RICHARD VINCENT

 

 

Die Dame in Schwarz

 

 

 

 

 

 

 

Apex Crime, Band 6

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DIE DAME IN SCHWARZ 

1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

12. 

13. 

14. 

15. 

16. 

17.  

18. 

19. 

20. 

21. 

22. 

 

 

Das Buch

 

Sheila Cabot ist gefangen in einer unglücklichen Ehe mit ihrem unerträglichen, schwer kranken Mann Matthew. Schließlich verliebt sie sich in Dr. David Riviera, der ihren Mann behandelt. Dies führt zu einer Verkettung unglücklicher Ereignisse, die zum Tod des Reeders Cabot führen: Mord, Intrigen und falsche Verdächtigungen überschatten von nun an Sheila Cabots Leben...

 

Die Dame in Schwarz - erstmals im Jahr 1960 erschienen - verbindet die zutiefst düsteren Elemente des Noir-Krimis mit jener Sondergattung des Thrillers, die Glamour und Gänsehaut auf einen Nenner zu bringen versteht.  

Der Roman basiert auf dem Bühnenstück Portrait In Black von Ivan Goff und Ben Roberts aus dem Jahr 1945 - wie auch die gleichnamige Verfilmung (Regie: Michael Gordon) mit Anthony Quinn als David Riviera, Lana Turner als Sheila Cabot, Richard Basehart als Howard Mason und Sandra Dee als Cathy Cabot. 

  DIE DAME IN SCHWARZ

 

 

 

 

  1.

 

 

Howard Mason hatte die Toreinfahrt und das Pförtnerhaus hinter sich gelassen, und doch hatte er noch mehr als eine Viertelmeile zu fahren, denn das große weiße Haus der Cabots lag hoch oben auf dem Hügel, imposant und weithin sichtbar von der Bucht, von der Straße und vom Fuße des Hügels, auf dem es stand.

Seit Jahren hatte Mason es von all diesen Punkten aus gesehen, zumeist vom Fuße des Hügels. Und seit Jahren brannte in ihm das Verlangen, dieses Haus zu besitzen; er machte sich selbst gegenüber kein Hehl daraus. Er war kein Heuchler, es war ganz einfach sein überstark entwickelter Erwerbssinn. So leicht ließ Mason sich von niemand täuschen; am wenigsten von Howard Mason selbst. Und er wollte nicht nur das Haus, sondern auch das, wofür es stand, und indem er dies vor sich selbst zugab, steuerte er geradeaus auf dieses Ziel zu, ohne sich von irgendeiner Seite beirren zu lassen.

Mason war das typische Produkt seiner Zeit und seiner gesellschaftlichen Schicht. Er war groß und von sympathischem Aussehen, fuhr einen schweren Wagen und war ein Experte im Golf spiel. Seine Anzüge waren von tadellosem Geschmack, leicht konservativ, und er verstand sie zu tragen. Seine Zähne waren kräftig und gesund, seine Haut sonnengebräunt, sein Haar kaum gelichtet, und er war sorgfältig darauf bedacht, nicht etwa einen Bauch anzusetzen. Er hatte eine gute Schulbildung genossen und konnte nahezu als intellektuell gelten. Er wusste ausreichend Bescheid über die zornigen jungen Männer, wusste, wo die Kampflinie zwischen Sartre und Camus verlief, und ebenso war er orientiert, worauf Tennessee Williams hinauswollte. Seine Rückhand beim Tennis war gefürchtet, und er beging nicht etwa den Fehler, die Damen der San Franciscoer Gesellschaft mit Gesprächen über die Aktienkurse der General Motors zu langweilen. Dies alles gab ihm genug Wissen und genug männlichen Charme. Dies alles war notwendig, um ihn, abgesehen von seinen beruflichen Fähigkeiten und Interessen, zu dem zu machen, was er war: Howard Mason.

Er hatte keine düstere Kindheit in einem Elendsviertel irgendwo in den Slums hinter sich. Sein Vater war vielmehr ein mittelmäßig erfolgreicher Geschäftsmann gewesen. Aber selbst wenn man nicht aus den Slums kommt, gilt es, viele schwierige Türen zu öffnen. Und Howard Mason war gierig darauf bedacht, Türen zu öffnen wie die der reichen Cabots, und sie, wenn er sie einmal geöffnet hatte, fest hinter sich zu schließen. Er glaubte von sich selbst, dass er dann zufriedengestellt sein würde, auch wenn er in ehrlicher Selbstbetrachtung bereits die Möglichkeit erwogen hatte, dass er in seinem Besitz- und Geltungsstreben unersättlich sei - dass es ihm nicht genügen würde, im weißen Haus der Cabots, auf dem Hügel der Cabots, an der Seite von Sheila Cabot zu leben. Nun, das würde er erst dann herausfinden, wenn er dieses Ziel erreicht hatte.

Er brachte seinen Wagen vor dem Haus zum Stehen und stieg aus. Einen Augenblick lang stand er da und schaute über die Bucht hinweg. Es war ein faszinierender Ausblick, denn der alte Joshua Cabot hatte außer seinem Yankee-Dickschädel auch den Blick und den Sinn eines Träumers gehabt. Mason verweilte stets ein paar Sekunden an dieser Stelle; auch dieser einzigartige Ausblick war es, der ihn an dem Haus der Cabots reizte.

Ein großer Frachter schob sich gerade unter der Brücke hindurch, die sich über die Bucht spannte. Seine makellos weiße Bordwand warf das Licht der Sonne zurück. Sein Bug durchschnitt scharf das reglos und glatt daliegende Wasser. Und seine Bugwelle schwoll an, als der Kapitän jetzt die Fahrt erhöhte. Mason kannte das Schiff. Er kannte den Kapitän und die Schiffsoffiziere. Es war die Matthew S. Cabot, ein neues Schilf auf der Jungfernfahrt in den Orient. Mason beobachtete, wie es unter seiner Brücke hindurchglitt, doch keine Sekunde lang fühlte er so etwas wie Neid auf den Kapitän, und selbst die Liste der exotisch-romantischen Bestimmungshäfen konnte in ihm nicht die Spur des Wunsches wecken, mit an Bord zu sein. Fernweh hatte Mason noch nie gekannt, und was ihn im Augenblick ausschließlich interessierte, war der Mann oben im Cabot-Haus, der Mann, dem das Schiff gehörte und der sowohl den Kapitän bezahlte wie ihn, Howard Mason, selbst: Matthew S. Cabot.

Tani, das orientalische Dienstmädchen, ließ ihn ein, und er stieg die Treppe hinauf und betrat, ohne zu klopfen, Cabots Schlafzimmer.

Matthew Cabot lag im Bett und diktierte seiner Sekretärin. Mason wartete, bis er eine Pause machte, und sagte dann:

»Sie sticht in See, Matthew.«

»Mein Fernglas«, sagte Cabot.

Mason nahm das Fernglas, das am Kopfende des Bettes hing, und reichte es Cabot. Der drückte auf einen Knopf an der Schalttafel, seitlich seines Bettes, und mit leise surrendem Geräusch hob sich sein schlaffer Oberkörper mit dem Kopfteil des Bettes in aufrechte Stellung. Er hob das Fernglas vor die Augen und richtete es aus dem breiten Panoramafenster, hielt es ruhig und stellte die Sehschärfe ein. In dieser Stellung verharrte er eine volle Minute.

»Eigentlich müsstest du jetzt, ein erhebendes Gefühl spüren, Matthew«, sagte Mason. »Das ist Nummer fünfzig, die mit der wehenden Flagge der Cabots San Francisco verlässt.«

Cabot reichte das Fernglas seiner Sekretärin, die es wieder an den Haken hängte. »Ich erwarte einen eingehenden Bericht, warum sie vierzig Minuten zu spät in See sticht«, sagte er mit dünner, krächzender Stimme. »Wenn es an der Dockmannschaft liegt, wird sie bis auf den letzten Mann abgemustert. Verstanden?«

»Ich werde mich morgen früh sofort darum kümmern«, sagte Mason.

»Sie werden sich sofort heute Nachmittag darum kümmern«, gab Cabot schroff zur Antwort. »Ihr Golfspiel wird eben einmal ausfallen müssen.« Er blinzelte zu seiner Sekretärin hinüber. »Wo waren wir stehengeblieben, Miss Lee?«

»Beim Funktelegramm an den Kapitän der...«, sagte Miss Lee sofort.

»Ja, ich weiß«, unterbrach sie Cabot und begann zu diktieren. »Zur Reparatur nach Hongkong einschleppen lassen...« Ein plötzlicher Krampf durchlief seinen Körper. Seine Hand tastete nach dem Schaltbrett neben dem Bett. Miss Lee, kreideweiß im Gesicht und voll offensichtlich ernster Besorgnis, ergriff diese Hand und führte sie zu dem richtigen Knopf. Cabot drückte ihn. Sofort begann das Kissenteil des Bettes sich zu senken, und schweratmend lag Cabot da.

Mason beobachtete all dies. Es gab keinen Zweifel, Matthew Cabot war ein schwerkranker Mann. Dabei war er nicht einmal alt, gerade erst Mitte Fünfzig. Aber dennoch war er ein verbrauchter Mensch, ein menschliches Wrack, dessen physisches Leben vorüber war. Nur seine Arroganz und seine Herrschsucht waren geblieben. Er lag hilflos hier in diesem Raum, der ihm gleichzeitig als Krankenzimmer und als Büro diente, so gut es den Umständen nach eben ging.

Aus den Augenwinkeln sah Mason zu Miss Lee hinüber. Er sah ihr verkrampft verzerrtes Gesicht und die Besorgnis darin. Mochte der alte Cabot denken, was er wollte - er, Mason, hatte Miss Lee in der Hand, wie es sich eben im Laufe der jahrelangen Zusammenarbeit ergeben hatte. Doch andererseits verstand auch Cabot, sie zu nehmen, und unwillkürlich, ob er es nun merkte oder nicht, sprach er höflicher und leiser, wenn er mit ihr zu tun hatte.

»Schlimm heute?«, fragte Mason schließlich. Der Tonfall seiner Stimme war angemessen besorgt.

»Setzen Sie keine solche Begräbnismiene auf, Howard. Sie werden sich noch eine ganze Weile mit mir abgeben müssen.«

Mason sah ihm ohne mit der Wimper zu zucken in die Augen. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Sie wissen genau, was ich damit sagen will«, entgegnete Cabot ruhig. Ohne ein verbindendes Wort fuhr er fort zu diktieren. »Zur Reparatur nach Hongkong einschleppen lassen. Erster Offizier löst Sie ab, bis Untersuchung über die Kollision abgeschlossen. Cabot.« Er schwieg einen Augenblick. »Das ist alles, Miss Lee.«

Miss Lee stand sofort auf und schloss ihren Stenogrammblock. Sie nickte Mason zu und verließ das Zimmer.

»Was liegt sonst vor?«, wandte sich Cabot an Mason.

»Nichts Dringendes«, sagte Mason leichthin. Er ließ sich selten von Cabots Gemütsäußerungen überraschen; ebenso wenig von plötzlichen Entscheidungen. Meist sah er sie voraus und war auf sie gefasst, und mitunter hatte er den Eindruck, dass Cabot mit dieser Launenhaftigkeit eine Art Gesellschaftsspiel betrieb, das er mit ihm spielte. Es störte Mason nicht weiter; er war bereit, sich auch auf diese Art mit Cabot auseinanderzusetzen. »Die Stauer reden immer noch von Streik, aber, wie gesagt, sie reden nur davon.« Er nahm seine Aktentasche und öffnete den Verschluss. »Und über den Vertrag über die Schleppboote brauchen wir uns nicht vor dem Zehnten zu entscheiden.«

»Ich habe bereits entschieden«, sagte Cabot mit seiner dünnen, krächzenden Stimme. »Der Vertrag geht an die Acme Schleppboot GmbH.«

Dies war nun doch eine Überraschung für Mason. Diese Entscheidung gefiel ihm ganz und gar nicht, und er wusste auch, dass Cabot wusste, wie wenig sie ihm gefiel. Aber nichts von diesem Wissen war auf Masons sympathischem Gesicht zu lesen.

»An die Acme? Wieso das?«

»Aus verschiedenen Gründen«, sagte Cabot, »wovon der wichtigste ist, dass ich es so entschieden habe. Außerdem ist die Acme am leistungsfähigsten.«

»Sie wissen doch, wem die Acme gehört?«, fragte Mason.

»Ich weiß alles, was den Hafen betrifft, Howard«, sagte Cabot. »Und ebenso weiß ich alles, was Meilen landeinwärts geschieht.«

»Und doch wollen Sie Joe Richards Sohn mit dem Schleppen von Millionen Tonnen von Cabot-Schiffen beauftragen?«

»Mit Beauftragen und Vertrauen hat das nichts zu tun.« Cabot sah Mason leicht verärgert an. »Auch Ihnen traue ich nicht. Sie sind der beste Anwalt, den ich finden konnte; Sie sind ein Typ, den ich durchschaue, verstehe und brauche. Das ist der wahre Grund, warum ich Sie in meinem Dienst behalte, Howard - weil Sie der beste Mann für den Job sind.« Unerwartet glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Ich weiß außerdem, wo ein paar der - nun sagen wir - Opfer begraben liegen.«

»Ich schätze, das wissen wir beide«, sagte Mason freundlich lächelnd.

»Nun gut«, sagte Cabot. »Das ist Ihr Plus.«

»Dessen bin ich mir, mit Verlaub, durchaus bewusst.«

»Mit Verlaub?«, wiederholte Cabot. »Sie werden dreist. Ich hätte Ihnen schon längst auf die Finger klopfen müssen. Ich fürchte, den richtigen Zeitpunkt dafür habe ich bereits verpasst.«

Mason lächelte. »Ich bin nur froh, dass Sie das versäumt haben.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Sekundenlang starrte er Mason an. »Das wäre dann alles, Mason«, fuhr er dann im Befehlston, mit völlig veränderter Stimme, fort. »Wenn Sie unten vorbeigehen, sagen Sie Sheila, dass ich sie zu sehen wünsche. Sofort

Der herrschsüchtige Ton war für Mason beleidigend. Er konnte nicht verhindern, dass eine ärgerliche Röte sein Gesicht überzog. Doch seine Stimme klang weiterhin ruhig. »Wird erledigt, Matthew.« Er stand auf, verließ das Zimmer und stieg die breite, gewundene Treppe hinunter.

Und während er mit ruhigen Schritten hinunterstieg, überwand er schnell den Hass gegenüber Cabot, der so plötzlich in ihm aufgestiegen war. Gefühlsregungen dieser Art hielt Mason für ausgesprochen hinderlich; er kannte den Wert eines kühlen, klar denkenden Kopfes. Niemals war es ihm bewusst geworden, dass er seine Karriere Cabot verdankte und niemand anderem. Seine einzige Sorge war im Augenblick, dass der kranke, langsam dahinsterbende Mann für ihn, Howard Mason, Anwalt der Rechte, das einzige Hindernis war, das ihm bei seinem Sturm auf den Cabot-Hügel noch im Wege stand.

Als er an dem unteren Wohnzimmer vorbeikam, blickte er flüchtig hinein und verhielt sofort seinen Schritt. Sheila Cabot stand dort und blickte aus einem der hohen Fenster hinaus. Sie hatte Mason nicht bemerkt, und sekundenlang betrachtete er sie mit unverhohlenem Verlangen. Auch wenn sie nicht den Namen Cabot getragen hätte, wäre sie für ihn dieses Anschauen wert gewesen. Sie war hübsch, ja beinahe schön zu nennen. Dies und der Umstand, dass sie die Erbin Cabots sein würde, konnte den gebührenden Eindruck auf Mason nicht verfehlen.

Gelassen stand sie da, hoch aufgerichtet, mit ihrem klaren Profil und dem aufgesteckten hellblonden Haar. Regungslos wartete Mason, bis sie sich vom Fenster abzuwenden begann. Erst dann sagte er leise: »Sheila?«

Erschrocken wandte sie sich um.

Mason lächelte sein weltmännisches, einstudiertes Lächeln, und seine gepflegten Zähne blitzten. »Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

Sheila sah ihn kühl an; sie hatte schnell ihre Haltung zurückgewonnen. »Warum schleichen Sie so durchs Haus, Howard?«

Mason zuckte die Achseln. »Es liegt wohl an der Stimmung, die über dem Haus liegt.« Er hielt einen Augenblick inne und musterte sie in gespieltem Ernst. »Ich überbringe eine Vorladung«, sagte er und machte mit der Hand eine Geste, die die Treppe hinaufwies.

Sheila ging auf seine sarkastische Art nicht ein. »Danke«, sagte sie mit nüchterner Höflichkeit.

Das Geläut, das die Türglocke ersetzte, schlug an, und Sheila schrak erneut zusammen.

Masons Blick glitt flüchtig auf seine Armbanduhr. »Er ist heute später dran als sonst, nicht wahr?«, sagte er und behielt Sheila Cabot bei diesen Worten genau im Auge. »Ich meine, das muss Dr. Riviera sein, oder nicht?«

»Wir erwarten ihn in der Tat«, sagte Sheila ruhig.

Tani durchquerte die Diele, um Dr. Riviera die Tür zu öffnen.

»Matthew hält große Stücke auf den Burschen, nicht wahr?«, sagte Mason.

»Ich glaube, ja«, sagte Sheila.

»Und Sie auch«, sagte Mason.

Sie zuckte in gespielter Gleichgültigkeit die Achseln. »Ja, gewiss. Sie etwa nicht?«

Mason lächelte unsicher. »Ich? Aber gewiss doch, Sheila. Ich mag jeden, solange er mich nicht enttäuscht. Ich kann nur den Äthergeruch nicht vertragen.« Er folgte ihr in die weite Diele hinaus.

Tani hatte inzwischen die Tür geöffnet, und Dr. Riviera trat herein. Er war schlank, groß, von dunkler Haut- und Haarfarbe, was auf den ersten Blick seine südländische Abstammung erkennen ließ. Mit seinen blitzenden dunklen Augen war er nahezu eine männliche Schönheit.

»Guten Tag, Tani«, sagte er zu der orientalischen Bediensteten. »Guten Tag, Mr. Mason.«

»Nun, wie geht's, Riviera?«, sagte Mason in einem Ton, der leicht von oben herab und beinahe väterlich klang.

Riviera tat so, als bemerke er es nicht. »Guten Tag, Mrs. Cabot«, sagte er und reichte Tani seinen leichten Übermantel. »Tut mir leid, dass ich heute später dran bin. Eine Operation. Und ein paar Komplikationen noch dazu.«

»Ich nehme an, Sie haben Ihren Patienten durchgebracht«, sagte Mason, während er in Wirklichkeit hoffte, dass dieser Patient Riviera unter den Händen gestorben war.

»Ja, ich denke doch«, sagte Riviera.

»Sie meinen also, er wird's überleben?«, fragte Mason, und er bemerkte, dass Sheila ihm einen missbilligenden Blick zuwarf.

David Riviera ignorierte die Anspielung und wandte sich an Sheila. »Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, was der menschliche Körper auszuhalten vermag. Vor einer Stunde hob ich das pulsierende Herz einer Frau aus seiner Höhlung. Bereits in einem Monat wird diese Frau wieder im Sattel sitzen und reiten können.«

»Für einen Mann muss es doch ein erhebendes Gefühl sein, das Herz einer Frau in seiner Hand zu halten«, sagte Mason.

David Riviera blickte flüchtig zu ihm hinüber. »Ich kann mich nicht einmal an ihren Namen erinnern.«

Von einem kleinen Kasten an der Wand kam ein durchdringendes Schnarren.

»Gehen Sie besser gleich hinauf, Doktor«, sagte Sheila. »Er wartet schon ungeduldig auf Sie.« Sie ging die gewundene Treppe hinauf, und Dr. Riviera folgte ihr.

Mason sah ihnen nach. Er wartete, bis sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatten.

»Good-bye«, sagte er dann mit sarkastischer Betonung.

Beide wandten sich um, ein wenig überrascht ob ihrer eigenen Unhöflichkeit und Vergesslichkeit.

»Good-bye«, sagten sie beinahe im Chor.

Mason ließ sich von Tani seinen Hut geben und verließ das Haus. Da geht doch irgendwas vor zwischen den beiden, sagte er zu sich selbst. Ganz sicher habe ich mich nicht getäuscht. Mich hatten die beiden vollkommen vergessen; sie vergaßen sogar, mir Good-bye zu sagen. Nun, so schnell werden sie mich doch nicht vergessen, dafür werde ich sorgen, dachte Mason, während er in seinen Wagen stieg. In gemessener Fahrt lenkte er ihn auf der betonierten Fahrbahn den Hügel hinunter. Oh, nein, sie würden noch häufig genug an ihn denken.

 

 

 

 

 

 

  2.

 

 

 

Als die beiden das Zimmer betraten, zeigte Cabot mit keiner Miene die Schmerzen, die er ertrug. Einen Augenblick lang beobachtete er diese, an ihm selbst gemessen, so jung und kräftig wirkenden Menschen. Dann unterzog er sich der flüchtigen Untersuchung durch David Riviera.

»Wie war der Tag für Sie, Mr. Cabot?«, fragte Riviera, während er sich aufrichtete und auf ihn herunterblickte.

»Meine Schiffe verspäten sich; mein Arzt verspätet sich; abgesehen davon war es ein Tag wie jeder andere«, knurrte Cabot.

David Riviera lächelte. Er öffnete seine Arzttasche und entnahm ihr eine vorbereitete Rekordspritze, eine Injektionsnadel und eine Ampulle. Mit geübter Hand tränkte Sheila indessen einen Wattebausch mit Alkohol und rieb damit Cabots Armbeuge ein.

»Sind die Schmerzen sehr schlimm?«, fragte David.

»Sie sind das einzige, worauf ich mich verlassen kann«, murrte Cabot. »Wenigstens sie waren pünktlich.« Der Ton seiner Stimme war hart und fest. Es lag keine Spur von Mitleidheischen darin.

David zog den Inhalt der Ampulle in die Spritze ein. Flüchtig blickte er zu Sheila hinüber, die die Augen niederschlug. Dann nahm sie die leere Ampulle, die er ihr hinhielt, und ließ sie in einen Abfallkorb neben dem Bett fallen. David beugte sich vor, durchbohrte mit der Injektionsnadel die welke, weiße Haut und entleerte den Inhalt in den schlaffen Arm.

Cabot grunzte belustigt. »Ich komme mir fast so vor wie einer von dem Rauschgiftgesindel unten am Hafen. Ohne meine tägliche Spritze komme ich einfach nicht aus.«

Wieder lächelte David und zog die Injektionsnadel aus Cabots Arm.

Cabot bemerkte das Lächeln, und es ärgerte ihn. »Ich will von nichts und niemand abhängig sein, hören Sie. Von nichts und niemand.« Er sprach es mit einer Betonung, die keinen Zweifel daran ließ, dass er genau das meinte, was er sagte.

»Wir alle brauchen jemand und sind von jedem abhängig«, entgegnete David ruhig.

»Ich brauche niemand«, protestierte Cabot, und seine blassen Augen glitten sekundenlang zu Sheila hinüber. »Es ist mein schlaffer Corpus, der Hilfe braucht.«

»Sie und Ihr Körper sind eins«, sagte David geduldig. »Es würde schwierig sein, das eine von dem anderen zu trennen. Eines existiert nicht ohne das andere.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Cabot gereizt. »Was Sie da sagen, weiß jedes Kind. Ich meine vielmehr, wenn es eine Möglichkeit gäbe, meinen Körper zurückzulassen und mein Gehirn und meinen Intellekt aus einer Flasche zu nähren, würde ich vollkommen zufrieden sein.«

»Das meinen Sie doch nicht etwa im Ernst«, sagte David.

»Wieso nicht?«, fragte Cabot. »Oder hatten Sie jemals den Eindruck, ich sei frivol?«

»Das möchte ich nicht behaupten«, sagte David, und wieder lächelte er.

»Sehen Sie! Dann meine ich auch, was ich sage. Angelegenheiten und Bedürfnisse des Körpers sind weiter nichts als lästig und unbequem. Ich, für meine Person, käme weit besser ohne sie aus. Dann würde ich wenigstens auf niemand angewiesen sein und ewig leben. Es wäre die perfekte Lösung für einen Mann von meinem Temperament.«

»Unsinn!«, sagte David. »Dieses Gewäsch glauben Sie doch selbst nicht, und Sie tun mir leid. Ich kann Ihre Verbitterung verstehen, aber Ihre Theorie erscheint mir doch reichlich verschroben.«

»Ja, ja, ich weiß«, sagte Cabot und sah zu ihm auf. »Zur Abwechslung bekomme ich mal eine ehrliche Antwort. Sehr erholsam für mich. Offensichtlich wollen und brauchen Sie nichts von mir, oder Sie würden entgegenkommender sein. Aber Ihre Lauterkeit - ich bin überzeugt, dass Sie es dafür halten - ist ebenso langweilig und lästig wie mein schlaffer Körper. Sie ekelt mich an. Gewiss, Sie sind ein ausgezeichneter Arzt - wie Leute, die es wissen müssen, mir versichert haben -, aber ein brillanter Arzt ist im Grunde doch weiter nichts als ein hochqualifizierter Techniker. Nichts mehr. Ich wünschte, Sie hätten mehr Einfallsreichtum und mehr Originalität der Gedanken, Dr. Riviera. Dann würde ich Sie mehr respektieren.« Ohne ein Wort des Übergangs wechselte er das Thema. »Was höre ich da - Sie wollen mir davonlaufen?«

Sheila, die abseits neben dem Fenster gestanden hatte, zuckte merklich zusammen.

»In die Schweiz, nicht wahr?«, fuhr Cabot fort.

»Wer hat Ihnen davon erzählt?«, fragte David.

»Ihr erlauchter Vorgänger, Dr. Kessler, Chefarzt irgendeines großen Krankenhauses. Er hat's mir erzählt.«

David gab nicht sofort eine Antwort, sondern tat geschäftig, seine Instrumente zurück in die Arzttasche zu packen.

»Warum haben Sie es mir nicht selbst gesagt?«, fragte Cabot mit abweisender Kälte.

»Ich habe mich bisher noch nicht entschlossen, ob ich überhaupt gehe«, sagte David ruhig.

»Sie treffen heute Abend mit dem Chefarzt eines Züricher Krankenhauses zusammen, nicht wahr?«

David starrte Cabot eine Sekunde lang in die Augen. »Ja«, gab er gedehnt zur Antwort, »ich will hören, was er darüber zu sagen hat.«

»Was ist es, das Sie nach Zürich zieht? Geld?«

»In der Hauptsache die Möglichkeit unabhängiger und freier Forschung«, sagte David.

»Wollen Sie mir weismachen, derartige Möglichkeiten gäbe es hier in San Francisco und in den Staaten nicht?«

»Natürlich gibt es die.«

»Ah, so«, sagte Cabot, »dann muss wohl das würdige alte Europa in Ihrem Kopf herumspuken. Berühmte alte Doktoren mit weißen Bärten, unverständlichen Dialekten und albernem Glauben an eine höhere Berufung. Das gute alte Europa! Zum Lachen! Es ist so krank, siech und hilflos wie ich selbst.« Er drückte den Knopf der Schalttafel seitlich des Bettes, und sein Oberkörper richtete sich mit dem Kissenteil auf. »Und mich lässt man einfach hier liegen! Wer wird Ihr Nachfolger?«

»Ich halte Dr. Beloit für den fähigsten und geeignetsten«, sagte David.

»Nicht nur fähig, sondern auch zuverlässig?«, fragte Cabot.

»Ich bin überzeugt, dass Dr. Kessler ihn in jeder dieser Hinsichten empfehlen wird.«

Cabot lächelte; ein kaltes, maskenhaftes Lächeln. »Das hat er bereits getan. Bringen Sie ihn morgen mit.«

»Sofern ich mich für die Schweiz entschließe«, sagte David.

»Sie werden sich dazu entschließen. Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie hier halten soll. Sie werden sich genauso aufführen wie ein Held im Kino oder in einem Roman von A. J. Cronin.« Er musterte David verächtlich. »Das wäre dann wohl das höchste Ziel, das der Sohn eines mexikanischen Obstpflückers aus dem Napa-Tal erreichen kann. Ja, Sie werden fahren; Sie sind genau der Typ. Um der medizinischen Forschung zu dienen - so sagt man doch, nicht wahr?«

David sah auf den leidenden alten Mann herunter, und Mitleid stand in seinem Gesicht. »Ich hoffe, Sie haben eine angenehme Nacht«, sagte er und ging zur Tür. Sheila schickte sich an, ihn hinauszubegleiten.

»Bleib, Sheila«, fuhr Cabot sie an. »Der Doktor kennt inzwischen den Weg nach draußen.«

Sheila blieb starr stehen, wo sie war.

»Falls Sie mich brauchen sollten«, sagte David ruhig, »können Sie mich zu Hause erreichen.«

Er ging hinaus und schloss hinter sich die Tür.

Sheila trat zurück an die Seite des Bettes, blieb dort ganz ruhig stehen, sagte kein Wort, und obwohl ihr Gesicht ausdruckslos blieb, machte sie den Eindruck völliger Resignation.

Cabot schaute sie eine Weile an, ohne etwas zu sagen. Er ließ sie dort stehen, und sie wartete geduldig.

»Mein teures Weib«, sagte er schließlich. »Mein ach so geduldiges teures Weib. Mit jedem Tag wirst du in deiner Haltung mir gegenüber widerspenstiger.«

Sie gab keine Antwort.

»Nun?«, sagte er.

»Nun - was?«, entgegnete sie. »Du erwartest von mir darauf doch sicher keine Antwort.«

»Ich erwarte gar nichts von dir. Das ist mein Glück - um es gelinde auszudrücken.«

»Ich tue, was ich kann, Matthew«, sagte sie leise.

»So, tust du das? Und bist du unglücklich dabei, meine Liebe?« Er wartete. »Nun, bekomme ich keine Antwort?«

»Oh, Matthew«, sagte sie resigniert. »Warum fragst du bloß?«

»Mein liebes Weib, wir haben einen heiligen Bund geschlossen, der vom Allerhöchsten gesegnet worden ist. Unser Name wird fortleben. Wir sind reich. Wir gehören zur herrschenden Gesellschaftsschicht, zur Aristokratie. Sollen wir den romantischen Idioten rechtgeben und eingestehen, dass wir mit all dem nicht glücklich sind?«

»Soll ich sagen, dass ich glücklich bin?«, fragte sie. »Ich tu's, wenn du's verlangst.«

»Ach was!«, sagte er barsch. »Ich bin ein logisch denkender Mensch, und diese Logik sagt mir, dass wir mit alledem, was wir besitzen, glücklich sein müssen.« Seine Augen glitten über ihre Gestalt, und sie las nur allzu deutlich den Hunger und das Verlangen darin. Verlegen wandte sie den Blick ab. »Du würdest aber doch sicher zugeben, dass wir einen guten und vielversprechenden Anfang machten«, fuhr er fort. »Nicht wahr, Sheila?«

Sie hob den Kopf. »Gewiss«, sagte sie, »es war sehr nett.«

»Nett?«, wiederholte er. »So, das war es für dich - nett! Nun, ich will dir sagen, dass es für mich nicht nett war. Dazu war es zu überwältigend, zu aufregend und später allzu enttäuschend. Ich möchte das alles nicht noch einmal durchmachen. Nie mehr!«

Sie war überrascht und schockiert. »Matthew«, flüsterte sie, »das sagst du mir nach all diesen Jahren?«

»Warum nicht?«, sagte er kalt. »Das alles spielt doch jetzt keine Rolle mehr.«

Sie sah ihm fest in die Augen. »Nein«, sagte sie, »jetzt ist es zu spät. Aber es gab einmal eine Zeit, da war es nicht zu spät.«

»Du bist eine perfekte Lügnerin«, sagte er mit gleichmütiger Stimme. »In Wirklichkeit habe ich dich niemals erreichen können. Du warst mir von eh und je fern. Ich wusste es schon damals, und heute gebe ich es selbst zu. Den Grund weiß ich nicht. Ich war ein unternehmungslustiger, gutaussehender Mann und besaß sogar so etwas wie Charme.«

»Das warst du«, sagte sie. »Ich kann mich gut erinnern.«

Er sah zu ihr auf. »So, du erinnerst dich. Weißt du, was du mir mit solchen Bemerkungen antust?« Ich glaube, nein. Du denkst vielleicht, du bist freundlich zu mir. Lass es lieber. Tu nur das, was ich dir sage. Ich werde dich bei mir behalten, bis ich sterbe, weil ich ein kranker, rachsüchtiger alter Mann bin, und weil ich dich hassen gelernt habe. Nun, was sagst du dazu?«

»Das wusste ich längst«, sagte sie.