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Über dieses Buch:

Die magische chinesische Reiseuhr verschlägt Kim, Lisa und Dennis nach Amsterdam, in das Jahr 1637. Mitten hinein in die Zeit des Tulpenwahns, in der eine Zwiebel dieser Blume mehr wert war als ein Klumpen Gold und die Zukunft vieler Familien an einer einzigen seltenen Tulpenzwiebel hing ... Als die drei Freunde den Tulpenhändler Abraham van de Bos und seine kinderreiche Familie kennenlernen, steht diese kurz vor dem Ruin. Kim, Lisa und Dennis wird schnell klar, dass das Schicksal der Familie van de Bos in ihren Händen liegt. Und sie haben nur dann eine Chance, sie zu retten, wenn alle zusammenhalten ...

Fesselnd und voller Spannung erzählt Eva Maaser aus der Zeit des Tulpenwahns!

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Ebenfalls bei jumpbooks erschienen Eva Maasers Kinderbücher:

Kim und die Verschwörung am Königshof
Kim und die Seefahrt ins Ungewisse

Leon und der falsche Abt
Leon und die Geisel
Leon und die Teufelsschmiede
Leon und der Schatz der Ranen.

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eBook-Neuausgabe April 2016

Copyright © der Originalausgabe 2008 Coppenrath, Münster

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2016 jumpbooks. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: Sotheby's/akg-images; akg-images/De Agostini Pict.Lib.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-96053-067-1

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Eva Maaser

Kim und das Rätsel der fünften Tulpe

Band 3

jumpbooks

1. Dreckarbeit ((12.32Uhr))

In der letzten Nacht hatte der Regen endlich aufgehört. Aber die Erde in Tante Bettys Garten war immer noch vollgesogen. Der Lehm klebte so an Kims Stiefeln, dass es sich anfühlte, als wären seine Füße in Beton eingegossen. Bei jedem Schritt schleppte er einen Zentner Gewicht mit sich. Ein kalter Wind wehte, der den nahen Winter ankündigte. Ein Winter mit Schnee und Eis, wie ihn Kim noch nie erlebt hatte. Und nicht erleben wollte. Denn innerlich lebte er immer noch in Shanghai, er war noch gar nicht richtig in diesem fremden Land angekommen. Deutschland. Und ausgerechnet Drensteinfurt. Das Kaff war so winzig, dass man an einem Ende einen Stein werfen konnte, der am anderen wieder herausfiel. Das war Drensteinfurt! Hätte es nicht wenigstens die Kreisstadt Münster sein können, wo er ja schließlich zur Schule ging?

Aber sein Vater Lutz Reimer hatte darauf bestanden, dass sie ins Haus des verstorbenen Großvaters zogen, Kims deutschem Großvater. Dessen Schwester, Kims Großtante Betty, lebte schon seit vielen Jahren allein in diesem Haus.

Beim Gedanken an seinen Vater zog sich Kims Herz schmerzhaft zusammen. Würde er wirklich Weihnachten kommen? Oder würde er ihn mit einer alten Frau allein lassen, die ständig an ihm herumnörgelte? Die ihn genauso abstoßend fremd fand wie er sie.

Vor drei Monaten hatte Kims Vater ihn nach Drensteinfurt gebracht und war sofort wieder nach Shanghai zurückgeflogen, um dort noch etwas an seinem alten Institut zu regeln. Lutz Reimer war Biotechnologe. Diese letzten Arbeiten zogen sich anscheinend endlos lange hin, und Kim versauerte inzwischen an einem Ort, der ihn schaudern ließ.

Die Luft war noch so feucht, dass er bestimmt bis zum Abend Schimmel ansetzte. Kims Freundin und Klassenkameradin Lisa Wagner schien das schlechte Wetter nichts auszumachen. Eifrig wühlte sie neben ihm in der Erde, die er zuvor mit einer Grabegabel aufgelockert hatte, und holte unansehnliche Zwiebeln heraus. Geradezu andächtig wischte sie die größeren sauber. Sie hatte etwas von Papageien gemurmelt, aber Kim hatte nicht genau hingehört.

Papageien? Die Zwiebeln hatten nun wirklich keinerlei Ähnlichkeit mit Papageien. Was sollte das also? Ein blöder Witz?

Ihre Haare hatte Lisa nachlässig mit einem Tuch am Hinterkopf zusammengebunden. Einige Locken hatten sich befreit und fielen ihr ins Gesicht. Das machte sie noch hübscher. Manchmal konnte Kim Lisa kaum ansehen, so sehr gefiel sie ihm mit ihrem Feuerhaar, den Sommersprossen und den jadegrünen Augen. Das würde er natürlich aus Furcht, sich lächerlich zu machen, niemals offen zugeben. Lisa war immer noch ein paar Zentimeter größer als er, obwohl er in den letzten drei Monaten ein Stück gewachsen war. Irgendwann würde er sie einholen, hatte er sich geschworen. Sie waren ja beide genau gleich alt, dreizehn Jahre und ein paar Monate.

Lisa würde er vermissen, wenn er wieder in Shanghai war. Sie war fast die Erste, die ihn hier willkommen geheißen hatte, und es war ein glücklicher Zufall, dass sie direkt im Nachbarhaus wohnte.

Ihr elfjähriger Bruder Dennis half ebenfalls bei der Gartenarbeit. Das hieß, er hielt seiner Schwester mit wichtigtuerischer Miene den Korb hin, in den sie die gereinigten Knollen legte. Dabei vermied er es, in den Matsch zu treten, und blieb an der Rasenkante stehen. So erreichte er gleich zweierlei: Er blieb sauber und brauchte sich in keiner Weise anzustrengen. Das war typisch für ihn. Der rundliche Dennis hatte es nicht so mit körperlichen Anstrengungen.

Hinter ihnen auf der Terrasse lag bereits der Weihnachtsbaum, den Tante Betty hatte besorgen lassen. Noch vierzehn Tage bis Weihnachten. Es würde das erste Weihnachten ohne Kims Mutter sein, die vor einem dreiviertel Jahr gestorben war. Ihr Tod war der Anlass für den Umzug nach Deutschland gewesen. Von seiner Mutter hatte Kim die mandelförmigen Augen und das lackschwarze Haar geerbt, denn sie war Chinesin gewesen. Er war also Halbchinese, hatte sich aber in Shanghai immer nur als Chinese gefühlt. Er dachte wie ein Chinese und er fühlte wie einer. Oder etwa nicht? Manchmal kam es ihm so vor, als würde langsam etwas daran ins Wanken geraten. Und das wollte er nicht. Er wollte nicht verwestlichen und die barbarische hiesige Lebensart annehmen. Ein Grund mehr, nach China zurückzukehren.

Wie eine heiße Welle überfiel ihn die Sehnsucht nach Shanghai, nach seinen Freunden und – nach Großvater Kao. Sein chinesischer Großvater war uralt, hatte lange als Mönch in Tibet gelebt, war jahrelang herumgereist und steckte voller Geheimnisse, die er nur widerwillig preisgab. Er wohnte in einem kleinen Holzhaus am Meer, an das Kim gerade heute intensiv denken musste. Ein Haus voller Licht und Wärme, die er jetzt so notwendig wie noch nie brauchte. Unverhofft überkam ihn Wut. Eine geradezu mörderische Wut. Viel zu heftig stieß er die vierzinkige Gabel in die Lehmerde und riss sie wieder heraus.

Lisa schrie gellend auf.

Wie ein Echo ertönte hinter ihr ein zweiter Schrei. Kim schaute an ihr vorbei und sah Tante Betty auf der Terrasse stehen. Wahrscheinlich hatte sie gerade verkünden wollen, dass das Mittagessen fertig sei. Flüchtig fragte er sich, was es diesmal geben würde: Mehlklöße, die wie Steine im Magen lagen? Mit zerkochtem Fleisch und pappiger brauner Soße?

Wegen einer wichtigen Lehrerkonferenz war für alle Schüler nach der dritten Stunde der Unterricht ausgefallen, und so war auch Dennis, der das gleiche Gymnasium besuchte wie Lisa und Kim, mit ihnen nach Hause gekommen. Tante Betty hatte die Geschwister unter der Bedingung zum Essen eingeladen, dass sie vorher Kim bei der Gartenarbeit halfen, die sie ihm allein wohl nicht zutraute. Gartenarbeit! Für richtige Dreckarbeiten hatte man in Shanghai Angestellte, niemand, der auf sich hielt, machte so etwas selbst. Es war einfach entwürdigend, im Dreck zu wühlen.

Lisa starrte mit aufgerissenen Augen auf Kims Gabel.

Auf dem zweiten Zinken von rechts saß eine Zwiebel.

Na und?

Eine ziemlich dicke braune Zwiebel, durch die der Zinken glatt hindurchgegangen war.

Matsch tropfte von der Gabel.

Blass und zitternd – war Lisa vor Schreck wirklich blass geworden? – streckte sie die Hand nach der Zwiebel aus.

Sie tat geradeso, als wäre dieses hässliche braune Ding aus purem Gold. Das ist bloß eine schrumpelige Zwiebel, wollte er am liebsten schreien.

Warum machten Lisa und Tante Betty so ein Theater darum?

Tante Betty hatte eine lange Schimpftirade begonnen, in die sich Willie einmischte, indem er laut aufheulte. Auch das noch! Als ob Lisas kleiner Wuschelhund, der sich an der Rasenkante niedergelassen hatte, zu der aufgespießten Knolle auch etwas Vorwurfsvolles zu äußern hätte.

Dennis grinste schadenfroh.

Kim jedenfalls hatte genug von allen.

Er schmiss die Gabel samt Zwiebel ins Beet und stapfte davon. Er wusste genau, was er nun zu tun hatte. In der vergangenen Nacht war Vollmond gewesen. Kurz vor der Morgendämmerung hatte er ihn durch einen Spalt in den Vorhängen in sein Zimmer lugen sehen. Ein lockender, silbriger Vollmond, der ihm etwas zu sagen schien. Jetzt hatte er die Botschaft verstanden. Nach chinesischer Auffassung war die Zeit des abnehmenden Mondes die beste Reisezeit. Vollmond war schon fast wie abnehmender Mond. Ja, heute war genau der richtige Tag, um zu verreisen.

Er war an der Terrasse vorbeigelaufen, ohne die schimpfende Tante Betty zu beachten, und schlüpfte an der Seite durch die Küchentür ins Haus. Auf die Dreckspur, die seine Stiefel hinterließen, konnte er jetzt wirklich keinen Gedanken verschwenden. Wenn Tante Betty sie entdeckte, war er hoffentlich schon weit weg.

Heute musste es klappen! Heute war der Tag, an dem sein größter Traum in Erfüllung gehen würde.

Heimkehren!

Ganz genau sah er die wunderbare Skyline von Shanghai vor sich, mit all den prachtvollen Glaspalästen und Hochhäusern. Shanghai, seine Heimat.

Er rannte die Treppe in den zweiten Stock hinauf und bemerkte, wie sich Lehmklumpen von seinen Sohlen lösten. Seine Stiefel wurden immer leichter. Auch gut. Er lächelte zufrieden. Den heimlich nachgemachten Schlüssel zur Bodentreppe trug er an einem Band um den Hals, dass er nun aus dem Ausschnitt seines dicken Wollpullovers fingerte.

Bei Großvater Kao gab es sicher Nudeln zu Mittag, mit süß-saurer Sauce, viel knackigem Gemüse und vielleicht einer Handvoll gerösteter Nüsse. Fast meinte Kim den unbeschreiblichen Duft dieses Essens riechen zu können und daher lief ihm bereits das Wasser im Mund zusammen. Aber erst musste er die Uhr in Gang setzen.

Großvater Kaos Reiseuhr.

Würde es diesmal klappen? Würde ihn die Uhr zurück nach Shanghai bringen?

Er polterte die Bodentreppe hoch und stieß die Tür auf.

Dämmerlicht umfing ihn. Staubgeruch stieg ihm in die Nase.

Großtante Bettys riesiger Dachboden stand voller Gerümpel: Da waren Truhen mit alten Sachen und Akten, die noch von ihrem Bruder stammten und in denen Kim nicht herumwühlen sollte. Als wenn ihn alte Akten interessierten! Aber wegen dieser Akten hatte Tante Betty den Speicher zur Sperrzone erklärt und hielt ihn verschlossen. Nur hatte Kim gleich nach seiner Ankunft in diesem Haus in einem klotzigen alten Schrank hier oben seinen größten Schatz versteckt, an den sich all seine Hoffnung klammerte. Und noch immer schien ihm der Schrank das beste Versteck zu sein. Kim hatte sich wiederholt vorgestellt, wie Tante Betty in seinem Zimmer herumschnüffelte und zufällig auf die Uhr stieß, während er in der Schule war. Wahrscheinlich würde Tante Betty angesichts eines schäbigen, achteckigen Holzkastens sofort an Holzwürmer und anderes Ungeziefer denken und den Kasten in den Müll werfen,- gerade noch rechtzeitig, bevor die Tonne geleert wurde.

Großvaters Kaos Abschiedsgeschenk im Müll! Unwiderbringlich verloren. Eine Katastrophe! Tante Betty hatte keine Ahnung, welches Geheimnis diese Uhr barg. Ein Geheimnis, das er selbst noch nicht recht ergründet hatte. Auf dem Flughafen von Shanghai, als Großvater Kao ihm die Uhr überreicht hatte, hatte so ein Krach geherrscht, dass er von den Erklärungen zu der Uhr nicht einmal die Hälfte verstanden hatte. Mit dem bisschen, was er wusste, hatte er schon zweimal ziemlich daneben gelegen und sich in die größten Schwierigkeiten manövriert.

Was würde diesmal geschehen?

Eine unsägliche Beklemmung befiel ihn, Vorbote kommenden Unheils, aber aufgeben mochte er nicht. Irgendwie musste es ihm doch gelingen, der Uhr seinen Willen aufzuzwingen.

Unten im Wohnzimmer begann Tante Bettys Standuhr zu rasseln, gleich würde sie zu schlagen beginnen. Wie spät war es jetzt? Es war wichtig, sich die Uhrzeit zu merken. Kim bekam den ersten Schlag noch mit, wurde aber dann abgelenkt. Ein Poltern drang die Treppe herauf. Jemand kam ihm nach.

Hastig öffnete er die Schranktür. Er war fest entschlossen, allein zu verschwinden, ohne Lisa, Dennis und Willie, die ihn die beiden anderen Male mehr oder weniger freiwillig begleitet hatten. Inzwischen war Dennis geradezu wild darauf, mit der Uhr zu verreisen, egal wohin. Doch Kim wollte nur nach Hause.

Der Kasten mit der Uhr steckte unter ein paar Lumpen im Schrank. Er riss die Lappen beiseite, kroch in den Schrank und nahm die Uhr an sich. Ohne zu zögern, klappte er den Deckel des Kastens hoch.

Grünes Blitzen empfing ihn. Das war unheimlich.

Ein winzig kleiner Zeiger zitterte verräterisch.

Kim hatte wirklich nur den Deckel hochgeklappt und schon regte sich die Uhr. Wieso?

Benommen starrte er auf den normalerweise farblosen Kristall in der Mitte, der jetzt das grüne Funkeln aussandte.  Noch vor einer Woche hatten die vielen Zeiger und die ineinander geschachtelten Zahnräder festgerostet gewirkt. Wie oft hatte er mit Dennis versucht die Uhr in Gang zu setzen und nichts war geschehen – absolut gar nichts. Und jetzt das hier. Das Funkeln, das Schimmern.

Unzweifelhaft war die Uhr zum Leben erwacht.

Kim visierte noch einmal den Zeiger, schloss die Augen und flehte: lauf bitte nicht rückwärts!

»Dacht ich mir’s doch!«, rief Lisa und drängte sich neben ihn. »Du willst heimlich abhauen.«

Kim stöhnte auf und öffnete die Augen, den Blick wieder starr auf die Uhr gerichtet, auf das Gewirr der verschiedenen Ziffernringe, die jedoch keine Ziffern aufwiesen. Sondern chinesische Schriftzeichen. Die meisten von solcher Seltenheit, dass er nur ein oder zwei davon erkannte. Vielleicht auch drei. Da war das für Mond, dort das für Wasser und hier war ein eigentlich recht ungebräuchliches für Erde.

»Aber nicht ohne uns!« Jetzt schob sich auch noch Dennis in den Schrank. Es wurde eng, vor allem, als zum Schluss Willie hereinsprang. Gleich darauf jaulte er furchtsam auf.

Willie hatte allen Grund, sich zu fürchten. Und nicht nur er.

Man konnte mit der Uhr, wenn man sie nur richtig einzustellen verstand, an jeden beliebigen Ort der Welt gelangen. Ja, wenn ...

Es war nämlich keine gewöhnliche Reiseuhr, die man auf Reisen mitnahm, sondern eine magische Uhr. Wenn man Pech hatte, wurde man durch sie an einen Ort geschickt, wohin man überhaupt nicht wollte. Schon zweimal hatte er das Experiment gewagt und beide Male waren Lisa, Dennis und Willie dabei gewesen.

Nur waren sie nie nach Shanghai gelangt, wie er es vorgehabt hatte. Beim ersten Mal waren sie mitten in Paris gelandet, im Louvre, und auch noch in der falschen Zeit. Nämlich in der Vergangenheit. Im siebzehnten Jahrhundert. Beim zweiten Mal hatten sie sich auf einem Segelschiff im Jahr 1761 wiedergefunden. Wer wollte das schon?

Die Richtung, die der Zeiger einschlug, war jetzt unverkennbar: rückwärts! Kim wurde flau zumute. Vor allem, als noch ein zweiter sich zu drehen begann. Der Kristall in der Mitte der Uhr pulsierte immer hektischer, das Licht ließ ihre Gesichter käsig aussehen. Der Schrank begann zu rumpeln und zu klappern, als die Zeiger volle Fahrt aufnahmen. Sie rasten! Kim hatte sich fest vorgenommen, diesmal nicht zu schreien, aber er konnte es nicht länger unterdrücken. Ein ungeheurer Wirbel hatte ihn erfasst und riss ihn herum und herum und Dennis, Lisa und Willie mit ihm. Der Hund heulte vor Angst in den höchsten Tönen und war doch in dem dröhnenden Lärm, der jetzt herrschte, kaum zu hören. Ihre Gesichter verzogen sich, sie zerflossen regelrecht, während der Schrank vor ihren Augen verschwand. Alles löste sich auf! Kim sah nichts mehr, er hörte nichts mehr und einen langen Augenblick strampelte er irgendwo in einer Schattenwelt, die keine Grenzen kannte. Im Nirgendwo. Es verschlug ihm den Atem.

Er hörte auf zu denken und zu fühlen.

Und dann war mit einem Donnerschlag die Welt wieder da. Sie stand still.

Nur der Schrank brach auseinander.

Oder doch nicht?

2. Im Reich der Dämonen!? ((13.00Uhr))

Kim hatte eine Türklinke in der Hand, drückte sie herunter und taumelte hinaus. Sofort drang ihm beißender Rauch in die Kehle und er begann zu husten. Brannte der Dachboden? Er blinzelte verstört.

Hinter sich spürte er die anderen, die wie er in den Rauch spähten. Wie Teer hingen dicke Schwaden unter einer niedrigen, schwarz geräucherten Balkendecke, die ganz sicher nicht zu Tante Bettys Dachboden gehörte. Wo waren sie bloß diesmal gelandet? Ein Stück von ihm entfernt gloste Feuer in einem riesigen Kamin.

Blaues Feuer!

Mit tränenden Augen versuchte sich Kim zu vergewissern.

Tatsächlich, blaues Feuer, da war kein Irrtum möglich, obwohl ihm von der Reise mit der Uhr noch heftig schwindelte.

Vor diesem unglaublichen Feuer saßen ein paar finstere Gestalten, die ihnen misstrauisch – nein, drohend entgegen blickten. Blaues Licht waberte um die Gestalten. Sie selbst stießen bläulichen Qualm aus, der in Spiralen bis zur Decke zog.

Kim stöhnte auf. Seine Hände krampften sich um den Uhrenkasten, den er wie ein Schutzschild vor seine Brust hielt.

Das blaue Feuer konnte nur eins bedeuten: Die Uhr hatte sie aus der bekannten Welt heraus und in ein Geisterreich geschleudert. Das da vor ihnen waren Schreckgespenster und Dämonenwesen. Vor lauter Furcht zog sich ihm der Magen zusammen.

Einer der Männer erhob sich, riesig groß wuchs hinter ihm sein Schatten an der Wand empor.

Instinktiv wich Kim zurück, stieß aber gegen Lisa oder Dennis.

Hastig machte er wieder einen Schritt nach vorn, dann noch einen. Die Angst saß ihm in den Beinen, machte sie wachsweich und so ungelenk, wie die eines frisch geschlüpften Kükens. Er ging nicht, er stakste.

Dämonen können überall sein, ziehen es allerdings vor, möglichst nicht in der sichtbaren Welt aufzutauchen. Am liebsten wirken sie im Verborgenen. Wenn sie sich aber doch zeigen ... Auf einmal nahm Kim undeutlich eine Bewegung von der Seite wahr. Jemand schlich sich an ihn heran. Ein dunkler, massiger Schatten. Wo kam der auf einmal her?

Dämonen wechseln blitzschnell den Ort, tauchen auf und verschwinden, wie es ihnen passt. Und dieser sandte eine Welle drohender Gefahr aus, die Kim vor Schwäche schwanken ließ. Die ihn vor Grauen lähmte. Nichts ist so schlimm wie ein Feind, den du nicht fassen kannst, der dich anrührt, ohne dir die Gelegenheit zu geben, ihn überhaupt richtig wahrzunehmen. Es gab sie also wirklich, die Dämonen, das hier war der Beweis.

»Nein!« Lisa schrie, er erkannte ihre Stimme, sie lenkte ihn ab, ließ ihn eine Viertelsekunde lang zögern, statt sofort auszuweichen.

Oder sich zu ducken!

Zu spät.

Im nächsten Moment spürte er einen harten Schlag im Nacken und fiel vornüber. Die Uhr, die Uhr FESTHALTEN, hämmerte es in seinem Kopf. Aber sie ließ sich nicht festhalten,  er spürte, wie sie ihm aus den Händen rutschte. Noch im Fallen wehrte er sich mit aller Macht dagegen, das Bewusstsein zu verlieren. Es musste ihm doch  gelingen, wach zu bleiben – schon wegen der Schmerzen. Er musste Lisa und Dennis warnen, sie hatten ja gar keine Ahnung von Dämonen. Sie würden sie alle vernichten, ihren Verstand aussaugen, sie zu Schattenwesen machen, die für immer in Zwischenwelten gefangen waren, böse, hinterhältig und gemein.

Er fiel und fiel und ...

Sein Kopf schmerzte, als ob ihm jemand mit der Brechstange immer wieder eins überzog. Geradezu unerträglich. Und er hatte Durst, einen mörderischen Durst, seine Kehle war wie ausgedörrt.

Plötzlich durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Wo waren Dennis und Lisa geblieben?

Neben ihm seufzte jemand.

»Ich glaube, er hat sich bewegt.« Eine unbekannte hohe Stimme, eindeutig die eines Kindes.

»Ach, was!« Der Klang dieser anderen Stimme – laut und poltrig – ließ ihn unmerklich zusammenzucken.

Was war passiert?

Ein Schlag in den Nacken! Deshalb schmerzte der Kopf so. Er war niedergeschlagen worden, jetzt erinnerte er sich. Und dann? Anscheinend war er nach dem Schlag eine Weile ohnmächtig gewesen. Als nächstes fiel ihm der Rauch ein. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er roch ihn nicht mehr. War nicht etwas Besonderes mit dem Rauch gewesen? Er versuchte sich zu konzentrieren.

Bestimmt hatte man ihn während seiner Ohnmacht woandershin geschafft. Bloß wohin? Das musste er herausfinden, ohne gleich zu verraten, dass er nun hellwach war. Plötzlich durchzuckte ihn wieder ein Schreck. Da waren doch Dämonen gewesen, blauhäutige Dämonen!

Kicherten Dämonen? Angespannt lauschte er. Das Kichern klang verführerisch harmlos. Wahrscheinlich eine Falle. Dämonen liebten es, sich über Menschen lustig zu machen und sie zu necken, bevor sie sie fertig machten. Um ihn herum kicherten und flüsterten sie, hörten sich aber wie Kinder an. Kim beschloss sich davon nicht in die Irre führen zu lassen.

Er lag ausgestreckt auf einer erstaunlich bequemen Unterlage. Seine Finger ertasteten verstohlen eine weiche Wolldecke, die über ihm ausgebreitet war, und ein etwas steifes Gewebe, vermutlich ein Leinenlaken. Anscheinend lag er in einem Bett. Die Frage war, wer ihn wohl so komfortabel untergebracht hatte. Und wozu. Sein Kopf ruhte auf einem Kissen, er spürte es, als er ihn wie im Schlaf leicht zur Seite drehte. Und natürlich hämmerte niemand auf ihn ein. Aber an seinem Hinterkopf, dort, wo ihn der Schlag getroffen hatte, klebte etwas. Ein Verband vermutlich. Er verbreitete etwas angenehme Kühle und half gegen den Schmerz, der allmählich nachzulassen begann.

»Ich hab’s genau gesehen, er hat sich bewegt!«, fing die aufgeregte Kinderstimme wieder an.

»Ich auch!«, rief eine zweite.

»Aber ich zuerst.«

Um Kim herum entwickelte sich ein alberner Streit, in den sich immer mehr Stimmen mischten. Jemand lachte glucksend. Alles in allem nahm das Treiben um ihn herum Züge einer Party an. Die amüsierten sich ja köstlich!

Kim blinzelte vorsichtig.

Dann riss er verblüfft die Augen auf.

Schlagartig herrschte Stille.

Über ihm befand sich ein Betthimmel aus dunkelrotem Samt. Kein Zweifel: er ruhte auf einem breiten Himmelbett, dessen vier gedrechselte Pfosten diesen Baldachin trugen. Die roten Bettvorhänge waren zur Seite gerafft. Durch milchige kleine Scheiben, die sich zu hohen Fenstern zusammensetzten, fiel in breiten Bahnen gedämpftes Sonnenlicht herein. Staub tanzte und flimmerte im Licht. Und um das Bett herum standen lauter Kinder, die alle absolut gleich aussahen, abgesehen von der unterschiedlichen Größe. Sie hatten runde, rosige Gesichter, die ihn ein bisschen an Ferkel erinnerten.

Lieber Ferkel als Dämonen.

Lauter blaue Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Ganz langsam und vorsichtig entspannte sich Kim, traute all den freundlichen Gesichtern aber nicht wirklich. Viel zu deutlich erinnerte er sich noch an seine Angst. Und an die Dämonen, obwohl sie ihm jetzt schon ein wenig wie Hirngespinste vorkamen.

Als er sich mühsam und schwach vor Staunen aufrichtete, lachten die Kinder und begannen zu klatschen.

Süß sahen sie aus, richtig goldig, obwohl ihre einheitliche Kleidung ziemlich trist wirkte. Die Mädchen trugen weite schwarze Röcke und dunkelrote oder braune Mieder. Und dazu weiße Schürzen aus feinem, hauchdünnem Stoff, durch die das Schwarz aber deutlich hindurchschimmerte. Ihre Haare verschwanden unter eng anliegenden weißen Häubchen. An den Jungen fielen Kim die breiten, weißen Spitzenkragen auf und das helle Lockenhaar, das ihnen bis auf die Schultern wallte.

Aus der Kinderschar löste sich ein winziges Mädchen und tappte mit unsicheren Schritten auf ihn zu.

»Da!«, sagte die kleine Maus, deutete auf ihn und lachte kreischend.

Kim rieb sich die Augen und blinzelte. Konnte das alles wahr sein? Nicht eine vertraute Gestalt in dem ganzen Gewusel, aber dann fing er einen Blick ein. Einen Blick aus grünen Augen. Grün, nicht blau! Und eine rote Locke hatte sich aus dem weißen Häubchen hervorgestohlen. Lisas Haare sahen ja meistens etwas unordentlich aus. Ansonsten fiel es ihm schwer, sie zu erkennen, so sehr hatte die schwarz-weiße Tracht sie verändert. Und neben ihr, der dicke Junge in den glänzenden schwarzen Kniehosen, war Dennis, der mit seinen blonden, langen Locken noch pausbäckiger als gewöhnlich aussah.

»Na, also!«, dröhnte wieder die tiefe Stimme. Aus dem Hintergrund schob sich ein Mann nach vorn, der Kim unverwandt anschaute, während er die Kinder, die ihm im Weg standen, beiseite drängte. »Willkommen in meinem Haus, in ...,« er deutete mit einem dicken Finger auf sich selbst, »... im Haus von Abraham van de Bos. Abraham van de Bos bin nämlich ich«, setzte er zum Schluss unnötigerweise hinzu.

Er hatte die Statur eines Bären, eines mächtig dicken Bären, der die ganze Schar überragte. Jedenfalls wirkte er kein bisschen wie ein Geist oder Dämon. Kim sah ihn benommen an und ließ sich auf das Kissen zurücksinken, als wäre ihm das Gewimmel um ihn herum auf einmal zuviel.

Missbilligend schüttelte Abraham den Kopf. »Na, na, Kleiner, so schlimm steht’s um dich doch nicht. Oder hast du noch Schmerzen?«

Verwundert lauschte Kim auf den Klang der Stimme, vielmehr der Sprache. Deutsch war das nicht, Chinesisch schon gar nicht. Aber er verstand, was der Mann sagte, und er war sicher, in der gleichen Sprache antworten zu können, obwohl er sie nie gelernt hatte. So war es bei den vorherigen Reisen mit Großvater Kaos Uhr auch gewesen: Im Louvre hatte er mühelos Französisch verstanden und gesprochen, und auf dem Segelschiff Englisch, aber das konnte er bereits. Denn Englisch hatte er auf der internationalen Schule in Shanghai gelernt. Diese neue Sprache klang, als ob die Laute hinten im Hals kratzten. Ziemlich viele »chs« kamen darin vor. Welche Sprache war das? Eine, die er noch nie gehört hatte, schien ihm. Und er war überzeugt davon, wieder in der Vergangenheit gelandet zu sein, dafür sprach die Kleidung der Leute, die er, wie er nun bemerkte, selbst trug. Auch das entsprach seinen bisherigen Erfahrungen mit der Uhr. Jedesmal war er vollkommen in eine fremde Zeit eingetaucht. Dies hier war nicht das einundzwanzigste Jahrhundert. Aber welches dann?

Lisa machte ihm verstohlen ein paar Zeichen, aus denen er nicht schlau wurde.

»Mein Freund Dr. Tulp hat uns versichert, dass du in Ordnung bist. Dein Kopf ist nicht sehr beschädigt, nur eine kleine Beule, die von selbst vergeht, verstehst du?«, fuhr Abraham aufgeräumt fort.

Dass da eine Beule an seinem Hinterkopf wuchs, ganz unten, wo fast schon der Hals anfing, hatte Kim begriffen, ohne mit der Hand nach der Stelle tasten zu müssen. Der pochende Schmerz genügte als Beweis völlig.

»Dr. Tulp?«, fragte er schwach, nur um seine eigene Stimme zu hören.

»Das war ein Glück, dass er gerade zu Besuch da war«, ging Abraham auf ihn ein. »Und nun ...«, weiter kam er nicht.

»Was machen die Kinder hier?« Eine ältere Frau schob sich in Kims Gesichtsfeld. Sie war gleichfalls schwarz gekleidet, trug eine weiße Schürze und einen tausendfach gefältelten Kragen, hoch und dick wie eine Sahnetorte. Ihre Miene war eindeutig verdrossen. »Ist er endlich wach? Wird aber auch Zeit! Sich mittags in Kaschemmen herumzutreiben und sich auf Raufhändel einzulassen. Pfui Teufel!«

 Die Frau hielt es wohl nicht für notwendig, auch nur einen Schimmer von Höflichkeit zu zeigen. Eine lange, spitze Nase ragte vorn aus ihrem Gesicht, dass so eng von der Haube umschlossen wurde wie eine zweite Haut. Eine unangenehm straff gespannte Haut. Nicht ein bisschen Haar war zu sehen.

Abraham wandte sich kurz zu Kim um. »Das ist meine liebe Schwester Griet, die mir den Haushalt führt, aber wie es bei uns zugeht, wirst du schon noch alles erfahren.«

»Nicht von mir«, sagte Griet boshaft.

»Und das sind alles Ihre Kinder?«, fragte Kim mit schwacher Stimme und stützte sich wieder auf die Ellbogen.

»Nein, nein.« Abraham winkte lachend ab. »Aber die meisten. Und heute morgen ist noch eins angekommen. Jetzt hab ich neun. Und nun ihr drei. Na ja, in diesem Haus kommt es auf ein paar mehr weiß Gott nicht an. Ich mag Kinder. Kann gar nicht genug davon kriegen.« Seine Wampe hüpfte.