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Zwischenraum Kollektiv (Hg.)

Decolonize the City!

Zur Kolonialität der Stadt –
Gespräche | Aushandlungen | Perspektiven

 

 

 

 

 

 

U N R A S T

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

Zwischenraum Kollektiv (Hg.):

Decolonize the City!

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-048-2

© UNRAST Verlag, Münster

Postfach 8020 | 48043 Münster | Tel. 0251 – 66 62 93

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Umschlagfoto: Zara Zandieh

Wandgemälde: Interbrigadas

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

 

 

Zwischenraum Kollektiv
Einleitung

Teil I
Imperiale Verräumlichungen

Sónia Vaz Borges
Na Pó Di Spéra: die post-koloniale Peripherie Lissabons

Rachel Herzing
Feindliches Gebiet: die Vereinigten Staaten und der Krieg im Innern

Paola Bacchetta, Fatima El-Tayeb, Jin Haritaworn
Queer-of-Color-Politik und translokale Räume in Europa

Teil II
Rassifizierende Stadt

Ramón Grosfoguel
Was ist Rassismus? Die »Zone des Seins« und die »Zone des Nicht-Seins« in den Werken von Frantz Fanon und Boaventura de Sousa Santos

Noa K. Ha
Zur Kolonialität des Städtischen

Mahdis Azarmandi und Roberto D. Hernandez
Koloniale Denkmäler und die Grenzen des spanischen Antirassismus

Teil III
Erinnerungspolitik in der Stadt

Kien Nghi Ha
Die fragile Erinnerung des Entinnerten

Sandrine Micossé-Aikins
Vorwärtsgehen, ohne zurückzublicken – eine kolonialismuskritische aktivistische Perspektive auf das Humboldtforum

Andrea Meza Torres
Dekolonisation des kollektiven Gedächtnisses in den Museen der Stadt

Vanessa E. Thompson & Veronika Zablotsky
Nationalismen der Anerkennung – Gedenken, Differenz und die Idee einer ›europäischen Kultur der Erinnerung‹

Teil IV
Rück- & Ausblick: Wer, wie, was, warum?

Zwischenraum Kollektiv
Akademie trifft Aktivismus – intersektionale und dekolonisierende Konversationsräume ermöglichen

Zu den Autor_innen

Anmerkungen

Zwischenraum Kollektiv
Einleitung

 

 

Das Buch Decolonize the City! Zur Kolonialität der Stadt – Gespräche, Aushandlungen, Perspektiven verfolgt als zentrale Frage die Relevanz von Dekolonisierungsprozessen insbesondere für den deutschen und europäischen Kontext. Ein besonderer Fokus liegt auf Prozessen der Urbanisierung und dem städtischen Kontext, die in neoliberale Strategien der Wertschöpfung eingebunden sind. Die akademische Debatte um Neoliberalisierung der Stadt stützt sich implizit auf die mehr oder weniger unhinterfragte Annahme einer ›europäischen Stadt‹. Diesem Ideal einer ›guten‹, liberalen Stadt wird die Dystopie einer ›neoliberalen Stadt‹ entgegengestellt, welche sich durch flächendenkende Überwachung, Privatisierung, und Polizeipräsenz auszeichnet. Wir möchten jedoch in Debatten um Gentrifizierung, Aufwertung, und Verdrängung intervenieren, indem wir der Fragen nach der Kolonialität dieser städtischen Form nachgehen. Denn aus Perspektive von rassifizierten und marginalisierten Subjekten kann Stadt nicht ohne eine Analyse der Kolonialität von Stadt gedacht werden.

Die Inwertsetzung von bestimmten städtischen Gebieten geht einher mit der Disqualifizierung, Stigmatisierung und Abwertung bestimmter Körper und Subjektpositionen. Sie knüpft daher an kolonial-rassistische und eugenische Vorstellungen an. Erst wenn die Kolonialität der Stadt sichtbar gemacht und problematisiert wird, kann Dekolonisierung in Deutschland und Europa konsequent als Teil von Kämpfen um soziale Gerechtigkeit eingefordert werden. Eine wichtige Frage ist dabei: Wer ist schon in der Stadt? Und wer wird daran gehindert, in die Städte zu kommen? Denn der Zugang ist streng reguliert und soll eigentlich verhindert werden – insbesondere, wenn wir uns mit Fragen von Flucht und Migration befassen. Die, die schon in der Stadt sind, haben schon einen sehr langen Weg hinter sich. Denn Geflüchteten wird an den verschiedenen Grenzen der Durchlass versperrt, und wenn sie es dann doch schaffen, dann werden sie in Lagersystemen untergebracht, die sich mehrheitlich außerhalb der Städte im ländlichen Raum befinden.

Insofern soll die Logik der Grenze nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch innerhalb der Städte durchgesetzt werden, was sich in Deutschland anhand der zunehmenden Militarisierung von Polizei, Forderungen nach flächendeckender Überwachung und der Legalisierung von ›racial profiling‹ aufzeigen lässt. Diese Formen der ›Grenzsicherung‹ zielen darauf ab, die Körper und Bewegungen derjenigen zu kriminalisieren, die als ›nicht dazugehörig‹ betrachtet werden. Gerade Aufenthaltspolitiken müssen daher auch daraufhin befragt werden, wer sich nicht in der Stadt aufhalten darf, wem der Zugang zur, als auch innerhalb der Stadt verweigert wird, um sowohl die inneren Außengrenzen – wer darf bleiben und wer nicht – als auch die urbanen Besitzverhältnisse zu sichern.

Wir schlagen vor, den ›doppelten Boden‹ von Stadt als Wohn-, Lebens-, und Erfahrungsraum ins Zentrum dieser Aushandlungen zu stellen und diese nicht nur als einen Ort kapitalistischer Akkumulation zu thematisieren, sondern auch als Kontext, in dem sich dominante Identitäten herausbilden und reproduzieren, welche zudem häufig sowohl Verbindungslinien zu indigenen Kämpfen als auch Unterschiede überschatten oder aneignen. Wenn es hier also nicht um ›unsere Kosmologien‹, ›unsere Souveränität‹ oder ›unser Land‹ geht – alles wichtige Bezugspunkte für indigene und anti-koloniale Kämpfe im Globalen Süden – was bedeutet es dann, die ›europäische Stadt‹ dekolonisieren zu wollen?

Wir haben in diesem Buch verschiedene Perspektiven auf Kolonialität und Dekolonisierung mit Bezug auf Städte des Globalen Nordens versammelt, um Gespräche und Aushandlungen zu dokumentieren und weiter zu befördern, welche im Rahmen der mehrtägigen akademisch-aktivistischen Konferenz »Decolonize the City!« vom 21.-23. September 2012 in Berlin angestoßen worden sind.

Im ersten Teil des vorliegenden Bandes Imperiale Verräumlichungen gehen Sónia Vaz Borges, Rachel Herzing und Fatima El-Tayeb, Jin Haritaworn und Paolo Bachetta in ihren Beiträgen der Frage nach, wie koloniale und imperiale Machtverhältnisse konkret Räume hervorbringen, reproduzieren und diese strukturieren.

Fatima El-Tayeb, Jin Haritaworn und Paolo Bachetta beschäftigen sich in Queer-of-Color-Politik und translokale Räume in Europa mit rassifizierten und kolonialen Vorstellungswelten über Subjekte und Raum in Europa, ausgehend von vielfältigen Positionen von queeren People of Color (QPoC). Die Autor_Innen betrachten die Stadt als Archiv verschiedener Gewalt- und Machtstrukturen, in der bestimmte Subjekte erinnert und andere entinnert oder gar verleugnet werden. Zugleich zeigen sie auf, wie queere und trans* People of Color widerständige Räume schaffen.

Sónia Vaz Borges beleuchtet in Na Pó Di Spéra: die post-koloniale Peripherie Lissabons den Zusammenhang zwischen der touristischen Vermarktung von Lissabon, der Hauptstadt Portugals, und der Verdrängung der afrikanischen und Schwarzen Bewohner_innen aus sogenannten »problematischen und gefährlichen Slums« an die prekären Ränder und in die Vorstädte Lissabons.

Rachel Herzing problematisiert in Feindliches Gebiet: die Vereinigten Staaten und der Krieg im Innern die Militarisierung der Polizei in US-amerikanischen Städten als einen »Krieg« an den inneren Außengrenzen und unterstreicht die wichtige Rolle von internationaler Solidarität.

Der zweite Teil Rassifizierende Stadt geht der Frage nach, inwiefern die Idee der Stadt an sich bereits rassifiziert ist bzw. rassifizierend wirkt.

Ramón Grosfoguel bietet in Was ist Rassismus? anhand der Arbeiten von Frantz Fanon und Boaventura De Sousa Santos eine konzeptionelle Annäherung an Rassismus als einer Form der Aufteilung in eine sogenannte »Zone des Seins« und eine »Zone des Nicht-Seins«.

Noa Ha befragt Vorstellungen des Urbanen auf ihre Post-/Kolonialität hin und zeigt auf, inwiefern koloniale Verhältnisse auch im Feld der Stadtforschung fortwirken.

Mahdis Azarmandi und Roberto D. Hernandez hinterfragen in ihrem Beitrag Koloniale Denkmäler und die Grenzen des Spanischen Antirassimus die Umbenennung von kolonialen Monumenten in Spanien als eine Strategie der Unsichtbarmachung von anti-kolonialen Kämpfen. Einerseits fungieren Umbennungsprozesse von Denkmälern als Anerkennung der historischen Kolonialgewalt, andererseits verlagern anti-rassistische Diskurse um Umbenennung Rassismus außerhalb des nationalen Kontexts und reduzieren Antirassismus zu einer Politik der Aspiration anstatt einer Politik des Handelns.

Im dritten Teil wenden wir uns Erinnerungspolitik in der Stadt zu und fragen, wie das Verhältnis von kolonialer und genozidaler Vergangenheit zur Gegenwart in Museen und Gedenkstätten dargestellt und verhandelt wird.

Kien Nghi Ha gibt in seinem Beitrag Die fragile Erinnerung des Entinnerten einen kritischen Überblick zu postkolonialen Deutungskämpfen und Formen der »Entinnerung« in der deutschen Kultur- und Wissenschaftslandschaft.

Sandrine Micossé-Aikins problematisiert in Vorwärtsgehen, ohne zurückzublicken – eine kolonialismuskritische aktivistische Perspektive auf das Humboldtforum die systematische Überschreibung und Auslöschung der Geschichte Schwarzer Menschen in der Diaspora und in Westafrika durch weiße hegemoniale Erzählperspektiven im geplanten Humboldt Forum im Berliner Schloss.

Andrea Meza Torres beschäftigt sich in ihrem Beitrag Dekolonisation des kollektiven Gedächtnisses in den Museen der Stadt mit der Frage von kollektiven Gedächtnis und zeigt aus erkenntnistheoretischer Perspektive auf, inwiefern Museumsdarstellungen im Dialog mit europäischen People of Color (PoC) zur Dekolonisierung von Theorien des »kollektiven Gedächtnisses« beitragen können.

Zum Abschluss hinterfragen Veronika Zablotsky und Vanessa E. Thompson in Nationalismen der Anerkennung: Gedenken, Differenz und die Idee einer ›europäischen Kultur der Erinnerung‹ Anerkennung als eine Modalität postkolonialen Regierens im Kontext von nationalem Gedenken an Genozid und Versklavung anhand einer vergleichenden Betrachtung von Gesetzestexten, Resolutionen, Denkmälern, und Gedenkfeiern in der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik.

Die hier versammelten Beiträge bieten verschiedene Perspektiven auf die kolonialen Dimensionen der ›europäischen Stadt‹ sowie auf vielfältige widerständige städtische Praxen, welche als Teil eines unserer Ansicht nach unvermeidlichen Dekolonisierungsprozesses verstanden werden müssen. Wir möchten hier jedoch ›Dekolonisierung‹ nicht nur auf Stadt beschränkt sehen, sondern die Pluralität der Positionen unterstreichen, von denen aus Dekolonisierung gedacht werden kann (und muss). Daher findet sich hier keine einheitliche Stimme, noch wird ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, und genauso wenig können wir abschließende Antworten bieten. Wir hoffen jedoch, durch strategische Fragestellungen unterstreichen zu können, dass nicht nur die abstrakte Idee von ›Stadt‹ oder die jeweilige Ausformung konkreter städtischer Räume problematisiert werden müssen, sondern auch der planetare Zusammenhang, um das Verhältnis zwischen indigenen Kämpfen und den Kämpfen in den Städten des Globalen Süden und Globalen Nordens zu verdeutlichen. In dieser Pluralität sind planetare Ungleichheitsverhältnisse eingeschrieben, die auf allen Ebenen reflektiert und benannt werden müssen, um den Horizont der Dekolonisierung zu erweitern – auch in, trotz und aufgrund dieser Widersprüchlichkeiten. Wir verstehen daher Übersetzung als grundlegend für Gespräche und Kollaborationen, welche auf Formen der Gerechtigkeit abzielen, weil es sich dabei um einen fortlaufenden Prozess der politischen Aushandlung zwischen verschiedenen sprachlichen, geopolitischen und epistemischen Kontexten und Orientierungen handelt. Aus dieser konzeptionellen Annahme ergibt sich auch der Untertitel des vorliegenden Bands.

 

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Wir haben uns dafür entschieden, den vorliegenden Band als Kollektiv herauszugeben, um den tatsächlichen Prozess von kollaborativer Autor_innenschaft und Wissensproduktion ins Zentrum zu rücken, was sich auch in einigen der Beiträge widerspiegelt. Denn bei Decolonize the City! handelt es sich nicht um ein Projekt, welches von Einzelpersonen für sich beansprucht werden kann, um aus aktivistischen Debatten soziales Kapital zu schlagen, sondern um den Versuch einer radikalen Infragestellung der Kolonialität der Stadt. Die hier versammelten Gespräche, Aushandlungen und Perspektiven auf postkoloniale Transformationsprozesse stellen dabei nur eine Momentaufnahme dar, welche weder den Anspruch der Vollständigkeit erheben kann, noch ohne die Arbeit und Unterstützung von zahlreichen Kolleg_innen, Aktivist_innen, Freiwilligen, Freund_innen und Familienmitgliedern möglich gewesen wäre. Wir möchten uns insbesondere bei Mahza Azarmandi, Rima Hussein und Yentl Nissenbaum für ihre Unterstützung am Lektorat bedanken. Wir bedanken uns ebenfalls bei Zara Zandieh für das Foto unseres Covers. An dieser Stelle möchten wir auch einen besonderen Dank an die Mitorganisatorinnen der Konferenz »Decolonize the City!« im Jahr 2012 aussprechen, die den Weg für den vorliegenden Band mitgeebnet haben.

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Teil I
Imperiale Verräumlichungen

 

 

»Where Are Our Grandmothers?«
(Raju Rage)

 

 

»Where are our Grandmothers?« is a commentary of the patriarchal lens of his-tory, the erasing of matriarchal legacy and specifically how that disconnects, impacts and contributes to gender identity in the contemporary moment. It also looks at how history repeats itself and retains its relevance in the contemporary, in the continuous colonial erasure and oppression of refugees, migrants and displacement of so-called legal citizens.

Sónia Vaz Borges
Na Pó Di Spéra: die post-koloniale Peripherie Lissabons

Aus dem Englischen übersetzt von Christine Kühn

Vom Bairro Santa Maria de Belém zur Peripherie von Amadora

Jährlich besuchen Tausende von Tourist_innen Lissabon, um die Stadt der sieben Hügel kennenzulernen. Lissabon ist eine sehr schöne Stadt – das moderne Stadtleben vermischt sich mit der dörflichen Gemütlichkeit, in der jede_r jede_n kennt und man spielend miteinander ins Gespräch kommt. Sie ist eine Stadt, in der das Nachtleben direkt vor den Bars in den bekannten Straßen des Viertels Bairro Alto, Caís do Sodré oder Santos, stattfindet; eine Stadt, in der man einen Kaffee oder einen Cocktail genießen kann, während man die großartige Aussicht von den Promenaden entlang der Hügel aus bewundert. Von den Toiletten des Einkaufszentrums Armazéns do Chiado aus sieht man sowohl das Stadtschloss Castelo de São Jorge als auch den Fluss Tejo und die Stadt Almada auf der gegenüberliegenden Flussseite.

Lissabon ist auch für seine freundlichen Bewohner_innen und die engen Straßen in den älteren Vierteln wie Bairro Mouraria, Alfama oder Madragoa bekannt. Wer an Lissabon denkt, hat gleich Bilder von trocknender Wäsche in Fenstern, den Geschmack guten Essens und die Klänge nostalgischer Fado-Musik im Kopf. Großartige Architektur, Museen und Denkmäler sind ebenso Teil des touristischen Erlebnisses und falls man die Chance hat, diese Stadt zu besuchen, aber dabei das Viertel Bairro Santa Maria de Belém und seine beeindruckenden architektonischen Denkmäler – den Turm Torre de Belém, das Kloster Mosteiro dos Jéronimos, das Denkmal Padrão dos Descobrimentos oder den Platz Praça do Império – auslässt, »verpasst man das Herzstück des Kolonialreiches und die historischen Fundamente, von denen ausgehend sich die heutige Stadt über die letzten ca. 500 Jahre entwickelt hat«.

Touristikunternehmen, reguläre Besucher_innen oder Tourist_innen möchten sich in ihrer Geschäfts-, Urlaubs- oder Freizeit nicht wirklich mit diesem Teil der Geschichte beschäftigen. Sie bevorzugen es, den Gedanken daran zu vermeiden, wie ihre Leben, ihre Verhaltensweisen und ihre Werbung im touristischen Umfeld koloniale Sprache, Praktiken und Stile reproduzieren. Das Ergebnis ist, dass Lissabon eine Stadt bleibt, in der Kolonialgeschichte ein stilles und unhinterfragtes Dasein fristet, eine Stadt, in der nicht nur mit Denkmälern, sondern auch mit Straßennamen, wie z.B. Rua de Angola, Rua da Ilha do Príncipe oder Rua de Timor[1], immer noch stolz die »Herrlichkeit des portugiesischen Weltreiches« zelebriert wird.

Das Flussufer beim Bairro Santa Maria de Belém ist einer der vielen Orte, an dem Kolonialgeschichte auf diese Weise dargestellt wird. Auf der offiziellen Tourismuswebseite Lissabons, Turismo de Lisboa, wird das Viertel und insbesondere das Flussufer als Ort bezeichnet mit der »größten Anzahl von Kulturdenkmälern der portugiesischen Entdeckungsreisen […]. Vasco da Gama brach vom Strand in Belém auf, um den Seeweg nach Indien zu entdecken, und die Großartigkeit des ehemaligen Weltreiches ist in dieser Gegend immer noch präsent«.[2] Hier bleibt koloniale Sprache intakt und unhinterfragt, das Hauptanliegen ist eine nostalgische Reise in die Vergangenheit, in Portugals imperiale Vergangenheit, zu gewähren.

Diese Gegend gewinnt zusätzlich an Bedeutung, wenn man weiß, dass das portugiesische Kolonialregime dort 1940 die Kolonialausstellung »A Exposição do Mundo Português«[3] eröffnete. Die Ausstellung fand zum Gedenken des 800. Jahrestages des Königreichs Portugal und des 300. Jahrestages der Wiedererlangung der Unabhängigkeit von Spanien statt. Auf Turismo de Lisboa wird dies nicht erwähnt, der Fokus liegt stattdessen auf dem Denkmal Padrão dos Descobrimentos, das 1960 errichtet wurde und mit dem des 500. Todestags von Heinrich dem Seefahrer gedacht wird. Auf der Webseite wird das Denkmal als »immer noch ein Zeichen des Grandeurs des Zeitalters der Entdeckungen« beschrieben, dessen Ziel es war, »dem Anführer der Entdeckungsreisen und dem bedeutendsten portugiesischen Seefahrer Tribut« zu zollen.

Auf der Webseite endet die Beschreibung der Gegend mit den folgenden Sätzen: »Belèm ist Symbol für das ›goldene Zeitalter‹ der Entdeckungsreisen, allerdings zeigt sich auch die Moderne eindeutig im CCB – Centro Cultural de Belém, wo Sie das Museu Colecção Berardo finden. Nicht verpassen sollten Sie außerdem einen Spaziergang in den weitläufigen Gärten mit schöner Aussicht auf den Fluss, und ein leckeres ›pastel de nata‹ gemeinsam mit Freunden.« Die erwähnten weitläufigen Gärten sind der Jardim Praça do Império (Gartenkarree des portugiesischen Reiches), der für die Ausstellung im Jahr 1940 gebaut wurde – insgesamt handelt es sich um eine sehr unschuldige und idyllische Beschreibung eines gewaltvollen und kolonialen historischen Prozesses. Diese Beschreibungen, verfasst, um Lissabon als Tourismusziel zu etablieren, enthüllen den unkritischen Umgang mit der Kolonialgeschichte in der Geschichtsschreibung und im Tourismusmarketing Portugals.

Neben diesen Denkmälern und Gärten gehörten auch Pavillons zur Ausstellung: Pavilhão da Formação e Conquista, Pavilhão da Independência, Pavilhão dos Descobrimentos, Esfera dos Descobrimentos, Pavilhão do Brasil, Pavilhão da Fundação, Pavilhão de Arte Popular, Pavilhão da Honra e de Lisboa, Pavilhão dos Portugueses no Mundo, Nau Portugal, Pavilhão da Colonização und der Garten Jardim Tropical.

Menschen waren ebenso Teil der Ausstellungslandschaft; ›ausgestellt‹ wurden sie im Jardim Tropical (tropischer Garten), als ob sie Objekte wären, in einer Kulisse, die ihrer ›natürlichen Umgebung‹ entsprechen sollte. Sie kamen aus den kolonisierten Gebieten in Afrika, Angola, Guinea-Bissau und Mosambik, sowie aus Indien und Timor – Menschen, die die portugiesische Gesetzgebung bis 1962 als Indígenas wie folgt definierte: »In ihnen (den kolonisierten Gebieten) geborene oder wohnenden Individuen der schwarzen Rasse oder ihre Nachkommen, die gewöhnlich nicht die Eigenschaften oder individuellen gesellschaftlich akzeptierten Gewohnheiten und Ansichten besitzen, um die vollständig gleichen öffentlichen und privaten Rechte portugiesischer Bürger zu genießen.«

Bei Ausstellungsende, als die Pavillons und die anderen Elemente abgebaut und weggeräumt wurden, wurden auch diese ›menschlichen Objekte‹ entfernt und fast vollständig vergessen. Wer sie waren, wie sie sich als Teil der Ausstellung fühlten und wie ihr Leben danach weiterging, ist nicht nur nicht bekannt, sondern auch ein Tabuthema in der portugiesischen Geschichtsschreibung. Dieses unbekannte Finale ist der Grund dafür, dass wir uns auf den Weg nach Amadora, in der Peripherie Lissabons, machen.

Obwohl die Reise nach Amadora auch an anderen Punkten hätte begonnen werden können, entschied ich mich für Santa Maria de Belém als Ausgangspunkt. Mein Ziel ist es, die Verbindungen zwischen den touristischen Sehenswürdigkeiten und der fast unbekannten Realität der sogenannten afrikanischen »problematischen und gefährlichen Slums«[4] am Rande Lissabons herzustellen, wo die Regierungspolitik mit strengen Umsiedlungsgesetzen dazu beiträgt, den physischen Raum zu zerlegen, die Einwohner_innen zu vertreiben und sie dazu zu zwingen, in deutlich weiter entfernten Vorstädten in eventuell prekäreren Umständen zu leben. Laut der Stadtgemeinde kam der Vorschlag auf, den Einwohner_innen, die in ihr Herkunftsland zurückkehren möchten, eine kleine Entschädigungssumme und das Flugticket für die Rückkehr zu zahlen, damit sie dort ein neues Leben beginnen können. Diese Politik und die Einstellungen, die dadurch (un-)bewusst durchgesetzt werden, münden in der physischen, gesellschaftlichen und historischen Tilgung von postkolonialen Räumen der Peripherie, die eine breite Palette an von afrikanischen Migrant_innen in der Ex-Metropole seit mindestens 1970[5] konstruierten und entwickelten Leben und Geschichten beheimaten.

Na Pó Di Spéra: Exkursionen in das Viertel Santa Filomena

In den Jahren von 2008 bis 2011 war ich als Sozialarbeiterin in den Straßen von Bairro de Santa Filomena, bei Laço, einem Projekt für Eltern von gefährdeten Kindern und Jugendlichen, beschäftigt, finanziert von der Stiftung Calouste Gulbenkian Foundation und entwickelt von der Einrichtung Institute of Educational Communities (ICE).

In dem Projekt, das ich koordinierte, wurden verschiedene Angebote vorgeschlagen und dann entwickelt. Dazu zählten der Clube de Património (Heimatclub), Oficina de Imprensa (Pressestelle) und Acompanhamento Individual (individuelle Beratung). Die Interaktion zwischen diesen Aktivitäten und meinem Alltags im Viertel erlaubten mir, einige Lebensgeschichten, Orte und Laufbahnen, Reisen und Träume, Erinnerungen an die Vergangenheit und alltägliche Geschichten kennenzulernen, zu hören, nach ihnen zu fragen und sie mitzuerleben. Diese Geschichten derer, die waren, und derer, die immer noch sind, versteckt in den Randbereichen der Geschichte. Manche dieser Geschichten gerieten in Vergessenheit und wurden nicht nur aus dem Gedächtnis, sondern auch räumlich beseitigt. Ich bemühte mich, für manche von ihnen einen Ort zu schaffen, an dem sie zählen, an dem sie besucht und erinnert werden können. Das ist der Grund, warum ich anfing ein persönliches Tagebuch zu führen, aus dem das Buch Na Pó Di Spéra entstand.

Na pó di spéra – ein traditioneller Ausdruck im kapverdischen Kreol – bedeutet wortwörtlich »im Staub des Wartens« und lässt sich als »Rhythmus des Alltagslebens« übersetzen. Wenn es keinen anderen Ort gibt, zu dem man gehen oder an dem man bleiben kann, während man auf die Ankunft von jemandem oder etwas wartet, während man auf Neuigkeiten wartet, während nichts zu tun ist, während des kurzen Ausruhens im Türrahmen oder wenn wir einfach irgendwo kurz haltmachen, befinden wir uns alle im na pó di spéra. Das war eine häufige Antwort auf den einfachen Morgengruß »Guten Morgen, wie geht’s?«

 

In Amadora, einer Stadt am Rande Lissabons, befinden sich drei aneinandergrenzende Ortsteile, Estrada Militar, Santa Filomena und Encosta Nascente, die zusammen das von den Einwohner_innen so genannte Bairro bilden. In der kollektiven Vorstellung Portugals hat ›Bairro in Amadora‹ gleich eine negative Konnotation. Es wird als von Illegalität, Prekarität und unfertigen Bauten geprägtes Randgebiet wahrgenommen, in dem arme, schwarze, afrikanische Immigrant_innen und ihre Nachkommen wohnen. In der Vorstellung ist die Gegend ein Sperrgebiet, ein Ort, an den sich weiße Außenstehende besser nicht verirren sollten – auch nicht bei Tageslicht. Tatsächlich entspricht die Gegend nicht den Plänen der Stadt zur territorialen Gliederung oder den Standards für architektonische Schönheit. Alles in dieser Gegend wurde, und wird immer noch, neu und selbst aufgebaut. An diesem Ort versuchen Familien sich mit den Materialien zu behelfen, die zur Verfügung stehen, natürlich immer abhängig von ihren wirtschaftlichen Ressourcen. Das Land, auf dem die Häuser gebaut wurden, wurde nicht gesetzmäßig gekauft und registriert. Im Gegenteil, das brachliegende Land wurde sich über Jahre hinweg angeeignet und so von Nichtbesitzer_in zu Nichtbesitzer_in weiterverkauft.

Das Bairro, Objekt von mehreren akademischen Studien, Medienberichten, stadtpolitischen Maßnahmen und Plänen zur sozialen Intervention, ist ständig einer schwer bewaffneten Polizeipräsenz ausgesetzt. Die Beschreibungen des Lebens im Bairro im zuvor genannten Material sind Ergebnisse von Diskursen, die über Jahre hinweg (re-)produziert und (re-)konstruiert wurden. In akademischen Studien dienen das Viertel und seine Bewohner_innen lediglich als Datenmaterial oder der Verifizierung von Theorien oder Gerüchten. In der Stadtverwaltung wiederum sorgt die Gegend nur für Kopfschmerzen; sie ist ein zu lösendes Problem, weil eine ideale, saubere und gute Stadt angestrebt wird. Was dabei normalerweise weder beschrieben noch beachtet wird, ist, dass dieser Ort voll von historischem und sozialem Wissen ist: das reicht von Baukenntnissen über Verhandlungsfähigkeiten beim Landkauf über Familienrezepte bis hin zu solidarischen Verhaltenskodizes. Das Bairro ist angefüllt mit den Geschichten seiner Bewohner_innen und ein Produkt von Netzwerken, solidarischen Strukturen, Überlebensstrategien und gemeinsamer Arbeit und Verbundenheit der Ansässigen. Für die, die dort leben, ist das Bairro eine Heimat.

Das Viertel entstand in den 1960er-Jahren. Dieser Prozess war immer schon von Migration geprägt. Die ersten Siedler_innen in dieser Gegend waren portugiesische Migrant_innen vom Land, die auf der Suche nach einem besseren Leben nach Lissabon zogen. Da sie sich die Miete dort nicht leisten konnten, fingen diese Migrant_innen an, auf den verlassenen Getreidefeldern in Amadora ihre Häuser zu bauen. Mit der Zeit zogen ihre Familien nach und das Viertel fing an zu wachsen und immer mehr Menschen anzuziehen. Während der Befreiungskämpfe und Kolonialkriege in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau (1961–1974) zogen die portugiesischen Retornados, die vor dem Krieg geflüchtet waren, ins Bairro und setzten den Bau fort.

Schon in den Anfangsjahren lebten Afrikaner_innen dort, vor allem immigrierte Männer. Ende der 1970s begann die schwarze Bevölkerung zu wachsen und sichtbarer zu werden.

Afrikanische Immigrant_innen kauften von der ebenso nicht-besitzenden portugiesischen Bevölkerung Land, und sie waren es auch, mit denen verhandelt wurde, wo und wie gebaut werden durfte. In der Stadtverwaltung war man sich von Anfang an dieser Praktiken bewusst und akzeptierte sie stillschweigend. Die portugiesische Bevölkerung begann wegzuziehen und heute stellen schwarze Afrikaner_innen die Mehrheit der dortigen Bevölkerung – die meisten stammen von den Kapverdischen Inseln. Sie tragen immer noch dazu bei, das Viertel auszubauen und weiterzuentwickeln. Mit dieser Erweiterung wurden verschiedene kulturelle Elemente ins Alltagsleben aufgenommen. Die oft unausgesprochene Notwendigkeit, die Wärme des Vaterlands aufrechtzuerhalten (ein Gefühl von Heimat), die Erinnerung an Familie und Freund_innen in Cabo Verde zu bewahren und zukünftigen Generationen ein Zugehörigkeitsgefühl, Verwurzelung und Identität zu vermitteln, wurde zu einem zentralen Bestandteil des täglichen Lebens im Viertel.

Im Alltag wird klar reflektiert, dass wir unbewusst danach streben, Traditionen am Leben zu erhalten. Das ist die Aufrechterhaltung von Traditionen, die kein Datum und keinen bestimmten Tag brauchen, um zelebriert zu werden: Tatsächlich werden sie jeden Tag neu erinnert und zelebriert. Das zeigt sich in der Alltagssprache (kapverdisches Kreol), in Klängen, Gerüchen und Aromen und in nonverbalen Codes, die fast nicht zu bemerken sind. Traditionen drücken sich auch in der Art und Weise zu sein und zu leben aus und in den Geschichten, die dieses Zelebrieren vergegenwärtigt, – Traditionen, die nicht statischer Natur sind und über einen folkloristischen Stil hinausgehen. Wie die Menschen sind diese Traditionen in Bewegung und werden ständig (neu) adaptiert, besonders von der jüngeren Bevölkerung. Das ist eine unbewusste Rehabilitation und Modernisierung, die gezwungenermaßen harmonisch und im Dialog mit der vorangegangenen Generation stattfinden muss – einem Dialog, der nicht immer einfach oder ausgeglichen ist.

2012 begann der Stadtrat von Amadora, aufgrund eines von der Regierung eingeführten nationalen ›Umsiedlungsprogramms‹ und in einem Klima der Unruhe, aufgeladen durch starke Polizeipräsenz, mit dem Abriss des Viertels Santa Filomena – ohne dass zuvor die Wohnverhältnisse der Bewohner_innen festgestellt wurden. Die letzten entsprechenden Daten stammten aus der Volkszählung von 1993. Die Umsiedlung trennte Familien und zerstörte soziale und freundschaftliche Netzwerke. Während manche Familien die Möglichkeit eines Hauses zugesprochen bekamen, wurden andere im Programm nicht berücksichtigt. Ohne andere Unterkunftsoptionen, mussten sie (und müssen immer noch) in Kirchen, vom Staat bezahlten Hostels oder in den Häusern von Familienmitgliedern leben.

Die Hauptziele des 1993 gestarteten Programa Especial de Realojamento (Besonderes Umsiedlungsprogramm, auch bekannt als PER) bestanden in: (1) »dem endgültigen Abriss der existierenden Hütten in den Gemeinden der Stadtgebiete von Lissabon und Porto« (2) »der Beteiligung der Gemeinden bei der Identifikation von Hütten in den jeweiligen Gebieten«; (3) »der Unterbringung der dort lebenden Familien in angemessenen Unterkünften«; (4) »der Schaffung von Bedingungen zur vollständigen Integration dieser Bevölkerungsgruppen in die Gemeinschaft und die Thematisierung der Probleme wie u.a. Kriminalität, Prostitution und Drogenmissbrauch, die die gesellschaftliche Exklusion durch nicht vorhandene angemessene Wohnverhältnisse verursachen«.

Diese vier Ziele implizieren, obwohl versteckt in der Rhetorik der Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen in prekären Verhältnissen, die unwiderrufbare Zuordnung von Slumbewohner_innen zu Armut und das Labeln ihres Lebensstils als abweichendes Verhalten, das ein Problem für die portugiesische Gesellschaft darstellt. Kurz gesagt: Das Gesetz und die verwendete Sprache stigmatisieren nicht nur diese Räume, sondern auch die Menschen, die in ihnen Leben.

Nach einer 1993 im Rahmen des Umsiedlungsprogramms durchgeführten Studie wurden 4.855 Hütten in 35 zerfallenden Zentren identifiziert, die ca. 21.362 Bewohner_innen beherbergten. Das entsprach ca. 12% der gesamten Einwohner_innenzahl der Gemeinde Amadora. Der ›Umsiedlungsplan‹ sollte Ende 2009 abgeschlossen werden, und die Gemeinde meldete, dass die Implementierung des Plans sich aufgrund der Gebietsgröße von 24 km2 und »eines dicht bevölkerten Gebiets mit einem Mangel an verfügbarem [Raum für Wohnungsbau]« schwierig gestalte. Trotzdem lebten dort Familien in Armut und Exklusion, was durch ihren Immigrationsstatus noch verschärft werde.[6] Obwohl informelle Unterkünfte und die Personen, die sie bewohnen, im Zustandsbericht stigmatisiert werden, wird auch die Immigrationsproblematik als weiteres soziales Problem identifiziert.

Seit der Abriss des Viertels begonnen hat, schwinden Häuser und Bewohner_innen von Jahr zu Jahr, und an Orten, an denen Häuser und Straßen voller Leben standen, finden wir heute nur noch teilweise zerlegte Häuser, Kleidung, Möbel und andere Besitztümer, die Menschen nicht mitnehmen konnten. Mit diesem Prozess wurden Menschen nicht nur umgesiedelt, sondern auch ›weggesiedelt‹ in andere Peripherien. Familien, Nachbar_innen und enge Freund_innenschaften wurden im laufenden Prozess des Um- und Wegsiedelns getrennt oder zerstört. Solidarische Beziehungen wurden ebenso zerstört, und der Ort, an dem das Bairro de Santa Filomena lag, wird bald ganz verschwinden und die ehemaligen Bewohner_innen werden zu Zahlen in den Statistiken der Gemeindeberichte: ein Problem weniger, das es zu betrachten und zu lösen gilt.

Im Gegensatz zum Bairro Santa Maria de Belèm, wo Kolonialgeschichte stolz und unablässig gezeigt und unkritisch gefeiert wird, werden das Bairro de Santa Filomena und andere Viertel in der Peripherie, mit denen es einige wichtige Charakteristika teilt – Estrela de África, 6 de Maio, Damaia oder Cova da Moura[7] – jeden Tag mit der offensichtlich weiterhin praktizierten Kolonialpolitik der portugiesischen Regierung in der ehemaligen imperialen Hauptstadt konfrontiert. Diese Orte sind dazu bestimmt, zu verstummen und eines Tages getilgt zu werden bei dem Prozess, eine saubere und moderne Traumstadt zu kreieren, in der kein Platz für Armut und Immigrant_innen, außer als unsichtbare Arbeitskräfte, ist.

2006 wurde in den Berichten der Gemeinde die Tilgung von 19 der 35 im Jahr 1994 identifizierten prekären und problematischen Gebiete betont. Das steht für einen gewaltvollen Prozess von gezwungener Umsiedlung und Verteilung von Tausenden Menschen auf andere Orte und Häuser. Soziale Kontrolle ist ein weiterer Aspekt dieser Strategie. Die Umsiedlung in ein staatliches Haus in einem extra für diesen Zweck gebauten Viertel bedeutet auch einen Verlust von Unabhängigkeit. In einem staatlich zur Verfügung gestellten Haus zu leben, bedeutet, Miete zahlen und sich der ständigen sozialen und finanziellen Kontrolle der Sozialdienste zu unterziehen, deren Ziel es ist, Wohnrichtlinien der Regierung anzuwenden und deren Einhaltung zu überwachen. Diese Strategie verfolgt auch ein implizites Ziel: alle Spuren afrikanischer Immigrant_innen und ihrer Nachkommen in der Geschichte der Stadt zu beseitigen und ihren Beitrag zur Stadtentwicklung zu tilgen.

Diese informellen Orte der Peripherie und die Leben ihrer Einwohner_innen, die immer noch nicht als portugiesische Bürger_innen gelten, bestehen aus Kämpfen und Widerständen – Widerstand gegen Marginalisierung, Exklusion, Polizeigewalt, Angriffe durch die Medien, staatliche Überwachung und Regulierungen und so weiter. Wie bereits 1940 werden die persönlichen und historischen Geschichten der ›Anderen‹ in der Stadt sowohl von der Regierungspolitik als auch der portugiesischen Gesellschaft missachtet, zum Verstummen gebracht und ignoriert. Um ›die Stadt zu dekolonisieren‹ müssen wir unsere geschriebenen und mündlichen Bibliotheken dekolonisieren. Indem wir unsere Geschichten schreiben und sie so wieder Teil der Stadt werden, gehen wir einen wichtigen Schritt in Richtung zur Dekolonisation der Stadt und der armen Peripherien. »Es zählt nicht, wenn es nicht niedergeschrieben wurde«, war und ist immer noch ein gültiger Leitsatz. Um zukünftiger Stille und Stummheit (die Tod natürlich mit sich bringt) vorzubeugen, ist es unerlässlich, dass Bewohner_innen der Peripherien die Narrative ihres Lebens aufschreiben und dadurch mehr als nur Teil einer problembehafteten Statistik in den Berichten der Stadt werden.

Bibliografie

Blanchard, Pascal; Boëtsch, Guilles; Snoep, Nanette Jacomijn (Hrsg.). Human Zoos. The invention of the Savage. ActesSud, Paris, 2011.

Borges, SóniaVaz. Na Pó Di Spéra. Percursos nos Bairros da Estrada Militar, Santa Filomena e da Encosta Nascente. Princípia, Cascais, 2014.

Davis, Mike. Planet of Slums. Verso, London, 2006. Deutsche Ausgabe: Planet der Slums. Verlag Assoziation A. 2011.

Lahon, Dedier. O negro no coração do império: uma memória a resgatar – séculos XV-XIX. Lissabon, 1999.

Loude, Jean-Yves. Lisboa. Cidade Negra. Dom Quixote, Lissabon, 2005.

Tinhorão, José Ramos. Os negros em Portugal – uma presença silenciosa. Dom Quixote, 1988.

Berichte

Relatório de Estado e do Ordenamento do Território da Câmara Municipal da Amadora, 2007.

Rachel Herzing
Feindliches Gebiet: die Vereinigten Staaten und der Krieg im Innern

Aus dem Englischen übersetzt von Christine Kühn

2012

Im September 2012, als ich für die Konferenz »Decolonize the City!« nach Berlin reiste, war mein Kopf voller Ideen, was man der Polizeigewalt entgegensetzen könnte. Die Stadt, in der ich wohnte, Oakland in Kalifornien in den Vereinigten Staaten, war nur einige Monate zuvor Schauplatz äußerst aggressiver Polizeieinsätze gegen die Occupy-Bewegung geworden. Die Organisation Critical Resistance, der ich angehörte, war Teil eines Bündnisses, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, rassistische Polizeipraktiken zu bekämpfen, die angeblich Gang-Aktivitäten eindämmen sollten. Kurz zuvor hatten wir mehrmals hintereinander gegen einen Beratungsvertrag zwischen der Stadt Oakland und William Bratton mobilisiert, einem der Entwickler der ›Nulltoleranzstrategie‹ (zero tolerance), die heute weltweit angewendet wird.

Ich hatte mich dazu entschieden, selbst aktiv zu werden und zivilgesellschaftliche Arbeit zu leisten, nachdem ich zu der Erkenntnis gekommen war, dass die Praktiken der Polizei für People of Color, Arbeiter_innen, Obdachlose, junge Menschen, geschlechtlich nicht konforme Menschen und für indigene Gemeinschaften inhärent schädlich sind. Das hing auch mit früherem zivilgesellschaftlichen Engagement zusammen – sowohl bei Critical Resistance, als auch im größeren Kontext der Bewegung. Auch da stand im Fokus, polizeiliche Eingriffe zu minimieren, in der Hoffnung, dass Bezirke und Gemeinschaften dadurch selbstbestimmter und freier leben können.

Als ich also in Berlin mit meinem Kollegen und Mitarbeiter Isaac Ontiveros eintraf, war ich begierig darauf, die Auseinandersetzungen, die wir gesehen und ausgetragen hatten – auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene – nun mit jenen außerhalb der Vereinigten Staaten in Verbindung zu bringen. Wir wollten erfahren, mit was People of Color in Deutschland zu kämpfen hatten, und freuten uns darauf, unser neues Wissen mit zurück zu unserer Arbeit zu nehmen sowie unsere eigenen Erlebnisse in Berlin zu schildern. Bevor die Konferenz anfing, trafen wir uns mit Organisator_innen, Aktivist_innen und Kulturschaffenden in verschiedenen Teilen Berlins, führten Interviews und lernten das ein oder andere über die derzeitige Organisationskultur der Stadt.

Was wir von denen erfuhren, die großzügigerweise ihre Zeit und Erkenntnisse mit uns teilten, bestätigte vieles, was wir im Laufe unseres Engagements in den USA erfahren hatten und illustrierte insbesondere, wie konsequent und anhaltend Polizeigewalt eingesetzt wird. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass gewaltvolles Vorgehen vonseiten der Polizei weltweit immer mehr durch entsprechende Maßnahmen, Praktiken, Fachleute und Technologien vorangetrieben wird. Um die Konversation während des Panels »War in the City« voranzubringen, berichtete ich dem Publikum Folgendes:

Feindliches Gebiet: die Vereinigten Staaten und der Krieg im Innern

Am Tag der Arbeit im Jahr 2012 fuhr ein Panzer die Hauptstraße von Oakland im Bundesstaat Kalifornien entlang. Es war kein großer Militärpanzer, bemannt mit den Streitkräften der Vereinigten Staaten. Es handelte sich um einen kleineren Panzer, der Strafverfolgungsbeamte von Oaklands Verwaltungsbezirk, Alameda County, transportierte. Der Anblick des Panzers war aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Panzer sind kein alltägliches Bild auf unseren Straßen. Wir leben in einer Stadt, die zum Glück nicht zu den aktiven Zielen von Militärangriffen oder symbolischen Demonstrationen der Macht des US-Militärs, wie Paraden oder Truppenübungen, gehört. Ungewöhnlich war außerdem, dass der Panzer die Straßen von Oaklands Hauptgeschäftsviertel auf- und abfuhr, dabei mediale Aufmerksamkeit erregte und Menschen aus ihren Arbeitsstätten und Wohnungen auf eine ansonsten leere Szenerie lockte, während eine große Feier und Demonstration zum Ersten Mai in einem anderen Stadtteil stattfand und dort auch enden sollte. Früher am selben Tag hatte eine Gruppe von Personen, die Occupy Oakland angehörten, eine kleine Demonstration im Viertel abgehalten. Obwohl die Demonstration sich inzwischen aufgelöst hatte, schickte Alameda County den Panzer als Botschaft: Demonstrant_innen, die sich in diesen Stadtteil wagen, werden mit quasi-militärischer Gewalt empfangen.