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Philipp Hager

wolkenjagd

Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Coverfoto: © Manfred Poor

ISBN 978-3-99200-205-4

eISBN 978-3-99200-206-1

Für meine Frau

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

I

Hier beginnt neues Land. Eine Küstenlinie, sanft geschwungen wie eine Muschel, vor der noch kein Schiff seinen Anker ausgeworfen, auf die noch kein Kartograf seinen Fuß gesetzt hat. Unberührte Erde, so weit das Auge reicht.

Ein neues Land im Zeitalter der Satelliten? Mit ihren ultrafeinen Linsen, die jede Wolke durchleuchten, jedes Haar erfassen, jedem Menschen die Seele fotografieren können? Wie kann es hier noch neues Land geben? Stehen wir nicht auf dem letzten Gipfel, überschauen wir nicht alles? Sind wir nicht einsichtiger, umsichtiger, weitsichtiger, allessichtiger als alle Menschen vor uns?

Aber die Augen, die sind in diesem Fall nebensächlich. Man kann sie genauso gut zumachen. Schwingt nicht etwas in der Luft? Beim Atmen bleiben verwirrende Düfte zurück, ein Blütenstaub kleiner Fragezeichen. Die Stirnhöhle belebt sich mit Vorahnungen, Wetterzeichen. Wenn man dann die Augen wieder aufmacht: Wer weiß, was sie sehen …

Um zu verstehen, wie alles zusammenhängt, ist es unerlässlich, zu wissen, dass mein Zimmer der Mittelpunkt meiner Kindheit war. Auf seinem weißen Teppichboden saß ich wie ein kleiner Minotaur, fest verankert im Zentrum der labyrinthischen Welt, und ließ alles zu mir kommen. Ich sorgte mich ebenso wenig um dessen Jungfräulichkeit wie darum, ob es ein wenig süßlich oder verdorben roch. Ein lebhaftes Durcheinander aus Bausteintürmen, Plastiksoldaten, 8-bit-Melodien, aufgewetzten Fingerkuppen, gesummten Liedern, verschlungen wie ein Wollknäuel, das ich spielerisch durchs Zimmer rollte.

Wenn ich das Bedürfnis hatte, aufs Klo zu gehen, konnte ich das in der Gewissheit tun, dass der Faden nicht abreißen würde. In der Regel schnappte ich mir eines der Comichefte aus dem Korbständer. Kreuz und quer lagen sie übereinander, sämtlich unter Spannung, nur auf eine Berührung wartend, um ihre Schätze preiszugeben. Eines hat sich mir eingeprägt wie eine Messerspitze in eine Baumrinde: Der Held strandet in einer Art Kolosseum, wo ein Dämon entfesselt und auf ihn losgelassen wird, ein japanischer Albtraum aus Fett und Stahl. Eine Flucht stellt sich als unmöglich heraus. Was dann beginnt, ist ein dreißig Seiten langer Abstieg in die Hölle, eine blutrünstige Heimsuchung, eine verstörende Menschenjagd, die dem Helden alles abverlangt. Am Ende besteht er die Prüfung, aber das Ganze hat etwas Verheerendes, das ihn trotz seines Sieges als Wrack zurückzulassen scheint. Die Geschichte traf voll ins Schwarze. Ich kehrte immer wieder zu ihr zurück. So häufig, dass mich noch jetzt, während ich darüber schreibe, die Aufregung und der läuternde Schrecken von damals überkommen, diese Umarmung aus Rauch und Funken.

Womöglich tauchte auch, gerade wenn ich im Korbständer zu wühlen begann, ein Erlebnis vom Vormittag wieder auf. Der Physiklehrer hatte uns vorne im Klassenzimmer zusammengerufen, um den sachgemäßen Umgang mit Glaskolben zu demonstrieren. Wir drängten uns um seinen Tisch. Ganz hinten klagte jemand, er sehe nichts. Das Mädchen vor mir bückte sich in aller Unschuld. Bei ihrem Anblick nahm mein ganzer Körper Witterung auf. Ihre Sommersprossen verschwanden, ihre dicke Brille, ihr Talent, immer zur falschen Zeit zu lachen. Sie war keine Klassenkameradin mehr, sie war sogar über das Menschsein hinaus – sie ragte auf wie eine Blume mit geöffnetem Kelch, die einen orchideenhaften Lockruf aussandte. Eine Gänsehaut überlief mich bei der Erinnerung. Ich trug sie rüber ins Bad, wo ich mir die Hände wusch, und zurück in mein Zimmer, wo das Durcheinander um einen schönen Hintern und eine Gänsehaut reicher war.

Hätte man in diesem Augenblick durch die Tür gelinst, was hätte man gesehen? Ein Kind, das auf dem Teppichboden spielt. Allenfalls etwas abwesend, versunken. Wer hätte ahnen können, dass ich Gold wusch? Ich rüttelte das Chaos durch feine Siebe. Wenn ich an flohgeplagte Goldsucher denke, die sich den Yukon hinaufkämpfen, wenn ich an Jesuiten denke, durchglüht von heiligem Eifer, wenn ich an Mathematiker denke, von ihren selbst gestellten Rätseln in die Tiefe gezogen, dann sehe ich mich selbst auf meinem Teppichboden: nicht weniger besessen, nicht weniger getrieben, nicht weniger unersättlich. Die brummenden Wagen draußen, die zwitschernden Vögel, das Kreischen der Tischlerwerkstätte, die dunkle Wucht der Kirchenglocke, all das zog spurlos an mir vorbei.

Wäre man den Geräuschen gefolgt, durch das offene Fenster hinaus, von Schallwelle zu Schallwelle – früher oder später wäre man unweigerlich bei meinem Großvater gelandet. Er war das Summenzeichen, um das herum die Klänge des Lebens ihr geordnetes Gleichgewicht fanden. Tatsächlich war eine gewisse Verwandtschaft zwischen meinem Großvater und dem Leben schwer zu leugnen: jenem Leben, wie es Eisbruch und rumpelndes Geröll aus dem Voralpenfels geschlagen haben. Einfache Linien. Harte Kontraste. Die Frucht von tausend Jahren Katholizismus und stolzem Bauerntum. Es gibt eine richtige und eine falsche Art, die Dinge anzugehen. Die Hauptsache im Leben besteht darin, die Dinge auf die richtige Art zu machen. Niemals aus der Richtigkeit herauszutreten, und damit selbst richtig zu werden, ein Hort der Richtigkeit, ein Paladin der Richtigkeit, und die Unrichtigkeit zu geißeln, wo immer sie sich zeigt. Richtiger als richtig zu werden, ein Leuchtturm der Richtigkeit im Meer der Unangemessenheit, ein eiserner Richter der Rechtschaffenheit in der verweichlichten Verworfenheit der Welt.

Die rechte Weise, einen Laib Brot zu schneiden, besteht etwa darin, ihn auf Brusthöhe zu halten und die Klinge im Kreis zu führen. Benutzte man ein Holzbrett, drückte man gar den Laib fest und sägte eine Scheibe ab, machte man sich besser auf ein Stirnrunzeln gefasst. Der Gedanke, das Brot auf einem Teller zu schneiden, war so grundlegend falsch, dass man es ebenso gut auf der Morgenzeitung hätte schneiden können. Setzte man einen Fuß in die Küche, folgte eine halbe Drehung nach links, um sich am Waschbecken die Hände zu waschen. Wichtig war dabei, den Hahn bis zum Anschlag aufzudrehen und in den Strahl zu greifen, als wäre er eine Schlange, die man erwürgen möchte. Die Finger wurden eingeseift und gründlich geknetet. Handrücken nicht vergessen! Mit der kleinen Bürste die Fingernägel schrubben. Voilà! Die Hände waren nicht nur sauber. Sie waren richtig sauber.

Richtig war zudem, den Kopf hoch zu tragen, stolz zu sein und niemals zu schwanken. Während des Ersten Weltkriegs war im Nachbardorf ein Sklavenmarkt abgehalten worden. Aus dem ganzen Tal strömten die verbliebenen Bauern und Handwerker zusammen, um sich kostenlose Arbeitskräfte zu beschaffen. Im Angebot standen Kriegsgefangene, die man in Waggonladungen aus den eroberten Landstrichen herbeigeschafft hatte. Jetzt standen sie auf dem Vorplatz der Kirche. Ein Haufen zerlumpter Schatten, die sich alle Mühe gaben, mit der Erde zu verschmelzen. Nur einer war darunter, der sich aufrecht hielt. Mit starren Augen blickte er geradeaus. Er wusste, dass er als Mensch nichts mehr zählte. Trotzdem trug er das Kinn hoch. Die Einheimischen tasteten sich noch an ihre ungewohnte Rolle als Sklavenhalter heran, inspizierten Gebisse, strichen Hände nach Schwielen ab, versuchten mit Gebärden herauszufinden, ob einer ein Handwerk beherrschte – da trat der Großvater meines Großvaters bereits vor den Beamten hin und sicherte sich diesen unübersehbaren Mann. Schweigend kletterten sie auf das Pferdegespann und rumpelten los.

Und während sich über dem Tal finstere Wolken zusammenzogen, Flüche und Schläge zu regnen begannen, forderte er ihn bei der Ankunft auf, es ihm gleichzutun, sich am Hausbrunnen Hände und Gesicht zu waschen und am Tisch der Familie Platz zu nehmen. Nach Gebet und Abendessen setzte er sich hin, um ihm Deutsch beizubringen. Ob der Mann ein brauchbarer Arbeiter war, ob er auch nur einen Nagel einschlagen konnte, war nebensächlich. Standhaftigkeit war von Grund auf richtig und ihre Richtigkeit wuchs exponentiell zum Widerstand, dem sie begegnete. Folglich war er verdammt richtig, der Mann, und richtig war es auch, einer solchen Richtigkeit mit Achtung zu begegnen.

Diese Geschichte beeindruckte meinen Großvater tief. Das Gesetz der Standhaftigkeit, er verinnerlichte es wie ein Märtyrer seinen Gott. Zu seiner Pensionierung, nach fünfunddreißig Jahren Arbeit, richtete man ihm zu Ehren ein zweitägiges Fest aus. Der Grund? Er hatte keinen einzigen Tag gefehlt. Keinen einzigen Tag! Ob Blitzschlag, Hagelstürme, Schneechaos, Fieber, Magenverstimmung, ob Streptokokken, Gonokokken, Pneumokokken, Wasserbauch, Blinddarmoperation, ob Muskelfaserriss, Tinnitus, Hexenschuss, Pferdekuss, Hitzewelle, Blasenkatarrh, Herzschmerz, Weltschmerz, Geldschmerz, ob Autounfall, Flugzeugabsturz, Kometenschauer, Lebensmittelvergiftung, Migräne, Mineralstoffmangel oder eine traumatische Ruptur der Corpora cavernosa – nichts hatte dem Diamanten seiner Richtigkeit einen Kratzer zuzufügen vermocht.

Es besteht eine tiefe Verbindung mit der Art, wie er tanzte. Auf seine Leichtfüßigkeit hielt er viel. Als er im Ruhestand die weite Welt unsicher machte, konnte er sich nirgendwo verständigen. Aber wo sich die Gelegenheit bot, schwang er das Tanzbein. Vor den Pyramiden, auf der Akropolis, in tunesischen Hafenkneipen. Noch im Basislager des Kilimandscharo schunkelte er mit einer Frau im Arm, und als ein Sherpa hereinkam und fragte, wer am kommenden Morgen trotz schlechten Wetters den Aufstieg zum Gipfel wagen wollte, ließ er sich den Satz übersetzen, warf einen verachtenden Blick in die Runde und bejahte in das Schweigen hinein. Schamlos balzte er sich an Holländerinnen heran, die gut und gerne seine Enkelinnen hätten sein können, an Touristenführerinnen, verhüllte Araberinnen. Er tanzte mit Weltumseglern, mit Taschendieben, mit Wilderern. Nirgendwo geriet er ins Wanken. Solange er sich der Sicherheit der gelernten Schritte überlassen konnte, war er geerdet. Jeder Schritt war ein Stück verbürgter Vergangenheit, war ein Stück Richtigkeit, das er in sich wachrief, war sein Vater und sein Großvater, war die Scholle, auf der er groß geworden war, Tanzabende in den Scheunen der Nachbarhöfe, die Mädchen mit den dicken Zöpfen, ihr verlockender Stallgeruch – und wie fern er auch war, er konnte sich niemals verlieren, so tief und selbstverständlich verwurzelt war er in dieser unauslöschlichen geistigen Heimat.

Man kann es als Engstirnigkeit bezeichnen. Mit dem gleichen Recht lässt sich darin Charakterfestigkeit sehen. Eines jedenfalls ist klar – was an Größe in ihm war, das stammte aus diesem alten Strom, dem er angehörte und auf den er sich besann.

Über seinem Küchentisch hing ein Bord mit Spielkarten. Mittendrin eine Packung doppeldeutscher, bedruckt mit den Figuren aus Wilhelm Tell. Wenn wir alleine waren, nahm er sie gerne herunter. Gemächlich stopfte er seine Pfeife und paffte sie an. Er ließ den Rauch sich ausbreiten, den strengen, herben Duft nach glosenden Wurzeln, während er die Karten sortierte. Schließlich schob er die erste vor mich hin, das Eichel-Ass mit der alten Frau, die ein Holzbündel durch den Schnee trägt, und brummte: „Es war ein strenger Winter. So streng und lang, dass die Menschen die Rinde von den Bäumen schälten und kochten.“ So begann die Geschichte um Wilhelm Tell. Eine fesselnde, hypnotische Reise, die den ganzen Vormittag dauern konnte. Bald war der Küchentisch übersät mit Spielkarten, die umherwanderten, in neue Konstellationen rutschten, gewendet wurden, wenn jemand starb. Einzig der Herzbube, Kuoni der Hirt, blieb beharrlich liegen. In Schillers Drama spricht er ein paar Zeilen und tritt ab. Ein konturloser Schatten. In der Erzählung meines Großvaters sah die Sache anders aus. Er gestattete sich keine Freiräume, was die Handlung betraf. Doch innerhalb ihrer festgelegten Grenzen wob er ureigene Muster, in denen Kuoni der Hirt sich nach und nach als der eigentliche Angelpunkt der Geschehnisse erwies. Ein Garant der Dauerhaftigkeit im Tumult der Umbrüche. Er stand für die ewige Ordnung, der mein Großvater sich zugehörig fühlte. Und wenn ich es kaum erwarten konnte, wieder von Kuoni zu hören, wenn ich die Spielkarte nicht aus den Augen ließ, immerzu Fragen stellte, um zu ihm zurückzukehren, dann verlangte ich danach, von dieser ewigen Ordnung durchdrungen zu werden. War das nicht die wahre Wirklichkeit? Die chaotischen Träume in meinem Kinderzimmer lagen jetzt in weiter Ferne. Vorübergehende zerebrale Turbulenzen, während die Welt meines Großvaters aus unverrückbarem Stein gebaut schien.