Strategie der Verleugnung besonders schwierig anzufechten ist: Statt expliziter Mechanismen, durch die Rassifizierung in politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Interaktionen innerhalb und zwischen Gemeinschaften implementiert oder stabilisiert wird, werden im Prozess der Ideologie der »Rassenlosigkeit« rassistisches Denken und dessen Auswirkungen unsichtbar gemacht. Zuweilen scheint das Konzept Rasse überall sonst zu existieren – außer in Europa, wo rassifizierte Gemeinschaften traditionell außerhalb der nationalen und infolgedessen der kontinentalen Gemeinschaft platziert worden sind. Europa kann somit im breiteren Kontext von Ideologien der Rassismusverleugnung [colorblindness][17] verortet werden, die Diskurse über rassistische Unterdrückung unterbinden (siehe z.B. Marchant, in Lionnet/Shih 2005; Langfur 2006 über Brasilien; Torres-Saillant 2000 über die Dominikanische Republik). In ihrer europäischen Version ist diese Ideologie durch das Zusammengehen von Rassifizierung und Religion sowie durch die Externalisierung rassifizierter Bevölkerungsgruppen (statt deren Verbannung in den Status von Bürger_innen zweiter Klasse) gekennzeichnet. Aktuelle Paniken über die Inkompatibilität des Islam mit modernen Gesellschaften, die französischen »Unruhen« von 2005 oder die terroristische Bedrohung durch »Migranten der zweiten Generation« zeigen, dass es noch immer deutliche Investitionen in das von Stuart Hall so benannte »internalistische« Narrativ von europäischer Identität gibt. Hierin tritt Europa als weitgehend homogene Einheit auf, ist völlig unabhängig, selbstgenügsam und in seiner Entwicklung unbeeinflusst von äußeren Kräften oder vom Kontakt mit anderen Teilen der Welt (Hall 1991). Entsprechend ist innerhalb dieses Narrativs die europäische rassifizierte und religiöse Vielfalt weniger eine Realität als eine Bedrohung der Essenz des Kontinents.

Aufbauend auf Audre Lordes Erkenntnis, dass die Werkzeuge des Unterdrückers nicht dessen Haus zerlegen können [the masters tools cannot dismantle the masters house] (Lorde, in Anzaldúa/Moraga 1981), nehme ich in diesem Buch eine Haltung ein, die jener im Argument von Bourdieu und Wacquant für die Reinheit regional authentischer Theoriebildung direkt widerspricht. Ich schlage stattdessen vor, dass das dominante internalistische Narrativ Europas nicht mit dessen internen Methodologien allein dekonstruiert werden kann; auch wenn sie – wie Kosmopolitismus, Kritische Theorie oder Poststrukturalismus – eine mehr globale als eurozentrische Perspektive einnehmen wollen. In ihrem Sammelband The Creolization of Theory (2011) bieten Françoise Lionnet und Shu-mei Shih einen alternativen Ansatz an. Sie stellen eine im karibischen Kontext unter anderem von Stuart Hall und Édouard Glissant entwickelte Methodologie vor und schlagen deren vorsichtige Anwendung auf andere Positionalitäten vor:

»[A]lle Lebensgeschichten theoretischer Konzepte beginnen als regionale Konzepte und sie sind alle einmal historisch und kontextuell spezifisch, bevor sie weit verbreitet, angewendet oder als universell angenommen werden. Wie Palmié anmerkt, ist es einerseits eine Frage der ›konzeptuellen Politiken‹, dass bestimmte Konzepte ihre Partikularität überwinden können, während andere dies nicht können oder diese Chance nicht erhalten. Andererseits geht es auch um den Grad der Anmaßungen [pretensions], den wir einer bestimmten Theorie zuschreiben.« (Shih/Lionnet 2011, 23)

Kreolisierung befreit Theorie also von ihren Anmaßungen, indem sie das manchmal gespannte Verhältnis zwischen spezifischen Umständen und universellen Bedingungen, lokalen Anwendungen und globalen Verbindungen erkundet, ohne dessen Auflösung durch ein allumfassendes, vereinigtes Modell zum Ziel zu haben. Stattdessen trägt sie den intersektionalen, manchmal widersprüchlichen, Funktionsweisen von Machtstrukturen und den von ihnen geprägten, aber nicht determinierten, Subjektpositionen Rechnung

In den folgenden Abschnitten setze ich eine solche Kreolisierung von Theorie in die Praxis um, indem ich eine Reihe von – weitgehend in US-amerikanischen und karibischen Diskursen über Rassifizierung, Nation, Geschlecht und/oder Sexualität entwickelten – Ansätzen verwende, um die Funktionsweisen der vermeintlichen europäischen Rassismuslosigkeit [racelessness] zu begreifen. Dieses Buch kreolisiert, nutzt und erweitert theoretische Konzepte aus unter anderem Frauen-of-Color-Feminismus, afrodiasporischer Forschung und Queer-of-Color-Kritik. So versuche ich einzufangen, was Avery Gordon in Ghostly Matters – inzwischen ein Schlüsseltext US-amerikanischer Forschung über die Nachbeben der Sklaverei – als »Heimsuchung [haunting]« bezeichnet, d.h. die »Weise, auf die missbrauchende Machtsysteme sich selbst kenntlich machen, und deren alltäglich spürbare Auswirkungen, insbesondere wenn sie vermeintlich vergangen und abgeschlossen sind« (Gordon 1997, xvi). Im europäischen Fall meint das die unsichtbare, unsprechbare Präsenz von Rassifizierung, die unzähligen Weisen, auf die sie sich fühlbar macht, von Alltagsinteraktionen bis zu transkontinentalen politischen Strukturen, während sie zugleich als nicht-existent im europäischen Denken erachtet wird. Mein Nachspüren dieser Heimsuchung baut auf der Pionierarbeit über europäischen Rassismus durch Autor_innen wie Essed, Balibar und Goldberg auf. Doch unterscheidet sich mein Ansatz radikal von früherer Forschung; denn ich stelle rassifizierte, migrantisierte Menschen selbst, ihre Widerstandsstrategien und deren zunehmende Wirkung darauf, was es heißt, »Europäischsein« zu denken, ins Zentrum der Analyse.

In der zirkulären Logik, die Rassismus als inhärent uneuropäisch verkennt, wie etwa in der Polemik von Bourdieu und Wacquant, kann Rassifizierung als etwas betrachtet werden, das schlicht nicht da ist, sofern es nicht durch uneuropäische Theorien und Körper hereingebracht wird. Und deren Präsenz wiederum erscheint so immer als ebenso plötzlich wie marginal.[18] Die vorliegende Studie ist durch eben jene marginalisierten Bevölkerungen und ihre neuen und spannenden Definitionen von Europäischsein inspiriert. Sie kreolisieren genau jene Räume, Geschichten und Sprachen, von denen Diskurse der Authentizität und organischen Identität sie ausschließen. Die Verbundenheit europäischer rassifizierter Migrantisierter mit US-amerikanischen und insbesondere afroamerikanischen Diskursen und Schwarzen diasporischen kulturellen Formen könnte als ein weiterer Erfolg des von Bourdieu und Wacquant beklagten »Kulturimperialismus« klassifiziert werden. Es mag jedoch sinnvoller sein, sie als Anzeichen dafür zu lesen, dass Mechanismen rassistischer Ausschlüsse in den USA und im Rest der Welt nicht so völlig verschiedenartig sind, wie die beiden Autoren behaupten; und dafür, dass Klassenanalyse nicht ausreicht, um diese Ausschlüsse in Europa zu thematisieren. Die Arbeiten von Wissenschaftler_innen wie Philomena Essed, Françoise Lionnet oder Kien Nghi Ha sowie der Künstler_innen und Aktivist_innen, mit denen sich diese Studie befasst, legen nahe, dass eine Fusion, eine Hybridisierung dieser US-amerikanischen Modelle, die auf der Arbeit europäischer Migrationsforschung zu Klasse aufbaut, ein vielversprechenderer Ausweg aus einer ungemilderten Auferlegung US-zentrischer Theorien einerseits und einer völligen Ablehnung der Relevanz von Rassismus für den europäischen Kontext andererseits ist.

Es ist eine meiner Kernannahmen, dass das grenzüberschreitende Herangehen an Identität, das den hier untersuchten neuen Aktivismus kennzeichnet, direkt mit den Besonderheiten der europäischen Situation zusammenhängt: Die gängige Konfiguration von Migrantisierten als illegitim und der Nation fremd fördert Kooperationen zwischen verschiedenen rassifizierten Gruppen und ermöglicht so ein »postethnisches« Verständnis von Identität. Statt rassifizierte Identifizierungen zu naturalisieren, ficht dieser Ansatz das europäische Dogma der Rassismusverleugnung [colorblindness] an, indem er Prozesse der Rassifizierung und die Formen der Unsichtbarmachung dieser Prozesse dekonstruiert. »Heimsuchung«, argumentiert Gordon, »zeichnet sich, anders als Trauma, dadurch aus, dass es ein Etwas-Muss-Getan-Werden [something-to-be-done[19]