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Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2017

Copyright Cartland Promotions 1984

 

Gestaltung M-Y Books

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1 ~ 1907

Susanna lief über die hintere Treppe und den Gang zu einem Wohnzimmer, das selten benutzt wurde. Dieser Weg zum Salon war ihr lieber als der über die vordere Treppe, wo ihr Erscheinen von Hibbert, dem Butler, bemerkt worden wäre, der darauf bestanden hätte, sie den Damen zu melden.

Nichts war Susanna peinlicher, als den Salon nach feierlicher Anmeldung betreten zu müssen, in dem sich sämtliche Freundinnen ihrer Mutter zum allwöchentlichen Klatsch bei Tee und erlesenem Gebäck eingefunden hatten.

Sobald ihr Name fiel, würde augenblicklich Stille eintreten, aller Augen würden sich ihr zuwenden, kritische Blicke sie abschätzend mustern.

Dabei wußte sie selbst am besten, daß sie kein erfreulicher Anblick war. Sie war viel zu dick und sah selbst in dem neuen Kleid unvorteilhaft aus. Ihr mangelte es an der schlanken eleganten Taille, die ihre Mutter auszeichnete und zusammen mit anderen äußeren Vorzügen zu einer der gefeiertsten Schönheiten machte.

Lady Lavenham erregte überall, wo sie auftauchte, Aufsehen und Bewunderung. Wenn sie im Hyde Park spazieren fuhr, kletterten die Leute auf Parkbänke, nur um einen Blick auf sie werfen zu können. Die Zeitungen des Landes priesen sie als eine der schönsten Frauen Englands.

Damit wollten sie vor allem zum Ausdruck bringen, daß sie eine der Schönheiten war, die dem erlauchten Kreis um den König angehörten und von anderen Damen der Gesellschaft, die nicht die Ehre hatten, glühend darum beneidet wurden.

Ihr Kreuz, das sie zu tragen hatte, war, wie Susanna wußte, die betrübliche Tatsache, daß ihre zweite Tochter nicht hübsch, sondern ausgesprochen häßlich war.

Immer wenn Susanna ihr Spiegelbild betrachtete, fragte sie sich mutlos, was sie mit ihrem runden, dicklichen Gesicht anstellen sollte, in dem sich Augen, Nase und Mund viel zu klein ausnahmen.

Ihr Haar ließ auch zu wünschen übrig, es hatte weder den Goldton ihrer Mutter noch den gepflegten dunklen Glanz, der das Haar ihres Vaters auszeichnete; es war eher eine unscheinbare Mischung von beidem.

Eine solche kritische Betrachtung im Spiegel hatte stets zur Folge, daß Susanna zur Kommode ging, die Pralinenschachtel aus der oberen Schublade nahm und zu naschen begann.

Das süße Zeug bewirkte, daß sie sich zumindest vorübergehend besser fühlte.

Nur wenn sie sich mit Essen beschäftigte, entschädigte sie das irgendwie für die scharfen, abfälligen Bemerkungen ihrer Mutter und die deutlich zur Schau getragene Enttäuschung ihres Vaters über sie.

Wie anders war doch ihre Schwester May gewesen. Schon als Schulmädchen war sie schlank und liebreizend gewesen und hatte später als Debütantin auf glanzvollen Bällen Aufsehen erregt.         '

„May ist so schön wie du damals, als ich dich das erste Mal sah“, pflegte ihr Vater zu sagen, und nur Susanna bemerkte das unwillige Stirnrunzeln ihrer Mutter, die keine Rivalin duldete, nicht einmal die eigene Tochter.

In dieser Hinsicht konnte sie ganz beruhigt sein. Susanna würde ihr nie den Rang streitig machen.

Auf dem Weg zum Salon kam sie an goldgerahmten Wandspiegeln vorbei und musterte ihr Aussehen. Plump wirkte sie. Ja, das war genau der richtige Ausdruck, fand sie.

„Unförmig wie ein Pfannkuchen“, sagte sie sich in einem Anflug von Galgenhumor.

Um ihre rundliche Taille schmaler erscheinen zu lassen, war sie so eng geschnürt, daß ihre Körpermassen formlos darüber und darunter hervorquollen.

Das neue Kleid aus zartgrünem Crêpe de Chine, das am Saum mit Seidenrüschen verziert war, hätte May in eine strahlende junge Göttin verwandelt. An Susanna wirkte es unansehnlich und matronenhaft.

„Dagegen kann man eben nichts machen!“ sagte sie sich trotzig und verspürte plötzlich einen Heißhunger auf die kleinen Baisers und die Törtchen mit dem rosa Zuckerguß, die im Salon serviert wurden.

Unwillkürlich beschleunigte sie ihren Schritt.

Sie wollte gerade den reich verzierten Türknopf betätigen, der sich an der Verbindungstür zum Salon befand, als drinnen ihr Name fiel. Regungslos verharrte sie und lauschte mit wachsendem Unbehagen dem Gespräch der Damen.

„In welchem Salon wird Susannas Debüt stattfinden?“ fragte jemand.

„Oh, im erstbesten“, erwiderte ihre Mutter. „Eine lästige Prozedur. Je rascher ich es hinter mich bringe, desto besser.“

 „Und wie sehen deine weiteren Pläne mit ihr aus, Daisy?“ wollte eine andere Dame wissen.

Lady Lavenham ließ ihr silberhelles Lachen erklingen, das nach Aussagen ihrer Bewunderer wie Musik für ihre Ohren war.

„Verheiratet wird sie natürlich“, erklärte sie dann. „Sie muß so schnell wie möglich unter die Haube.“

„Du hast ganz recht“, pflichtete die erste Sprecherin, in der Susanna Lady Walsingham erkannte, der Gastgeberin bei. „Und wen hast du im Sinn? Auch einen Herzog?“

Die Frage löste spöttisches Kichern aus, dann sagte Lady Lavenham betont kühl: „Du hast es erraten, meine Liebe.“

Susanna spürte, wie sich ihre Finger um den Türgriff krampften.

„Welchen Herzog denn?“ wollte Lady Walsingham wissen. „Du mußt es uns unbedingt verraten, Daisy.“

„Da ich auf eure Hilfe hoffe, werde ich euch einweihen“, erwiderte Lady Lavenham. „Der einzige, der im Augenblick zur Verfügung steht, ist Southampton.“

Ein leiser Entsetzensschrei ertönte, dann folgte betretene Stille.

Lady Walsingham faßte sich als erste und wandte ein: „Aber, liebste Daisy, Hugh Southampton besitzt außer seinem Titel keinen Penny!“

„Eben“, entgegnete Lady Lavenham. „Genau deshalb wird er außer sich sein vor Entzücken, Susanna heiraten zu dürfen.“

Wieder blieb es eine Weile still, bis jemand lauernd fragte: „Willst du damit etwa sagen, daß Susanna vermögend ist?“

 „Allerdings ist sie das“, erwiderte Lady Lavenham. „Ich dachte, es wäre euch bekannt, daß ihre Patentante, diese unausstehliche Person, ihr ein Vermögen hinterlassen hat.“

 „Wie aufregend! Davon hatte ich keine blasse Ahnung!“ rief Lady Walsingham überrascht aus, und auch die übrigen Damen gaben ihrer Verwunderung über diese Neuigkeit lebhaften Ausdruck.

„Die arme Susanna wird jeden Penny bitter nötig haben“, fuhr Lady Lavenham seufzend fort. „Wir alle wissen ja, daß Hugh Southampton auf eine reiche Heirat angewiesen ist. Also ist das eine günstige Fügung.“

„In der Tat, das ist es!“ rief jemand. „Wirklich, Daisy, du bist ein Genie! Aber das warst du ja schon immer!“

 Das klang ziemlich neidisch.

Die hohe gesellschaftliche Position, die Lady Lavenham bekleidete, hatte ihr zwangsläufig eine Menge erbitterter Feinde geschaffen.

 „Es ist einfach nicht fair“, pflegten ihre Neider zu tuscheln. „Sie ist nicht nur schön und mit dem gutaussehenden Charles Lavenham verheiratet, der als brillanter Schütze hohes Ansehen in der Sportwelt genießt, sie ist auch noch gewitzt genug, um den König in ihren Bann zu schlagen und ihre älteste Tochter mit dem Marquis von Fladbury zu verheiraten, der nach dem Ableben seines Vaters Herzog von Haven sein wird.“

Sie trösteten sich damit, daß die zweite Tochter der lieben Daisy so dick und häßlich war, daß sie sich unweigerlich als Bremsklotz beim kometenhaften Aufstieg ihrer Mutter zu höchsten gesellschaftlichen Gipfeln, wo niemand sie mehr entthronen konnte, erweisen würde.

Und jetzt mußten sie erfahren, daß das häßliche Entlein eine reiche Erbin war. Das war einfach zu viel!

Die meisten der anwesenden Damen waren überzeugt davon, daß der Herzog von Southampton, dessen Familiensitz zusehends verfiel und der zudem noch hoch verschuldet war, nur zu gern bereit sein würde, seinen Adelstitel an eine Frau zu verkaufen, die reich und zudem noch Engländerin war.

Es war schließlich allgemein bekannt, daß er sich bereits nach einer reichen amerikanischen Erbin umgesehen hatte, die über den Atlantik kam, um sich einen adligen Gatten zu angeln.

Die wenigen Bewerberinnen, die einigermaßen gesellschaftsfähig waren, hatten angesehenere Herzoge vorgezogen, vielmehr hatten ihre Mütter das arrangiert.

Der absonderliche ungeschriebene Sittenkodex zur Zeit König Edwards sah vor, daß es Aufgabe der Mütter war, ihren Töchtern einen Gatten von möglichst hohem gesellschaftlichem Rang und Ansehen zu besorgen, sobald die Mädchen im heiratsfähigen Alter waren.

Wie die Töchter dazu standen, spielte nicht die geringste Rolle.

Während Susanna dem Gespräch lauschte, das sich um sie und ihre Zukunft drehte, mußte sie wieder einmal an May denken und daran, wie die Schwester ihr völlig verzweifelt das Herz ausgeschüttet hatte: „Ich kann ihn nicht heiraten, Susanna! Ich kann einfach nicht! Mir wird speiübel, wenn er mich anrührt!“

Nacht für Nacht hatte May sich bei ihrer Schwester ausgeweint. Sie hatte sonst niemanden gehabt, der ihr zugehört, geschweige denn, sie getröstet hätte. Daran hatte Susanna denken müssen, als sie ihre Schwester als Brautjungfer durch den Mittelgang der St.-Georges-Kirche begleitet hatte und mitanhören mußte, wie May mit versagender, tränenerstickter Stimme das Ehegelöbnis sprach.

Sie hatte ihren Schwager auch vom ersten Augenblick an verabscheut. Sein aufgedunsenes Gesicht zeugte von reichlichem Rotweingenuß, aber alle, selbst ihr Vater, priesen ihn als schneidigen Sportsmann und großartigen Schützen, und keiner kam jemals auf die Idee, May könnte eine andere Vorstellung von ihrem Zukünftigen gehabt haben oder den Marquis gar abstoßend finden.

Als ihre Schwester von der Hochzeitsreise zurückgekehrt war, mit bleichem Gesicht und glanzlosen Augen, da war sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihrer jüngeren Schwester gegenüber verschlossen gewesen.

Damals hatte Susanna sich hoch und heilig geschworen, sich niemals zu einer Ehe mit einem ungeliebten Mann zwingen zu lassen. Wie schwer man ihr das machen würde, wurde ihr in diesem Augenblick erst richtig klar.

Lady Lavenham herrschte mit eiserner Faust und unnachgiebiger Härte über ihren Gatten und ihre Kinder, an denen sie im Übrigen niemals viel Interesse bekundet hatte. Als sie noch klein waren, hatte ihre Mutter sie als störend empfunden, und jetzt als Erwachsene waren sie ihr lästig.

Es hatte sie daher mit großer Genugtuung erfüllt, ihrem Gatten nach den beiden ungewollten Töchtern noch einen Sohn und Stammhalter geschenkt zu haben. Doch gleichzeitig hatte sie kategorisch erklärt, damit sei Schluß mit dem Familienzuwachs.

Henry, der zur Zeit das Eton College besuchte, war ein hübscher kleiner Bursche und hatte auffallend viel Ähnlichkeit mit seinem Vater. In den Schulferien wurde ihm eine besondere Auszeichnung zuteil. Er durfte mit seiner Mama in der offenen Kutsche auf der berühmten Rotten Row im Hyde Park spazieren fahren.

In diesen Genuß war vorher auch May gelegentlich gekommen, während Susanna nie mitgenommen wurde.

Sie wußte genau, warum. Ihre Mutter fand sie häßlich und unbedeutend, und sie gehörte zu den Menschen, die niemals zugeben wollen, daß irgendetwas, das mit ihnen in Zusammenhang steht, nicht vollkommen ist.

Sie schämte sich ihres zweiten Kindes, und deshalb durfte Susanna so wenig wie möglich in Erscheinung treten und mußte sich immer im Hintergrund halten.

Von den Kindern erwartete sie, daß sie weder zu hören noch zu sehen waren. Als sie noch klein waren, brachte Nanny, das Kindermädchen, sie pünktlich zum Fünfuhrtee nach unten. Sie durften sich dann genau eine Stunde lang im Salon aufhalten.

Die Gäste ihrer Mutter gaben sich entzückt über die lieben Kleinen. Sie bekamen einen Schokoladenkeks und hatten dann still in einer Ecke zu sitzen, bis Nanny sie wieder holte.

Die ganze Prozedur hatte Susanna jedes Mal als äußerst peinlich empfunden, schon als ganz kleines Kind, und sie war ungemein erleichtert gewesen, als sie später ausgeschlossen wurde. Ihre Mutter hatte irgendwann entschieden, daß zwei Kinder im Salon zu viel wären und nur noch May nach unten zu kommen brauchte. In Wirklichkeit schämte sie sich ihrer zweiten Tochter, weil sie dick und häßlich war.

„Das ist unfair!“ hatte May sich wütend geäußert, während Nanny ihr eines ihrer hübschen Kleider überzog. „Ich darf nach unten, und Susanna guckt in den Mond!“

„Du kennst die Antwort darauf“, wies Nanny sie scharf zurecht. „Gehorche deiner Mutter und sorge dafür, daß sie stolz sein kann auf dich, sonst wird es dir noch leidtun.“

„Nichts wird mir leidtun. Ich wäre froh, wenn sie mich auch nicht sehen wollte“, murrte May und folgte Nanny mißmutig nach unten.

Susanna war ganz froh darüber, daß ihr das Theater im Salon erspart blieb.

Während ihres Aufenthalts in Lavenham Park in Hampshire galt die gleiche Anordnung. Ansonsten waren sie auf dem Lande viel glücklicher gewesen als in der Stadt. Hier fiel zumindest der Zwang weg, dem sie in London unterworfen waren. Sie durften auf ihren Ponys reiten, spielten Versteck und stibitzten Pfirsiche aus dem Gemüsegarten. Von den glanzvollen Gesellschaften, die ihre Mutter gab, bekamen sie kaum etwas mit, außer daß sie heimlich übers Geländer spähten, wenn der König vorfuhr.

Einmal hatte das Herrenhaus gleich drei Könige auf einmal zu Gast gehabt, und obwohl sie es als ihre patriotische Pflicht erachteten, König Edward zu bewundern, war ihr großer Schwarm doch der gutaussehende dunkelhaarige spanische König Alphonso gewesen.

Selbst im dritten Stock des Westflügels, wo die Kinderzimmer untergebracht waren, spürte man die Betriebsamkeit im Haus, die jedes Mal einem Besuch des Königs vorausging.

Da wurden die von ihm bevorzugten Auberginen angeliefert, Ingwerplätzchen aus Biarritz, ein besonderes Badesalz und die Lieblingszigarren. Einer der Räume im Haus wurde in ein privates Post- und Telegraphenamt verwandelt.

In Begleitung des Königs befanden sich Stallmeister, Kammerdiener, der Sekretär, Stallknechte und in der Jagdsaison Ladeschützen, Pferde und Hunde.

Ob nun drei Könige in Lavenham zu Gast waren oder gar keiner, Susanna hatte immer den Eindruck, daß es geradezu königlich zuging, wenn die Gäste ihrer Mutter sich zum Diner begaben.

Die zierliche Taille betont, die Schultern in Tüllwolken gehüllt, erstrahlte ihre Mutter im Glanz ihres Diamantendiadems, das ihr sorgfältig onduliertes Haar schmückte und mit dem Blitzen der diamantenbesetzten Schnallen ihrer eleganten seidenen Ballschuhe wetteiferte.

Die Damen in ihrem Gefolge waren genauso prächtig herausgeputzt, ohne auch nur im entferntesten an die Schönheit der Gastgeberin heranreichen zu können.

Es war unerläßlich, daß jeder der eingeladenen Herren seinen Kammerdiener mitbrachte und jede Dame ihre Zofe, die das lederne Schmuckköfferchen mit den in Goldbuchstaben aufgeprägten Initialen und dem Krönchen, das die vornehme Herkunft ihrer Herrin verriet, in der Hand hielt.

Wenn König Edward den Gastgebern die Ehre seines Besuchs erwies, dann rüsteten sich die Damen mit Diamanten, Diademen, Colliers, Ohrgehängen und Armreifen aus wie ein Ritter mit seinem Panzerhemd.

Im Haus, einschließlich dem Flügel, wo sich die Kinderzimmer befanden, wußte schließlich jeder, daß der König von jeder Dame in seiner Gesellschaft erwartete, daß sie im vollen Glanz ihres Schmucks erstrahlte, und seine scharfe Rüge, die er der Herzogin von Marlborough erteilt hatte, als sie statt mit einem Diadem nur mit einem Diamantenreif im Haar zu einem Galadiner erschienen war, besagte alles.

Susanna hatte May zugeschaut, als sie kurz nach der Rückkehr aus den Flitterwochen die Haven-Juwelen angelegt hatte.

Das Diadem aus Smaragden und Diamanten, das einer Krone glich, war genau auf das Collier und die kostbare Brosche, die May sich ans Mieder ihres Kleides steckte, abgestimmt.

„Du siehst aus wie die Königin von Saba“, hatte Susanna sie geneckt, doch der unglückliche Gesichtsausdruck ihrer Schwester hatte ihr verraten, daß selbst die kostbarsten Juwelen der Welt sie nicht für die Qualen entschädigen konnten, die sie in der Gesellschaft des Marquis erdulden mußte.

„Bist du sehr unglücklich, May?“

May hatte ihre Schwester nicht angesehen, sondern in den Spiegel gestarrt, als sähe sie darin nicht sich selbst, sondern ein Bild aus früheren, glücklicheren Tagen.

Für einen Augenblick hatte Susanna befürchtet, sie werde ihr überhaupt nicht antworten, doch dann hatte May mit merkwürdig alt klingender Stimme gesagt: „Ich kann nicht darüber sprechen, Susanna. Es gibt nichts zu sagen, nichts, was ich tun könnte, also stell’ mir keine Fragen.“

Danach war May ihr ausgewichen, bis sie mit der eleganten Reisekutsche an der Seite des Marquis davongefahren war.

Zum Abschied hatte sie Susanna einen Kuß gegeben und sie einen Augenblick länger umarmt als sonst, so als wollte sie sich festklammern und könnte es nicht ertragen, sich von ihr trennen zu müssen.

Obwohl keine von ihnen ein Wort gesagt hatte, wußte Susanna, daß es May Höllenqualen bereitete, ihr Vaterhaus verlassen und mit dem Mann wegfahren zu müssen, den sie haßte, zu dem sie jetzt aber gehörte.

Das darf mir nie passieren, hatte Susanna damals gedacht.

Und während sie jetzt von der Salontür aus vernahm, welche Pläne ihre Mutter mit ihr hatte, empfand sie das als unerbittlichen Schicksalsschlag.

Sie schloß ganz leise die Tür, wandte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war, die Stufen hoch zu ihrem Schlafzimmer, das neben dem Schulzimmer im dritten Stock lag.

In London war das Kinderzimmer zum Unterrichtsraum geworden, nachdem Nanny durch eine Gouvernante ersetzt worden war.

Während Nanny so etwas wie eine ständige Einrichtung gewesen war, wechselten die Gouvernanten ständig, weil sie mit Lady Lavenham ständig aneinandergerieten, die sie der Unfähigkeit zu bezichtigen pflegte.

„Ich will Ihnen mal was sagen, Mylady“, hatte eine der Erzieherinnen in Susannas Gegenwart auf einen derartigen Vorwurf erwidert. „Ich war zehn Jahre lang bei der Gräfin Bressington angestellt, und sie war sehr zufrieden mit mir.“

Ihr wurde trotzdem gekündigt, ebenso ihren beiden Nachfolgerinnen. Doch dann war etwas geschehen, das für Susanna wie ein Wunder war. Miss Harding hielt Einzug in ihrem Haus, eine Lehrerin, deren taktvollem Benehmen es zu verdanken war, daß Lady Lavenham sie mit gnädiger Herablassung gewähren ließ, und die es vor allem verstand, das Interesse ihrer Schülerinnen zu wecken, ihre Phantasie zu beflügeln und sie in ihrem Lerneifer zu bestärken.

May hatte zu ihrem größten Bedauern nur ein Jahr Unterricht bei Miss Harding, dann war sie verheiratet worden, aber Susanna kam zwei Jahre lang in den Genuß dieses vielseitigen Unterrichts.

Für sie war Miss Harding eine Offenbarung. Sie kannte nicht nur eine Antwort auf alle Fragen, sondern verstand es auch, Susannas Wißbegierde so zu steuern, daß sie bald imstande war, die Antworten selbst zu finden.

Lady Lavenham hatte im Grunde nicht das geringste Interesse daran, daß ihre Töchter ein gut fundiertes Wissen vermittelt bekamen, ihr ging es nur darum, daß die beiden die französische und die italienische Sprache fließend sprechen konnten.

Lord Lavenham hielt nichts davon. Er erwähnte oft, wie ermüdend er es fand, anläßlich eines Banketts in Sandringham ständig vom Englischen ins Französische wechseln zu müssen, manchmal sogar innerhalb eines Satzes.

Für Lady Lavenham gehörte es jedoch zu den goldenen Lebensregeln, daß ihre Töchter in dieser Hinsicht mithalten konnten.

Was ihnen sonst noch beigebracht wurde, war ihr völlig gleichgültig, Hauptsache, sie konnten später einmal ein großes Haus führen, Rechnungen addieren und Schecks ausschreiben.

Sie selbst befaßte sich allerdings nie mit solchen Banalitäten, dafür hatte sie ihre ungemein tüchtige Sekretärin. Aber ihren Töchtern schärfte sie ein, sich diese Fähigkeiten unbedingt anzueignen.

Das unterschied Lady Lavenham übrigens von den meisten ihrer Zeitgenossinnen, die nur die Kunst des Geldausgebens beherrschten, das jedoch mit beachtlichem Erfolg.

Susanna hatte sich dagegen aufgelehnt, sich nur auf Rechenaufgaben und das Pauken von französischen und italienischen Vokabeln zu beschränken.

Zunächst hatte sie sich vor allem für Geschichte interessiert, später dann begannen die Werke der Weltliteratur sie zu fesseln, die sie mehr ansprachen als die gerade in Mode befindlichen Unterhaltungsromane oder die faden Kurzgeschichten in den Magazinen für die Dame.

Wenn sie mit Lesen beschäftigt war, konnte sie vergessen, daß ihr Vater enttäuscht von ihr war und ihre Mutter sich ihrer schämte, und sie dachte auch nicht mehr an ihr unansehnliches Spiegelbild.

Miss Harding war es auch gewesen, die sie in die schönen Künste einführte, ihr die Bedeutung der Gemälde erklärte, die im Haus hingen, und mit ihr zusammen die Kunstwerke der Nationalgalerie bewunderte.

Ihr war bis dahin gar nicht bewußt gewesen, wie wenig ihre Mutter über diese Dinge wußte. Sie kümmerte sich mehr um die Pflanzen im Wintergarten und die Treibhausblüten, die den Salon schmückten, als um die Kunstschätze, die von den Ahnen der Lavenhams im Laufe der Jahrhunderte zusammengetragen worden waren.

Für Susanna eröffneten sie eine völlig neue Welt. Zusammen mit Miss Harding durchstöberten sie Buchläden nach Reproduktionen der Gemälde, die in den berühmten europäischen Galerien gezeigt wurden, wie dem Louvre in Paris und den Uffizien in Florenz.

Jedes Mal, wenn sie ein Bild entdeckte, das ihr besonders gut gefiel, hatte sie das Gefühl, einen Schatz zu besitzen, der ihr gehörte, der sie auf wundersame Weise innerlich bereicherte.

Am Anfang des Jahres hatte es sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen, als Lady Lavenham Miss Harding wissen ließ, daß ihre Dienste nicht mehr benötigt würden und sie in drei Monaten gehen müsse.

Ohne weitere Erklärungen ihrer Erzieherin abzuwarten, war Susanna die Treppe hinuntergestürmt und ohne anzuklopfen ins Boudoir ihrer Mutter eingedrungen, was sie normalerweise nie gewagt hätte.

„Ist das wahr, Mama?“ schrie sie empört. „Du hast Miss Harding gekündigt? Warum? Warum muß sie gehen? Ich kann es nicht ertragen, sie zu verlieren!“

Lady Lavenham lag malerisch ausgestreckt und in eines der hauchdünnen Chiffon-Negligés gehüllt, die in dieser Saison die große Mode waren, auf der Chaiselongue.

Susanna stellte sich vor, daß es eine große Erleichterung für die Trägerin eines eng geschnürten Korsetts sein mußte, das lästige Ding wenigstens für ein paar Stunden am Tag ablegen zu können.

Sie war zu unschuldig, um zu erkennen, daß diese Nachmittagsgewänder einen ganz anderen Zweck erfüllen sollten. Ihr entging allerdings, daß ihre Mutter in London zuweilen den König oder andere Herren in ihrem Boudoir empfing und dann unter keinen Umständen gestört werden durfte.

Zum Glück befanden sie sich gerade auf dem Land, und Lady Lavenham war allein. Der nächste Hausball sollte erst am folgenden Tag stattfinden.

„Dringe gefälligst nicht auf so ungehörige Weise in mein Boudoir ein“, tadelte Lady Lavenham in einem eisigen Ton, der ihre Tochter gewöhnlich erschauern ließ.

In diesem Augenblick war Susanna viel zu verstört und erregt, als etwas anderes als Zorn empfinden zu können.

„Warum hast du Miss Harding gekündigt, Mama?“ fragte sie erneut mit bebender Stimme.

„Du bist dumm wie immer“, tadelte Lady Lavenham ihre Tochter. „Dein Haar ist unordentlich, und auf deinem Kleid ist ein häßlicher Tintenfleck.“

„Ich habe dir eine Frage gestellt, Mama!“

„Dann muß ich es dir eben in ganz schlichten, verständlichen Worten erklären“, sagte Lady Lavenham kalt. „Du bist schon über achtzehn und fast schon zu alt zur Debütantin, hättest du nicht das Trauerjahr einhalten müssen. Jetzt wird es Zeit, dich in die Gesellschaft einzuführen.“

Susanna sah sie mit weit aufgerissenen Augen verständnislos an.

 „Aber das bedeutet doch nicht, daß Miss Harding gehen muß!“

„Natürlich tut es das. Was willst du mit einer Gouvernante, wenn du ausgehst? Vermutlich muß ich wohl oder übel die alles andere als angenehme Aufgabe übernehmen, dich überallhin zu begleiten.“

Die Art, wie Lady Lavenham das sagte, ließ keinen Zweifel offen, daß sie das als lästige Pflicht betrachtete.

Bevor Susanna etwas erwidern konnte, fügte ihre Mutter mit ätzender Schärfe in der Stimme hinzu: „Und nun sorge um Himmels willen dafür, daß du wenigstens einigermaßen annehmbar aussiehst. Weiß der Himmel, wie ich dich jemals unter die Haube bringen soll, wenn du so wenig Wert auf dein Äußeres legst.“

Einen Augenblick lang sah Susanna ihre Mutter bestürzt an, dann schoß brennende Röte in ihre Wangen. Sie drehte sich um und lief aus dem Zimmer.

Oben ließ sie sich mutlos aufs Bett fallen. Für sie war eine Welt eingestürzt. Der einzige Mensch, der sie verstand, sollte sie verlassen.

Natürlich war es töricht von ihr, zu vergessen, daß ihr Debüt bevorstand und sie bald, wie May vor ihr, von Ball zu Ball geschleppt werden würde, von einem Empfang zum anderen; und sie wußte jetzt schon, daß ihr der ganze Rummel zuwider sein würde.

Wie hätte sie auch anders empfinden sollen, wußte sie doch, daß ihre Mutter sich ihrer schämte, daß kein junger Mann freiwillig, sondern nur gezwungenermaßen mit ihr tanzen würde.

Zu ihrem Leidwesen war ihr nie in den Sinn gekommen, daß sie Miss Harding verlieren würde, wenn sie in die Gesellschaft eingeführt wurde.

Die letzten beiden Jahre waren die glücklichsten ihres Lebens gewesen, doch ihr wurde schmerzhaft bewußt, daß sie in einem Wolkenkuckucksheim gelebt hatte, denn eigentlich hätte sie schon im vorigen Sommer ihr Debüt geben müssen.

Das war unmöglich gewesen, weil ihre Großmutter gestorben war und die Familie Trauerkleidung trug. Ihre Mutter hatte ganz in Schwarz noch hinreißender ausgesehen als sonst, während Susanna sich vorkam wie eine dicke Saatkrähe.

Mittlerweile war sie achtzehneinhalb Jahre alt und ihre Einführung in die Gesellschaft unumgänglich geworden. Nach Ansicht ihrer Mutter und nach ihrer eigenen Erkenntnis kam das einer mittleren Katastrophe gleich. Häßlich wie sie war, würde sie die ganze Familie blamieren.

Der Gedanke an dieses schreckliche Ereignis war für Susanna so grauenhaft, daß sie Trost in der Tüte Bonbons suchte, die sie sich heimlich im Dorfladen gekauft hatte, und die Süßigkeiten in sich hineinstopfte.

„Ich werde scheußlich aussehen und mich zu Tode schämen“, sagte sie sich, „und wenn Miss Harding fort ist, habe ich niemanden mehr, mit dem ich reden kann, der sich für meine Gedanken und meine Sorgen interessiert.“

Mühelos wie einer jener neuen D-Züge, die schnell und sicher ihr Ziel ansteuerten, kamen die Pläne für den Umzug ins Londoner Haus und Miss Hardings Abschied ins Rollen.

Am Abend vor der Abreise der gütigen Erzieherin hatte Susanna bitterlich geweint.

 „Was soll ich denn ohne Sie tun?“ schluchzte sie. „Sie sind der einzige Mensch, der jemals lieb zu mir war und mich spüren ließ, daß ich auch etwas wert bin. Wenn Sie weg sind, habe ich niemanden mehr!“

„Um ganz offen zu sein, Susanna“, hatte Miss Harding in ihrer ruhigen Art erwidert, „es gibt nicht mehr viel, was ich dir beibringen könnte.“

Susannas Verblüffung über diese Eröffnung war so groß, daß sie ihr Schluchzen unterbrach und ihre Erzieherin mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

„Es ist wahr“, sagte Miss Harding. „Dir muß doch mittlerweile auch klargeworden sein, daß du sehr intelligent bist, viel zu intelligent für das Leben, das du führen sollst.“

„Aber ich habe doch keine andere Wahl“, antwortete Susanna todunglücklich. „Ich muß dieses Leben führen.“