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Abdullah Öcalan

Gilgameschs Erben

Vom sumerischen Priesterstaat
zur demokratischen Zivilisation

Band 2

 

 

Übersetzt und herausgegeben von Internationale Initiative

»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«

 

 

 

U N R A S T

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

Abdullah Öcalan: Gilgameschs Erben, Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation, Band 2

 

eBook UNRAST Verlag, Juli 2019 ISBN 978-3-95405-054-3

 

Aus dem Türkischen: Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«

Titelmotiv: Enkidu / Gilgamesch von Ercan Altuntas. (Ausschnitt)

Öl und Naturfarben auf Papier, 100 x 70 cm

 

©Abdullah Öcalan 2001

Erscheint in der International Initiative Edition

Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hg.)

Postfach 100511, 50445 Köln | www.freeocalan.org

 

© UNRAST Verlag, Münster

Fuggerstraße 13a, 48165 Münster | Tel. 02501 – 9178790 www.unrast-verlag.de | kontakt@unrast-verlag.de Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

 

Erstveröffentlichung 2001 bei Mezopotamien Verlag, Köln Abdullah Öcalan: Sümer Rahip Devletinden Demokratik Uygarliga

1. Auflage Mai 2003

2. überarbeitete Auflage 2018

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlag und Satz: Internationale Initiative

Inhalt

Sechster Teil
Das kurdische Phänomen im Mittleren Osten und mögliche Lösungswege

1. Kapitel
Erläuterung einiger grundlegender Begriffe

1. Gesellschaft

2. Stamm und Stammeszugehörigkeit

3. Nation und Nationalstaat

4. Militärische und politische Lösung

5. Demokratische und juristische Methode

6. Staatsbürgerschaft und Nationalität

7. Die offizielle, die traditionelle und die Zivilgesellschaft

8. Die Liebe zum Land und der Internationalismus

2. Kapitel
Probleme der Methodik und Herangehensweise an das kurdische Phänomen

1. Ideologische Herangehensweise an die kurdische Wirklichkeit

2. Ergebnisse einer fehlerhaften Herangehensweise und die wissenschaftliche Methode

3. Weitere methodische Fehler

4. Moralische und ethische Herangehensweise an das kurdische Phänomen

5. Realistische Herangehensweise an das kurdische Phänomen

3. Kapitel
Der Rahmen für die kurdische Geschichte

1. Das kurdische Volk im neolithischen Zeitalter

2. Das kurdische Volk im Zeitalter der Sklaverei

3. Das kurdische Volk im feudalen Zeitalter

4. Das kurdische Volk im Zeitalter des Kapitalismus

4. Kapitel
Die ethnische, nationale und demokratische Bewegung des kurdischen Volkes

1. Die Zeit des primitiven feudalen Nationalismus

2. Die Zeit des bürgerlichen Nationalismus

3. Die Befreiungstendenz des Volkes

4. Die Entstehung, Entwicklung und Zukunft der PKK

5. Kapitel
Wege zu einer Lösung der kurdischen Frage

1. Die kurdische Frage in der Türkei und die demokratische Lösung

2. Die nationale Frage im Iran und die demokratisch-islamische Lösung

3. Die arabische Variante der kurdischen Frage und die rakische Lösung

4. Identitätsbildung der syrischen Kurden und Lösung durch demokratische Teilnahme

Siebter Teil
Freiheitskämpfer eines Volkes im Klammergriff der Verschwörungen

1. Kapitel
Die Geschichte der Verschwörungen und ihre Lehren

1. Das Verschwörertum des Altertums und die betrügerischen Mythologien

2. Das Mittelalter und das Verschwörertum unter der Maske der Religion

3. Kapitalistischer Nationalismus und Faschismus als die höchste Form des Verschwörertums

2. Kapitel
Die Realität des Komplotts gegen die PKK

1. Von der Entstehung bis zur offiziellen Gründungsproklamation der PKK

2. 1978-88: Innerorganisatorische Komplotte und die Politik der Liquidierung

3. 1988-98: Bandenwesen und weltweite imperialistische Intervention

3. Kapitel
Die Komplotte gegen die PKK-Führung sind Eingeständnis der Angst vor der freien Identität des Volkes

1. 1970-80: Die Entstehungsphase einer Avantgarde für das Volk

2. Soziologisch bedingte Persönlichkeitsspaltung und Restrukturierung

4. Kapitel
Die Hintergründe meiner Verschleppung aus Kenia

1. Historische Intrigen können Entwicklungen nicht aufhalten, sondern beschleunigen sie

2. Das Komplott des 15. Februar 1999 kann in einen dauerhaften Frieden und Demokratie für die Völker verwandelt werden

Achter Teil
Verfügt das europäische Rechtswesen über Lösungsmöglichkeiten für die kurdische Frage?

1. Kapitel
Entstehung und Entwicklung des Rechtswesens

2. Kapitel
Die Rolle des Rechts bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme

3. Kapitel
Europäisches Recht, Republik Türkei und die kurdische Frage

4. Kapitel
Der Prozess auf Imralı, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)

1. Die Umstände und rechtswidrigen Handlungen bei der Entführung

2. Die Todesstrafe und ihre Rolle als Drohinstrument gegen das kurdische Volk

3. Politische Lynchjustiz während der Verhandlung auf Imralı

4. Gütliche Einigung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Bemühungen um einen Dialog und die Aufgaben des Europarates

Neunter Teil
Apo-Identität – Vom Klan zum Volk

1. Kapitel
Die physische Geburt, die Auflösung der Stammeskultur und das Betreten des Urwaldes der Zivilisation

2. Kapitel
Begegnung mit der bürgerlichen Gesellschaft und der Republik Türkei. Zweifel und revolutionäre Sicht

3. Kapitel
Sich durch den Krieg neu erschaffen, aber wie lange noch?

I. Schutz des Freiheitswillens vor Versklavung und Verzerrung

II. Die Bewahrung des Willens zur Freiheit

III. Die Verteidigung der kurdischen Identität auf der Grundlage der Freiheit

IV Die Schaffung eines kämpfenden Volkes

V. Die Schaffung freier Militanter

VI. Die Erschaffung der freien Frau

VII. Die Schaffung einer wirklichen Volksdiplomatie

VIII. Die Schaffung von Akademien

4. Kapitel
Auf der Suche nach Frieden – Die Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik

Schlusswort

Hinweis

Vitae

Abdullah Öcalan

Raúl Zibechi

Prof. Dr. Ekkehard Sauermann

Selbstdarstellung der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«

Erstunterzeichnende des Gründungsaufrufs der Internationalen Initiative

Index

 

 

 

Sechster Teil

Das kurdische Phänomen im Mittleren
Osten und mögliche Lösungswege

Die kurdische Frage stellt zweifellos eines der komplexesten Probleme des Mittleren Ostens dar. Diese Besonderheit ist vor allem auf die Entstehungsweise des Phänomens zurückzuführen und hat bis heute ein Ausmaß erreicht, das schwieriger anzugehen ist als der arabisch-israelische Konflikt. Die Gewichtigkeit und Häufigkeit der Konflikte, die von der ungelösten kurdischen Frage ausgehen, hängen unmittelbar mit der regionalen Machtsicherung der jeweiligen Beteiligten zusammen, da durch die vorherrschenden Bedingungen gerade hier eine entscheidende strategische Position aufzugeben ist oder zumindest eine humanitäre Reform ansteht. Voraussetzung für entsprechende Handlungen ist eine tief greifende und umfassende Analyse.

Da Kurdistan unter den drei tonangebenden Nationen der Region – der persischen, der arabischen und der türkischen – aufgeteilt ist, sind die Konflikte bereits vorprogrammiert. Außerdem zwingt eine Lösung in einem kurdischen Teilgebiet die anderen Länder ebenfalls zu entsprechenden Reaktionen. Die zerklüftete geografische Beschaffenheit wirkte dauerhaft als Katalysator des bewaffneten Kampfes. Jede Okkupation in jeder Phase der Geschichte erzeugte Widerstände der einen oder anderen Art. Das Leben verläuft in einer nahezu natürlich anmutenden Geisteshaltung der Rebellion. Aufgrund der verbesserten medizinischen Möglichkeiten und Versorgung ist die kurdische Gesamtbevölkerung auf über 40 Millionen Menschen angestiegen, die allein durch ihr Sein, durch ihre Existenz, eine adäquate Lösung einfordern.

Der in der Neuzeit intensiv einsetzende Zerfall der Stammesstrukturen – der historisch vorherrschenden traditionellen Gesellschaftsform – schafft erstmals die Möglichkeiten für vielerlei überfällige gesellschaftliche Neuerungen. Da gleichzeitig zeitgenössische Lösungswege vorenthalten werden, bieten diese fehlenden Neuerungen den Nährboden für neue Krisen und fügen dem vorhandenen ›gordischen Knoten‹ weitere hinzu. Zusätzlich ist es häufig ein Bestandteil der herrschenden Politik, die kurdische Existenz zu verleugnen oder sie zumindest zu stigmatisieren. Andererseits führt das Wahrnehmen der zeitgenössischen Welt mittels wachsender technischer Möglichkeiten in vielen kurdischen Kreisen zu berechtigten Forderungen nach einschneidenden Reformen. Das Ausbleiben einer Entwicklung demokratischer Lösungswege im Gesamtkontext des Mittleren Ostens sorgt dafür, dass als einzige Option zur Befreiung scheinbar nur die Gewalt übrig bleibt. Dies wiederum bedeutet verstärktes Blutvergießen in einem unausgeglichenen Kräfteverhältnis und Vertiefung von Leid und Ausweglosigkeit.

Erschwerend kommt hinzu, dass trotz Größe und Wichtigkeit des Problems sowohl internationale diplomatische als auch regionale nationale Institutionen es für die klügste Politik halten, das Problem zu verleugnen, zu verharmlosen und aufzuschieben, anstatt sich damit zu beschäftigen. Vor allem die aus der strategischen Bedeutung der Region resultierenden wechselseitigen Interessenlagen haben dafür gesorgt, dass hier ein Gemisch aus Geheimdiplomatie und offen propagierten menschenverachtenden Haltungen zur Hauptmethode einer Politik ohne Ethik geworden ist, wobei dafür interne Gründe ausschlaggebender als externe gewesen sind.

Eine wissenschaftliche Diskussion könnte die Chance auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner bezüglich einer Vorstellung eines Lösungsweges vergrößern. Es muss endlich verstanden werden, dass das gegenseitige Konfrontieren mit faits accomplis – und zwar seitens aller beteiligten Kreise – die denkbar schlechteste Logik ist. Gerade in der kurdischen Frage sollte die dialogische Methode der Lösungsmöglichkeit Anerkennung erfahren, wie es mittlerweile tendenziell weltweit passiert. Von einer Seite im Befehlston vorgebrachte Lösungsforderungen haben bisher niemandem Nutzen gebracht. Deshalb ist eine brauchbare Definition des kurdischen Phänomens von erheblicher Bedeutung. Solange Kurden von Arabern als ›jemenitische Araber‹, von Türken als ›Bergtürken‹ und von den Persern als ihresgleichen definiert werden, und solange die Kurden sich als eine ›reinblütige‹ Nation betrachten wollen, gibt es keine Basis für gemeinsame Lösungsaspekte. Die bisherige Praxis, die Realität der Aufstände und ihrer Niederschlagung, beweist diese Feststellung. Die Aktionen unter Führung der PKK – bei all ihrem Bemühen um und Anspruch auf Wissenschaftlichkeit – waren eindimensional und wurden entsprechend aufgenommen.

Zweifellos weist das kurdische Phänomen erhebliche Parallelen zu ähnlichen Fällen auf der Welt auf. Ebenso auffällig aber sind die ihm eigenen Unterschiede. Eine Politik, die sich ausschließlich auf die allgemeinen Ähnlichkeiten stützen will, kann kaum zu tragbaren Resultaten führen. Ein Erfolg kann nur erzielt werden, wenn die besonderen Eigenschaften der kurdischen Frage präzise festgestellt werden und dementsprechend eine realistische und Resultate versprechende Politik angewandt wird. Das ist bis heute nicht versucht worden und der bestimmende Grund für die fortwährende Erfolglosigkeit aller betroffenen Parteien.

In Geschichte und Gegenwart gab es viele einander ähnelnde wie auch gegensätzliche Haltungen gegenüber dem kurdischen Phänomen, die bei näherer Betrachtung in drei Kategorien unterteilt werden können:

Als erste Haltung ist die Leugnung des kurdischen Phänomens zu nennen. Dieser Haltung zufolge gibt es so etwas wie Kurden nicht bzw. ist alles, was unter dem Namen der Kurden gesagt, geschrieben oder unternommen wird, das Werk des Feindes und somit anstößig. Trotz aller rasanten Entwicklung der Wissenschaftlichkeit im zwanzigsten Jahrhundert wird jede politische Situation über oder durch die herrschende Nation bestimmt. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Kurden der eigenen Nation angehören, sich in einer Region konzentrieren, andere sozioökonomische und kulturelle Eigenschaften aufweisen und eine andere Sprachstruktur haben: Es gibt sie nicht und es soll sie auch nicht geben. Und das, obwohl viele der entwickeltesten europäischen und amerikanischen Nationen verschiedene Regionen und Kulturen als Minderheiten auf ihrem Hoheitsgebiet anerkennen und zumindest nicht permanent unterdrücken und als Menschen zweiter Klasse halten. Die kurdische Frage und das Phänomen, auf dem sie beruht, zwingen mittlerweile selbst die erbittertsten Gegner und Leugner dazu, ihre Haltung zu ändern und die Anerkennung der kurdischen Existenz als das kleinere Übel zu begreifen.

Die Parteigänger der zweiten Ansicht vertreten genau die entgegengesetzte Meinung. Mit einer emotionalen und jeglicher Objektivität fernen Haltung versuchen sie, eine Politik zu betreiben, die kaum noch eine Verbindung zum Phänomen selbst hat. Das ist die Methode der Mythisierung. Während einige diese Methode mit der Perspektive des primitiven Nationalismus oder des religiösen Glaubens anzuwenden versuchen, glaubt ein anderer Teil von sich, sie im Namen der Linken und Revolutionäre zu praktizieren. In gewisser Weise waren es solche Ansätze, deretwegen die Kurdentümelei im zwanzigsten Jahrhundert erstarb, was die realen Probleme nur noch verschlimmerte und die alten Ambitionen völlig über Bord warf. Die Schuld daran wurde vollständig den jeweiligen Staatsmächten bzw. der Behinderung durch die Gegner zugeschrieben und man sah keine Notwendigkeit, die Fehler und deren Ursachen bei sich selbst zu suchen und eine umfassende Selbstkritik zu üben. Nun sind diese Akteure an dem Punkt der Aufgabe ihrer Ansprüche, der Degeneration und uneingeschränkten Bereitschaft zur Kapitulation angelangt.

Hier sollte die Rolle einer weiteren Gruppe erwähnt werden, die sich zwischen den beiden genannten Auffassungen bewegt: Es handelt sich dabei um die traditionellen Kollaborateure, die bereits seit den Anfängen der Geschichte eine Rolle spielen, es aber durchaus verstehen, sich entsprechend dem Zeitalter in einem neuen Gewand zu zeigen. Sie sind Meister darin, ihren Platz immer an der Seite der jeweils Stärkeren einzunehmen. Sie zeigen eine unglaubliche Professionalität bei der Umsetzung einer Politik, die darauf basiert, ähnlich wie bei einem Familienbetrieb ihre Mitglieder in allen potenziellen Machtbereichen zu positionieren und daraufhinausläuft, sich dann an die Seite derer zu stellen, die gerade an der Macht sind, um damit die Herrschaft der Sippe und Dynastie aufrechtzuerhalten und ihre eigenen Interessen dauerhaft abzusichern.

Prinzipien, eigene Meinungen und Ethik existieren für sie nicht. Ihre Prinzipien und ihr gesamtes Verhalten hängen davon ab, wo sie ihre konkreten Interessen gewahrt sehen. Diese Zwischengruppe ist wesentlich dafür verantwortlich zu machen, dass gesellschaftliche Konflikte vergiftet werden und einen ausweglosen Charakter annehmen. Sie ist nicht nur mächtig, sondern verfügt über eine geschichtliche Erfahrung. Ihre Protagonisten wissen genau, mit wem und wie sie Beziehungen aufzubauen und sich zu vermarkten haben. Respekt vor echten moralischen und prinzipiellen Werten der Gesellschaft ist ihnen bewusst fremd. Diese Gruppe ist primär dafür verantwortlich, dass alle gesellschaftlichen Gegebenheiten und daraus resultierenden Probleme überhaupt in den gegenwärtigen Zustand geraten sind. Darüber hinaus sind sie in der Position, alle möglichen positiven Schritte schon im Vorfeld zu vereiteln, weil sie sich für die billigsten Dienste der staatlichen Vorherrschaft hergeben. Sie sind meisterhaft darin, ihr Spiel mit beiden Seiten zu treiben. Sie sind sogar dazu fähig, unter der Hand ihre Beziehungen mit der gegnerischen Seite aufzubauen und davon zu profitieren. Solange diese Gesellschaftsschicht nicht in ihrer Gesamtheit analysiert, entlarvt und ihr Einfluss gebannt wird, kann weder das kurdische Phänomen wirklich erfasst noch eine brauchbare Lösung entwickelt werden.

Die dritte Auffassung zeigen diejenigen, die an sich selbst den Anspruch der Wissenschaftlichkeit stellen. Zwar sind sie guten Willens, doch sind die von ihnen vorgelegten Analysen unvollständig, beinhalten verkürzte Sichtweisen und sind somit alles andere als systematisch. Deshalb spielt auch diese Auffassung eine nicht minder negative Rolle als die vorgenannten. Eine halbe Meinung ist nicht weniger gefährlich als systematisierte falsche Meinungen. Es kann nicht erwartet werden, mit einer wissenschaftlichen Methode zu Ergebnissen zu kommen, ohne einen sowohl theoretischen als auch auf Untersuchung und Beobachtung basierenden Erfahrungsschatz anzusammeln, der von dogmatischen und utopischen Einflüssen befreit ist. Anstatt sich um eine realistische und anwendbare Politik zu bemühen, halten die Vertreter der besagten Ansicht es für wissenschaftlich, sich in die unverantwortliche Position zu begeben, die Unmöglichkeit einer Lösung des Problems auf wissenschaftlichem Weg zu deklarieren.

Die Praxis der nationalistischen und sozialistischen Ansätze, die einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, hat bislang keine allzu erfolgreichen Ergebnisse vorweisen können, sondern war im Gegenteil an negativen Entwicklungen maßgeblich beteiligt. Auch die Gruppen bzw. Schichten mit Ansichten, die mit den offiziellen Doktrinen übereinstimmen, haben sich Kraft des von ihnen Erreichten deutlich als Verantwortliche für den von ihnen verursachten Nutzen und Schaden offenbart. Keine dieser Gruppen bzw. Schichten könnte von positiven Entwicklungen in der Gesamtheit des Landes oder auch nur in regionalen Teilen berichten. Die kurdische Frage ist im Zusammenspiel mit anderen Problemen eine Hauptursache für die Krisensituationen in den Ländern, an die sie – regional betrachtet – gebunden ist. In der Konsequenz bedeutet das den Konkurs der politischen Führungen.

Nichts zeigt besser auf, wozu das auf Unterdrückung, Vertuschung, Vernichtung oder Zermürbung basierende politische Verständnis führen kann, als die aktuellen Krisen in den betreffenden Ländern. Die Realität der Krise im Mittleren Osten steht in engem Zusammenhang mit dieser politischen Mentalität. Wenn überhaupt von der Überlegenheit der europäischen Zivilisation die Rede sein kann, dann in dem Sinne, dass sie ihre eigenen Probleme wissenschaftlich angeht und keine demokratischen Lösungswege unversucht lässt.

Weil auch die Praxis der PKK, die an das kurdische Phänomen und die mit ihm zusammenhängende Problematik mit dem Glauben an den wissenschaftlichen Sozialismus herangeht, bei allen von ihr katalysierten wichtigen Entwicklungen weit von einer Lösung entfernt ist, besteht für sie die Notwendigkeit einer Selbstkritik. Es bedarf eines Bewusstseins, dass ein aufrechter Glaube an den wissenschaftlichen Sozialismus und eine fast schon an Dogmatismus grenzende Verbundenheit mit dessen Zielsetzungen noch lange nicht ausreichen, um die erforderliche Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten. Denn Wissenschaftlichkeit basiert auf sinnvollem Zweifeln und nicht auf Glauben.

Dogmatismus schließt wissenschaftlichen Zweifel aus. Dies erleichtert ein Abgleiten in den Dogmatismus und verschleiert den Blick auf die Realität. Bei Menschen, die aus nicht entwickelten feudalen Gesellschaften stammen, ergibt sich aufgrund des Umstandes, dass sie keine durchschnittliche wissenschaftliche Bildung genossen haben, ein besonderer Hang zum Dogmatismus. Die vorherrschende Persönlichkeitsstruktur stellt bereits das wichtigste Hindernis für eine wissenschaftliche Herangehensweise dar. Wenn dieser Nährboden mit bewusster Manipulation und mangelhafter Kenntnis zusammentrifft, steht am Ende die Instrumentalisierung durch andere. Dies trifft auch in verstärktem Maße auf die Realität der PKK zu. Daraus folgt für die PKK die Notwendigkeit, ihre eigene Praxis aufs Neue zu analysieren und daraus Lehren zu ziehen, indem auch auf frühere Erfahrungen mit der weltweiten Krise des Realsozialismus und der Krise der gegenwärtigen kapitalistischen Zivilisation zurückgegriffen wird. Es ist lebenswichtig für sie, die auf ihrem siebten außerordentlichen Kongress[1] eingeleiteten Schritte in dieser Richtung auf einem achten ordentlichen Kongress zu vervollständigen und zu perfektionieren. Es ist obligatorisch, im Wissen darum zu handeln, dass der vorrangige Weg zu einer erfolgreichen, selbstkritischen Erneuerung darüber führt, die wahrscheinlichsten und lösungsorientiertesten politischen Ergebnisse der wissenschaftlichen Methode auszumachen.

Die Analysen zu Geschichte, Gegenwart und Region habe ich im ersten Teil meiner Eingaben [Gilgameschs Erben Band I] vorgebracht. Nun werde ich versuchen, innerhalb des gesetzten Rahmens eine nähere Betrachtung des kurdischen Phänomens und der mit ihm verbundenen Problematik vorzunehmen. Es geht in gewissem Sinne um das Erproben der von mir aufgestellten theoretischen Analyse an einer der wichtigsten praktischen Fragen. Ausgehend von einigen Grundbegriffen werde ich versuchen, auf wissenschaftlicher Basis eine Konsequenz bezüglich einer realistischen und wahrscheinlichen politischen Lösung im globalen Kontext, im regionalen Kontext und speziell für die Türkei zu ziehen.

1. Kapitel

Erläuterung einiger grundlegender Begriffe

1. Gesellschaft

Gesellschaft bedeutet einen bewussten Zusammenhalt unter Artgenossen der Spezies Mensch zu einem bestimmten gemeinsamen Zweck, der mittels Herstellung von Werkzeugen verfolgt wird. Entscheidend an dieser Definition ist erstens, dass Arbeit mit Werkzeugen verrichtet wird, und dass sie zweitens bewusst gemeinsam mit anderen Artgenossen zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles verrichtet wird. Weder kann eine Gesellschaft aus einer einzelnen Person bestehen noch kann eine Sozialisierung ohne Werkzeuge stattfinden. Außerdem erfordert das Zusammenleben eine gemeinsame Produktion und Sicherheit, um die Fortsetzung des physischen Lebens gewährleisten zu können, was wiederum ein gemeinsames Bewusstsein notwendig macht. Innerhalb dieses Rahmens vollzog sich die Entwicklung vom Familienklan zu einer Gesellschaft von anfänglich kaum mehr als zwei Dutzend Menschen. Entsprechend dieser Definition hat die menschliche Gesellschaft von ihrer Entstehung bis zu ihren heutigen Formen größere Veränderungen durchlaufen und sich als solche durchsetzen können. Dass das heute als ›die Kurden‹ bezeichnete Phänomen eine nicht zu verleugnende gesellschaftliche Realität darstellt, lässt sich neben historischen Funden und Beweisen allein schon durch ihre Existenz aufzeigen. Obwohl sie keinen Staat besitzen und niemals zu einer Nation wurden, leben sie seit Tausenden von Jahren in extrem soliden Stammesgemeinschaften in einer bestimmten Gegend wie andere menschliche Gesellschaften auch, sprechen eine Sprache mit unterschiedlichen Dialekten, leisten Widerstand gegen fortwährende Unterdrückung und geben die Hoffnung niemals auf, zukünftig in Freiheit zu leben. Einen eindeutigeren Beweis für eine gesellschaftliche Existenz kann es nicht geben.

2. Stamm und Stammeszugehörigkeit

Ab 12000 v. u. Z. kann der Übergang zu einer Gesellschaft festgestellt werden, die sich auf Pflanzenanbau und Tierzucht stützt. Die Bevölkerung wuchs stetig und organisierte ein sesshaftes Leben. Unter diesen Bedingungen wandelte sich der Familienklan zum Familienstamm, der sich aus mehreren Familien zusammensetzte. Erstmalig in der Geschichte bildete sich diese Gesellschaftsform in der Gegend von Obermesopotamien im Becken zwischen Euphrat und Tigris. Ab 6000 v. u. Z. versippten sich die Familienstämme zu größeren Stammesgesellschaften, wobei die Institutionalisierung der sesshaften Agrargesellschaft wiederum die entscheidende Rolle spielte. Die Bildung eines entwickelten Stammesbewusstseins im Gegensatz zum bloßen Phänomen des Stammeslebens entwickelte sich erst durch das Auftreten von Mächten, die von außen angreifen, und die im Gegenzug dazu stattfindenden Verteidigungs- und Expansionsbestrebungen. Die Stammesgesellschaft ist eine universelle Gesellschaftsform, die alle sich entwickelnden Gesellschaften mehr oder weniger ausgeprägt durchlebten. Sie ging nicht zu einer politischen Formation – vergleichbar mit einem Staat – über, sondern erreichte als höchste Organisationsform eine Konföderation zwischen mehreren Stämmen. Das war die vorstaatliche politische Gesellschaft, die anfangs matriarchal ausgerichtet war. Die Ausprägung bzw. Übernahme staatlicher Strukturen im Schoß der Stammesgesellschaft bedingte die Ausbildung von Klassen. Mit dieser wiederum löste sich die Stammesbande auf und organisiertere Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten bildeten sich heraus. In der Folge waren weniger Abstammungs- oder Heiratsbande, sondern vielmehr politisch-bürokratische Beziehungen vorherrschend.

Die so entstandene Klassengesellschaft brachte eine neue gesellschaftliche Organisationsform hervor: den Staat. Größere Stammesgemeinschaften, die einer ähnlichen Sprache und Kultur angehörten, mehr oder weniger sesshaft an einem Ort lebten und zeitweise entweder durch Besatzung oder durch in ihrem Inneren entstehende eigene politische Institutionen beherrscht wurden, erhielten die Bezeichnung Volksstamm oder Nation; die vorherrschende Form des Mittelalters. Die Elite eines Stammes, der zu einer Klassengesellschaft übergegangen ist, bildete die herrschende Dynastie, während die anderen Schichten zu verarmten und versklavten Werktätigen gemacht wurden. So verlor die Zugehörigkeit zu demselben Stamm an Bedeutung – was zählte, war die Klassenzugehörigkeit.

Die Kurden haben vor rund zehntausend Jahren in der Taurus-Zagros-Gebirgskette als neolithische Gesellschaften in einer bis heute ähnlichen Stammesform zu leben begonnen. Um 6000 v. u. Z. nahm diese Stammesformation bewusstere Züge an. Etwa 3000 v. u. Z. leisteten kurdische Stämme allgemeinen Widerstand gegen den sumerischen Kolonialismus. Widerstand und Gegenangriff formten frühzeitig ein sehr starkes Stammesbewusstsein und entsprechenden Zusammenhalt. Forciert durch die günstigen geografischen Bedingungen und die ständig zunehmenden Angriffe von außen organisierten sie sich in Form von Bergstämmen. Die Fortsetzung solcher Angriffe in ähnlicher Weise bis in die Neuzeit hinein hat eine Wandlung der kurdischen Gesellschaft behindert und die Bewahrung ihres Fortbestandes in kleinen Verteidigungsgemeinschaften zu einem grundlegenden Problem gemacht. Das Aufzwingen einer religiösen Ideologie von außen hemmte zusätzlich die moralische und geistige Entwicklung. Die Gesellschaft ist zweigeteilt: auf der einen Seite die von außen kommende, regierende und mit den Stammeseliten kollaborierende offiziell herrschende Gesellschaft – und andererseits die Stammesmehrheit, welche die Werktätigen stellt. Auf dieser Grundlage ist die kurdische Frage entstanden, die auch heute noch in verstärkter Form besteht.

3. Nation und Nationalstaat

Nation und Nationalstaat bildeten sich als Folge des aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise als direkte Handelsorganisation entstandenen Binnenmarktes. Sie bezeichnen die Umwandlung und Organisierung als Staat von einander ähnlichen Stammesgemeinschaften und Volksstämmen, die in einer Nation als eine übergreifende Identität ihre Form finden. Der gemeinsame Markt führt die regionalen Dialekte und Kulturen zu einer gemeinsamen Sprache und zu Formen einer nationalen Kultur. So wird mit ökonomischer Einheit und der Gemeinsamkeit von Sprache und Kultur ein Übergang vollzogen von der alten, dynastischen Monarchie zu einer neuen politischen Regierungsform. Diese ist die politische Einheit aller Bevölkerungsgruppen, deren Interessen unter der Führung der Bourgeoisie zusammenkommen. Die Republik wird überwiegend von der kapitalistischen Spielart der Politik dominiert. Stammes- und Volkszugehörigkeit werden durch die Kraft des nationalen Marktes zu nationalen Bindungen transformiert, wobei man diesen Prozess bewusst plant und manchmal sogar mit Gewalt beschleunigt. Für die Globalisierung und den insbesondere von den wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen forcierten Weltmarkt sind der nationale Markt und Staat zum Hindernis geworden, ähnlich der konservativen Rolle vergangener feudalistischer Dynastien. Es entstehen immer mehr übernationale politische, juristische und ökonomische Einheiten sowie regionale Zusammenschlüsse, die zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die internationale Gesellschaft erlebt ihre historisch stärkste Zeit.

Aufgrund der geschilderten Bedingungen kann die kurdische Gesellschaft weder so etwas wie einen unabhängigen nationalen Markt hervorbringen noch sich auf einen Nationalstaat orientieren. Ihre strategische Position spielt eine zusätzliche negative Rolle. Auch die herrschenden Staaten selbst lassen weder die Entstehung eines Binnenmarktes noch die Entwicklung stärkerer nationaler Bindungen zu. Daher setzen sich die Bedingungen einer modernen Gesellschaft nur unter großen ökonomischen, sozialen und politischen Problemen durch. Eine Entwicklung der nationalen Sprache und Kultur mit modernen Mitteln wird nicht zugelassen. Wahrend die herrschenden nationalen Gemeinschaften (›Staatsvölker‹) mithilfe des Staates für ihre eigene Sprache und Kultur weitgehende materielle und geistig-kulturelle Privilegien sowie vielseitige Entwicklungsmöglichkeiten bereitstellen, wird auf alles Kurdische lediglich mit Verbot und Verleugnung reagiert. Das gilt ebenso für wirtschaftliche Aktivitäten und freie politische Beziehungen und Institutionen. Es werden keine Mittel zum Aufbau einer Ökonomie bereitgestellt, die auf den eigenen Interessen und Ressourcen der Gesellschaft basiert sowie der Institutionalisierung einer intellektuellen und politischen Ausdrucksfreiheit. Im Gegenteil, sämtliche Versuche in diese Rchtung werden hart bestraft. Die freie Ausübung der kulturellen Identität ist ebenfalls verboten. In diesem Sinne wird eine mittelalterliche Politik der Verleugnung, begleitet von Verboten und Zwangsassimilierung, betrieben.

Die aktuelle Realität des kurdischen Phänomens zeugt von den Schwierigkeiten, auf der Grundlage nationalistischer Ideologie zu so etwas wie einer Nation bzw. einem Nationalstaat zu werden. Auf der anderen Seite zeigen der Verlust der Position von Nation und Nationalstaat als einziger zeitgenössischer Option sowie das Hervortreten von Demokratie als eine immer wichtiger werdende Gesellschafts-, Politik- und Staatsform, dass der demokratische Lösungsweg eher gangbar ist. Auch ohne die Gründung eines Nationalstaats ist ein Leben in Freiheit leicht möglich, und zwar als eine freie nationale Gemeinschaft in einem gemeinsamen demokratischen Staat. Es ist sogar bereichernder. Viele alte Nationalstaaten entwickeln sich langsam zu einer föderalistischen Union. Sichtbar wird diese neue Entwicklungsrichtung insbesondere in der föderalen Struktur der USA, dem wohl stärksten Staat der Welt, und schrittweise in ganz Europa hin zum Föderalismus der Europäischen Union (EU). Diese Situation zeigt auch in Bezug auf die kurdische Frage die Möglichkeit eines Lösungsweges auf, der auf einer demokratischen Einheit mit den von Kurden bewohnten Ländern basiert. Eine friedliche Lösung kann mit demokratischen Politikinstrumenten angestrebt werden, die auf der Basis eines breit angelegten Zivilgesellschaftsprojekts zu schaffen sind, ohne dass dabei nationalistischen Vorurteilen Raum gegeben oder Gewalt angewendet wird. Dieser Weg, der unter Ausschluss von nationalistischer Gewalt und Separatismus gegangen werden müsste, würde allen ethnischen Gemeinschaften ihre kulturelle Unversehrtheit garantieren und ein freies Leben ermöglichen. Er ist eine Lösungsmöglichkeit, die auf der ganzen Welt immer stärker zur Geltung kommt.

4. Militärische und politische Lösung

Die auf Klassengesellschaften basierenden Staaten haben es zu einer klassischen Methode gemacht, ihre Problemlösungen und Güterbeschaffung mit Gewalt zu lösen. Der Diplomatie fällt dabei die Rolle der Vorwandbeschaffung zu. In Zeiten, in denen das Mehrprodukt begrenzt und das militärische Gleichgewicht gestört war, wurde die Weltordnung letztlich von dem Staat bestimmt, der über die stärkste militärische Macht verfügte. Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war dies eine der Grundregeln der Geschichte. Als das nukleare Gleichgewicht des Schreckens hergestellt wurde und aufgrund der wissenschaftlich-technologischen Revolutionen die zur Verfügung stehenden militärischen Methoden ineffektiv wurden, wurde die Suche nach einer überwiegend politischen Herangehensweise an die Probleme unumgänglich. Ein möglicher Weltkrieg wäre sowohl für die Sieger als auch für die Verlierer von tragischer Bedeutung. Auch die Kostenexplosion sowie die Ineffektivität der militärischen Methoden sind dabei ein entscheidender Faktor. Somit wird die Lösung der bestehenden gesellschaftlichen Probleme auf Grundlage demokratischer Kriterien zur vorherrschenden Methode.

Diese Entwicklungsrichtung des Zeitalters hat positive Auswirkungen auf die kurdische Frage. Ohne militärischen Druck von außen und ohne eigene Gewaltanwendung, vielmehr mittels Dialog zu einer Lösung zu kommen, indem man sich auf die Grundregeln der Demokratie einigt, bietet eine neue und realistische Möglichkeit. Wenn offensichtlich ist, dass der militärische Weg für beide Seiten erhebliche Verluste bringt, ist undenkbar, dass nicht der für alle Beteiligten letztendlich gewinnbringende Weg eingeschlagen werden sollte. Die militärische Option ist nur mit einem faschistischen Verleugnungs- und Vernichtungsdenken möglich, und es ist unausweichlich, dass Kräfte, die diesen Weg dennoch versuchen, im Weltmaßstab bloßgestellt und isoliert werden. Es ist eine vorrangige Aufgabe, die kurdische Frage aus dem militärischen Bereich herauszulösen und sie auf eine politisch-demokratische Plattform zu heben. Eine breit angelegte zivilgesellschaftliche Praxis, die nationalistische Vorurteile zu brechen vermag, wird sowohl die aus der Vergangenheit überkommenen psychologischen Hindernisse aus dem Weg räumen als auch aufzeigen, dass demokratische Toleranz und eine Atmosphäre des Friedens den Einfallsreichtum für Lösungsmöglichkeiten steigern. Sie wird auch mit dem Separatismus brechen, mit dem das Problem jahrelang gleichgesetzt wurde, und beweisen, dass aufgrund der Notwendigkeiten zeitgenössischen Staatsbürgerrechts die stärksten Verbände von Ländern und Staaten gerade durch eine Umsetzung demokratischer Kriterien entstehen.

5. Demokratische und juristische Methode

Trotz all ihrer Fehler und Beschränktheit steht die Demokratie an der Spitze aller politischen Modelle, denn demokratische Kriterien sind der am besten geeignete Weg hin zu einer freien und egalitären Gesellschaft. Deshalb ist es die Pflicht aller Teile der Gesellschaft, die das Bedürfnis nach Demokratie verspüren, ihre Forderungen zunächst im demokratischen Rahmen zu formulieren, sofern dieser besteht, oder andernfalls für die Demokratie zu kämpfen. In dem Maße, wie die Demokratie entwickelt, systematisiert und zu einer unverzichtbaren Lebensweise gemacht wird, wird auch die Lösung von Problemen eines betreffenden Landes oder Staates in Frieden und zukunftsweisender Form eher die Regel werden statt die Ausnahme.

Dazu gehört die Umsetzung eines universellen Rechtssystems. Die zwei Grundinstitutionen Demokratie und Recht bedingen und ergänzen sich gegenseitig. Die Demokratie ist das Recht des politischen Bereiches. Fügt man noch die grundlegenden Menschenrechte hinzu, treten die Normen des zeitgenössischen demokratischen Rechtsstaates hervor. Gewisse Unterscheidungen sind zu treffen: Wenn ein Staat sich am Rechtswesen als Grundprinzip orientiert, wird er damit zum Rechtsstaat. Schafft ein Staat im Gegenteil seine eigene Rechtsprechung, handelt es sich hierbei lediglich um Staatsrecht. Erst wenn das Recht nicht nur vom Staat bestimmt wird, sondern sich auch an Kultur und Sitten der Gesellschaft orientiert und sich gleichzeitig auf universelle Rechtskriterien stützt, wird dies zu einem wirklichen Rechtsstaat führen. Als Grundregel einer demokratischen Regierungsform gilt, dass ausnahmslos alle gesellschaftlichen Fragen und Forderungen in Frieden und Gerechtigkeit entschieden werden. Die Lösung des demokratischen Rechtswesens wird allen Einzelpersonen und gesellschaftlichen Gruppen Sicherheiten bieten und damit einen großen Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft leisten. Obgleich für die Gesellschaften des Mittleren Ostens keine demokratischen Rechtsstaaten existieren, wird die weitere Entwicklung unweigerlich auch diese Länder auf einen entsprechenden Weg bringen. Die kurdische Frage wird zunehmend eine Lösung im Rahmen demokratischer Rechtsprinzipien erzwingen. Die Kurdinnen und Kurden werden ihre gesellschaftlichen Rechte insbesondere dann erlangen, wenn sie sich Politik und Recht in einem demokratischen Rechtsstaat aneignen. Deshalb ist es mehr denn je die Hauptaufgabe, den Erfolg der kurdischen Sache durch demokratische und rechtliche Methoden zu suchen.

6. Staatsbürgerschaft und Nationalität

Der Begriff der Staatsbürgerschaft bezeichnet die Bindung an einen Staat und bedeutet so viel wie Mitgliedschaft in einem Staatswesen. Dabei handelt es sich um einen politischen Begriff, der keinerlei ethnische oder nationale Wertungen beinhaltet. Nationalität bedeutet dagegen die Zugehörigkeit zu einer Nation. Nationale Bindungen, die vom Besitz einer gemeinsamen Geschichte, Sprache, Kultur ausgehen und eine dezidierte gesellschaftliche Form ausmachen, bedeuten nicht automatisch, die politischen Bindungen in gegebener Form mitzutragen. Man kann derselben Nation angehören und muss deshalb nicht gleichzeitig Staatsangehöriger desselben Staates sein. Die Mitgliedschaft in einem Staat bedeutet nicht zwangsläufig die Zugehörigkeit zu einer Nation. Diese Gleichsetzung kann nur durch eine faschistische und absolut autoritäre Denkweise aufgezwungen werden.

Im Falle der kurdischen Gesellschaft sind die Individuen Angehörige des jeweiligen Staates, in dessen Grenzen sie leben, was sie aber nicht gleichzeitig zu Angehörigen der herrschenden Nation des betreffenden Staates macht. Sie können ihre nationale Identität separat bestimmen und leben. Es stellt aber keinen Widerspruch zur eigenen nationalen Zugehörigkeit dar, als Ausdruck einer im gesamten Land, in dem sie leben, gültigen übergeordneten Identität eine nationale Bindung mit der Bezeichnung des jeweiligen Landes anzunehmen. So ist beispielsweise die Aussage, man gehöre der Nation des Iran an, sei aber gleichzeitig Kurde, nicht etwa widersprüchlich, sondern bezeichnet im Gegenteil eine ganzheitliche Identität. Das Gleiche gilt für den Irak und die Türkei. Zu sagen, man gehöre dem Volk bzw. der Nation der Türkei an, und gleichzeitig zu ergänzen, man sei Kurde, drückt eine der Wirklichkeit nahekommende und umfangreichere Identität aus. Die ethnische Identität und die für das ganze Land geltende nationale Identität dürfen nicht miteinander verwechselt werden; denn sie haben beide eine eigene Bedeutung und müssen sich nicht widersprechen. Sich dies stets vor Augen zu halten, dient dem Zusammenleben in Freiheit.

7. Die offizielle, die traditionelle und die Zivilgesellschaft

Mit dem Begriff der offiziellen Gesellschaft bezeichnen wir die Bevölkerungen, die in einem Staat und mit seinen Institutionen nach dessen Regeln leben. Dazu gehören alle vom obersten Entscheidungsträger bis zum Dorfwächter, von Arbeitern und Angestellten im staatlichen Dienst bis zum Rentner. Sie sind wesentlich an die Anordnungen und Regeln des Staates gebunden. Hier herrscht eine Beamtenmentalität, für die der Staat alles bedeutet. Darüber hinaus gibt es keine maßgebliche Erweiterung des Horizonts. In der Frühgeschichte und Antike waren sie die Sklaven des Staates; heute aber verfügen sie über eine begrenzte Freiheit. Da sie sich mit dem Staat identifizieren, glauben sie, sie seien höhergestellt als alle anderen Sektoren der Gesellschaft. Da ihr Leben gesichert ist, sind sie übertrieben regeltreu und nicht schöpferisch.

Die traditionelle Gesellschaft fasst alle Elemente der alten Gesellschaft zusammen, die außerhalb des Staates verblieben sind. Genauer gesagt bezeichnet dieser Begriff die ›Gesellschaft an sich‹, die unorganisierte Gesellschaft. In dieser Art von Gesellschaft herrscht im Denken der Menschen ein natürliches Durcheinander zwischen einer feudalen Mentalität und einer, die auf die Sklavenhaltergesellschaft zurückgeht. Es fehlen zeitgemäße demokratische Institutionen und menschenrechtliche Einrichtungen. Seit Tausenden von Jahren gilt es diesen Untertanen als Tugend, so zu leben, wie Staat und Religion es vorschreiben, und sich dem als Schicksal ausgegebenen Kapitulationsgeist zu beugen. Diese Denkweise und Gewohnheiten zeigen, dass sie tatsächlich in einer tiefen Versklavung leben.

Die Zivilgesellschaft bezeichnet zunächst einmal die bürgerliche Gesellschaft, die sich einst in freier Weise außerhalb des feudalen Staates entwickelt hat. Als später die Bourgeoisie zur offiziellen staatlichen Gesellschaft wurde, änderte sich der Umfang der Zivilgesellschaft. Heute umfasst sie alle Sektoren und Gruppen der Gesellschaft, die außerhalb des Staates stehen, sich oppositionell gegen ihn richten, eine freie Geisteshaltung sowie eine klare gesellschaftliche Programmatik und Organisiertheit besitzen. Mehr und mehr wird die Zivilgesellschaft zu einer bestimmenden Gesellschaftsform, die sich jenseits der offiziellen traditionellen Gesellschaft herausbildet. Sie entsteht im Grunde in dem Vakuum, das von der offiziellen Gesellschaft hinterlassen wird, die nicht in der Lage ist, Lösungen anzubieten, und stellt ein System gesellschaftlicher Gruppen dar, die eine hohe Befähigung zur Problembewältigung aufweisen.

8. Die Liebe zum Land und der Internationalismus

Die Bedeutung der beiden Begriffe Internationalismus und Patriotismus wie auch das Verhältnis zwischen ihnen hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt. Ein geografisches Gebiet, in dem sich eine Gesellschaft dauerhaft niedergelassen und einen Zusammenhang zwischen Unterbau und Überbau der Produktion geschaffen hat, wird Heimat oder Land genannt. Internationalismus bezeichnet das Niveau der zu einer Gemeinschaft in einer anderen Heimat aufgenommenen Beziehungen. Diese beiden Begriffe haben seit der ersten sesshaften Gesellschaft, der neolithischen Kultur, eine Bedeutung. Ebenso notwendig wie die Heimat ist auch die Beziehung zwischen zwei Heimaten. Ohne sie hätte es keinerlei historische Entwicklung gegeben. Häufig werden die Grenzen eines politischen Herrschaftsgebietes mit Heimat verwechselt. Fälschlicherweise wird auch angenommen, dass es in einem Land nur eine Nation und eine Sprache geben könne. Es kann sowohl sein, dass in einem einzigen Land mehrere Völker und Sprachen nebeneinander existieren, wie auch umgekehrt, dass in mehreren Ländern nur eine Nation und eine Sprache vorkommen. Beispielsweise existieren im Land Russland mehrere Nationen und Sprachen, während die Türken als eine einzige Nation in mehreren Heimatländern leben.

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