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EIN HERZ UND EINE HÜTTE

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Im Rahmen der Industrialisierung und Auflösung der Kolonien welt-weit versuchten die »neuen Länder« eine schnelle Umwandlung der wirtschaftlichen Lage, um das gleiche Niveau zu erreichen wie das in der alten Welt. Da die Sklaverei verboten war, wurden Millionen von Europäern nach Südamerika gelockt, auch mit zum Teil falschen

Versprechen. Es war ein Geschäft mit der Hoffnung …

Meine Großeltern waren dabei: Sie wollten als Italiener in Argentinien, Uruguay, Paraguay und Brasilien ein neues Leben beginnen.

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Cinzia Buss (geb. Martino) geboren in Rom 1961, besuchte das wissenschaftliche Gymnasium. Im Jahr 1979 reiste sie nach Frankfurt am Main, wo sie 20 Jahre lebte. Dort wurde sie Kommunikationselektronikerin im technischen Mittleren Dienst bei der Deutschen Telekom. Mit der Privatisierung des Unternehmens zog sie nach Ostfriesland, die Heimat ihres Ehemanns. Orazio Martino, der berühmter Krokodilflüsterer von Dietzenbach ist ihr Bruder.

Cinzia Buss

EIN HERZ UND EINE HÜTTE

Die Geschichte meiner Großeltern in Südamerika

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm:
www.buchmedia-publishing.de

Originalausgabe
Juli 2018
Buch&media Publishing, München
© 2018 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung: Johanna Conrad
ISBN print: 978-3-95780-141-8
ISBN epub: 978-3-95780-142-5
ISBN pdf: 978-3-95780-143-2
Printed in Germany

INHALT

ERSTES KAPITEL

Ein Bild und seine Geschichte

ZWEITES KAPITEL

Assunto

DRITTES KAPITEL

Domenica

VIERTES KAPITEL

Gaucho

FÜNFTES KAPITEL

Die Hacienda

SECHSTES KAPITEL

1917

SIEBTES KAPITEL

Asunción

ACHTES KAPITEL

Itá

Quellen

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Meine Großeltern im Jahre 1927 in Rio de Janeiro

ERSTES KAPITEL

EIN BILD UND SEINE GESCHICHTE

Als mein Opa väterlicherseits 2001 im Alter von 99 Jahren starb, bekam ich als Erbe lediglich die Kopie seines Verlobungsbilds aus dem Jahr 1927. Es zeigt ihn in Rio de Janeiro, wo er sehr verliebt in der Hacienda neben Oma stand. Ich nahm es ihm nicht übel, sie hatten fünf Kinder, sehr viele Enkelkinder und ich war bloß eines von ihnen.

Eine Zeit lang wohnten wir ganz in der Nähe, ich durfte Oma und Opa damals oft besuchen. Oma war stets herzlich, obwohl sie viel Arbeit hatte, und ich genoss die zärtlichen Momente mit ihr.

Es geschah meistens im Winter, wenn sich Kälte und Dunst auf die Gemüter legten und die älteren Menschen kleine Wehwehchen spürten. Da saßen wir dann alle gemeinsam um dem Kamin, in dem das Holz knisterte und hin und wieder tausend kleine Funken aufstoben, aufbrausend wie ein Vulkan, der gerade explodiert.

Ich spürte bleischwere Müdigkeit, meine Glieder versagten langsam ihre Dienste, mein Kopf lag auf Omas Schoß, mein Blick war starr auf das Feuer gerichtet. Da, in diesem intimen Moment, öffnete sie mir ihr Herz und begann mit einem tiefen Seufzen zu erzählen:

Es geschah in der Zeit der großen Auswanderungen. Millionen von Europäern verließen den Kontinent, die meisten für immer. Die Süditaliener wurden als Bauern in Südamerika gebraucht. Diese Auswanderung dauerte in Italien von der Gründung 1861 bis zum Wirtschaftsaufschwung der 1960er Jahre. Die Vereinigung Italiens hatte einiges verbessert, wie beispielsweise die Wasserversorgung und die ärztliche Betreuung. Die Kindersterblichkeit wurde gemindert, jedoch führte der bessere Gesundheitszustand der Gesellschaft auch zu Überbevölkerung, welche Armut hervorbrachte.

In ganz Südamerika wurde den Eingeborenen Land abgenommen und an Offiziere, Beamte oder Mitglieder des Adels verteilt, die zur Verteidigung der Ländereien auch Gebrauch von Waffen machten. Im Gegenzug für das zur Verfügung gestellte Land verpflichteten sie sich, Steuern an die Krone zu zahlen. Am 15. November 1889 wurde in Brasilien mit der Abschaffung der Sklaverei die Republik ausgerufen.

Die Einwanderer aus Europa dienten als Ersatzarbeitskräfte. Der südamerikanische Kontinent war riesengroß, beinahe menschenleer und verfügte über ein großes Kontingent an Ressourcen. Die weißen Europäer sollten dem Kontinent beim Wirtschaftswachstum und bei der Industrialisierung helfen. Die Länder Europas waren zu diesem Zeitpunkt von Propaganda überflutet. Diese Propaganda wurde von Brasilien organisiert. Die Banken Englands gaben Brasilien Kredite für die Überfahrtkosten der Auswanderer. Diese Kosten wurden schon in Arbeitsverträgen als Kredit erfasst. Der deutsche Kaiser veranlasste Reglungen zu Rechten und Pflichten für die deutschen Auswanderer mit den jeweiligen Zielländern. Das bewahrte das Volk vor Ausnutzung und Betrug. Sie warben mittels Netzwerken von Agenten und Subagenten für Fazendas und Landwirtschaft und wollten so Familien nach Südamerika locken. Schon vor der Umsiedlung nach Südamerika wurden Arbeitsverträge unterzeichnet, damit die Kosten für die Überfahrt der Auswanderer bis zum brasilianischen Hafen vorab gedeckt waren. Pro Arbeiter kassierten die Agenten ein Kopfgeld, Schifffahrtsgesellschaften engagierten zusätzliches Personal, das in Gaststätten, Reisebüros und Bahnhöfen Reklamezettel verteilte. Auch mittels Plakaten und Zeitungsannoncen und sogar in Gebetsbüchern wurde geworben. Das Geschäft mit den fremden Arbeitskräften war überaus lukrativ, denn für die Ernte von Kaffee und Zucker benötigte man dringend Arbeitskräfte, die man daher einschiffen ließ.

ZWEITES KAPITEL

ASSUNTO

Argentinien war fast menschenleer, nachdem die Ureinwohner von den Kolonisatoren getötet oder ins Landesinnere vertrieben worden waren. Das Land hatte sehr unterschiedliche klimatische Verhältnisse und Bodenbeschaffenheiten. Die Pampa macht den größten Teil des Landes aus. Bei der Pampa handelt sich um eine subtropische Grassteppe. Im Westen wachsen viele baumartige Mimosen und verschiedene Distelarten, die von den heimischen Eseln sehr geschätzt werden. Die Erdschicht besteht aus rötlichem oder gelbem tonigem, sandigem Boden. Vor allem die Staaten Argentinien, Uruguay und Brasilien bestehen aus weiten Teilen aus überaus fruchtbarem Pampaboden und Lösssedimenten. In Wänden aus Löss finden neben zahlreichen Pflanzenarten auch Bienen, Wespen und Vogelarten, wie Mauersegler oder Bienenfresser, einen Lebensraum. Die hier und da gelegenen kleinen Seen spiegeln die Sonneneinstrahlung mit erstaunlicher Stärke zurück. Das Klima tagsüber ist sehr heiß, nachts hingegen fallen die Temperaturen stark ab. Zwischen April und Mai kommt es häufig zu heftigen, mehrere Tage andauernden Regenfällen, begleitet von malerischen und kraftvollen Gewitterschauspielen. Niedrige Bäume bieten einen angenehmen Schatten in der drückenden Hitze. In der flachen, unbegrenzten Eintönigkeit der Ebene liegen hier und da Wiesengründe, immer wieder finden sich gebleichte Knochenreste, und überall lauern giftige Schlangen. In manchen Teilen des Landes sind weite Strecken von Rosmarin bedeckt. Viele Gegenden im Norden sind mit saftigen Wiesen, rosa Diesteln und grünen Wäldern bewachsen. Es gibt allerdings auch giftige Pflanzen, einige von ihnen wurden von den Europäern mitgebracht.

Opa lebte auf einer Estanzia in Argentinien, einem Landgut mit extensiver Weidewirtschaft, mit Mastrindern, Schafen und Milchkühen. Die mehrere Hektar großen Weiden waren so angelegt, dass nach der Schlachtung der Tiere diese schnell verschifft werden konnten.

Es war Frühlingsanfang, es herrschte Hochbetrieb. Auf der Estanzia wurden alle Kräfte mobilisiert, vor allem die der Saisonarbeiter. Die Arbeitsabläufe waren gut organisiert. Eine Gruppe, die Gauchos, führte die Herde zur Absperrung, nachdem diese tagelang aus der gesamten Umgebung zusammengetrieben worden waren. Zahlreiche Hunde halfen dabei, sie hatten die Gewohnheit, die Milch der Schafe zu trinken, wenn der Durst sie quälte. Die nächste Gruppe fing die Tiere aus der Absperrung mit dem Lasso, zur Not auch mit Hilfe von Bolas. Bei einer Bola handelt es sich um eine Schnur mit drei Kugeln am Ende. Es ist eine Wurfwaffe, die es in verschiedenen Ausführungen gibt. Bolas waren vor allem bei Jägern und Rinderhirten in Gebrauch. Um die richtige Schleudertechnik zu erlernen, bedarf es vieler Stunden Übung. Ein Ende wird mit der Hand gehalten, die anderen drei Enden werden über dem Kopf gekreist und auf die Beine des zu fangenden Tieres geworfen, damit dieses stolpert. Wenn die Stiere beim Fangen zu wild waren, mussten die Fänger zu Stierkämpfern und Folterknechten werden. Die Schinder verrichteten im Anschluss ihre Arbeit mit einer Geschicklichkeit und Schnelligkeit, die ihresgleichen sucht. Die Schlachter erledigten den Rest mit dem Beil – nichts war so widerlich wie die Umgebung der Schlachterei. Die stinkenden Ausströmungen von ausgeweidetem Wild, das Geschrei und stöhnende Geheul der sterbenden Tiere und Hundegebell beherrschten die Umgebung. Viele der riesigen Geier, die über der argentinischen Ebene kreisten, kamen aus dem Umkreis von zwanzig Meilen, um von den Schlachtabfällen zu zehren.

Zur Estanzia gehörten Häuserkomplexe mit Vorratsschuppen, kleinen Stallungen für Pferde, Geflügel und Schweine.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, die schon lange abgeschwächten Sonnenstrahlen ließen die Schatten immer länger werden, bedeckten sie mit einem rubinroten Schleier. Der Himmel zerlief in wachsende längliche Streifen, als wolle er das Geschehen auf dem Boden widerspiegeln.

Selbst die weißen Disteln erschienen rosa, eine spürbare kühle Brise kündigte die Nacht an. Die Jungs trugen Ponchos, die gleichzeitig auch als Decke dienten. Ponchos sind gebräuchliche Mäntel in Südamerika, ein Stück Tuch mit einem Schlitz in der Mitte für den Kopf, das meist in bunten Farben gestrickt ist. Um mehrere Lagerfeuer waren junge Leute versammelt. Es waren die Aufseher sowie die Schlachter, die Stierkämpfer und die Stiertreiber. Sie saßen im Kreis bei einem gemeinsamen Schmaus versammelt und vergaßen während des gemütlichen Beisammenseins ihre schmerzenden Glieder. Leuchtkäfer erhellten die Ebene, als wollten sie die Sterne herausfordern. Die Anwesenden waren fast alle junge Männern, viele hatten ihre Heimat schon lange nicht mehr gesehen, andere waren hier geboren.

»Na, Assunto, wie war es beim Treiben der Tiere?«

Assunto war erst dreizehn Jahre alt. Er hatte ein rundes Gesicht mit noch kindlichen Zügen, gekräuseltes, blondes Haar und türkisblaue Augen. Man sagt, dies sei die Farbe der Seele und Freundschaft, welche die Fähigkeit hatte, zwischen blau und dunkelgrün zu wechseln, je nach Gemütslage.

Nach einer kurzen Pause antwortete Assunto sichtlich erschöpft und doch begeistert: »Es war toll. Überall saftige Wiese und Wälder. Ich habe den Algarrobo gesehen, eine Art Johannisbrotbaum. Seine getrockneten und anschließend gemahlenen Früchte lieferten den Ureinwohnern Brot. Ich habe auch eine Art Trauerweide gesehen, ihr Holz ist unzerstörbar. Und einen Timbó-Baum, der riesenhaft war und mit seiner Krone einer ganze Herde Sonnenschutz bot.«

»Wie habt ihr ohne Wasser ausgehalten?«, fragte Luigi.

Luigi war Assuntos bester Freund. Er war bereits erwachsen und somit eher ein Mentor oder Vaterersatz. Luigi war schmächtig, hatte wildes, langes Haar, ein freundliches, längliches Gesicht mit Bart und war braungebrannt.

»Ja, das war so eine Kunst für sich. Wenn die Veteranen nicht da gewesen wären, wären wir verdurstet. Sie haben versteckte Quellen entdeckt, in denen schmutziges, aber frisches Wasser floss.«