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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

Timo Luthmann:

Politisch aktiv sein und bleiben

2. verbesserte Auflage, Mai 2019

 

 

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2019

ISBN 978-3-95405-056-7

 

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de – kontakt@unrast-verlag.de

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

 

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Covergestaltung, Satz & Layout: Yasmin Abit

Fotos & Zeichnungen: Naïma Leresche

 

 

 

 

 

 

 

 

Timo Luthmann (Jahrgang 1977) ist seit Mitte der 1990er Jahre in verschiedenen sozialen Bewegungen aktiv. Eine bewegte politische Reise von der Jugendumweltbewegung über die Anti-AKW-Bewegung, Anarchosyndikalismus und Kampf gegen Sozialabbau, globalisierungskritische Bewegung, Medienaktivismus und bis zum Autonomen Zentrum SubstAnZ in Osnabrück.

Seit 2010 ist er im Rheinland und der Klimabewegung aktiv, bei ausgeCO2hlt organisiert und Mitinitiator der Kampagne Ende-Gelände.

Luthmann ist die letzten Jahre als Bildungsreferent und Trainer tätig; zum Thema Nachhaltiger Aktivismus gibt er seit 2012 regelmäßig Vorträge und Workshops. http://nachhaltigeraktivismus.org

 

 

 

Für Franz, Pim und alle zukünftigen Generationen von
Aktivist*innen, die für das Leben streiten

Inhalt

Mein persönlicher Weg zum Nachhaltigen Aktivismus

Eine Gebrauchsanweisung des Buchs je nach mentaler Verfassung

1. Was ist Nachhaltiger Aktivismus?

 Ein Definitionsversuch

 Woher kommt das Konzept des Nachhaltigen Aktivismus?

 Kulturelle Aneignung, kulturelle Vermischung und Nachhaltiger Aktivismus

 Resilienzverständnis im Nachhaltigen Aktivismus

 Eine neue Art Aktivismus

 Eine neue Erzählung

 Ein neues Selbst

 Wer oder was ist eigentlich eine Aktivist*in?

 Änderung des Engagements Lebensphasen und Engagement

2. Warum ist Nachhaltiger Aktivismus notwendig?

 Die Psychobiologie von negativem Stress und Trauma

 Die Bedeutung von Entspannung und der Beruhigung unseres Nervensystems

 Was ist Burnout? (Theorie & Analyse)

  Definitionen und Näherungen

  Wonach wir bei Burnout Ausschau halten sollten?

  Der Prozess des Ausbrennens nach Wellensiek (2011)

  Was verursacht Burnout bzw. was trägt dazu bei?

   Persönlichkeitsfaktoren

   Strukturfaktoren

3. Die erste Säule: Reflexionen zu sozialer Veränderung und strategisches Handeln (Theorie & Analyse)

 Ausgangspunkte für Befreiung

  Warum verschiedene Ausgangspunkte?

  Systemische Analyse von Macht, Unterdrückung und Privilegien

  Unterdrückung und Befreiung nach Leticia Nieto und ihrem Team

  Klassisch linker Zugang

  Befreiungstheologisch-christlicher Zugang

  Zugang des engagierten Buddhismus

  Befreiungswissen indigener Traditionen

  Dein eigener Zugang

 Innere politische Veränderung

  Innere und äußere Veränderung bedingen einander und sind beide notwendig

  Von innen statt von außen geleitete Motivation

  Von Selbstverwirklichung, Selbstbegrenzung und Selbstüberwindung

  Radikale Politik und das Ego

  Emotionale Grundlagen für politischen Aktivismus

 Äußere gesellschaftliche Veränderung

  Modelle sozialer Veränderung: der liberale und der radikale Ansatz

  Verschiedene Machtkonzeptionen

  Ebenen der Veränderungen

  Bewegungsstrategien

   a.) Der Movement Action Plan von Bill Moyer

   b.) Verschiebe das Spektrum der Verbündeten

   c.) Diskontinuierliche gesellschaftliche Veränderung

   d.) Gegenmacht aufbauen – vorstellungsbezogen, ökonomisch und physisch

   e.) Kapazitätenaufbau von sozialen Bewegungen, Wachstumsperspektive und der Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie

  Aktionsstrategie und Taktik

  20 Schlüsseleinsichten

4. Die zweite Säule: Individuelle Resilienzstrategien (Praxis)

 Der individuelle Resilienzprozess des Nachhaltigen Aktivismus

  1. Raum für Bewusstheit schaffen

   a.) Positive Lebensverbundenheit kultivieren: unser Körper

   b.) Schlüsselkompetenz: Achtsamkeit

   c.) Verbinden mit Natur und Mitwelt: unser erweitertes Selbst

  2. Reflexion

   a.) Die Realisierung unserer persönlichen Vorprägungen, Motivationen und Bedürfnisse

   b.) Bewusstwerdung der ›Stressoren’ und unser Kraftquellen

   c.) Reflexion unserer eigenen Aktivist*innengeschichte

   d.) Bewertung und Beschneidung unseres bisherigen Engagements um Überbeanspruchung zu verhindern

  3. Fokus

   a.) Kontrolle unserer Aufmerksamkeitsökonomie

   b.) Träumen und persönliche Vision erarbeiten

   c.) Bestimmen unserer Ziele bzw. unserer ›Aktivist*innenmission’

   d.) Zeitmanagement

   e.) Delegieren

   f.) Maßnahmen gegen Prokrastinieren (›Aufschieberititis’)

  4. Balance

   a.) Führen eines nachhaltigen Lebensstils

   b.) Entwicklung einer eigenen Spiritualität

   c.) Radikale Akzeptanz

 Zusammenfassend: Gewohnheiten vs. Praxis

 Praxistipps von burnout-betroffenen Aktivist*innen

5. Die dritte Säule: Kollektive Resilienzstrategien (Praxis)

 Der kollektive Resilienzbildungsprozess

 Strategisch-politisches Handeln

 Öffentliche Debatte über Burnout, Nachhaltigen Aktivismus und unsere Konflikt- und Aktivist*innenkultur führen

 Antirepressionsarbeit

 Kollektive Resilienzstrategien auf Gruppenebene oder ;Zusammenhang

  Praktische Solidarität mit von Burnout, Trauma oder Krankheit betroffenen Aktivist*innen

  Schaffen von ermächtigenden Gruppen

  Kollektive transformative Praxen

  Partizipativere Gruppenstrukturen schaffen

  Gemeinsame Visionen entwickeln

  Eine geeignete formale Organisationsform wählen

  Aufbau und Unterstützung autonomer digitaler Kommunikationsinfrastuktur

  Entscheidungsfindung in Gruppen

  Verbesserung unserer Gruppenkommunikation durch Gewaltfreie Kommunikation (GfK)

  Mehr bzw. klarere Gruppenstrukturen

  Arbeiten mit Konflikten

  Gemeinsam Projekte auswerten und ggf. beenden

  Politische Unterstützungsnetzwerke aufbauen

  Nachhaltige Finanzierungskonzepte

  Umverteilen

  Solidarische Ökonomie

  Gründung widerständiger Gemeinschaften

  Gemeinsam feiern, meditieren, Urlaub machen!

 Kollektive Resilienzstrategien auf Bewegungsebene

  Gesundheitliche Unterstützungsstrukturen

  Aktionsküchen, Voküs und KüfAs

  Antirepressionsgruppen & Demosanis

  Awarenessgruppen zum Umgang mit Diskriminierung und sexualisierter und rassistischer Gewalt

  Kollektive Strukturen zur Unterstützung von Traumatisierten

  Übersetzungskollektive

  Aktivistentrainer*innen und Bewegungsarbeiter*innen

  Stiftungen gründen

  Mediationsstrukturen zur Vermittlung und Lösung von Konflikten

  Orte und Räume für Rückzug und Erholung, für Achtsamkeit und Stille

  Unterstützungsgruppen für Psychiatrieerfahrene

  Unterstützungsgruppen für einen Nachhaltigen Aktivismus

  Co-Counselling

  Kollektive Selbstverständigung (KSV)

 Kollektive Resilienzstrategien auf Gesellschaftsebene

  Richtungsforderung bedingungsloses Grundeinkommen

  Commons und Gemeingüter

  Gesellschaftliche Vision oder Utopie

6. Die Essenz – anstelle eines Nachworts

7. Anhang

 Danksagungen

 I. Glossar

 II. Ressourcen

 III. Literaturverzeichnis

 Kontakt

Anmerkungen

 

 

W Übungsregister:

Der taktische Stern

Der dreiminütige Atemraum

Kultivierung von Lebensverbundenheit nach Bloom

Bodyscan-Übung

Erdungs- und Zentrierungsübung für Aktivist*innen nach Starhawk

Vier-Punkt-Atmung

Die Atembeobachtung Anapanasati

Identifiziere deine ›inneren Antreiber‹

Identifizieren deiner Vorbilder

Motivationserkenntniswerkzeug

›Inspirierende Unzufriedenheit‹

›Wie machen wir, was wir tun?‹ von Cristien Storm

Visualisierung unserer Stressoren und Kraftquellen nach Katrina Shields

›Activist Project Histories‹ nach Hillary Rettig

›Fluss des Lebens‹ nach Ecodharma

Tagträumen

Postkarte von deinem Traum

›Bedürfnisampel‹

Sichtbar machen von Rang und Privilegien

Wer kann uns helfen? Die Verbündete- und Gegenspieler*innenkartierung

Mein persönlicher Weg zum
Nachhaltigen Aktivismus

»Man sollte, soweit es nur irgend möglich ist, so leben, wie man in einer befreiten Welt glaubt, leben zu sollen, gleichsam durch die Form der eigenen Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht (…) Dieses Bestreben ist notwendig zum Scheitern und zum Widerspruch verurteilt, aber es bleibt nichts anderes übrig, als diesen Widerspruch bis zum bitteren Ende durchzumachen. Die wichtigste Form, die das heute hat, ist der Widerstand.« – Theodor W. Adorno

 

Der Herzensweg

Im Dunkeln kann ich die Sterne sehen

Das wirkliche Wunder des Lebens erspähen.

Mein Herz öffnet sich und es wird weit,

Für eine tiefere Wirklichkeit.

 

Das Leid und der Schmerz die machen mich stark

Schätze das Leben Tag für Tag.

Die Liebe zum Leben, der Schlüssel zum Glück.

Wird Freiheit mir geben und meine Würde zurück.

 

Erträume dein Leben

Und lebe deinen Traum.

Wird erstrahlen dich lassen

Über Zeit und Raum

 

Der strahlende Stern

In der tiefen Nacht

Berührt die Menschen

Hat die Sehnsucht entfacht.

 

Die Liebe und Freiheit

Mit dem Mut zur Tat

Wird ein Sternenmeer uns schenken

Und einen neuen Tag.

Das rationale Adorno-Zitat und dieses emotionale Gedicht, welches ich im Jahr 2000 in Brasilien geschrieben habe, fasst als Pole knapp zusammen, was mich motiviert hat, dieses Buch zu schreiben. Es ist die Suche nach einer langfristigen widerständigen Perspektive, nach einem glücklichen Leben und nach individueller wie kollektiver Befreiung. Ich möchte das Leben wählen und nicht den Tod bzw. das Leiden. Ich würde mich freuen, wenn sich das Buch wie ein solidarischer Rat einer Freund*in, Companer@, Genoss*in anfühlt und dich auf deinem Weg stärkt.

Ich möchte einen tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang müssen wir mit den sozialen Bewegungen als Motoren und Katalysatoren dieser Veränderung anfangen, diese Veränderung zu leben. Auf diesem Weg zu einem Nachhaltigen Aktivismus habe ich verschiedene Phasen durchlaufen, die ich hier kurz skizzieren möchte.

 

Meine Vorgeschichte und Prägungen

Ich bin in einem ländlich geprägten katholischen Arbeitermilieu aufgewachsen. In der kirchlichen Jugendarbeit habe ich organisieren gelernt und Werte wie soziale Gerechtigkeit verinnerlicht, doch zu Hause habe ich mich dort nur bedingt gefühlt. In meiner frühen Jugend begann ich mich intuitiv von Katholizismus zu entfernen, da für mich Vieles als leerer Ritus ohne Lebendigkeit erschien. Ich hatte die Sehnsucht nach einem radikalen Lebensentwurf, denn damals wie heute glaube ich, dass ein grundlegender, tiefgreifender Wandel notwendig ist. Meine innere Mitte habe ich immer weniger in der Kirche, sondern mehr und mehr in der Beziehung zur Natur erfahren.

 

Die Suche nach dem Sinn und eine umfassende Politisierung.

Durch das Robbensterben in der Nordsee, die agrarindustrielle Zerstörung der Landschaft, dort, wo ich aufgewachsen bin, und die atomare Bedrohung habe ich mich schließlich politisiert. Über die psychologischen Ansätze der Tiefenökologie bin ich auch mit buddhistischen Ansätzen in Berührung gekommen, aber die wenig aktivistisch-orientierten Vertreter*innen, die ich auf einem Tiefenökologieseminar traf, fand ich nicht besonders inspirierend, sondern eher gesättigt. Dagegen interessierte ich mich für aktivistische Bewegungen wie EarthFirst!, Sea Shepherd, die Anti-Straßenbaubewegung in England und den DIY-Spirit der Hardcore/Punk-Bewegung, die ich der Situation angemessener empfand. Über die Hardcore-Szene, die Jugendumweltbewegung und die Strukturen der Anti-AKW-Bewegung habe ich dann Anschluss an soziale Bewegungen gefunden.

Doch bevor ich mich in das politische Getümmel gestürzt habe, hatte ich verschiedene Schlüsselerlebnisse, die meine Persönlichkeit entscheidend geprägt haben. Es war die Auseinandersetzung mit individuellem und kollektivem Tod. Der individuelle Tod begegnete mir gleich zweimal im familiären Umfeld. Gleichzeitig drang der kollektive Tod mit dem Wissen um die tiefgreifende und teilweise irreversible Umweltzerstörung immer mehr in mein Bewusstsein, was mich beides tief mit Schmerz erfüllte. Auch die Auseinandersetzung mit dem Holocaust bzw. dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus und der Geschichte der Kolonisierung Nordamerikas[1] prägten mich tief.

Ich wich meinem Schmerz, den ich angesichts der Naturzerstörung und Unterdrückung empfand, nicht aus, sondern gestand ihn mir ein und legte seine Wurzel frei. Meine lebendige Beziehung zur Natur, die in tiefer Liebe zu ihr begründet lag, bewirkte die Ausdehnung meines Selbst, wobei ich die Zerstörung der Natur als meine eigene wahrnahm. Dabei bin ich in die Stille gegangen und habe tief über die Fragen von Leben und Tod ›nachgedacht‹ oder eher meditiert, bis quasi mein Kopf und die Kategorien, in denen ich gedacht habe, zerbrochen sind. Diese Erlebnisse, die ich zwei- bis dreimal hatte, zeichneten sich dadurch aus, dass ich mein Bewusstsein ausgehend von tiefer Ruhe in meinem Körper über meinen Körper hinaus ausgedehnt habe und ich eine tiefe Einheit mit dem Leben und Kosmos spürte, die schwer in Worten zu beschreiben ist.

Diese Ereignisse konnte ich zunächst nicht intellektuell deuten, geschweige denn sah ich Möglichkeiten, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Doch diese Erfahrungen bzw. mein Verbundenheitsgefühl in Kombination mit dem Bewusstsein meines endlichen Lebens und der Sinnfrage veranlasste in mir einen starken Willen, für das Leben zu kämpfen, um ihm so einen Sinn zu geben. Seit dem konnte ich es nicht lassen, mich in sozialen Bewegungen zu organisieren.

Die anfänglich bescheidenen Organisierungsversuche in meiner Kleinstadt Cloppenburg endeten mit Teilnahme an der dritten Mobilisierung der Anti-AKW-Bewegung ins Wendland 1997, um die Atommülltransporte dorthin zu stoppen. Die Erfahrungen beim bis dahin größten Polizeieinsatz in der Geschichte der BRD, welche auf breiten, organisierten und vielfältigen Widerstand der Bevölkerung, in Zusammenarbeit mit radikalen Linken und Umweltverbänden stießen, waren für mich prägend. Die Kontroversen um Gewaltfreiheit und Militanz ebenso.

Wenn eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung gelingen soll, bedarf es der Widerständigkeit jenseits einer kleinen Subkultur, einer sozialrevolutionären Perspektive. Das Spüren und Erleben eines Widerstands, der alle Bevölkerungsgruppen durchzieht, war für mich Befreiung.

 

Die Phase der Krise und Fundierung

Nachdem ich im Alter von 19 Jahren aus meiner ländlichen Kleinstadt nach Braunschweig gezogen war, habe ich mich dort in verschiedenste politische Kämpfe gestürzt und meine Praxen wie Joggen oder Kampfsport aufgegeben. Ich war gleichzeitig in mehreren Gruppen und unterschiedlichen Kämpfen mit unterschiedlichen Aktionsformen aktiv, was insgesamt mein Stresslevel stark erhöhte. Ich habe mir einfach keine Entspannungsmomente gegönnt und war ziemlich hart zu mir selbst. Als mir mein Körper ganz unverblümt mit starken immer wiederkehrenden Magenkoliken spiegelte, dass er damit nicht zufrieden war, habe ich angefangen, in der Zen-Tradition zu meditieren und regelmäßig Sport zu treiben, was mich wieder mehr ins Gleichgewicht gebracht hat. Gleichzeitig war ich auf der Suche nach einer langfristigen widerständigen Perspektive, da ich schon in den ersten vier Jahren meines politischen Engagements vermehrtes Wegbrechen bzw. das Verschwinden von Aktivist*innen und einen Mangel an älteren Aktivist*innen festgestellt hatte. Mit der Absicht, meine Perspektive jenseits des europäischen Horizonts zu erweitern und auf der Suche nach politischer Inspiration/Vertiefung leistete ich meinen Zivildienst in Brasilien ab und bereiste dort ausgiebig die verschiedensten sozialen Bewegungen wie Indigene, Landlosenbewegung, urbane Landbesetzungen oder anarchistische Organisierungsprojekte. Bei meiner Reise zum Widerstand in Brasilien war ich auch auf der Suche danach, was Menschen motiviert und ihnen die Kraft gibt zu kämpfen. Während dieser Reise bin ich auf das Buch Mystik und Widerstand[2] von Dorothee Sölle gestoßen. Dort las ich das erste Mal etwas über die Unio Mystica, was mir half, meine Schlüsselerlebnisse in meiner Jugend besser zu deuten. Das, was ich für mich in Brasilien gelernt habe, ist, dass die Menschen dort keine Hilfe von außen brauchen, sondern selbst das Wissen für ihre Befreiungskämpfe haben. Wenn ich zu ihrer Emanzipation etwas beitragen möchte, ist es das Beste, wenn ich mit meiner Selbstemanzipation voranschreite und die Welt hier verändere, da viel Leid durch die Wirtschaftsmacht Deutschlands, neo-koloniale Abhängigkeitsverhältnisse und unsere imperialen Lebensweisen[3] auch hier ihren Ursprung hat.

In Bezug auf Nachhaltigen Aktivismus hat mich beispielsweise die Federación Anarquista Uruguaya (FAU) mit ihrer generationsübergreifende Zusammenarbeit und Langlebigkeit der Organisation beeindruckt. Es war einfach schön zu sehen, wie junge Punks und alte Stadtguerillos der OPR-33 (Organización Popular Revolucionaria-33 Orientales) in dieser 1956 gegründeten Organisation zusammenarbeiten. Die FAU ist eine Vertreterin des sozialen Anarchismus, welche näher an den Menschen in sozialen Bewegungen organisiert und deren Organisationsmodell des ›Especifismo‹[4] großen Einfluss auch außerhalb Uruguays z. B. auf die anarchistischen Organisationen in Brasilien ausgeübt hat.

Wieder in Deutschland angekommen habe ich mich auf der Suche nach meinem inserción social, dem strategisch-politischen Ansatz bzw. der sozialen Basis, sechs Jahre in der Freien Arbeiter*innen Union (FAU) organisiert und schwerpunktmäßig lokal aber bundesweit vernetzt gegen Hartz IV und Studiengebühren gekämpft. Gleichzeitig half ich mit, eine lokale Anti-Atom-Gruppe zu gründen und wir beteiligten uns an verschiedenen Aktionen und Mobilisierungen. Auch antirassistische Arbeit lag mir am Herzen und deswegen beteiligte ich mich aktiv am Kampf gegen das regionale Flüchtlingslager Bramsche-Hesepe.

Zusammen mit Tobias Schmid gründete ich das Filmkollektiv Kinoki Now!, welches sich an verschiedensten medienaktivistischen Projekten wie G8-TV in Heiligendamm beteiligte und Videoclips zu Studienprotesten produzierte (boykott.tv). Eigene Burnoutprozesse während der Produktion unserer Dokumentation Der Lagerkomplex. Flüchtlinge, Bramsche-Hesepe und die freiwillige Ausreise (2004) haben dazu geführt, dass ich mit Tinnitusbeschwerden stressbedingt ins Krankenhaus musste. Dies hat mich daran erinnert, meine eigenen Selbstfürsorgepraxen ernster zu nehmen und mich motiviert, meine Meditationspraxis wieder aufzunehmen. Auch wurden mir das Vermissen von regelmäßigem Naturkontakt und die Tücken des bildschirmbasierten Aktivismus bewusster, sei es nun beim Videoschnitt, E-Mails Lesen oder Social-Media-Arbeit.

Interne Konflikte haben mich motiviert, meine Politikgruppe (die Nachfolgegruppe der FAU) zu verlassen und mich auf den Aufbau eines selbstverwalteten Zentrums in Osnabrück zu konzentrieren, wo ich schon seit Anfang 2002 aktiv war. Insgesamt habe ich dort zehn Jahre organisiert und in den verschiedensten Aufs und Abs Vieles erlebt, gelernt und auch viel gefeiert. Entscheidend für den Erfolg des selbstverwalteten Zentrums SubstAnZ waren das klare Ziel, die undogmatische Herangehensweise und der gute Umgang untereinander, der sich auch in vielen Freundschaften ausdrückte. Dies war für mich eine ermächtigende Organisierungserfahrung, die zeigte, dass Menschen einfach viel erreichen können, wenn sie kontinuierlich an lokalen Kämpfen dran bleiben.

 

Die Phase der Systematisierung

Der Beginn der Systematisierung der Ansätze für einen Nachhaltigen Aktivismus fällt bei mir mit der aktiven Zuwendung meiner politischen Ursprünge zusammen. Das SubstAnZ in Osnabrück stand auf soliden Füßen und die Proteste zu den COP15 in Kopenhagen 2009 standen vor der Tür. Ich beteiligte mich an der Mobilisierung und erlebte die Aktionen zum Klimagipfel trotz der starken Repression und des politischen Desasters als motivierend, weil ich viele inspirierende Menschen traf. Nach dem Gipfel setzte die Post-Kopenhagen-Depression ein und die noch sehr junge Klimabewegung lag am Boden. Ich beschloss trotzdem, an dem Thema und der Bewegung dranzubleiben und organisierte zusammen mit Menschen aus Bonn das Klimacamp Bonn 2010. Auf dem ersten Klimacamp im Rheinland wurde von Climate Justice Action (CJA) ein globaler Aktionstag im Oktober 2010 beschlossen. Die erste ungehorsame Aktion im Rheinischen Braunkohlerevier von linken Aktivist*innen fand am globalen Aktionstag statt, die wir mit einigen Menschen vom Camp organisierten. Pressemäßig und vom Effekt auf die Infrastruktur war unsere Blockade eines Kohlezubringers des Kraftwerks Niederaußem ein voller Erfolg, doch trotz der bundesweiten Mobilisierung nahmen nur 25 Menschen daran teil, was mir arg zusetzte. Das Desinteresse von Seiten bewegungslinker Menschen stand dem strategischen Aktionspotential in den Braunkohlerevieren und der Dringlichkeit des Klimathemas gegenüber. Ich entschied mich nach einiger Überlegung dran zu bleiben und mit Menschen vom Klima!Bewegungsnetzwerk (K!BN) und der BUND-Jugend NRW ein weiteres Klimacamp zu organisieren. Daraus entstanden viele Freundschaften, meine Basisklimagruppe ausgeCO2hlt und durch kontinuierliche Basisarbeit mit vielen Klimacamps und Aktionen konnten wir zum Aufbau der Klimabewegung beitragen. Die Kontinuität und Organisationserfahrungen aus diesen Prozessen waren dann letztendlich ein Wegbereiter für die Massenaktionen von Ende-Gelände, als wir 2015 im Rheinland mit 1.300 Menschen die Grube besetzen und 2016 in der Lausitz mit 4.000 Aktivist*innen die Kohleinfrastruktur blockierten, so dass das Kraftwerk Schwarze Pumpe auf 20 % seiner Leistung gedrosselt werden musste.

Für die Systematisierung des Nachhaltigen Aktivismus waren einerseits meine Auseinandersetzung mit Bewegungsstrategien, Trainingsarbeit u. a. bei Skills for Action und die Erfahrungen beim Bewegungsaufbau der Klimabewegung wichtige Grundlagen. Andererseits haben meine Erfahrungen mit Medienaktivismus verschiedenster Art und die Auseinandersetzung mit Social Media und der Aufmerksamkeitsökonomie im digitalen Kapitalismus den Grundstock für eine Systematisierung des Konzepts des Nachhaltigen Aktivismus geliefert. Im Rahmen der Linken Medienakademie 2011 habe ich verschiedene Vorträge zur Fragmentierung, Kommerzialisierung und Kontrolle von Aufmerksamkeit gehalten. Diese Konzepte habe ich weiterentwickelt und dann den ersten Nachhaltigen Aktivismus-Workshop auf dem Klimacamp 2011 durchgeführt. In Kopenhagen fand ich einen Flyer des Ecodharmas, einer Gemeinschaft in den spanischen Pyrenäen, die ›Sustaining Resistance‹-10-Tages-Kurse für Aktivist*innen und Organizer*innen anboten. Das Programm ist u. a. auch von Burnout-Erfahrungen in der internationalen Klimabewegung und insbesondere der Climatecamp UK-Erfahrungen motiviert. Die Teilnahme an ›Sustaining Resistance‹ im November 2011 war für mich eine wichtige Motivation, meine eigenen Ansätze zu Nachhaltigem Aktivismus weiter zu vertiefen. Es war das erste Mal, dass ich Menschen getroffen habe, die an einer ähnlichen Themenkombination arbeiten. Dies war sehr befreiend, da ich bisher häufig das Gefühl hatte, zwischen allen Stühlen zu sitzen.

2012 begann ich schließlich dieses Buchprojekt und besuchte das Train the Trainer von Sustaining-Resistance im Ecodharma. Es folgten viele Vorträge, Workshops und eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Trainerin Mara Linnemann (cre-act.net) sowie Trainer*innen vom Kommunikationskollektiv (kommunikationskollektiv.org) zu Nachhaltigem Aktivismus.

Eine Gebrauchsanweisung des Buchs
je nach mentaler Verfassung

Das Buch ist wie ein Baukastensystem aufgebaut, an dem du dich je nach deinen Bedürfnissen bedienen kannst, wie in einer kleinen Minibibliothek aus Abhandlungen zu verschiedenen Aspekten des Nachhaltigen Aktivismus. Das Buch pendelt zwischen analytisch-theoretischen Überlegungen und Beschreibungen praktischer Erfahrungen.

 

Im ersten Kapitel ›Was ist Nachhaltiger Aktivismus‹ geht es um die Beschreibung der Ursprünge, des theoretischen Hintergrunds und der Konzepte des Nachhaltigen Aktivismus.

Dazu zählt auch die Auseinandersetzung mit dem Resilienzbegriff als einem Schlüsselbegriff des Nachhaltigen Aktivismus. Resilienz bedeutet soviel wie Widerstandskraft und die Konzeption besitzt eine breite Adaption von emanzipatorischen sozialen Bewegungen, Psychologie, Ökologie, Katastrophenmanagement bis hin zu Herrschaftsinstitutionen wie der Welthandelsorganisation (WTO) oder dem US-amerikanischen Militär. Daher ist Begriffssicherheit notwendig, um eine scharfe Abgrenzung zu herrschaftsförmigen Resilienzadaptionen herzustellen. Ebenso wird in diesem Kapitel dargelegt, warum Nachhaltiger Aktivismus eine neue Art des politischen Aktivismus ist und was ihn auszeichnet. Abschließen möchte ich diesen Abschnitt mit Überlegungen dazu, wen ich unter Aktivist*innen verstehe und Gedanken zu Änderung unseres Engagements in verschiedenen Lebensphasen.

 

Das zweite Kapitel ist eine Beschreibung der Probleme und des Warum. Dieser Abschnitt kann für Menschen in einer psychisch labilen Verfassung herausfordernd sein. Daher ist es möglicherweise ratsam, falls du dich nicht ausreichend psychisch und emotional stabil fühlst, dieses Kapitel vorerst zu überspringen. Es gibt dort aber viele nützliche Einsichten zu unserer Psychobiologie, von negativem Stress und Trauma über den Prozess des Ausbrennens bis zu Ursachen von Burnout persönlicher und struktureller Art, so dass dieses Kapitel dich auch noch später bereichern kann.

 

Im dritten Kapitel widme ich mich der ersten Säule des Nachhaltigen Aktivismus, den Erfahrungen und Reflexionen zu sozialer Veränderung und strategischem Handeln. Den Einstieg in dieses Kapitel beginne ich mit der Reflexion über verschiedene Ausgangspunkte für Befreiung, die uns für unsere verschiedensten blinden Flecken sensibilisieren möchte und gleichzeitig die Neugierde bei uns wecken, wie auf unterschiedliche Art und Weise Befreiung gedacht und gelebt werden kann. Nach diesen analytischen Überlegungen gehe ich auf das Verhältnis von innerer und äußerer Veränderung ein, welche Rolle unsere Motivation und unser Ego dabei spielen und erläutere die emotionalen Grundlagen von Veränderung. Anschließend thematisiere ich äußere gesellschaftliche Veränderung, indem ich ein liberales und ein radikales Modell gegenüberstelle und die verschiedenen Ebenen von Veränderungen erläutere. Ein Abschnitt über Bewegungsstrategien, ein Input zu Aktionsstrategie und Taktik und 20 Schlüsseleinsichten zu sozialer Veränderung runden dieses Kapitel praxisorientiert ab.

 

Das vierte Kapitel wird wieder praktischer und beschreibt die zweite Säule des Nachhaltigen Aktivismus – individuelle Resilienzstrategien. Hier bilde ich einen von mir entwickelten individuellen Resilienzbildungszyklus ab, der die Phasen Raum für Bewusstheit schaffen, Reflexion, Fokus und Balance durchläuft und in jeder Phase praktische Werkzeuge und Übungen beinhaltet. Abgerundet wird die individuelle Dimension mit der Schlüsseleinsicht der Kultivierung von eigenen Praxen und Praxistipps von burnout-betroffenen Aktivist*innen.

 

Das fünfte Kapitel geht in einer praktischen Art und Weise auf die dritte Säule des Nachhaltigen Aktivismus – die kollektiven Resilienzstrategien – ein. Dabei werden erst allgemeine Aspekte wie strategisch-politisches Handeln, öffentliche Debatte über Burnout und Nachhaltigen Aktivismus sowie Antirepressionsarbeit behandelt. Danach betrachte ich erst die Gruppenebene, dann die Bewegungsebene und anschließend die Gesellschaftsebene und erläutere, wie kollektive Widerstandskraft gestärkt werden kann.

 

Das sechste Kapitel möchte zusammenfassend die Essenz des Nachhaltigen Aktivismus kurz auf den Punkt bringen. Dabei geht es um verschiedene Fäden, die sich durch das gesamte Buch ziehen, wie beispielsweise die Frage nach unseren Vorstellungen, Visionen, Utopien und Erzählungen.

1. Was ist Nachhaltiger Aktivismus?

Ein Definitionsversuch

Es gibt nicht den einen Nachhaltigen Aktivismus, sondern sehr vielfältige Strategien und Wege, die von Aktivist*innen weltweit gegangen werden, um tiefgreifenden und langfristigen gesellschaftlichen Wandel zu forcieren und individuelle Emanzipation zu erlangen. Dabei verwenden sie nicht unbedingt immer dieses relativ neue Begriffspaar. Gleichzeitig gibt es anderseits verschiedenste Personen und Zusammenhänge, die dieses Begriffspaar seit Jahren verwenden wie z. B. Jane Barry und Jelena Djordjevic (2007), Grace Lee Boggs (2011), Ecodharma (seit 2010) u. a. und unter diesem Begriff gibt es in verschiedenen europäischen Ländern Trainingsarbeit von Trainingskollektiven, einschließlich meiner eigenen Arbeit. In der Praxis hat sich für mich der Begriff als zugänglich erwiesen, trotz seiner ökologischen Konnotation und dem Problem, dass der Nachhaltigkeitsbegriff ebenso wie der Resilienzbegriff auch herrschaftsförmig adaptiert werden. Dies ist jedoch ein allgemeines Phänomen, da Begriffe umkämpft sind, und es gilt, sie sich anzueignen. Deswegen bedarf es einer emanzipatorischen Begriffsdefinition, um die Begriffssicherheit und Klarheit über das Konzept zu erhöhen und einer Beliebigkeit vorzubeugen. Für mich ist Nachhaltiger Aktivismus ein Analyserahmen, um verschiedenste Ansätze und Erfahrungen zu systematisieren und zusammenzufassen. In diesem Sinne ist Nachhaltiger Aktivismus für mich ein Konzept, um Menschen bei der Entwicklung eines langfristigen politischen Engagements zu helfen und Nachhaltigkeit im eigenen Aktivismus zu erreichen. Es setzt sich nach meiner Definition zusammen aus:

1.) Erfahrungen und Reflexionen über soziale Veränderung und strategisches Handeln

2.) Individuelle Strategien zur Selbstfürsorge und Ausschöpfung des persönlichen Potentials

3.) Kollektive Strategien, die langfristiges politisches Engagement stützen bzw. erst ermöglichen

 

Die Anwesenheit von Teilaspekten des Nachhaltigen Aktivismus machen noch nicht den Nachhaltigen Aktivismus als ganzes aus und stellen eine verkürzte Form da, die unvollständig ist. Nur alle drei Aspekte vereint würde ich als Nachhaltigen Aktivismus bezeichnen.

 

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Dabei ist diese Arbeit eigentlich keine Extraaufgabe für Aktivist*innen, sondern im Kern geht es bei Nachhaltigen Aktivismus darum, was Bewegungen erfolgreich und Individuen und Gruppen ganzheitlich stark macht.

Das Konzept vom Nachhaltigen Aktivismus setzt auf Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung und stellt zwar als ganzes keine Therapieform dar, kann aber in Teilaspekten Heilungsprozesse beinhalten. Es knüpft an das individuelle wie kollektive Wissen von Aktivist*innen und sozialen Bewegungen an und möchte Impulse für dessen Weiterentwicklung und Vertiefung liefern. Dabei berücksichtig das Konzept vom Nachhaltigen Aktivismus mögliche Krisen und versucht mit ihnen konstruktiv umzugehen. Wir, als Aktive in sozialen Bewegungen, wollen uns nicht aus einer technokratischen Sicht fit erhalten für den Kampf, sondern ganzheitliche Entwicklungsbilder für Aktivist*innen und engagierte Menschen allgemein aufzeigen, um der individuellen wie der kollektiven Befreiung ein Stück näher zu kommen. Die Persönlichkeitsentfaltung spielt im Nachhaltigen Aktivismus eine wichtige Rolle und wird in einer demokratisierten Form als eine Art Alternative zu avantgaristischen Leadershipprogrammen gesehen. Im angloamerikanischen Raum sind solche Leadershipprogramme zum Aufbau von Bewegungs- und Führungspersönlichkeiten fester Bestandteil von Organisierungskampagnen und kritischer Bewegungsbildung.

Es besteht beim Nachhaltigen Aktivismus ein produktives Spannungsverhältnis zwischen individuellen und kollektiven Handlungsansätzen. Ebenso spielt prefigurative Politik, das heißt mit den Mitteln der Veränderung die Ziele der sozialen Bewegung bereits jetzt erfahrbar zu machen, eine wichtige Rolle. Ausgehend von der ›Politik der ersten Person‹, welche die Trennlinie zwischen ›privat‹ und ›öffentlich‹ zurückweist und die Politisierung der Privatsphäre beinhaltet, entsteht ein Vorrang der Selbstfürsorge.

»Fürsorge für mich selbst ist nicht Genusssucht, es ist Selbsterhaltung und dies ist ein Akt des politischen Kampfes.«[5] – Audre Lorde

Die Anerkennung, dass Selbstfürsorge politisch notwendig ist, bildet hierbei eine Handlungsgrundlage. Diese Art von Selbstfürsorge dreht sich nicht um unser eigenes Glücksempfinden. Sie handelt davon, Wege zu finden, in einer Welt zu überleben, die diskriminiert und vitalen Lebensbedürfnissen entgegensteht[6]. Deswegen werden im Nachhaltigen Aktivismus gleichzeitig kollektive politische Prozesse und Dimensionen mitgedacht, thematisiert und es besteht außerdem ein kollektiver Handlungsdruck. Die mikropolitischen Interventionen – wie z. B. Achtsamkeitsprogramme – müssen in makropolitische Projekte und größere politische Entwürfe eingebettet sein, damit sie einen systemischen befreienden Effekt haben.

In der Konzeption vom Nachhaltigen Aktivismus geht es im Gegensatz zu herkömmlichen Burnout-Präventions-Programmen schwerpunktmäßig nicht um individuelle Selbstoptimierung im Sinne der eigenen Leistungsfähigkeit. Klassische Resilienzkonzepte setzen bei der Stärkung der Widerstandskraft des Individuums an. Für den Nachhaltigen Aktivismus kommt die Reflexion über die gesellschaftlichen Verhältnisse als Ursache für die stressbedingten persönlichen Krisen hinzu. Die Bewusstwerdung und Anerkennung, dass eine wesentliche Ursache für Burnout in der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit ihrem permanenten individuellen Verwertungszwang liegt, ist eine Grundlage für Nachhaltigen Aktivismus. In diesem Sinne ist Nachhaltiger Aktivismus antikapitalistisch bzw. postkapitalistisch. Hinzu kommt, dass viele Probleme gegen die Aktivist*innen kämpfen, vom Kapitalismus mit verursacht oder verstärkt werden. Dies bedeutet jedoch keine fatalistische Kapitulation vor der Größe des Problems und den Rückzug ins Private, sondern erst mit der Klarheit über die Probleme schaffen wir die Grundvoraussetzung für unsere prozesshafte individuelle und kollektive Befreiung. Es ist wichtig, dass wir unsere persönlichen Krisen und unser teilweises Scheitern nicht als individuelles Versagen deuten. »Es liegt nicht am Einzelnen, wenn wir an unsere Grenzen stoßen. Besseres Management oder eine andere persönliche Haltung können das Beschleunigungsproblem in unserer Gesellschaft nicht lösen, weil es ein strukturelles, kulturelles und kollektives Problem ist«[7], so der Soziologe Hartmut Rosa. Diese Erkenntnis hilft uns, dem eigenen Leistungsdenken, das durch den kapitalistischen Verwertungszwang geprägt ist, etwas entgegenzusetzen. Erst wenn wir unseren inneren Antreiber damit soweit entwaffnet haben, dass wir uns nicht selbst schaden, können wir Strategien entwickeln, um mit der beschleunigten Lebenskultur umzugehen.

Die vielfachen Krisen werden von den Menschen meistens als bedrohlich wahrgenommen. Dabei besitzen Krisen ein doppeltes Gesicht. Schon das griechische Wort krisis bezeichnet nicht eine hoffnungslose Situation, sondern den Höhe- oder Wendepunkt einer gefährlichen Lage – von Tiefpunkt einer Krise an kann es folglich nur noch besser werden. Die Krisen, die wir als Aktivist*innen erleben, können für uns eine Möglichkeit sein, unser politisches Leben und unsere Analysen zu reflektieren und uns jenseits von alltagspolitischen Fragen existenziellen Fragen zuzuwenden, wobei wir z. B. Kernwerte freizulegen, die als Grundlage für unser politisches Handeln dienen.

Ein Kern des Nachhaltigen Aktivismus ist eine Art säkulare oder weltliche Spiritualität. Dabei geht es darum, wie wir unsere Beziehung zu uns Selbst, unserem Gegenüber und unserer Mitwelt erkennen, gestalten und annehmen. Sie drückt unsere Beziehungsqualität zum Leben aus. Es geht um solidarische und empathische Beziehungen, zu uns selbst, unserem Gegenüber und unserer Mitwelt in der Anerkennung unserer Interdependenz, der wechselseitig bedingten Abhängigkeit. In dieser Anerkennung liegt Selbsterkenntnis und Überwindung von Entfremdung. Gleichzeitig drückt die säkulare Spiritualität auch unsere individuelle Fähigkeit aus, uns Sinn zu konstruieren, und ist eine entscheidende Ressource, die uns widerstandsfähiger macht. Diese säkulare Spiritualität möchte ich gegen Esoterik abgrenzen, die als Geheimwissenschaft daherkommt und herrschaftsförmigen Missbrauch Tür und Tor öffnet. Vieles, was ich als säkulare Spiritualität fassen würde, beschreibt Hartmut Rosa in seinem Konzept der Resonanz[8].

Nachhaltiger Aktivismus ist kein geschlossenes System, sondern ein offener und fortlaufender Kommunikationsprozess. Kommunikation mit sich selbst, Kommunikation mit dem*der Anderen, sei es in der Politgruppe, der Bewegung oder der Gesellschaft.

Hinter dem Konzept des Nachhaltigen Aktivismus steht der Wille, ein richtiges Leben im Falschen zu führen und die Möglichkeiten auf ein glückliches und gutes Leben trotz der Gewalt des Kapitalismus und zu ergreifen. Nur so gibt es eine Chance, kollektiver Befreiung ein Stück näherzukommen.

Woher kommt das Konzept des
Nachhaltigen Aktivismus?

Nachhaltiger Aktivismus ist für mich persönlich aus der systematischen Beschäftigung mit der Frage der Nachhaltigkeit im politischen Aktivismus entstanden. Einerseits war diese Suche durch meine eigenen Krisen motiviert, die sich durch immer wiederkehrende stressbedingte Magenkoliken und Tinnitus körperlich ausdrückte. Gleichzeitig beinhaltet der Nachhaltige Aktivismus andererseits auch eine Antwort auf die politischen Krisen in der Linken.

Er ist durch die Suche nach individuellen wie kollektiven Kraftquellen und einer tieferen Fundierung motiviert, die Suche nach einer politischen Praxis, in der sich das Individuum entfalten und gleichzeitig an der kollektiven Befreiung mitwirken kann.

Die drei wesentlichen Einflüsse des Nachhaltigen Aktivismus nach meiner Systematisierung kommen erstens aus der Geschichte und Praxis sozialer Bewegungen und Widerstandskulturen, zweitens aus der Resilienzforschung, den Neurowissenschaften, der humanistischen Psychologie und gegenkulturellen Bewegungen zur Mainstreampsychologie und drittens aus spirituellen Traditionen im weiteren Sinne. Diese spirituellen Traditionen sind oftmals mit sozialen Bewegungen und Widerstandskulturen verbunden, wie z. B. der engagierte Buddhismus und die Befreiungstheologie, als auch über die (Neuro-)Psychologie und Resilienzforschung u. a. durch die belegte Wirksamkeit von Achtsamkeitsübungen und Yoga wissenschaftlich rückgebunden sind. Oftmals lassen sich die Einflüsse auch nicht sauber in diese Kategorien trennen. So gibt es Aktivist*innen, die sich mit Mikropolitiken wie Yoga und Meditationstechniken, Psychologie und Trauma beschäftigen und Vertreter*innen aus Psychologie oder Yoga- und Meditationsmeister*innen, die auf soziale Bewegungen zugehen oder aus Widerstandskulturen stammen.

Es sind insbesondere die Menschen, die zwischen allen Stühlen stehen, welche produktive Beiträge zur Entwicklung eines Nachhaltigen Aktivismus geleistet haben. Sie arbeiten intersektional, das heißt, bewegungsübergreifend, und sind in verschiedenen Disziplinen, Kulturkreisen und Milieus zu Hause.

Ein wichtiger Aspekt des Nachhaltigen Aktivismus ist die Reflexion der Geschichte und Praxis verschiedenster sozialer Bewegungen sowie die Aneignung eines strategischeren Handlungsansatzes. Im Folgenden können nicht alle Einflüsse aus sozialen Bewegungen genannt werden, sondern es geht um grobe Wegmarken. Beim Aufzeigen der Ursprünge des Nachhaltigen Aktivismus muss zwischen Einflüssen, die in der Gesamtkonzeption des Nachhaltigen Aktivismus eine Rolle spielen und Vertreter*innen, die selbst schon einen nachhaltigen Aktivismus praktizieren, unterschieden werden.

In seiner hier vertretenen Konzeption enthält das Konzept vom Nachhaltigen Aktivismus neben den Einflüssen aus der Lebensreformbewegung viele Einflüsse aus den Neuen Sozialen Bewegungen seit dem Aufkommen der Gegenkultur der 1960er Jahre, der 1968er-Bewegung und aus der jüngeren und jüngsten Bewegungsgeschichte. Doch quasi alle soziale Bewegungen und Befreiungskämpfe verfügen über Strategien, um ihre Widerstandskraft zu erhalten und zu stärken und enthalten somit Elemente vom Nachhaltigen Aktivismus. Beispiele hierfür sind Widerstandskulturen wie der Kampftanz Capoeira in Brasilien und Vodou in Haiti[9], die Suffragetten mit ihrem ›Mice Castle‹ wo sie sich von den Repressionsstrapazen erholen konnten, die Wanderhütten und Arbeitergesangsvereine der Arbeiter*innenbewegung oder die Rituale indigener Kulturen wie die Schwitzhütte, die für Widerstandsbewegungen der nordamerikanischen Indigenen wichtig waren und sind.

 

Die Anfänge

Der linke Flügel der Lebensreformbewegung entwickelte seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland verschiedenste Elemente, die auch im Nachhaltigen Aktivismus enthalten sind, insbesondere Aspekte, welche die individuelle Resilienz (Widerstandskraft) stärken, wie Naturheilkunde, Ernährungsreform und ›Körperschulen‹. Aber auch Aspekte, die unsere Kollektive Widerstandskraft stärken, entstanden im Rahmen der Lebensreformbewegung. Die Reformpädagogik erprobte neue Wege des Lernens und die Experimente mit Kommunen und Genossenschaften stehen in der Tradition der europäischen gesellschaftskritischen Sozialutopien und können zur solidarischen Ökonomie gezählt werden.

Human Potential Movement