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Thomas Casagrande

Südtiroler in der Waffen-SS 

Vorbildliche Haltung, fanatische Überzeugung

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Zum Buch

Otto Casagrande starb 1990 auf einem Veteranentreffen der Waffen-SS. Für seinen Sohn Thomas war dies der Auslöser, sich intensiv mit der Vergangenheit des ehemaligen SS-Untersturmführers zu beschäftigen. Nach zwanzig Jahren Recherche legt der Autor nun eine erste Studie über Anzahl, Rekrutierung und Verwendung der vielen Südtiroler SS-Freiwilligen vor.

Die Südtiroler Rekrutierungsquote der SS liegt im Vergleich zum Deutschen Reich sowie anderen „volksdeutschen“ Gebieten überproportional hoch. Eingesetzt wurden die ersten Freiwilligen in den damaligen „Elitedivisionen“ der Waffen-SS oder in den Wachmannschaften der Konzentrationslager. Später wurden Rekruten eher den Gebirgsjägern zugeteilt oder ab 1943 den Besatzungstruppen in Italien.

In Kurzbiografien und dem ausführlichen Lebenslauf Otto Casagrandes werden Motivation und Einsatz der Südtiroler bei der Waffen-SS anschaulich dargestellt. Daraus ergibt sich eine SS-Geschichte „von unten“, die über die Grenzen Südtirols hinaus einen beispielhaften Blick auf die junge Kriegsgeneration und auf die unteren Dienstränge wirft.

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Zum Autor

Thomas Casagrande, Dr. phil., Lehrer und Studienrat im Hochschuldienst an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Fachbereich Soziologie. Veröffentlichungen: „Die volksdeutsche SS-Division ‚Prinz Eugen'. Die Banater Schwaben und die national-sozialistischen Kriegsverbrechen“ (Campus Verlag, 2003); „Unsere Gegner haben uns als Deutsche kennengelernt“, in: Jan Erik Schulte, Peter Lieb, Bernd Wegner (Hrsg.): „Die Waffen-SS. Neue Forschungen“ (Ferdinand Schöningh Verlag, 2014).

© Edition Raetia, Bozen
Zweite Auflage, 2016
Umschlaggestaltung: Philipp Putzer, www.farbfabrik.it
Korrektur und Lektorat: Ex Libris Genossenschaft, Bozen

Inhalt

Einleitung

Vorgehensweise und Quellenlage

Südtirol in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Südtiroler in der Waffen-SS

Die ersten Freiwilligen

Regionale Herkunft: Korrelation zwischen Italianisierung und Freiwilligenmeldungen

Die erste Welle 1939–1941

Die Zahlen: Südtiroler im europäischen Spitzenfeld

Die Ausbildung: Zwischen Anerkennung und Erniedrigung

Der Einsatz: Divisionen, Konzentrationslager, Kriegsverbrechen

Die zweite Welle 1942–1943

Nachlassende Begeisterung, verstärkte Rekrutierung

Einsatzwunsch Gebirgstruppen: SS-Gebirgsjäger und die 6. SS-Division „Nord“

Die dritte Welle 1943

Gemeinsame SS-Ausbildung der Südtiroler und der Italiener

Exkurs: Südtiroler in der Ordnungspolizei 1943 –1945

Selbstschutz und Polizeiregimenter

Die vierte Welle 1944 – 1945

Die große Rekrutierung der letzten Kriegsphase

Das letzte Aufgebot

Zusammenfassung

VKS-Aktivisten in der Waffen-SS

Fallstudie: SS-Untersturmführer Otto Casagrande

Eine biografische Annäherung

Kindheit und Jugend

Jugendlicher Aktivist und Freiwilliger der ersten Welle

Beim SS-Regiment „Deutschland“

In der SS-Junkerschule Bad Tölz

Bei der italienischen Waffen-SS

Exkurs: Casagrandes Vorgesetzter Alois Thaler

Aufstandsbekämpfung in Rodengo Saiano

Nachkriegszeit

Im Kriegsgefangenenlager Rimini

Exkurs: Die Nazikarriere des Hartmann Lauterbacher

Südtiroler Fluchthilfe und Bundesnachrichtendienst

Exkurs: Der Geheimdienstmann Hartmann Lauterbacher

Ruhige Jahre

Zusammenfassung

Persönliches Nachwort: Ich bin halb von da

Kurzer Leitfaden der Recherche

Anmerkungen

Anhang

Danksagung

Divisionen und Einheiten der Waffen-SS

Tabelle der Dienstgrade

Abkürzungsverzeichnis

Literatur

Quellen und Archivmaterial

Bildnachweis

Ortsregister

Personenregister

Einleitung

„Südtiroler in der Waffen-SS“ ist ein Versuch, die unterschiedlichen Herangehensweisen an das Thema Nationalsozialismus und Drittes Reich miteinander zu verbinden. Die Geschichte Südtirols in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde oft erzählt und vielfältig analysiert. Auf die bahnbrechende Arbeit von Karl Stuhlpfarrer zur Option1, wie die erzwungene Volksabstimmung der Südtiroler über den Verbleib in Italien oder die Auswanderung ins Deutsche Reich genannt wurde, folgten viele Publikationen, die die entscheidenden Momente der Südtiroler Geschichte nachzeichneten. Obwohl sich dabei die Aufmerksamkeit jüngst auch auf die Südtiroler Kriegsfreiwilligen gerichtet hat2, fehlt eine genauere wissenschaftliche Erforschung ihrer Verwendung und ihres Kriegseinsatzes. Ebenso wie die Geschichte Südtirols ist die Geschichte der Waffen-SS Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Jüngere Arbeiten haben der Analyse der Rolle der Waffen-SS innerhalb des Deutschen Reichs weitere Aspekte hinzugefügt. So wurde der Blick auf die Zusammensetzung der Waffen-SS verstärkt und dabei die Bedeutung der sogenannten Volksdeutschen und germanischen Freiwilligen bzw. die der „Europäisierung“ der Waffen-SS in den Mittelpunkt gerückt.3 Insofern versucht die vorliegende Arbeit, eine weitere Perspektive zum Verständnis der Waffen-SS im Allgemeinen und ihrer Verbindung mit den Volksdeutschen im Besonderen hinzuzufügen. Dabei zeigt sich, dass eine für die damalige Zeit und den historischen und politischen Kontext bedeutsame Unterscheidung in Reichsdeutsche und Volksdeutsche mit Blick auf Südtirol problematisch ist. Der Begriff „Volksdeutsche“ wurde für Personen verwendet, die ethnisch oder kulturell als Deutsche angesehen wurden, aber außerhalb des Deutschen Reiches lebten und nicht im Besitz der reichsdeutschen Staatsangehörigkeit und somit keine „Reichsdeutschen“ waren. Die aus der Sicht des Deutschen Reichs und anderer Staaten einleuchtende Unterscheidung verschwimmt im Fall Südtirols. Durch die mit der Option verbundene Einbürgerung ins Deutsche Reich wurden die Südtiroler zwar formal „Reichsdeutsche“, in Bezug auf ihre Motivationsstruktur und ihre Situation in ihrer Heimat Südtirol unterschieden sie sich aber wenig von anderen „Volksdeutschen“.4 Es wird also zu sehen sein, inwieweit hinter dem offiziellen Blick auf die nun als „Reichsdeutsche“ gehandelten Südtiroler in der Waffen-SS klassische „volksdeutsche“ Probleme bzw. Aspekte sichtbar werden.

Darüber hinaus soll die Analyse der Verbindung von Waffen-SS und Volksdeutschen im Allgemeinen und in Südtirol im Besonderen um einen biografischen Blick erweitert werden. Die bisher über die Waffen-SS vorliegenden Biografien konzentrieren sich auf Vertreter der Führungselite.5 Die höheren SS-Führer rekrutierten sich in der überwiegenden Zahl aus den Jahrgängen 1908 und älter.6 Über die jüngeren Waffen-SS-Generationen gibt es nur wenige Arbeiten. Die Biografie Joachim Peipers, Jahrgang 1915 und jüngster SS-Standartenführer, ist hier eine Ausnahme.7 Noch jüngere Jahrgänge spielten lange Zeit in den Untersuchungen nur eine untergeordnete Rolle, obwohl sie für die Mannschaftsdienstränge, das Unterführerkorps und die unteren Offiziersränge von entscheidender Bedeutung waren. So war im Juni 1944 der jüngste Oberstleutnant 25 Jahre alt. Das bedeutet, dass niemand der 1919 und später Geborenen zu diesem Zeitpunkt über diesen Rang hinausgekommen ist.8 Mit René Rohrkamps Buch „Weltanschaulich gefestigte Kämpfer“ liegt eine Arbeit vor, die das Versäumte umfassend aufarbeitet, aber auch nur kleine biografische Ansätze bietet.9 Die Vernachlässigung einer SS-Militärgeschichte von unten ist sicherlich auch auf die traditionelle Konzentration militärischer Forschung auf die an der Spitze der Hierarchie stehenden Entscheidungsträger zurückzuführen.10 Zum anderen muss festgestellt werden, dass der biografische Blick im Sinne einer „Geschichte von unten“ schwierig ist. Bei niedrigeren Diensträngen liegen weniger aussagekräftige Dokumente vor, was mit ihrer geringeren Bedeutung für die militärische Führung und Bürokratie zusammenhängen kann. Zudem sind diese Dokumente, wenn in Archiven vorhanden, weit verstreut und schwierig zu recherchieren. Wichtiges zusätzliches Material in Form von Briefen und Bildern ist meist im Privatbesitz von Familienangehörigen. Außerdem unterliegen personenbezogene Dokumente strengen Datenschutzbestimmungen, die eine wissenschaftliche Auswertung biografischer Hintergründe erschweren.

Den bestehenden Mangel an biografischen Informationen über die jüngeren Jahrgänge mit Hilfe von Interviews zu füllen, ist problematisch.11 Eine Oral History ist nicht aus dem Zusammenhang von Anklage und Verteidigung zu lösen. Aussagen von Mitgliedern der Waffen-SS sind mit Vorbehalt zu lesen, nicht nur wegen einer womöglich erfolgten Verdrängung, sondern auch wegen der mit dem Eingeständnis einer Teilnahme an Kriegsverbrechen verbundenen Gefahr einer moralischen und juristischen Anklage durch Dritte.12

Mit der vorliegenden Arbeit soll der Versuch einer biografischen Fallstudie unternommen werden, die in erster Linie auf Archivmaterial fußt. In der Biografie des SS-Freiwilligen Otto Casagrande soll der Einsatz der Südtiroler in der Waffen-SS exemplarisch und anschaulich dargestellt werden. Wo angebracht, wird auf Nachkriegszeugnisse zurückgegriffen, wobei diese dem gesammelten Archivmaterial gegenübergestellt werden.

Otto Casagrande, Vater des Verfassers, wurde am 28. November 1919 in Leifers bei Bozen geboren und verstarb am 24. April 1990 auf einem SS-Treffen der 9. Kompanie des SS-Regiments „Deutschland“ in Ernst bei Cochem an der Mosel. Er durchlebte nicht nur alle im ersten Kapitel des Buches skizzierten Entwicklungen der Südtiroler Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er durchlief als SS-Freiwilliger des Jahres 1940 auch die zentralen Momente von Ausbildung, Einsatz und Beförderung innerhalb der Waffen-SS. In diesem Sinn kann seine Biografie über die engen Grenzen Südtirols hinaus auch als eine exemplarische SS-Geschichte „von unten“ in Zeiten des Krieges verstanden werden. Darüber hinaus kann an diesem konkreten Beispiel die Bedeutung der SS für deren Mitglieder auch nach dem Krieg bis in die Zeit der Bundesrepublik Deutschland herauf bis zu einem gewissen Grad nachempfunden werden. Grundsätzlich ist der Versuch eines Sohnes, die Biografie seines Vaters zu schreiben, ein schwieriges Unterfangen. Im Falle der Geschichte der SS gilt dies in besonderem Maße. Trotzdem soll der Versuch unternommen werden. Der Leser mag entscheiden, ob er gelungen ist.

Der Aufbau der Arbeit ergibt sich aus den bisher angestellten Überlegungen. In einem ersten Schritt soll schon Bekanntes zusammengefasst und die wichtigsten Ereignisse in Südtirol in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dargestellt werden. Dieses Kapitel ist als kurzer Überblick gedacht. Er richtet sich vor allem an diejenigen Leser, die nicht aus Südtirol stammen bzw. mit der Geschichte Südtirols wenig vertraut sind, damit sie die später folgende detaillierte biografische Ausführung in einen größeren Rahmen einordnen können. An diesen Überblick schließt sich eine Darstellung des dieser Arbeit zugrunde liegenden Zahlenmaterials und der gewählten Vorgehensweise an. Dieses Kapitel wird vor allen Dingen für die an Recherche und wissenschaftlicher Arbeit interessierten Leser von Bedeutung sein. Für alle anderen ist er aber für das Verständnis der folgenden Ausführungen nicht zwingend und mag deswegen von ihnen auch übersprungen werden. Im Kapitel „Südtiroler in der Waffen-SS“ sollen sowohl die Rekrutierungen, beginnend mit der Option und den ersten Freiwilligen-Meldungen sowie der Werbung für die Waffen-SS, als auch deren Fortsetzung im weiteren Kriegsverlauf dargestellt werden. Gegenstand wird dabei sowohl die Herkunft der Südtiroler Freiwilligen als auch deren Verwendung in den verschiedenen Waffen-SS-Einheiten sein. Der biografische Teil beginnt mit einem Blick auf einen Brief des Leiters der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland (AdO) an Heinrich Himmler von 1942, in dem er eine Reihe von Südtiroler Aktivisten, die zu diesem Zeitpunkt schon in der Waffen-SS dienten, für die SS-Führerlaufbahn empfahl. Die Auswertung dieses Briefes geschieht in Form einer „Sammelbiografie“, in der die Lebensläufe der 19 Südtiroler miteinander verglichen werden sollen. Auf die Analyse des Briefes folgt die Darstellung der bereits angekündigten Biografie Otto Casagrandes, der einer der dort empfohlenen Führeranwärter war und der ab 1944 als Adjutant Alois Thalers, dessen Name sich ebenfalls auf der genannten Liste befand, in Norditalien an Ausbildung und Aufbau der italienischen Waffen-SS beteiligt war. In der so detailliert wie möglich erzählten Biografie Otto Casagrandes, in der auch Alois Thaler seinen Platz haben wird, werden die wesentlichen Aspekte der Südtiroler Geschichte und der Waffen-SS aufgegriffen und am Beispiel einer Person veranschaulicht. Etwaige Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf Motivationsstruktur, Wertvorstellungen und Karrierehoffnungen sollen dabei ebenso aufgezeigt werden wie die gemeinsamen Einsätze der Südtiroler über Generationengrenzen und über Führer- und Mannschaftsdienstgrade hinweg.

Die Rolle der Waffen-SS in der Geschichte Südtirols wird in der biografischen Darstellung Otto Casagrandes gespiegelt. Dadurch soll sichtbar werden, welchen Stellenwert die Südtiroler Geschichte für das Verständnis der Kontinuitäten nationalsozialistischer Politik von ihren Anfängen über den Zweiten Weltkrieg und die Zeit danach besitzt.

In diesem Zusammenhang wird auch ein detaillierter Blick auf einen 1909 geborenen Tiroler, den stellvertretenden Reichsjugendführer und Gauleiter Hartmann Lauterbacher zu werfen sein. Dies nicht allein wegen seiner Stellung im Nationalsozialismus, sondern darüber hinaus wegen seiner Rolle im Geflecht von Fluchthilfe, Geheimdiensten und Kameradschaften in der Nachkriegszeit, die für einige Südtiroler, so auch Otto Casagrande, von nicht unerheblicher Bedeutung war.

Vorgehensweise und Quellenlage

Der Blick auf die Verwendung der Südtiroler in der Waffen-SS gründet zum einen auf der Auswertung von Listen und Zusammenstellungen des Ergänzungsamtes der Waffen-SS, der amtlichen Deutschen Ein- und Rückwanderungsstelle (ADERSt) und anderer Dienststellen. Zum anderen wurden die in Bozen im gemeinsamen Bestand des Völkischen Kampfrings Südtirol (VKS) und der Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland (AdO) auffindbaren Listen von Südtiroler Freiwilligen analysiert. Allerdings ist das genannte Material nicht vollständig und auch nur für die Anfangszeit des Krieges aussagekräftig.

Die vorliegende Darstellung soll aber auch eine Annäherung an einen möglichst präzisen zahlenmäßigen Überblick über Südtiroler in der Waffen-SS bieten. Annäherung deshalb, da die spezielle Situation der Südtiroler sie einerseits als Volksdeutsche ausweist, sie andererseits als neu eingebürgerte Reichsdeutsche in der Masse der Soldaten von Wehrmacht und Waffen-SS nicht mehr als Südtiroler kenntlich werden lässt. Die Südtiroler wurden, wie auch andere deutschsprachige Bevölkerungsgruppen, die außerhalb des Deutschen Reichs lebten, bis zum Anschluss Österreichs als „volksdeutsch“ bezeichnet, wie beispielsweise auch die Elsässer in Frankreich. Obwohl ein großer Teil der deutschsprachigen Bevölkerung aus den annektierten Gebieten ab 1938 und später während des Krieges im Zuge der Ausdehnung des Deutschen Reichs mit reichsdeutschen Pässen eingebürgert wurde, blieb der Begriff weiter für sie gebräuchlich.13 Ihr Einsatz wurde während des Krieges – anders als der von Volksdeutschen aus etwa Südosteuropa, die nicht eingebürgert wurden – von den Ergänzungsstellen aufgrund der Einbürgerung aber nicht konsequent als „volksdeutsch“ ausgewiesen.

Es gibt nur eine Aufstellung des SS-Ergänzungsamtes von Mai 1940, wo neben der Auflistung der Volksdeutschen auch zwischen Reichsdeutschen aus dem Altreich (Grenzen vom 30. Januar 1933) und Reichsdeutschen aus den annektierten Gebieten bei der Verteilung auf die SS-Ergänzungseinheiten unterschieden wird.14 Die Fokussierung der damaligen Statistik auf die Anfangszeit des Krieges bei der genauen Auflistung der wehrfähigen Südtiroler gilt auch für die Übersichtspläne der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwanderungsstelle. Nur in ihrem ersten Bericht werden die Eintritte zur SS und zur Wehrmacht gesondert ausgewiesen. Die dabei angegebenen Zahlen weichen nur geringfügig von denen der Aufstellung des SS-Ergänzungsamtes von Mai 1940 ab15, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sie weitgehend die wirklichen Zahlen wiedergeben. In weiteren Erhebungen werden, wie auch bei anderen mit der Südtiroler Volksgruppe befassten Stellen, nur gemeinsame Zahlen zu Wehrmacht und SS angegeben.16 Eine Ausnahme sind die überlieferten Gefallenenlisten, die aber aufgrund ihrer Unvollständigkeit ebenfalls keine Grundlage für eine differenzierte Erfassung abgeben.17

Um trotzdem den Werdegang und den Kriegseinsatz der Südtiroler in der Waffen-SS über die Zeit nach Mai 1940 hinaus nachzeichnen zu können, hat der Verfasser als Ergänzung zum sonstigen erhaltenen Schriftgut die im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck vorhandenen militärischen Suchkarten ausgewertet.18 Militärische Suchkarten wurden von den Wehrmeldeämtern angelegt, um Rekrutierung, Einsatz und Versetzung der jeweiligen Soldaten nachvollziehen zu können. Die Ergänzungsämter bekamen das Karteimaterial bei Anfragen zugesandt. Die militärischen Suchkarten im Tiroler Landesarchiv sind auf unterschiedliche Bestände aufgeteilt. Der größte Teil der Suchkarten zu den von der Wehrerfassung betroffenen Südtirolern befindet sich in 31 Schachteln. Die Gesamtzahl der darin enthaltenen militärischen Suchkarten wurde vom Archiv nicht erfasst. Eine stichprobenartige Zählung des Verfassers von vier Schachteln ergab jeweils zwischen 1.050 und 1.250 Suchkarten, sodass von einem Gesamtbestand zwischen 33.000 und 36.000 Suchkarten ausgegangen werden kann. Erschwerend für die Bestandsaufnahme der Südtiroler in der Waffen-SS kommt hinzu, dass bei personenbezogenen Anfragen in Bezug auf Südtiroler die jeweiligen militärischen Suchkarten von Sachbearbeitern in den Bestand der Österreicher einsortiert wurden. Dieser wesentlich umfangreichere Bestand an militärischen Suchkarten von über 100 Schachteln und ca. 125.000 militärischen Suchkarten umfasst dadurch neben den Suchkarten zu überwiegend österreichischen Wehrfähigen aus Nordtirol auch eine nennenswerte Anzahl von Suchkarten zu Südtirolern. Neben diesem Bestand gibt es noch zwei Schachteln mit den Suchkarten zu Südtiroler Gefallenen. Trotzdem kann bei den im Archiv vorliegenden Sammlungen militärischer Suchkarten nicht von Vollständigkeit ausgegangen werden.19

Bei der Auswertung der genannten Bestände konnten insgesamt 2.036 Südtiroler ermittelt werden, deren militärische Suchkarten mit den Siegrunen „SS“ gekennzeichnet wurden. Alle enthalten den Vor- und Nachnamen und bis auf vereinzelte Ausnahmen auch das Geburtsdatum, den Geburtsort und das Datum der Wehrerfassung. Bei der überwiegenden Mehrheit der militärischen Suchkarten ist die erste Verwendung der jeweiligen Mitglieder der Waffen-SS mit Divisionsoder Regimentsnamen vermerkt. Angaben in Bezug auf den Wechsel zu anderen SS-Einheiten sind auf den Karten häufig in Form von Feldpostnummern zu finden, deren Entschlüsselung wesentlich dazu beitrug, dass über die gesamte Zeit des Krieges hinweg die Verwendung nachvollzogen werden konnte. Mit zunehmendem Verlauf des Krieges nehmen die Eintragungen zahlenmäßig allerdings ab, sodass sich das Zahlenmaterial etwa ab März 1944 verringert.

Was lässt sich nun vor dem Hintergrund der gesammelten militärischen Suchkarten über die Gesamtzahl der Südtiroler in der Waffen-SS sagen?

Wie bereits ausgeführt, gibt es keine vollständigen Listen der Militärverwaltung über die in der Waffen-SS dienenden Südtiroler. Um die Gesamtzahl der in der Waffen-SS eingesetzten Südtiroler über die Auswertung der militärischen Suchkarten annähernd verlässlich schätzen zu können, ist es notwendig, einige Vergleiche zwischen den militärischen Suchkarten und anderen Quellen zu ziehen. Wie bereits erwähnt, gibt es nur zwei aussagekräftige Übersichten über die Südtiroler in Wehrmacht und Waffen-SS. Beide stammen aus dem Jahr 1940. Das SS-Ergänzungsamt, befasst mit der Gewinnung von Rekruten für den Ausbau der Waffen-SS, legte eine Statistik über die Zusammensetzung der SS-Ersatzeinheiten vor, aus denen regionale Herkunft und Alter abzulesen sind. Die Amtliche Deutsche Ein- und Rückwandererstelle war dem Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums und gleichzeitig Reichsführer-SS Heinrich Himmler unterstellt. Die ADERSt regelte die mit der Option verbundene Auswanderung der Südtiroler und legte für September 1941 eine Übersicht vor, die die Verteilung der Südtiroler auf Wehrmacht und Waffen-SS enthält. Stellt man beiden Statistiken die Anzahl der in Innsbruck für diesen Zeitraum gefundenen militärischen Suchkarten gegenüber, ergibt sich ein recht klares Zahlenverhältnis. Mithilfe der militärischen Suchkarten konnten für die Zeit bis Mai 1940 47 % und für die Zeit bis September 1940 gar 57 % der von den genannten Dienststellen nur summarisch erfassten Südtiroler der Waffen-SS namentlich identifiziert werden.

Allerdings gibt es in Bezug auf die einzelnen SS-Divisionen zwischen der Übersicht des SS-Ergänzungsamtes und der Anzahl der vorhandenen militärischen Suchkarten große Unterschiede. So liegen für die auf der Liste gezählten Mitglieder der Verfügungstruppe de facto 100 % der militärischen Suchkarten vor, während es bei den Totenkopfverbänden mit nur 14,7 % und bei der SS-Polizei mit gar nur 12,8 % wesentlich weniger sind. Andere einzelne Stichproben des Verfassers, die er mithilfe der Namen bekannter Südtiroler Mitglieder der Waffen-SS vornehmen konnte, weisen hingegen wesentlich höhere Prozentzahlen auf. So fanden sich von den 19 Südtirolern, die 1942 vom Volksgruppenführer Peter Hofer für die Führerlaufbahn der SS empfohlen wurden, knapp 90 % bei den militärischen Suchkarten in Innsbruck, und von acht Südtiroler Mitgliedern der Waffen-SS aus dem Unterland, die von der AdO Anfang 1940 auf einer Freiwilligenliste geführt wurden, konnten gar 100 % der militärischen Suchkarten in Innsbruck gefunden werden.

Bevor nun die verschiedenen Prozentzahlen zusammengeführt werden, soll der Blick um einen weiteren Archivbestand erweitert werden. Erst seit einigen Monaten befinden sich im Südtiroler Landesarchiv in Bozen die Unterlagen der Landesleitung des Südtiroler Kriegsopfer- und Frontkämpferverbandes (SKFV) und einiger anderer Vereine, wie z. B. des „Kameradenkreises Südtirol“ der ehemaligen Gebirgstruppen. Im Kern handelt es sich um 60 Archivkartons mit ca. 400 Aktenbündeln. Diese Faszikel bestehen aus Briefen, Verbandsnotizen, Pensionsunterlagen und Vermisstenanzeigen. Die Faszikel sind weder nach den unterschiedlichen Wehrmachtsteilen oder der Waffen-SS noch alphabetisch oder geografisch geordnet. Auch bei diesem Bestand muss aus der Summe der Einzelinformationen auf das Ganze geschlossen werden, da keine Listen zur Zugehörigkeit vorliegen und der Bestand als unvollständig zu betrachten ist. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich bei den nach Auflösung des Frontkämpferverbandes weiterbestehenden Ortsgruppen noch weiteres Material befindet. Der Bestand im Landesarchiv in Bozen ist inzwischen verzeichnet, konnte aber für die vorliegende Untersuchung nicht umfassend durchforstet werden. Insgesamt wurden 27 der 400 Faszikel bearbeitet, wobei versucht wurde, die aussagekräftigsten in Bezug auf den zweiten Weltkrieg durchzusehen. In den 27 Faszikeln konnten insgesamt 41 Waffen-SS-Mitglieder ermittelt werden.20 Beim Vergleich dieser Stichprobe mit den militärischen Suchkarten aus Innsbruck konnten 19 der 41 Südtiroler dort wiedergefunden werden. Dies entspricht einem Anteil von 46 %.

Vergleicht man nun die Auflistungen der Waffen-SS und der ADERSt mit den jeweiligen Prozentzahlen der Stichproben einzelner Zielgruppen und des Frontkämpferverbandes sowie mit den insgesamt 2.036 gefundenen militärischen Suchkarten, so lässt sich folgern, dass die Gesamtzahl der Südtiroler in der Waffen-SS in etwa zwischen 3.500 und 5.000 gelegen haben dürfte.21 Über die gefallenen Südtiroler in der Waffen-SS lässt sich keine belastbare Zahlenangabe machen. Deswegen sei an dieser Stelle nur auf die durchschnittlichen 34 % verwiesen, die die Forschung für Einheiten der Waffen-SS insgesamt angibt.22 Somit kann von 1.200 bis 1.700 gefallenen Südtirolern in der Waffen-SS ausgegangen werden.

Während in Bezug auf die Gesamtzahl der Südtiroler in der Waffen-SS nur Schätzungen möglich sind, lässt sich hingegen mithilfe des genannten Materials ein genaues Bild der Strukturen der Verwendung der Südtiroler aufzeigen. Die gut 2.000 militärischen Suchkarten wurden vom Verfasser in Bezug auf die Herkunftsorte, die Rekrutierung der einzelnen Jahrgänge und ihre Zugehörigkeit zu den verschiedenen Waffen-SS-Einheiten vollständig ausgewertet und auf ihre Aussagefähigkeit überprüft. Das Ergebnis findet sich im Kapitel „Südtiroler in der Waffen-SS“. Auch lassen sich von den vorhandenen militärischen Suchkarten wiederum Schätzungen zur Anzahl der Südtiroler in einzelnen Einheiten und Einsatzorten ableiten, die als solche im Text mit Prozentzahlen ausgewiesen werden. Für eine bessere Lesbarkeit werden die jeweiligen Mengenangaben zu den vorhandenen militärischen Suchkarten als Endnoten ausgewiesen, so dass der interessierte Leser die Datenbasis des Dargestellten detailliert nachvollziehen kann.

Für die genauere Betrachtung der vom Volksgruppenführer Peter Hofer für die SS-Führerlaufbahn empfohlenen 19 Südtiroler wurden zusätzlich zu den militärischen Suchkarten aus Innsbruck die dortigen Optionsakten und darüber hinaus weiteres Material der „Deutschen Dienststelle (WASt)“23 in Berlin und die personenbezogenen Unterlagen der im Bundesarchiv Berlin verwahrten Bestände des Berlin Document Center (BDC) analysiert. Wegen datenschutzrechtlicher Vorgaben konnten die personenbezogenen Informationen jedoch bis auf Ausnahmen nur anonymisiert verwendet werden.

Dies gilt nicht für die biografische Skizze zu Otto Casagrande. Die in 20 Jahren vom Verfasser in verschiedenen Archiven gesammelten Dokumente wurden noch durch private Briefe und Fotografien ergänzt. Die so gewonnenen Quellen werden, wo möglich, durch Informationen aus den Gesprächen mit Zeitzeugen ergänzt. Wo angebracht, fügt der Autor die ihm in Erinnerung gebliebenen Darstellungen und Aussagen seines Vaters hinzu.

Südtirol in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Der Ausgang des Ersten Weltkrieges führte zur Auflösung der Kaiserreiche Deutschland und Österreich-Ungarn. Mit deren Niederlage und den damit verbundenen Gebietsabtretungen änderte sich für nennenswerte Teile der deutschsprachigen Bevölkerung Europas die Staatsangehörigkeit. Manche dieser Gebiete, wie etwa Elsass-Lothringen und Nordschleswig, waren erst in den Kriegen von 1866 und 1870/71 vom Deutschen Reich annektiert worden und kamen nun wieder zu Frankreich und Dänemark. Andere Gebiete, wie Westpreußen und Posen, gehörten seit dem 18. und 19. Jahrhundert als Folge des Aufstiegs Preußens zu einer europäischen Macht zum Deutschen Reich. Ebenso wie Gebiete mit deutschsprachiger Bevölkerung, die bis Ende des Ersten Weltkrieges Teil der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie waren, wie das Sudetenland, das Banat und Siebenbürgen, wurden sie nach dem Ersten Weltkrieg zu Minderheiten in den neu gegründeten Nationalstaaten Tschechoslowakei, Polen, Rumänien und Jugoslawien. Auch Südtirol gehörte zu den Gebieten, die Österreich nach dem Vertrag von Saint-Germain 1919 abtreten musste. Seit den Anfängen der deutschsprachigen Besiedlung im 7. Jahrhundert war es mehrheitlich deutschsprachig geprägt.24 Mit nur kleinen ladinischen Einsprengseln – Überreste der alten rätoromanischen Besiedlung – und wenigen italienischen Einwanderern25 war Südtirol zusammen mit Nordtirol und dem mehrheitlich italienischsprachigen Trentino innerhalb des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation) und dann der Habsburger Monarchie Teil der Grafschaft Tirol.26 Somit war Südtirol weder ein von verschiedenen Staaten oder Bevölkerungsgruppen umkämpftes Gebiet noch Ergebnis einer Ansiedlung deutschsprachiger Siedler in der jüngeren Vergangenheit oder gar eine „Sprachinsel“ in „fremdsprachiger Umgebung“, wie dies etwa bei den Donauschwaben oder den Gottschee-Deutschen der Fall war.27

Mit dem Aufstieg Mussolinis und des Faschismus in den 1920er-Jahren begann eine massive Einwanderungspolitik und eine damit verbundene (Zwangs-)Italianisierung Südtirols bis hin zur Auflösung der deutschsprachigen Schule und Verwaltung.28 Der Widerstand der deutschsprachigen Südtiroler reichte vom Aufbau illegaler deutscher Schulen, den Katakombenschulen, bis hin zu geheimen politischen Vereinen29 und erhielt durch die Erfolge der Nationalsozialisten in Deutschland Aufwind. Überall, wo in Europa eine deutschsprachige Bevölkerung lebte, entstanden nach 1933 Organisationen, die sich direkt am Nationalsozialismus orientierten und vom neuen Deutschen Reich unterstützt wurden.30 In Südtirol war dies im Jahr 1934 der Völkische Kampfring Südtirol (VKS).31 Wie auch die „nationalsozialistischen“ Organisationen anderer deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen setzte der VKS auf die vom Deutschen Reich ausgerufene „Heim ins Reich“-Politik.32 Die ersten Erfolge wie der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland schürten diese Hoffnung. Als im März 1938 mit Österreich, umbenannt in Ostmark, das Großdeutsche Reich begründet und dann im September des gleichen Jahres das Sudetenland annektiert wurde, war nicht nur der VKS, sondern der überwiegende Teil der 250.000 Südtiroler davon überzeugt, dass auch ihre Heimat bald folgen und Großdeutschland angeschlossen würde.33 Die Südtiroler unterschätzten die Bedeutung Mussolinis für die nationalsozialistische Politik. Ihre Hoffnung auf eine Angliederung an das Großdeutsche Reich erfüllte sich nicht. Sie wurden vielmehr vor die Wahl gestellt, für Deutschland zu optieren oder italienische Staatsbürger zu bleiben, und zwar mit allen Pflichten gegenüber dem italienischen Staat. Die rund um die Option stattfindenden Auseinandersetzungen sind für Südtirol vielfältig dokumentiert.34 Der Kampf der Optanten gegen die Dableiber, die Politik und Einflussnahme der verschiedenen Organe des Deutschen Reichs, die Repressionen der faschistischen Behörden führten zu einer unübersichtlichen Situation. Über die Regularien und Durchführungsbestimmungen der Option gab es zähe Verhandlungen zwischen den italienischen und den deutschen Behörden. Im Sommer 1939 kam es zu einer Verschärfung der Optionsbedingungen, die für einen Teil der Südtiroler, besonders aber für die Kriegsfreiwilligen von Bedeutung war. Überrascht von dem sich abzeichnenden unerwartet hohen Optionsergebnis für Deutschland, versuchten die italienischen Behörden, ihren Zugriff auch auf Südtiroler mit italienischen Familiennamen auszudehnen.35 Der Kampf um sogenanntes „verschüttetes oder schwebendes Volkstum“ fand nicht nur in Südtirol, sondern auch in anderen Gegenden Europas zwischen den verschiedensprachigen Volksgruppen statt. Namensanalysen waren ein weit verbreitetes Mittel, Menschen aus Mischehen für die jeweils eigene „Volksgruppe“ in Anspruch zu nehmen und ihnen eine „objektiv“ falsche Entscheidung in Bezug auf ihre Nationalität zu unterstellen, falls sie sich widersetzten.36 Für die Südtiroler mit italienischen Familiennamen bedeutete dies, dass der in den Optionsverhandlungen festgelegte Anspruch des italienischen Staates auf italienische Bürger auch auf sie ausgedehnt werden sollte.

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Studentenferienlager des Völkischen Kampfrings Südtirol (VKS) auf einer Alm, 1935. Stehend der Bozner VKS-Aktivist Norbert Mumelter.

Nachdem der Verbleib Südtirols bei Italien nicht mehr zu verhindern war, vertrat der VKS die Position, dass nur durch ein überwältigendes Ergebnis bei der Option die Verbindung Südtirols zum Deutschen Reich aufrechterhalten und eine spätere „Heimkehr“ ins Reich nach siegreichem Ausgang des Krieges nicht ausgeschlossen bleiben würde.37 Am Ende optierten 86 % aller Südtiroler für Deutschland, von denen über 70.000 im Zuge des Optionsprozesses ihre Heimat verließen.38 Obwohl Südtiroler aller Schichten, Besitzverhältnisse und Altersgruppen für Deutschland optierten, lässt sich doch behaupten, dass prozentual mehr Besitzende und Wohlhabende sich für das „Dableiben“ entschieden und mehr Mittellose und Ärmere Optanten waren.39 Das sich aus den amtlichen Statistiken ergebende Bild spiegelt sich in den Aussagen von Zeitzeugen wider. Treffend hierzu Fritz Kieser aus Bozen, Jahrgang 1920 und Freiwilliger der Waffen-SS, in seinen Erinnerungen: „Ich hatte keinen Besitz, also würde ich sowieso für Deutschland optieren.“40 Auch für die Südtiroler im wehrpflichtigen Alter war die Option besonders attraktiv, stellte sie doch eine Möglichkeit dar, dem italienischen Militär zu entgehen und stattdessen in der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS zu dienen.41 Darüber hinaus schien der endgültige Erfolg des Deutschen Reiches nach dem Sieg über Polen 193942 und den Niederlagen Frankreichs und der britischen Streitkräfte 1940 nur eine Frage der Zeit, so dass manche junge Südtiroler förmlich auf ihren Kriegseinsatz drängten. Dies drückte sich auch in den freiwilligen Meldungen aus, die im September 1940 ihren Höhepunkt fanden und danach abebbten. Mit Beginn des Krieges gegen Russland 1941 sank auch in Südtirol die Begeisterung, die Unabkömmlichkeitsanträge der Südtiroler im kriegstauglichen Alter nahmen zu.43

Anders als der Kriegsverlauf, der 1943 nach den Niederlagen an der Ostfront und in Afrika – aus deutscher Sicht – eine schlechte Wende genommen hatte, brachte das Jahr 1943 – aus Südtiroler Sicht – eine durchaus positive Entwicklung.44 Die lang gehegte und 1938 enttäuschte Südtiroler Hoffnung auf einen Anschluss an das Großdeutsche Reich wurde vorübergehend Wirklichkeit. Mit dem italienisch-amerikanischen Waffenstillstand und der Absetzung Mussolinis begann die Besetzung Italiens und damit auch Südtirols durch die deutsche Wehrmacht. Für viele Südtiroler war dieser 8. September 1943 zum einen der lang ersehnte Tag der Befreiung,45 zum anderen änderte sich damit ihre Bedeutung für die deutsche Militärplanung46: Waren Südtiroler bis dahin als Ersatz für die kämpfende Truppe an den verschiedenen Fronten eingesetzt, bekamen sie nun eine neue Rolle für die Besatzungspolitik in Italien. So wurde nicht nur der Südtiroler Ordnungsdienst (SOD) gegründet und für Polizeiaufgaben in Italien eingesetzt.47 Auch beim Versuch, eine italienische SS aufzubauen, waren Südtiroler aufgrund ihrer italienischen Sprachkenntnisse von Bedeutung.

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Die VKS-Spitze bei der Auswertung des Optionsergebnisses am 1. Januar 1940. Hinter der Rechenmaschine der Landesführer Peter Hofer.

Als sich dann 1945 die letzte Hoffnung überzeugter Nationalsozialisten kurzzeitig auf das Phantasma einer Verteidigungsstellung in den Alpen, die sogenannte Alpenfestung, konzentrierte, war wiederum Südtirol im Gespräch. Aber auch jenseits der nicht realisierten Endkampffantasien spielte Südtirol 1945 eine wichtige Rolle, und zwar für die Nationalsozialisten, die nun flüchten mussten. Es gab in Südtirol nach wie vor Teile der deutschsprachigen Bevölkerung, die dem Nationalsozialismus verhaftet blieben und die sich schwer mit dem Gedanken anfreunden konnten, nun endgültig dem italienischen Staat anzugehören. Zudem blieben viele Südtiroler, die in der Waffen-SS gedient hatten oder beim VKS aktiv waren, vorerst in ihrer Heimat und waren so Ansprechpartner und Helfer der gesuchten Nationalsozialisten.48 Mit den sich dann langsam etablierenden Fluchtwegen über Rom nach Lateinamerika wurde Südtirol zur entscheidenden Transitetappe.49 Aber nicht alle der über Südtirol flüchtenden Nationalsozialisten traten auch wirklich die weite Reise an. Mit dem sich abzeichnenden Kalten Krieg gewannen ehemalige Spezialisten in der Bekämpfung der Sowjetunion für die Westalliierten an Bedeutung. Vor allen Dingen die amerikanischen Geheimdienste rekrutierten so ihre Informanten und bauten den ersten deutschen Geheimdienst, die Organisation Gehlen, auf.50 Auch Südtiroler arbeiteten mit.

Südtiroler in der Waffen-SS

Weil die Waffen-SS bei der Rekrutierung innerhalb des Deutschen Reichs den Wehrmachtsteilen Heer, Marine und Luftwaffe den Vortritt lassen musste, richtete sich ihr Blick mit Beginn des Krieges zunehmend auf die Volksdeutschen. Die Fantasie des SS-Brigadeführers und Chefs des Ergänzungsamtes der Waffen-SS Gottlob Berger kannte dabei im August 1940 keine Grenzen. Er ließ seinen Blick bis nach Nordamerika und Kanada schweifen, wo er für die Zukunft über fünf Millionen Volksdeutsche ausmachte, die für die Waffen-SS zur Verfügung stünden. Daneben aber richtete sich sein praktisches Augenmerk auf die Volksdeutschen Europas, bei deren Rekrutierung für die Waffen-SS er seitens der Wehrmachtsteile wenig Bedenken erwartete.51 Bei der bereits zitierten Aufstellung des Ergänzungsamtes der Waffen-SS war bereits einige wenige Monate zuvor, im Mai 1940, eine detaillierte Liste mit Herkunftsländern und der entsprechenden Zuweisung der Rekruten zu den SS-Divisionen erstellt worden.52 Was einen rein numerischen Ansatz vonseiten der SS-Führung vermuten lässt, ergibt bei genauerer Analyse für die betroffenen Volksdeutschen ein differenzierteres Bild.53 So lassen sich analog zur ersten Erhebung auch in den folgenden Jahren mithilfe der Auswertung der militärischen Suchkarten Verwendungsstrukturen der Südtiroler aufzeigen, die jeweils einer eigenen zeitlichen und organisatorischen Logik folgen, sodass im Weiteren von verschiedenen Wellen der Rekrutierung und der Verwendung gesprochen werden kann.

Diese Wellen von den Anfängen in den ersten klassischen Divisionen der Waffen-SS und dem Konzentrationslagersystem über den Einsatz bei der SS-Gebirgsdivision „Nord“ und dann innerhalb Italiens und Südtirols nach dem 8. September 1943 bis hin zum letzten Aufgebot 1944/45 werden im Folgenden dargestellt und analysiert. Dabei soll zu Beginn der Frage nachgegangen werden, ob die frühen Meldungen zur Waffen-SS in einem besonderen Zusammenhang mit der ersten Südtiroler Freiwilligenliste von 1939, bestimmten Geburtsjahrgängen oder auch einzelnen Regionen und dem jeweiligen Optionsverhalten der dortigen Südtiroler stehen.

Die ersten Freiwilligen

Als Ende 1940 das SS-Ergänzungsamt dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler eine Zusammenstellung über die Arbeit der Ergänzungsstellen zuschickte, zählte es rückwirkend bis zum Optionsjahr 1939 insgesamt 105.000 männliche Südtiroler, bei einer deutschsprachigen Gesamtbevölkerung von 250.000. Dabei wurden für den geburtenschwachen Kriegsjahrgang 1918 insgesamt 1.000, für die Nachkriegsjahre 1919 und 1920 einmal 1.550 und noch einmal 2.100 mögliche Rekruten ausgewiesen.54

Im Herbst 1939 hatten 2.028 Südtiroler ihre Option mit einer Eintragung auf einer Freiwilligenliste zum deutschen Militärdienst verbunden. Insgesamt meldeten sich aus den Bezirken Bozen Stadt 229, Bozen Land 264, Brixen 31355, Bruneck 283, Sterzing 80, Obervinschgau 85, Untervinschgau 173, Meran 393, Überetsch 104 und Unterland 104 Südtiroler freiwillig. Dabei entfielen über 75 % auf die Jahrgänge 1918 bis 1922.56 Wirft man einen genauen Blick auf die einzelnen Jahrgänge und vergleicht die Zahlen von Ende 1940 mit der Zusammenstellung des SS-Ergänzungsamtes, dann meldeten sich 0,71 % des Jahrgangs 1918, 25,67 % des Jahrgangs 1919 und 34,6 % des Jahrgangs 1920 freiwillig zum Militärdienst in der Wehrmacht und der Waffen-SS.57

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Südtiroler Freiwillige für Wehrmacht und Waffen-SS vor der Abreise am Bahnhof Brixen, wahrscheinlich 1940.

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Abwanderungsantrag des 18-jährigen Roland Bonatti vom 12. Oktober 1939 als Freiwilliger. Wie viele andere Freiwillige war Bonatti noch minderjährig. Der Antrag musste daher auch vom Vater unterschrieben werden.

Offensichtlich bedeutete die Eintragung auf der Liste weder dass die Genannten auch direkt zum Militärdienst einrückten, noch dass sich zu diesem Zeitpunkt alle SS-Freiwilligen aus Südtirol auf der Liste befanden. So hatten wohl Anfang 1940 auch die örtlichen Abwanderungsstellen den Überblick verloren und konnten keine Angaben machen, welcher Freiwillige sich wo aufhielt bzw. wie und ob er überhaupt abgewandert war.58 Auch lässt sich anhand der Freiwilligenliste noch keine Aussage über die spätere militärische Verwendung machen. Nur für insgesamt 160 Personen, also 8 %59 der Südtiroler Freiwilligen, die auf der Liste noch nicht besonders gekennzeichnet waren, lässt sich der Eintritt in die Waffen-SS nachweisen. Von 86 Freiwilligen – fast ausschließlich der genannten jüngeren Jahrgänge – die schon auf der Liste mit dem Kürzel SS versehen wurden60, kann nur für zehn der Eintritt in die Waffen-SS zwischen Dezember 1939 und Januar 1940 belegt werden.61

Organisiert wurde die Freiwilligenmeldung vom VKS, der auch eine Anweisung zu den Modalitäten der Meldung herausgab.62 Dem entspricht, dass in den Bezirken Brixen, Meran und Unterland die Namen der jeweiligen Kreis- und Ortsleitung an erster Stelle der Freiwilligenlisten standen. Zusammen stellten die drei Bezirke 40 % der ersten Freiwilligen. Insgesamt wurden 16 der Freiwilligen als Leitungsmitglieder ausgewiesen und im Sprachgebrauch des VKS als Kreis-, Gebiets-, Bezirks- oder Ortskameraden gekennzeichnet.63 Manche der ersten Freiwilligen wurden aber auch lange Zeit als unabkömmlich geführt und kamen erst im weiteren Kriegsverlauf in den Wehrdienst, einzelne gar erst Anfang 1944 zu Wehrmacht, Waffen-SS oder Ordnungspolizei bzw. zum Südtiroler Ordnungsdienst (SOD).64 Dies legt nahe, dass sich auf der Freiwilligenliste sowohl „echte“ Freiwillige befanden, die auf einen möglichst schnellen Einsatz drängten, als auch Südtiroler, die eine Zurückstellung bevorzugten.

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Die Jugendgruppe „Das aufrechte Fähnlein“ aus Bozen unter der Leitung von Franz Waldthaler (oben Mitte). Unten links Robert Helm, der als VKS-Aktivist tätig war und sich freiwillig zur Waffen-SS meldete.

Inwieweit stehen nun die freiwilligen Meldungen im Zusammenhang mit dem Optionsverhalten der Südtiroler Bevölkerung?

Der von Wilhelm Luig, SS-Obersturmbannführer und Leiter der ADERst verfasste Bericht mit der Abwanderungsstatistik zum 15. September 1940 nennt sechs Zweigstellen zur Abwanderung.65 Fasst man die auf zehn Bezirke aufgeteilte Freiwilligenliste analog zu den Abwanderungszweigstellen zusammen und unterzieht beide Statistiken einem Vergleich, so fällt auf, dass die Zweigstelle Bozen zusammen mit den Zweigstellen Bozen Land, Überetsch und Unterland mit dem höchsten Anteil von 27,61 % an der Gesamtzahl der „volksdeutschen“66 Optanten auch die Freiwilligenliste anführt und dort mit 34,57 % überrepräsentiert ist. Die Zweigstellen Brixen mit 15,74 % der Optanten und 15,43 % der ersten Freiwilligen, Meran zusammen mit dem Vinschgau 31,55 % der Optanten und 32,10 % der Freiwilligenliste weisen keine nennenswerten Unterschiede zwischen dem Anteil der Optanten und demjenigen der Freiwilligen auf. In den Bezirken Bruneck mit 17,09 % Optanten und 13,95 % der Freiwilligenliste und Sterzing mit 5,26 % der Optanten und 3,95 % der Freiwilligen sind die Freiwilligen hingegen unterrepräsentiert.67

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Gruppenbild der Neumarkter Freiwilligen des Jahrgangs 1919 für Wehrmacht und Waffen-SS im Herbst 1939: Erste Reihe von links Gustl Furlan, Toni Robatscher, Otto Casagrande; zweite Reihe: Toni Lög-Bampi, Kastl, unbekannt, Peppi Menghin, Willi Bampi, Vill, unbekannt.

Diese Zahlen weisen nach, dass zwischen der Meldung zur Waffen-SS und der ersten Freiwilligenliste offensichtlich kein direkter Zusammenhang besteht. Es drängt sich bei der Analyse jedoch die Vermutung auf, dass das ausschlaggebende Motiv für die Eintragung in die Liste in der Hoffnung bestand, dadurch dem italienischen Wehrdienst zu entgehen.68 Neben diesem alle Meldungen verbindenden Moment ergibt sich kein einheitliches Bild. Während die erste Führungsriege des VKS wie Karl Nicolussi-Leck, Otto Waldthaler, Michael Tutzer oder Robert Helm auf der Liste fehlen, finden sich dort andere Aktivisten der illegalen Jugendbewegung wie Willy Acherer, Walter Pernter, Otto Casagrande, Martin Trojer und Roland Bonatti.

Es zeigt sich allerdings, dass sowohl bei den freiwilligen Meldungen als auch in Bezug auf das Optionsverhalten die Bezirke Bozen Stadt, Bozen Land, Überetsch und Unterland überrepräsentiert sind.

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„Die Illegalen“, so die Originalbeschriftung von Martin Trojer auf der Bildrückseite. Es handelt sich wohl um Mitglieder der illegalen deutschen Bewegung aus Naturns, Ende der 1930er-Jahre. Martin Trojer vorne mit Zigarette.

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Martin Trojer führt den „Marsch, um das Deutschtum zu erhalten“ (Originalbeschriftung) an, Ende der 1930er-Jahre.

Regionale Herkunft: Korrelation zwischen Italianisierung und Freiwilligenmeldungen

Wie verhalten sich nun die Zahlen zur regionalen Herkunft der Freiwilligen des Jahres 1939 zur Anzahl der Südtiroler, die sich in der ersten Welle bis Mai 1940 freiwillig zur Waffen-SS meldeten?

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Auffällig ist, dass im Unterschied zu den Bezirken Vinschgau, Brixen und Meran, die deutlich nach unten abweichen, der Bezirk Bozen Stadt und die südlichsten Bezirke Überetsch und Unterland bei den Waffen-SS-Mitgliedern der ersten Welle anteilsmäßig am stärksten vertreten sind.

Dehnt man den Blick auf die Gesamtzahl der bis zum Kriegsende vorliegenden militärischen Suchkarten der Südtiroler aus, so ändert sich der Eindruck nur unwesentlich.

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Der VKS setzte sich nicht nur für eine hohe Anzahl an Optanten ein, sondern auch für möglichst viele Freiwilligenmeldungen: Bezirksübersicht anhand der Freiwilligenliste von 1939.

Hier ist es der Bezirk Meran, der zusätzlich nennenswert nach oben abweicht, neben wiederum den Bezirken Bozen Stadt, Überetsch und Unterland, der auch hier am stärksten vertreten ist. Die Bezirke Bozen Land und Vinschgau hingegen weichen zahlenmäßig deutlich nach unten ab. In der Summe kann aber auch hier festgehalten werden, dass sowohl die Meldungen zu der ersten SS-Freiwilligenwelle bis April 1940 als auch die Meldungen bis Kriegsende keinen besonderen geografischen Schwerpunkt aufweisen, sondern über die genannten Abweichungen hinaus relativ gleichmäßig auf die verschiedenen Südtiroler Bezirke verteilt sind.

Interessant ist bei beiden Erhebungen, dass auch die Anzahl der Abwanderer aus dem Unterland in der Abwanderungsstatistik der „Volksdeutschen“ besonders auffällt. Bis September 1942 waren aus Branzoll 64 %, Leifers 56 %, Salurn 43 %, Auer 40 %, Neumarkt 34 % der volksdeutschen Südtiroler abgewandert. Nimmt man den Ort Kaltern aus dem Überetsch mit 31 % sowie Bozen Stadt mit 53 % hinzu717273