Klaus Störtebeker – 1 – Staffel

Klaus Störtebeker
– 1–

Staffel

Gloria von Felseneck

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-641-0

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Klaus Störtebeker – 1 – Staffel

Und ewig lockt das Meer ...

»Wo ist Klaus denn schon wieder?« Franz von Althum stieß diese Worte sehr ungehalten hervor, als er den Stall betrat, wo seine Frau gerade eine der sieben Kühe molk, die die Familie neben zwei Pferden, etlichen Schweinen und Schafen sowie einer stattlichen Anzahl Geflügel ihr eigen nannte.

»Was weiß denn ich?« erwiderte Gesche mürrisch, während sie dem Schwanz der Kuh auswich, die auf diese Weise die lästigen Fliegen verscheuchen wollte. »Der Teufelsbraten treibt sich doch immer irgendwo herum, statt hier seine Arbeit zu tun. Du nimmst ihn eben nicht hart genug heran.«

»Wie kann ich das, wenn er sich ständig verdrückt?« Der Gutsherr, der eigentlich nur ein Pächter und besserer Bauer war, verließ mit gewichtigen Schritten den Stall, um seinen zweitgeborenen Sohn woanders zu suchen.

Das war ein müßiges Unterfangen, das sah er bald ein, denn Klaus war weder in der Scheune, noch bei den Bienenstöcken oder in der Töpferei. Nachfragen bei seinen Geschwistern blieben ohne Erfolg, so daß der Vater einer siebenköpfigen Kinderschar die Suche schließlich laut fluchend aufgab. Er hatte anderes zu tun, als nach einem Faulpelz zu forschen.

Klaus wußte genau, daß der Vater ihn suchen würde. Sollte er nur, ihn störte das nicht. Seit dem Morgengrauen hatte er auf dem Feld gearbeitet, hatte das Heu gewendet und anschließend Bohnen und Erbsen geerntet und sich wahrhaft geschunden, obwohl er zu Mittag nichts anderes zum Essen gehabt hatte als eine dicke Scheibe Brot und einen Krug mit Wasser. Er und seine Angehörigen kannten leider nichts anderes als Mühe und Plage. Aber er träumte doch dann und wann von einem anderen, leichteren und besseren Leben.

Vor einer Stunde hatte er sich heimlich in die Nähe des Strandes geschlichen, dorthin, wo ihn niemand sah. Unter einer uralten Buche hatte er seit geraumer Zeit sein Versteck. Die untersten Äste des Baumes hingen so tief herab und verbargen die leichte Senke, die im Laufe der Zeit entstanden war.

Hier lag Klaus auch jetzt, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen, aber er schlief nicht. Wie konnte er schlafen, wenn das Meer rauschte, die Möwen schrien und er jenen Geruch einatmete, der von weither zu kommen schien und ihm wie eine Fata Morgana ein Dasein vorgaukelte, in dem es immer genug zum Essen gab, wo man zahlreiche Abenteuer bestehen mußte und so ganz nebenbei großen Reichtum erwarb. Und dieser Reichtum würde ihn dann unabhängig machen und würde ihm mindestens so viel Macht verleihen, wie sie der Graf von Brackmühlen besaß. Niemand, auch dessen Burgvogt nicht, würde dann etwas dagegen haben, wenn er die Anna heiratete, auch wenn sie dessen einzige Tochter war, und er große Dinge mit ihr vorhatte. Klaus von Althum würde dann eine glänzende Partie sein. Man würde ihn nicht abweisen, sondern mit offenen Armen empfangen.

Aber es war eben nur ein Trugbild, das nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Die sah nämlich ganz anders aus.

Er dachte an seine Kindheit, in der er nur wenige Jahre mit seinen Brüdern, Schwestern und den Kindern aus dem Dorf hatte spielen können. Sein Vater hatte ihn bald bei der Arbeit gebraucht, denn die Pacht für das kleine Gut mußte pünktlich gezahlt werden. Der Graf von Brackmühlen, dessen wehrhafte Burg auf der sogenannten Klosterhöhe thronte, kannte da kein Erbarmen. Graf Ottokar arbeitete natürlich nicht, er verbrachte seine Zeit damit, seine Kraft und Geschicklichkeit bei Turnieren zu demonstrieren sowie Saufgelage und Freßorgien mit seinen Verwandten und Freunden zu veranstalten, während seine Pächter, die freien Bauern und Handwerker und die vielen Leibeigenen kaum das Nötigste zum Leben hatten.

Klaus hätte ihm gar zu gern einen Tritt in den Allerwertesten verpaßt. Aber er war klug genug, um zu wissen, daß er damit nur seiner Familie und sich selbst schweren Schaden zufügen würde.

Der Burgvogt war auch nicht viel besser als der Graf, er war sogar noch schlimmer. Er war ein Mann, der nach oben auf allen vieren kroch, sein eigenes Gesinde aber außerordentlich schlecht behandelte. Außerdem war er ein Speichellecker und Lügner, der seinesgleichen suchte. Wie der zu so einer hübschen und aufrichtigen Tochter gekommen war, würde Klaus wohl immer ein Rätsel bleiben. Anna war ein Schatz, ein selbstbewußtes und zärtliches Mädchen, in das er sich im letzten Mai rettungslos verliebt hatte. Noch heute erinnerte er sich genau an diesen Tag und glaubte, ihr Lachen und ihre Stimme zu hören, als sie nach ihrer Freundin gerufen hatte.

*

»Martha, schau doch mal! Auf der Wiese da hinten blühen so viele Gänseblümchen. Wollen wir uns daraus einen Kranz winden?«

Martha Bleibtreu, die Tochter des Kämmerers, nickte eifrig und folgte dann der Freundin. Ihre Kleider flatterten im Frühlingswind und ihr Lachen klang weit über die Wiese, als sie die Gänseblümchen pflückten, sich danach ins Gras setzten und mit dem Flechten begannen.

Dem dort grasenden und wiederkäuenden Rindvieh machte die niedliche Gesellschaft nichts aus. Die Buntgescheckten hatten mit sich zu tun und warfen den Mädchen kaum einen Blick zu.

Klaus hingegen, der die Kühe zu hüten hatte, konnte seine Augen kaum noch von Anna abwenden. Sie fielen ihm bald aus dem Kopf angesichts von so viel Schönheit und Liebreiz. Ihr Haar leuchtete in der Sonne wie flüssiges Kupfer, ihr Mund war wie ein Rosenblatt und ihre Brüste wippten aufreizend in dem engen Mieder. Er wußte, daß sie die Tochter des Burgvogtes war und hatte sie schon vor einem Jahr einmal flüchtig gesehen. Damals war sie längst nicht so hübsch gewesen wie jetzt. Aus der kleinen grauen Motte war jetzt ein wunderschöner Schmetterling geworden, den er sich allzu gern einfangen wollte.

Klaus schluckte aufgeregt und beschloß, die Kühe für eine Weile sich selbst zu überlassen und zu den Mädchen zu gehen. Die blonde, noch etwas kindliche Martha interessierte ihn zwar nicht, aber es war natürlich gut, daß sie da war. Als – Anstandsperson – konnte er sie durchaus gelten lassen.

Genau wissend wie er auf das weibliche Geschlecht wirkte, schlenderte er auf die beiden zu und fragte mit sanfter Stimme: »Meint ihr wirklich, daß die Kränze auf eure Köpfe passen?«

Die Mädchen quietschten erschrocken, denn sie hatten den Burschen nicht kommen hören. Martha wurde knallrot und sagte kein Wort, Anna aber antwortete keck: »Du kannst uns ja beim Aufsetzen helfen, Klaus. Dann werden wir sehen, ob die Kränze richtig sitzen.«

»Das mache ich gern – sehr gern.« Klaus sank neben Anna auf die Knie, nahm ihr den inzwischen fertig geflochtenen Kranz aus der Hand und setzte ihn behutsam auf ihre Locken.

»Du siehst wunderschön aus«, flüsterte er ihr dabei so leise zu, daß Martha ihn nicht verstehen konnte. »Und du gefällst mir... so sehr.«

Nun errötete Anna auch, denn sie war einem Mann noch nie so nahe gewesen wie jetzt und spürte instinktiv sein Verlangen nach ihr. »Ich... ich muß nach Hause«, stammelte sie und stand abrupt auf. »Die Mutter... wird schon warten. Sie braucht mich in der Küche...«

»... und dein Vater wird schimpfen, wenn er erfährt, daß du dich von einem anschmachten läßt, der bei uns im Dorf und in der ganzen Umgebung hinter jeder Schürze her ist«, vollendete Martha, die ihre Sprache unterdessen wiedergefunden hatte, mahnend.

»Er wird nichts erfahren, wenn du still bist. Außerdem ist gar nichts geschehen. Komm, laß uns gehen.« Anna griff nach Marthas Hand, zerrte die Freundin hoch und lief mit ihr davon, nicht ohne Klaus noch ein betörendes Lächeln geschenkt zu haben.

Er sah den beiden Mädchen nach und atmete schwer. Trotz der noch ein wenig herben Frühlingsluft war ihm plötzlich sehr heiß geworden.

Es dauerte drei Tage, ehe sich für ihn eine Gelegenheit ergab, zur Burg zu reiten. Sein Vater hatte ihn beauftragt, einen Beutel mit Saatgut vom Vogt zu kaufen. Er ahnte ja nicht, wie gern Klaus diese Weisung ausführte. Und wenn er viel Glück hatte, dann würde er die hübsche Anna wiedersehen.

Er hatte viel Glück – jedenfalls für einige Augenblicke. Sie stand im Garten, der zum Haus ihrer Eltern gehörte, und war damit beschäftigt, Wäsche zum Bleichen auf dem Rasen auszubreiten.

Bei seinem halblauten Ruf: »Anna-Mädchen!« drehte sie sich um und wurde sehr verlegen, aber ihre Blicke sagten ihm, daß sie ihm gut war.

Von diesem Tag an trafen sie sich regelmäßig und selbstverständlich heimlich – im Sommer unter der Buche am Strand und in der kälteren Jahreszeit in einer Hütte im Wald. Bis jetzt hatte noch niemand etwas von ihrer Liebschaft bemerkt. Man traute Klaus von Althum, dem Rebellen und Schürzenjäger, wohl keine ernsthafte Liebe zu.

Und doch war es so. Neben Anna konnte keine andere bestehen. Und allmählich machte es ihm sehr zu schaffen, daß sie sich ihm noch nicht hingegeben hatte. Herrgott noch mal! Worauf wartete sie denn noch? Er liebte sie und hatte ihr die Ehe versprochen.

Frustriert drehte er sich jetzt auf den Bauch und legte seinen Kopf auf die Arme. So hoffte er, endlich einschlafen zu können.

*

Er war tatsächlich ein wenig eingedöst, als er von streichelnden Händen geweckt wurde. Sie fuhren ihm durch das dichte blonde Haar, über seine Schultern und über den Rücken. Solche Hände hatte nur eine – Anna.

»Anna... liebes Mädchen«, flüsterte er verlangend, drehte sich zu ihr herum und nahm sie stürmisch in die Arme. »Ich habe eben noch von dir geträumt... und nun bist du da... und ganz nah bei mir.«

»Ich habe mir gedacht, daß du hier bist«, erwiderte sie lächelnd. »Das Wetter ist nämlich viel zu schön, als daß du dich auf dem Acker plagen würdest.«

»Recht hast du«, pflichtete er ihr bei, während er sie sanft nach hinten drückte, bis sie das alte Buchenlaub unter ihrem Rücken spürte. »Ich eigne mich nicht zum Bauern. Außerdem wird Heinrich einmal den Hof übernehmen. Da ist für mich sowieso kein Platz mehr. Mögen meine jüngeren Brüder Knechte bei ihm werden, ich tu’s nicht – niemals. Doch lassen wir das.« Er gab ihr einen Kuß auf die Nasenspitze. »Sag mir lieber, wie lange du heute bleiben kannst.«

»Oh, recht lange. Der Vater und die Mutter sind vorhin zum Grafen befohlen worden. Ein Bote ist gekommen und hat den Besuch von Herzog Johann und seinem Gefolge angekündigt. Da ist viel zu bereden. Es wird Stunden dauern, bis sie damit fertig sind.«

»Ja, ja, den Landesherrn muß man gebührend empfangen«, versetzte Klaus spöttisch und zwinkerte ihr bedeutungsvoll zu. »Dann wird deine Mutter wohl ihre allseits geschätzte Aalpastete zubereiten müssen.«

»Bestimmt, und viele andere Köstlichkeiten auch. Ich werde zusehen, daß ich für dich etwas aufheben kann.«

Diese Aussichten ließen Klaus zufrieden grinsen. Er tätschelte Anna die Wange und murmelte: »Wir sollten die Zeit nutzen... und uns lieber küssen, statt zu schwatzen.«

»Ja«, gab sie leise zurück und legte die Arme um seinen Hals, worauf er sie so fest an sich preßte, daß sie kaum atmen konnte.

»Anna, verzeih mir«, murmelte er heiser und schaute sie begehrend an. »Ich kann nicht länger warten. Wenn wir schon nicht heiraten dürfen, dann laß mich wenigstens vor Gott dein Mann sein. Ich liebe dich und möchte dich überall berühren und küssen.« Er ließ eine Hand in ihr Mieder gleiten und strich über ihre Brüste.

Das Mädchen erschauerte und fand die Gefühle, die seine Berührungen in ihr auslösten, so schön, daß es die Wirklichkeit für die nächste Stunde vergaß.

»Ich glaube nicht, daß ich dir ein Kind gemacht habe«, sagte Klaus, als er später träge neben ihr lag und der Sommerwind seinen erhitzten Körper abkühlte. »Ich habe aufgepaßt, denn ein Kind wäre unser beider Untergang. Dein Vater würde dich verstoßen und mich an den Pranger stellen.«

»Das würde er«, gab Anna bedrückt zu. »Ich fürchte mich manchmal vor ihm, weil er so... laut ist und so rechthaberisch. Man kommt nur mit ihm aus, wenn man tut, was er verlangt.«

»Dabei muß es vorläufig auch bleiben«, erwiderte Klaus nüchtern und nachdenklich. »Ich kann ja doch noch nicht um dich werben, weil ich dich nicht ernähren kann. Ich habe schon überlegt, ob ich von hier fortgehe und um einen Dienst beim Herzog bitte. Er kann sicher einen kräftigen Kerl bei seinen Soldaten gebrauchen. Viel lieber würde ich allerdings zur See fahren und...«

»Nein, Klaus«, jammerte sie und preßte ihr Gesicht an seine Brust. »Das ertrage ich nicht. Dann werden wir uns viele Monate, vielleicht sogar Jahre nicht sehen. Und so lange werde ich den Vater nicht mehr hinhalten können. Er redet schon jetzt viel zu oft davon, daß er mich gut vermählen will.«

»Man kann es ihm nicht verdenken. Ein reicher Schwiegersohn würde sein Ansehen und seine Macht stärken. Aber eines Tages, das verspreche ich dir, werde ich dieser reiche Schwiegersohn sein.«

Klaus war von seinen Worten wenig überzeugt. Er hatte sie nur gesagt, um sein Mädchen zu trösten.

Anna wußte das auch, aber sie war noch jung genug, um insgeheim auf ein Wunder zu hoffen. Sie küßte Klaus zärtlich auf den Mund und gestand: »Es ist so schön mit dir, und ich wäre gern vor allen Leuten deine Ehefrau.«

»Dieser Tag wird kommen«, entgegnete er. »Unser Herrgott wird schon ein Einsehen mit uns haben. Und sei unbesorgt, ich werde dich nicht verlassen.«

*

Herzog Johann von Mecklenburg war mit seiner Gemahlin, seinen zahlreichen Gefolgsleuten und seiner Dienerschaft auf der Burg eingetroffen. Graf Ottokar hatte dem Herrscherpaar die besten Schlafräume überlassen, Räume, die mit kostbaren Wandteppichen, breiten Betten und ausladenden Truhen ausgestattet waren. Nach der langen Reise hatten der Regent und seine Frau sich zuerst erholen müssen, was dem Grafen nur recht war, denn die Vorbereitung eines erlesenen Festmahles zu Ehren der hohen Herrschaften erforderte viel Zeit und Geduld.

Der große Burgsaal war übrigens viel zu klein für die vielen Gäste, denn der Graf protzte gern mit seinem Reichtum und hatte aus diesem Grund befreundete Familien und die gesamte Obrigkeit der näheren Umgebung eingeladen, seine Pächter und das niedere Volk selbstverständlich nicht. Der Pöbel hatte an der herrschaftlichen Tafel nichts zu suchen.

Klaus war aber trotzdem da und fiel unter dem geschäftig hin und her eilenden Gesinde zwar auf, aber man beachtete ihn nicht weiter. Man hatte schon genug damit zu tun, im Burghof Tische und Bänke aufzustellen sowie bequeme Stühle für das Herzogspaar und den Grafen und seine Gattin. Entgegen den üblichen Gewohnheiten waren die Tische mit Leinentüchern bedeckt worden, auf die zu dieser Stunde nach und nach die erlesensten Speisen gestellt wurden, da standen, um nur einige zu nennen: Pasteten von Rind und Aal, eingelegte Ochsenzunge, gebratenes Ziegenfleisch, verschiedene Brotsorten, Wildbret, Fisch und Fleisch in Aspik, Quarkspeisen und Käse. Auch Getränke waren reichlich vorhanden; Bier und Wein würden sozusagen in Strömen fließen.

Klaus, der schon hier und da heimlich etwas hatte mitgehen lassen, was seinem Magen gut tat und seinen Durst löschte, betrachtete die reich gedeckte Tafel mit wachsendem Unmut. Der Graf und seine Gäste würden sich den Bauch vollschlagen und nach dem Mahl zufrieden rülpsen, während die Ärmsten der Armen, die man verächtlich als »Kraut- und-Rübenfresser« bezeichnete, ihr Dasein in ständiger Angst vor einer Hungersnot fristeten. Der Schmied mit seiner kranken Frau und den elf Kindern wäre schon froh, wenn er sich einmal in der Woche richtig satt essen könnte. Der konnte sich auch nicht vorstellen, welche Köstlichkeiten man auf der Burg in sich hineinstopfte. Nun, ein paar Kleinigkeiten von der gräflichen Tafel konnte er den Hungerleidern ja zukommen lassen. Es war ja nicht das erste Mal, daß er, Klaus von Althum, den Dorfbewohnern etwas zusteckte, was er vorher gestohlen hatte.

Klaus sah sich nach allen Seiten um, entdeckte keine verdächtige Person und riß dann spontan eines der Leinentücher, die auf einem Stapel lagen, an sich und legte Brot, gebratenes Fleisch und einen großen Käse darauf. Danach knüpfte er das Tuch zusammen und rannte damit zu seinem Pferd, das vor der Burg graste. Er warf sich auf dessen Rücken, preschte von dannen und lachte triumphierend. Es war ihm erneut gelungen zu entwischen, noch bevor die Schergen des Grafen seinen Raub bemerkten. Und selbst wenn sie einen Verdacht hatten, so war Ottokar von Brackmühlen viel zu faul und behäbig, um Gerichtstage abzuhalten. Er würde seine Männer nicht ins Dorf schicken, um nach einem Dieb zu suchen, besonders jetzt nicht, wo der Herzog bei ihm zu Gast war.

Klaus grinste unbekümmert und beschäftigte sich jetzt gedanklich mit Anna. Er würde zur Nachtzeit noch einmal zur Burg reiten und dort den Schrei einer Eule nachahmen. Anna wußte dann, daß er in der Nähe auf sie wartete. Vielleicht gelang es ihr für ein paar Minuten, aus dem Haus zu kommen.

Unterdessen war er vor der Schmiede angekommen, stieg vom Pferd und befestigte dessen Zügel an einem Zaunpfosten. Danach riß er die Haustür auf und überraschte den Schmied und seine Familie bei einem Mittagsmahl, das lediglich aus Hafersuppe bestand.

»Hier habt Ihr etwas Besseres zum Beißen, Meister Haffner!« Klaus hatte das Leinentuch aufgeknüpft und holte heraus, was er entwendet hatte. Er legte es auf den Tisch und meinte aufmunternd: »Eßt es am besten gleich auf. Dann kann niemand mehr sehen, daß es hier gelegen hat.«

»Danke, Klaus, vergelte es dir unser Herrgott«, erwiderte der Schmied, nachdem er seine Fassungslosigkeit überwunden hatte. Seine Frau sagte nichts. Sie hatte Tränen in den Augen, war aber bereits dabei, für jedes Kind einen Kanten Brot abzuschneiden, obwohl ihre Hände stark zitterten.

»Werft das Tuch ins Feuer«, riet Klaus noch, bevor er das Haus verließ. »Und sprecht nicht darüber, daß ich hier gewesen bin.«

»Wir sagen schon nichts«, beteuerte der Schmied, der Klaus noch bis zur Tür begleitet hatte. »Es wäre unser eigener Schade.«

Klaus nickte nur und ritt kurz darauf nach Hause. Den Anranzer seines Vaters ertrug er mit Gelassenheit. Er ließ, wie immer, den Alten reden, was er wollte. Der würde ihn doch nie aus dem Hause weisen, wie er es im Zorn schon oft angekündigt hatte. Der brauchte ihn und seine Arbeitskraft, denn er war der stärkste von seinen Söhnen.

So knurrte Franz von Althum zwar bösartig, wurde aber sofort zugänglicher, als Klaus ihm versprach, noch heute den Pferdestall auszumisten.

*

Der Strohsack war hart und durchgelegen, aber Klaus störte das nur wenig. Nach dem anstrengenden Tag hätte er wahrscheinlich auch auf dem Erdboden schlafen können. Nein, der Strohsack beeinträchtigte seine Träume nicht. In diesen stand er mit Anna vor dem Traualtar, während ihrer beider Väter sich freundschaftlich zulächelten.

»Klaus, wach doch auf!« Sein Vater rüttelte ihn derb an der Schulter, was ihn jedoch nur verschlafen fragen ließ: »Was ist denn?«

»Du mußt fliehen, sofort. Der Falkner von der Burg ist hier und sagt, man hat dich im Verdacht, daß du den Grafen bestohlen hast.«

»Die paar Brote kümmern den Grafen nicht.« Klaus drehte sich auf die andere Seite und wollte weiter schlafen, doch Franz von Althum versetzte ihm einen Schlag auf den Rücken und rief energisch: »O doch, sie kümmern ihn. Du bist nämlich gesehen worden – vom Burgvogt. Der will dich schon lange aus dem Dorf haben, weil du seiner Anna nachsteigst. Deshalb hat er dich verraten. Und der Graf kann nun gar nicht anders, er hat Diebe und Räuber zu bestrafen. Meinst du, er will sich vom Herzog sagen lassen, daß er zu milde mit Gesetzesbrechern umgeht?«

»Zum Teufel!« Der junge Mann sprang aus dem Bett und schlüpfte in Hemd und Hosen. Dabei erkundigte er sich hastig: »Was hat der Falkner noch gesagt?«

»Der Graf will ein Exempel statuieren, er will dem Herzog beweisen, daß er kein Vergehen ungesühnt läßt. Bereits im Morgengrauen werden seine Soldaten hier sein und dich mitnehmen. Da wird all dein Leugnen nichts nützen. Man wird dich bestrafen, wie es für Diebe allgemein üblich ist. Deshalb mußt du fort. Die Mutter schnürt schon dein Bündel und Heinrich sattelt die Pferde. Er wird dich nach Wismar begleiten. Dort kannst du untertauchen. Nun mach schon!«

Klaus begriff nun in vollem Umfang, was sein Vater sagte. Der alte Lietzen, der falsche Hund, hatte ihn verraten und würde sich diebisch freuen, wenn man den Liebhaber seiner Tochter vor Gericht stellte, wenn man ihn folterte und bestrafte. Der Vater hatte recht, er mußte schnellstens verschwinden, bevor man ihn ergriff und ihm die rechte Hand abhackte, vielleicht wurde er sogar geblendet oder schlimmer noch – gehängt.

In aller Eile zog er sich vollständig an und nahm das Bündel, das seine Mutter inzwischen gebracht hatte. Es enthielt seine wenigen Habseligkeiten und eine kleine Wegzehrung.

Ihm war elend zumute, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Daher verabschiedete er sich in aller Kürze von Vater, Mutter und den jüngeren Geschwistern. Anschließend verließ er das Haus und rannte zum Stall, wo sein älterer Bruder bereits mit den Pferden auf ihn wartete. Er befestigte sein Bündel auf dem Rücken seines Hengstes, stieg auf und ritt dann mit Heinrich in die Nacht hinaus.

Klaus hatte sich oft gewünscht, daß er die Enge des Dorfes irgendwann einmal hinter sich lassen konnte. Aber nie hatte er bei Nacht und Nebel verschwinden wollen, und es sollte stets einen Weg zurück geben. Dieser war ihm jedoch vorläufig versperrt. Das wußte er genau. Vielleicht würde er seine Familie niemals wiedersehen – und Anna auch nicht. Und das alles war nur geschehen, weil er Mitleid mit hungernden Kindern gehabt hatte, und weil es einen hinterhältigen Burgvogt gab. Wie ungerecht es doch in der Welt zuging. Die Reichen wurden immer reicher, sie nutzten und beuteten die Armen aus und maßten sich an, das Gesetz zu sein.

Tapfer schluckte er die Tränen hinunter. Sie nützten ja doch nichts. Er mußte jetzt nach vorn schauen und das Beste aus dieser Situation machen. Und leider – leider mußte er auch Anna verlassen – seine Anna, die ihm noch am Vormittag auf dem Burghof zugelächelt hatte.

Wenn er in Wismar angekommen war, würde er ihr einen Brief schreiben. Die Mönche vom nahegelegenen Kloster hatten es ihm schließlich recht ordentlich beigebracht. Und in diesem Brief, den Heinrich weiter befördern würde, würde er ihr alles erklären und sie bitten, auf ihn zu warten.

*

Eine gute Stunde später hatten er und sein Bruder Wismar erreicht, passierten das Stadttor und schlugen dann den Weg zum Hafen ein, wo ständig große Koggen und Frachtschiffe vor Anker lagen. Es war durchaus möglich, daß ein Kapitän bereit war, den kräftigen und stattlichen Klaus an Bord zu nehmen. Zumindest konnte man in der Menschenmenge, die den Hafen bevölkerte, gut untertauchen.

Dort herrschte, wie erwartet, eine rege Betriebsamkeit. Außerdem war Markttag. Bauern, Handwerker und Händler priesen laut schreiend ihre Produkte an und versperrten mit ihren Karren Gassen und Straßen. Aber da war noch mehr – ein Raunen, das von Mund zu Mund ging. Einer flüsterte es dem anderen zu und wußte noch mehr als jener zu berichten. Man schwatzte aufgeregt und sprach nur noch über Königin Margarete und die Kaperfahrten, die in Kürze erfolgen sollten.

Klaus und Heinrich, die ihre Pferde am Zügel führten, sahen sich verwundert an. Was mochte geschehen sein? Ein alter Mann erklärte es ihnen.

»Es hat ja schon lange in der Luft gelegen«, sagte er eifrig und ein wenig stolz. »Und nun ist es endlich soweit. Unser Herzog hat zum Kaperkrieg gegen Dänemark aufgerufen, damit die alte Vettel, die Margarete, weiß, daß sie mit uns zu rechnen hat, und daß wir uns nicht alles bieten lassen werden. Jeder Mann oder Bursche, der mutig genug ist, kann sich bewerben. Man erzählt sich bereits, daß Lüder Rantzau, Rambold Sarnewitz, Hinrich Lüchow und noch andere vom mecklenburgischen Adel am Krieg teilnehmen werden. Wollt ihr beide euch auch melden?«

»Nur ich«, erwiderte Klaus schnell. Der Grund für den Kaperkrieg, nämlich der Streit zwischen dem Mecklenburger Herzogshaus und der dänischen Königin, interessierte ihn jedoch nicht. Er wollte sich nur seiner Verhaftung entziehen. Und jetzt gab es auch endlich eine Möglichkeit, um schnell zu Geld und damit zu Wohlstand zu kommen.

Der Alte musterte ihn von oben bis unten und antwortete schließlich: »Da wirst du dein Glück machen, Junge. So einen Burschen, wie du einer bist, kann der Herzog gebrauchen, wenn er unsere Leute in Stockholm unterstützen und der Margarete eins auswischen will. Da hinten stehen einige Matrosen, die bringen dich zu ihrem Kapitän.«

»Danke, Alter.« Klaus lächelte zuversichtlich, drückte seinem Bruder die Zügel des Pferdes in die Hand und ging dann mit festen Schritten in die angegebene Richtung. Er zweifelte nicht daran, daß man ihn nehmen würde.

Mit dem Kapitän wurde er schnell einig. Man stellte ihm gleich darauf eine umfangreiche Seekiste zur Verfügung, in der er seine Sachen, sowie eine Schlafmatte und allerhand Kleinkram unterbringen konnte und rüstete ihn mit Harnisch, Kettenhemd und Waffen aus.

»Siehst du, Heinrich, so schnell wird man ein Seemann«, sagte Klaus gegen Mittag zu seinem Bruder, der in einer Schenke saß und Bier trank. »Nun mag mich der Graf suchen, solange er will. Irgendwann wird ihm schon die Lust dabei vergehen.«

»Mag sein. Doch nun setz dich zu mir und erzähle.« Heinrich schob Klaus den halb gefüllten Krug hin. »Wann wird es losgehen?«

»Wahrscheinlich noch heute.« Klaus hatte am Tisch Platz genommen und einen tüchtigen Schluck Bier getrunken. »Der Kapitän hat gesagt, daß wir spätestens vor Sonnenaufgang auslaufen werden. Hast du Papier und etwas zum Schreiben auftreiben können?«

»Habe ich, der Wirt hat mir was gegeben.« Heinrich kramte in seinen Jackentaschen herum und legte dann ein zusammengefaltetes Blatt Papier und eine Feder auf den Tisch. Ein Glas mit Tinte stellte er dazu.

Die Miene von Klaus verdüsterte sich. Es fiel ihm sehr schwer, Anna zu verlassen. Aber es mußte sein, auch wenn niemand wußte, wann sie sich wiedersehen würden. Und so schrieb er:

Meine liebste Anna!

Widrige Umstände zwingen mich, Dich und meine Heimat zu verlassen. Ich werde aufs Meer hinausfahren und bald genug Geld für uns beide haben. Es tut mir so leid, daß ich nun nicht mehr bei Dir sein kann, aber ich werde wiederkommen und Dich heiraten. Darauf gebe ich mein Wort. Bitte, bleib mir treu!

Für immer und ewig

Dein Klaus

»Gib ihr den Brief in die Hand, ihr und niemand anderem sonst.« Klaus hatte das Papier wieder gefaltet und gab es seinem Bruder.

»Darauf kannst du dich verlassen.« Heinrich von Althum steckte den Brief in seine Jackentasche. Danach zahlte er die Zeche, und die Männer verließen das Wirtshaus. Sie sprachen nur noch wenig miteinander, als sie zum Hafen gingen. Es war alles gesagt und getan worden. Nun mußte das Schicksal seinen Lauf nehmen.

*

Anna, die sonst nur die Mutter im Haushalt und im Garten unterstützte, mußte seit dem Besuch des Herzogs helfen, die Gäste zu bedienen, denn es wurde in Unmengen gegessen und getrunken. Die Vertreter der Kirche prangerten diese Völlerei zwar an und bezeichneten auch Spiele und Tänze als gottlose Handlungen, doch das Gezeter kümmerte die meisten Leute nicht.

»Zieh dir ein besseres Gewand an!« blaffte der Burgvogt seine Tochter in diesem Augenblick an. »Und laß dein Haar offen. Es ist dein schönster Schmuck. Viele Männer werden sich nach dir umdrehen.«

»Ich bin hübsch genug, Vater«, antwortete sie und wollte an ihm vorbeigehen, doch er hielt sie am Arm fest.

»Für die Edelleute im Gefolge hast du dich anständig herauszuputzen«, zischte er ihr mit unterdrückter Wut zu. »Vielleicht findet sich unter ihnen ein passender Mann für dich. Also geh in deine Kammer und kleide dich um.«

Anna blieb stocksteif stehen, was ihren Vater veranlaßte, höhnisch zu sagen: »Ach, nun verstehe ich. Du willst immer noch auf diesen Habenichts, diesen armseligen Klaus warten. Hast du denn noch nicht gehört, daß er den Grafen bestohlen hat und nun im Kerker ein Vaterunser nach dem anderen betet, damit man ihm nur die Hand abschlägt und ihn nicht aufknüpft? Willst du so einen heiraten?«

»Vater...«, hauchte sie und taumelte. »Das kann doch nicht... wahr sein.«

»Gewiß ist es wahr. Da kannst du fragen, wen du willst. Man hat ihn ertappt, den Bösewicht und Langfinger. Und nun wird er endlich seine verdiente Strafe bekommen. Du wirst dir bald anhören können, wie er den Herzog und unseren Herrn Grafen um Gnade anfleht.« Willibald Lietzen grinste süffisant und verließ anschließend die Küche. Er war sehr zufrieden mit sich.

Anna sank wie betäubt auf den nächsten Stuhl und begann laut zu schluchzen. Sie war so in ihren Kummer vertieft, daß sie ihre Mutter nicht kommen hörte.

»Heul nicht!« wurde sie von dieser hart angefahren. »Mach, daß du fort kommst. Die Frau Gräfin hat schon nach dir gefragt.«

»Ja, Mutter.« Anna lief hinaus und überlegte fieberhaft, wie sie Klaus helfen könnte. Sie mußte irgend etwas unternehmen. Sie konnte doch nicht tatenlos zusehen, wie man ihn verstümmelte. Sie unterdrückte ihre Tränen so gut es ging und rannte zum Falkner, denn er war derjenige, der zu ihr und Klaus hielt. Vielleicht wußte er einen Rat. Und was Rupert Klose ihr erzählte, beruhigte sie ein wenig. Er flüsterte ihr nämlich zu: »Euer Vater hat Euch belogen, Fräulein. Klaus ist nicht im Kerker, die Soldaten, die ihn auf Befehl des Grafen ergreifen sollten, sind unverrichteterdinge wieder heimgekommen. Klaus konnte fliehen. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Dem Herrgott sei Dank«, murmelte Anna und hastete davon, denn sie hörte schon wieder die schrille Stimme ihrer Mutter. Um sie und den Vater nicht weiter zu verärgern, lief sie nun zu ihrer Kammer und zog dort eines ihrer besten Kleider an, ein hellblaues Gewand mit weißen Spitzen am Ausschnitt und an den Ärmeln. Danach lief sie zur Burg.

Sie sorgte sich aber immer noch um Klaus, auch wenn sie sich ständig sagte, daß er den Häschern entkommen sein mußte. Anderenfalls hätte man ihn längst in den Burghof geführt, damit jeder sehen konnte, wie man ihn bestrafte. Da nichts dergleichen geschah, wurde sie allmählich etwas ruhiger. Sie bediente die Gäste und tat so, als würde sie sich über das Gegröle und die meist zweideutigen Scherze der Männer freuen. Die bedeutungsvollen Blicke, die ihre Eltern miteinander tauschten, übersah sie geflissentlich.

Zurückziehen durfte sie sich allerdings erst nach Sonnenuntergang. Müde und mit wunden Füßen eilte sie zu diesem Zeitpunkt zum Haus ihres Vaters, das ganz in der Nähe der Burg stand.

»Fräulein Anna!« Die leise Stimme eines Mannes ließ sie auf der Stelle verharren. Etwas ängstlich wandte sie sich suchend um und erblickte Heinrich von Althum. Er stand im Schutze einiger Holunderbüsche, trat jetzt aber auf sie zu und drückte ihr einen Brief in die Hand.

»Der ist von Klaus«, flüsterte er ihr zu. »Macht Euch keine Sorgen. Mein Bruder ist in Sicherheit.«

Sie wollte etwas sagen, wollte sich bedanken und Fragen stellen, doch der junge Mann verschwand schnell wieder hinter dem Strauchwerk. Gleich darauf hörte sie die Hufe eines Pferdes, worauf sie den Brief hastig in ihren Ausschnitt steckte. Sie würde ihn zu Hause lesen und dann vernichten. Er durfte nicht in die Hände ihres Vaters gelangen. Der würde damit doch nur zum Grafen laufen, um sich bei diesem einzukratzen. Sie kannte ihn doch. Ihm war jedes Mittel recht, um sich bei der Obrigkeit Liebkind zu machen.

Als sie Klaus’ Zeilen gelesen hatte, weinte sie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Dann aber zerriß sie den Brief in ganz kleine Schnipsel, öffnete das Fenster und warf diese hinaus. Der Wind würde sie weit davontragen.

Am anderen Morgen verkündete ihr Vater, daß sich Klaus von Althum in seiner Zelle erhängt hätte. Das wäre sehr gut so, setzte er boshaft hinzu, und sie, seine einzige Tochter, solle nun endlich aufhören, an diesen Dieb und Raufbold auch nur einen einzigen Gedanken zu verschwenden.

»Ja, Vater«, antwortete sie gehorsam. »Ich werde nicht mehr an ihn denken, denn er ist jetzt in einer anderen Welt.«

Aber eines Tages, so dachte sie, wird er kommen und mich holen. Ein Schiff wird am Horizont auftauchen, ein großes Schiff mit weißen Segeln, das nur meinetwegen in unserem Hafen anlegen wird. Klaus wird der Kapitän sein und mich mitnehmen. Und dann werden wir beide sehr glücklich sein.

*

Klaus erkannte in den folgenden Tagen, daß Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit nicht ausreichten, um ein guter Seemann zu werden. Dieser mußte noch vieles lernen und vor allem hart und lange arbeiten. Das Deck war zu scheuern, Taue mußten erneuert und Segel geflickt werden, und es gab immer irgend etwas zu reparieren. Kämpfe gab es allerdings nicht. Klaus wußte nicht, ob er das bedauern oder begrüßen sollte. Der Kapitän und seine Mannschaft hatten lediglich den Auftrag, das von den Dänen eingeschlossene Stockholm mit Lebensmitteln, sogenannten »Vitalien«, zu versorgen. Von Überfällen auf andere Schiffe war nicht die Rede.

Und da nun rein gar nichts passierte, vertrieben sich die Seeleute ihre Freizeit mit allen möglichen Kraftproben, wobei reichlich Bier getrunken wurde. Klaus fand anfangs wenig Geschmack an diesem Leben. Er hatte damit zu tun, wie ein Wolf seine Wunden zu lecken. Doch seine Zurückhaltung brachte ihm nur den Spott der anderen ein, vor allem den von einem gewalttätigen Burschen, den alle Goedecke Micheel nannten.

Dieser war beinahe so groß und athletisch wie Klaus, allerdings schon ein paar Jahre älter. Fast alle Matrosen fürchteten sich vor ihm und gingen ihm lieber aus dem Wege. Klaus tat das auch, konnte aber einen Zusammenstoß mit ihm letzten Endes doch nicht verhindern.

»Hey, du Milchgesicht!« Goedecke ließ eine Hand schwer auf Klaus’ Schulter fallen. »Ich schau dich schon ein paar Tage an, und was ich sehe, gefällt mir nicht. Du machst zwar deine Arbeit, bist aber kein ordentlicher Kerl, verträgst kein Bier und scheinst keine Kraft im Leib zu haben. Du wirst es nie zu was bringen. Das sage ich dir schon heute. Der nächste Sturm wird dich über Bord pusten, und dann bist du bloß noch Fischfutter. Oder was meint ihr dazu?«

Diese Frage galt den übrigen Seeleuten, die auf Deck ihrer Arbeit nachgingen oder einfach nur müßig herumlungerten. Er bekam eine vielstimmige und zustimmende Antwort.

Klaus hörte, wie man ihn lauthals als Memme, Weichei und Muttersöhnchen bezeichnete. Das würde er nicht einfach so hinnehmen. Er würde sich wehren. Bis jetzt hatte er recht teilnahmslos aufs Meer geschaut, drehte sich nun aber schwungvoll um und verpaßte dem überraschten Bootsmann einen Fausthieb, bei dem dieser in die Knie ging – leider nur für wenige Sekunden. Dann griff er seinerseits an und ließ Klaus seine kräftigen Fäuste spüren.

Unter dem Gejohle und den anfeuernden Rufen der Mannschaft droschen sie nun aufeinander ein, wichen den Schlägen aus, so gut es eben ging, stellten sich gegenseitig ein Bein und fielen schließlich zu Boden.

»Hört auf!« schrie irgendeiner und versuchte, Klaus und seinen Widersacher zu trennen. »Bei euch beiden wird es keinen Sieger geben. Trinkt lieber ein Bier miteinander und vertragt euch.«

»Guter Vorschlag.« Goedecke rappelte sich stöhnend auf und zog Klaus mit sich hoch. »Soll der Milchbart jetzt zeigen, ob er auch tüchtig saufen kann. Los, Fietje, hol uns zwei große Humpen Bier!«

Diese Humpen hatten beinahe die Größe eines Stiefels und waren bis zum Rand gefüllt. Klaus nahm seinen Becher, setzte ihn an den Mund und trank solange, bis der Humpen leer war. Dann drückte er ihn zu einem Klumpen zusammen und schleuderte diesen weit aufs Meer hinaus. Erst danach schaute er sich um und blickte in total verblüffte Gesichter.

Die meisten Seemänner waren so erstaunt, daß sie vergessen hatten, ihren Mund zu schließen. Und der eine oder andere meinte bei sich, daß es bestimmt nicht gut war, die Hände des »Milchbartes« am eigenen Hals zu spüren.

»Ihr könnt eure Luken wieder zumachen.« Klaus bedachte seine Kameraden mit gutmütigem Spott. »Ich habe nicht vor, euch noch weitere Kraftproben zu zeigen. Trinken wir lieber noch einen.«

»Ja, trinken wir noch einen.« Goedecke Micheels lachte laut und schallend. »Du scheinst mir doch in Ordnung zu sein. Wie heißt du eigentlich?«

»Klaus...« Er traute sich nicht, seinen Familiennamen zu sagen und schwieg betreten.

»Hast wohl keinen anderen Namen?« stichelte Henning Larsen, doch der Bootsmann erwiderte lässig, noch ehe Klaus antworten konnte: »Halt’s Maul, Henning! Wenn er keinen hat, dann werden wir ihm einen geben. Einer, der so den Becher hinunterstürzen kann, der hat einen besonders guten Namen verdient. Nennen wir ihn doch ›Becherstürzer‹ oder besser noch: ›Störtebeker‹, Klaus Störtebeker. Was hältst du davon, Junge?«

Klaus stand an der Reling. Seine Haut war von der Sonne gebräunt und sein langes blondes Haar flatterte im Wind. Er sah aus wie einer der Wikinger, die vor etwa vierhundert Jahren über die Meere gefahren waren. Er war wie diese stolz und kraftvoll, ein ganzer Mann, den man nicht so leicht besiegen konnte. Jetzt lächelte er, blickte die Männer fest an, hielt Goedecke Micheels die Hand hin und sagte laut: »Der Name gefällt mir gut. Von nun an bin ich Klaus Störtebeker und einer von euch.«

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Willibald Lietzen war sich seines Einflusses, seiner Würde und vor allem seiner Wichtigkeit seit Jahren bewußt. Ohne ihn wäre Graf Ottokar bald ein armer Mann, davon war er felsenfest überzeugt, denn der Burgherr hatte es nicht gelernt, seinen Reichtum zu erhalten und zu vermehren. Gar zu gern hätte der Burgvogt seine Tochter mit einem der Söhne des Grafen verheiratet, doch Wigram und Kasimir von Brackmühlen würden nicht unter ihrem Stand heiraten. Das hatte deren Vater schon oft betont.

Dieses hochnäsige Verhalten ärgerte Willibald zwar mächtig, hinderte ihn aber nicht daran, nach einem anderen geeigneten Heiratskandidaten für Anna Ausschau zu halten. Und heute, an diesem sonnigen Frühlingstag, hatte er ihn gefunden. Bis vor wenigen Minuten hatten sie zusammengesessen – er selbst, Gunther von Mauritz und der Pfarrer des Ortes. Sie hatten die ersten Verhandlungen über die Ehe und eine eventuelle Witwenschaft erfolgreich abgeschlossen, so daß nicht mehr daran zu zweifeln war, daß der offizielle Heiratsvertrag bald folgen würde.

Der Burgvogt grinste zufrieden vor sich hin, als er jetzt die Tür seines Hauses hinter sich schloß und zur Kemenate ging, wo sich seine Frau und seine Tochter meistens aufhielten.

»Ich habe dir einen wohlhabenden Mann beschafft, Tochter, und erwarte, daß du mir dankbar bist und Herrn von Mauritz so bald als möglich heiratest. Er ist Witwer und hat zwei kleine Töchter, die dringend eine Mutter brauchen.« Mit diesen Worten hatte der Vogt den Raum betreten und warf Anna einen Blick zu, der ihr klarmachen sollte, daß er keinen Widerspruch dulden würde.

Sie wagte es dennoch und flüsterte entsetzt: »Aber Vater, ich kenne den Herrn von Mauritz doch gar nicht.«

»Das ist auch nicht notwendig«, warf ihre Mutter ein. »Der Vater weiß am besten, welcher Mann gut für dich ist. Tu, was er sagt und gib dich zufrieden.«

Anna schaute bestürzt auf ihre Eltern und wußte nicht, wie ihr geschah.

Der beste und schier unersetzliche Mann des Grafen Ottokar hatte sich inzwischen zu seiner Frau an den großen runden Tisch gesetzt und nach dem Bierhumpen gegriffen, den sie ihm hingeschoben hatte. Er trank mit Behagen, wischte sich dann mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und sagte eisig: »Deine Mutter hat recht, Anna. Du kannst sehr glücklich sein, daß so ein reicher und feiner Herr, wie Gunther von Mauritz, dich heiraten will. Er hat ein Haus in der Stadt und jede Menge Gesinde, so daß du nichts anderes zu tun haben wirst, als seine Kinder auf die Welt zu bringen.«

»Ich... ich bin doch Klaus versprochen«, stammelte Anna mit blassen Lippen. »Ihr wißt doch, daß ihm in letzter Minute die Flucht gelungen ist. Deshalb könnt ihr mir glauben, daß er in der Fremde sein Glück machen und bald als reicher Mann zurückkehren wird.«