Buchcover

Kirsten Holst

Der Tod steht auf der Schwelle

 

 

Saga

1

Der schwere, süße Duft des Geißblatts erfüllte die feuchte Abendluft und schloss alle anderen Gerüche aus. Die Ranken wanden sich an beiden Seiten des altmodischen Villeneingangs zu dem kleinen Balkon mit Eisengitter hoch und ihre hellgelben Blüten leuchteten im Dunkeln wie kleine, krumme Kinderfinger. Ein von dem Duft angelockter Nachtschwärmer flog so nah an seinem Gesicht vorbei, dass er die federleichte Berührung durch die samtigen Flügel auf seiner Haut zu spüren meinte. Einen kurzen Moment stand sein Herz still, dann begann es, allzu schnell und heftig wieder zu schlagen.

Du bist aus der Übung, alter Junge, sagte er sich. Oder du wirst langsam alt. Es besteht kein Grund, nervös zu sein. Verdammt, was du hier tust, verstößt nicht einmal gegen das Gesetz.

Trotzdem spürte er etwas von der Erregung, die immer von ihm Besitz ergriff, wenn Adrenalin ausgeschüttet wurde. Das war das Leben. Das einzige Leben, das zählte. Sein Leben.

Lautlos wechselte er die Stellung und nahm die Tasche in die andere Hand, während er leise lächelte. Vielleicht hatte er sich in Wirklichkeit deshalb für diese Vorgehensweise entschieden. Um noch einmal die Spannung zu spüren, um sich zu beweisen, dass er es noch konnte; um zu leben. Es war völlig unnötig, vorsichtig zu sein, aber es gehörte einfach dazu. Er hätte genauso gut zur Eingangstür gehen, schellen und, falls sie zu Hause war, die alte Dame bitten können, etwas aus der Wohnung ihrer Mieterin holen zu dürfen. Aber sie hatte bei seinem Anruf am Nachmittag misstrauisch und abweisend geklungen, sodass er nicht sicher war, ob sie eine wildfremde Person hereingelassen hätte. Außerdem wollte er nicht, dass man seinen Spuren allzu leicht folgen konnte.

Aus diesem Grund war er auch nicht zu seiner eigenen Wohnung gefahren. Er war davon überzeugt, dass Grete sich an ihre Abmachung gehalten hatte: Falls sie verreist war, wollte sie ihm eine Nachricht in den Briefkasten werfen. Er wusste, dass sie dort lag; auf Grete war Verlass. Doch im Moment half ihm das wenig. Er konnte nur hoffen, dass die anderen sie nicht gefunden hatten oder dass sie ausreichend verschlüsselt war.

Er trat aus dem Schatten und sah zu den Fenstern hoch. In keinem brannte Licht, und als er, bevor er hierher gefahren war, von einer Telefonzelle aus angerufen hatte, war trotz des langen Klingelns niemand ans Telefon gegangen. Die alte Dame war bestimmt in der Stadt oder sie schlief wie ein Stein. Nein, sie war wohl nicht zu Hause. Er lauschte angestrengt und glitt lautlos zur Eingangstür. Er konnte es genauso gut hinter sich bringen, sonst riskierte er nur, auf frischer Tat ertappt zu werden. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten. Niemand ahnte, dass er hier war, alles war still und dunkel und der Lärm der Stadt nur als schwaches Brummen im Hintergrund zu hören. Man fühlte ihn mehr, als dass man ihn hörte. Es war über eine halbe Stunde her, dass er ein Auto auf der Straße gehört hatte, und das hatte sehr viel weiter unten gehalten. Anständige Menschen, die eine kleine abendliche Spazierfahrt gemacht hatten und zur bürgerlichen Schlafenszeit nach Hause kamen, schätzte er. Jedenfalls nichts, was ihn etwas anging.

Er steckte den Schlüssel ebenso lautlos in das Schloss der Eingangstür, wie er sich ihr genähert hatte. Im Grunde war das sein einziges Talent: sich lautlos zu bewegen, dachte er und schnitt eine Grimasse. Schon als Junge hatte er sich darin geübt und es später zur Perfektion entwickelt. Er konnte ungesehen und ungehört kommen wie ein Schatten.

Indianer hatten sie ihn auf dem Gymnasium genannt und der Name war an ihm hängen geblieben, auch nachdem sie herausgefunden hatten, wie effizient er in Wirklichkeit war.

Er schloss die Tür hinter sich und blieb einen Moment im Dunkeln stehen, um sich zu orientieren. Er war vorher nur ein einziges Mal hier gewesen, hatte es sich aber zur Gewohnheit gemacht, sich seine Umgebung einzuprägen. Man wusste nie, wann man dieses Wissen einmal brauchen konnte.

Langsam und vorsichtig stieg er die Treppe hinauf. Treppen konnten einem mit knarrenden Stufen und losen Geländern oder Leisten unangenehme Überraschungen bereiten, aber diese machte keine Probleme. Natürlich nicht, dachte er. Bei Grete war eine mit irgendwelchen Schäden behaftete Treppe einfach nicht vorstellbar.

Einen Moment später hatte er sich Zugang zu ihrer Wohnung verschafft. Die erste Phase war überstanden, jetzt kam die nächste und die war weitaus schwieriger. Wer suchet, der findet! Er musste suchen und vor allem musste er finden, auch wenn er die ganze Nacht dazu brauchte. Seine gesamte zukünftige Existenz, all seine Pläne, all seine Träume hingen davon ab.

Es roch ein wenig stickig in der Wohnung. Sein Instinkt sagte ihm, dass seit Gretes Abreise niemand hier gewesen war. Das war zumindest beruhigend. Es galt demnach lediglich herauszufinden, wo die gute, alte Grete ihn versteckt hatte. Wo könnte das sein? Bestimmt an keinem besonders originellen Platz, sagte er sich. Warum also nicht einfach mit dem Schreibtisch anfangen?

Er wagte nicht, Licht einzuschalten, sondern begnügte sich mit der kleinen MagSolitaire, deren Lichtstrahl er sorgfältig nach unten hielt. Der Schreibtisch stand am Fenster, ein großes altmodisches Monstrum mit Schränkchen auf beiden Seiten und einer Schublade in der Mitte. Eine Bodendiele knarrte leise, als er darauf zuging, und er trat schnell zur Seite, auch wenn das hier nicht nötig schien.

Er öffnete die Schreibtischschublade, zögerte jedoch leicht, als sie einen kratzenden Laut von sich gab. Dann schüttelte er über sich selbst den Kopf, zog die Schublade ganz heraus, ohne auf den Lärm zu achten, und begann, ihren Inhalt im Schein der Taschenlampe zu studieren.


Høyer und seine Frau saßen auf der Terrasse hinter dem Haus. Zwischen ihnen auf dem Tisch standen eine Weinflasche und zwei Gläser.

Høyer lehnte sich im Stuhl zurück, griff nach seinem Glas und trank einen großen Schluck. Er holte tief und genießerisch Luft. Eine Vielfalt von Düften prickelte in seiner Nase. Frisch gemähtes Gras, Erde, Rosen, Weißwein – ein Sommerpotpourri.

»Und jetzt geht der Mond auf«, sagte er. »Mein Gott, was will man! Und voll ist er auch noch!«

»Das bist du bald auch«, lachte seine Frau.

Das Licht vom Wohnzimmer fiel auf die Terrasse und im Hintergrund war gedämpft das Radio zu hören.

»Ich kann mir nie richtig darüber klar werden, ob es ein Sakrileg ist, Musik zu hören, wenn man draußen in der Natur sitzt, oder ein zusätzliches Plus«, sagte Høyer.

»Das kommt auf die Musik an«, sagte seine Frau. »Die hier passt doch ausgezeichnet zu der Stimmung.«

Sie lauschten beide. Es war eine Sendung über Bellman. Trink aus dein Glas, der Tod steht auf der Schwelle.

»Dann also Prost«, lachte Høyer. »Auch wenn ich das für eine schlechte Entschuldigung halte zu trinken.«

»Ich finde, man braucht überhaupt keine Entschuldigung«, sagte seine Frau. »Aber ich glaube, ich gehe rein und schalte aus. Oder willst du die Nachrichten hören?«

»Nein, Gott bewahre!«, rief Høyer. »Es geht uns gerade so gut. Stell dir vor, sie sagen, dass die Welt untergegangen ist, während wir hier gesessen haben. Das erfahren wir noch früh genug. Schalt aus.«

Er schenkte den letzten Wein in ihre Gläser, während er summte: »Trink aus dein Glas, der Tod steht auf der Schwelle.« Er drehte sich halb zu der Tür zum Wohnzimmer um. »Auf Schwedisch klingt das besser«, sagte er.

»Was klingt auf Schwedisch besser?«, fragte seine Frau, als sie wieder herauskam und sich setzte.

»Die Lieder von Bellman. Findest du nicht?«

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Im Grunde schenke ich den Worten nicht viel Bedeutung.«

»Da sieht man es wieder. Die armen Dichter. Er hätte sich die ganze Mühe sparen können, wenn seine schönen Worte doch nur als Stativ dienen, um eine Melodie daran aufzuhängen.«

»In der Tat«, sagte seine Frau. »Und jetzt denke ich, dass du wirklich dein Glas austrinken solltest. Dein Bett ruft nach dir.«

»Eigentlich eine Schande schlafen zu gehen«, sagte Høyer. »Das ist der erste Abend in diesem Jahr, an dem wir draußen sitzen können. Und vielleicht bleibt es auch der einzige.«

Nach einer Reihe elender Wochen mit bedecktem Himmel, Kälte und Wind war das Wetter an diesem Abend plötzlich umgeschlagen. Der Wind hatte sich gelegt und die Temperatur war gestiegen. Der Sommer hatte seinen Einzug gehalten und sich wie ein warmer, weicher Teppich über Stadt und Land gelegt.

»Wenn wir klug wären«, fuhr Høyer fort, »würden wir noch eine Flasche aufmachen und noch ein paar Stunden hier sitzen bleiben.«

»Aber leider müssen wir morgen arbeiten«, seufzte seine Frau. »Der Fehler ist, dass in diesem Land der Sommer fast nie auf einen Samstag fällt.«

»Der Fehler ist, dass wir zu alt und pflichtbewusst geworden sind, um den Augenblick zu genießen«, sagte Høyer. »Wären wir zwanzig, würden wir einfach sitzen bleiben.«

»Als wir zwanzig waren, konnten wir uns keinen Weißwein leisten«, wandte seine Frau ein. Sie trat hinter seinen Stuhl und beugte sich mit den Händen auf seinen Schultern über ihn. »Aber wir werden uns bestimmt an diesen Abend erinnern«, sagte sie. »Für den Rest des Sommers.«

Høyer stand auf und nahm sie in die Arme. »Für den Rest des Lebens«, sagte er. »Den Rest des Lebens. Das ist so ein Abend.«

Høyer hatte Recht. Das war so ein Abend und er sollte sich für den Rest seines Lebens daran erinnern.


Die alte Kamma Greve schloss das Buch mit einem Seufzer und legte es auf die leere Hälfte des Doppelbetts. Dann schob sie ihr Kissen zurecht, lehnte sich gegen das Kopfende und atmete tief ein.

»Wie das duftet«, sagte sie zu sich selbst.

Das Klappfenster stand offen und der Duft des Geißblatts erreichte sie wie kleine, sanfte Atemzüge. Plötzlich begann draußen im Garten eine Drossel zu singen. Meine Nachtdrossel, nannte sie sie. Sie sang immer um diese Zeit, lange nach Einbruch der Dunkelheit und nachdem alle anderen Vögel zur Ruhe gekommen waren. Und das würde sie bis weit in den Juli hinein tun. Manchmal bildete sie sich ein, dass der Vogel nur für sie sang. Solange sie zurückdenken konnte, hatte eine Drossel in der Dornenhecke gewohnt, aber vermutlich war es nicht immer dieselbe gewesen. Vielleicht war es eine Ururururururenkelin der allerersten Drossel, die sie gehört hatte, als sie in dieses Haus gezogen waren.

Sie faltete die Hände über der Bettdecke und ging in Gedanken den Tag durch. Das war zu einem festen Ritual geworden. Ein Zeichen, dass sie alt war. Jeden Abend musste reiner Tisch gemacht werden, man wusste schließlich nicht, ob man am nächsten Morgen noch einmal erwachte.

Der Hund lag dicht bei ihr auf dem Läufer neben dem Bett. Im Moment atmete er tief und ruhig, aber zuweilen holte er stoßweise Luft, fuhr mit den Beinen Rad und fiepte leicht im Schlaf. Sie ging davon aus, dass er träumte. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, wovon ein Hund träumte.

Es war ein guter Tag gewesen, stellte sie fest. Und lächelte unwillkürlich über sich selbst, weil sie jeden Abend zu diesem Fazit kam. Jeder Tag brachte neue Gebrechen, neue Probleme, neue Zeichen, dass sie immer älter wurde, und jeden Abend stellte sie trotzdem fest, dass es ein guter Tag gewesen war. In ihrem Alter genügte es vermutlich zu überleben, um von einem guten Tag zu sprechen, dachte sie. Sie würde noch wie diese schreckliche Person in dem Stück von Becker enden. Wie hieß sie doch gleich? Bodil Udsen hatte die Rolle gespielt, aber wie hieß sie? Fanny? Nein, nicht Fanny. Mary? Nein, Mary auch nicht.

Die alte Dame lag mit geschlossenen Augen da und versuchte, sich an den Namen zu erinnern. Irritierend, wie die Namen eine Tendenz entwickelt hatten zu verschwinden. Winnie, dachte sie plötzlich triumphierend und machte die Augen auf. Es war jedes Mal ein Triumph, wenn sie ihr schlechtes Gedächtnis besiegte.

Ja, es war ein guter Tag gewesen, dachte sie noch einmal, fühlte jedoch gleichzeitig, wie ein kleines Unbehagen sich tief in ihrem Inneren zu regen begann. Die Andeutung eines schlechten Gewissens. Sie hatte es eigentlich erfolgreich verdrängt, aber das mit dem Namen hatte sie wieder daran erinnert.

Natürlich war das Fanny gewesen, die angerufen hatte, und natürlich hätte sie abnehmen sollen, aber sie hatte gerade Radio gehört, die letzten Minuten des Abendfeuilletons, und die hatte sie nicht verpassen wollen. Außerdem wusste sie, dass es Fanny war. Ihre Schwägerin war die Einzige, die so spät noch anrief, und ihr zuzuhören war bei Gott nicht aufbauend.

Aber sie hätte trotzdem ans Telefon gehen sollen. Oder später zurückrufen, als die Sendung vorbei war. Sie hätte sagen können, dass sie im Bad gewesen war, als der Anruf kam. Vielleicht war Fanny unruhig geworden. Sie malte immer den Teufel an die Wand und hatte das Telefon wirklich lange klingeln lassen, bevor sie aufgelegt hatte.

Die alte Kamma Greve lachte lautlos. Fanny sollte nur wissen, dass sie die Kaffeemütze über das Telefon gestülpt hatte. In Gedanken sah sie Fanny unter der Kaffeemütze sitzen und plappern. Im Grunde genommen war der Gedanke lustig, auch wenn er nicht besonders nett war.

Außerdem war es albern, ein schlechtes Gewissen zu haben, nur weil man einmal nicht ans Telefon gegangen war. Es hatte schon eine sonderbare Macht über einen. Man kam sich wie ein Drückeberger vor, wenn man nicht dranging. Na schön, dann hatte sie sich eben gedrückt, geschehen war geschehen, und wenn Fanny morgen anrief, musste sie so tun, als sei sie wirklich im Bad gewesen.

Also doch ein guter Tag.

Sie hatte wieder einmal überlebt.

Aus irgendeinem merkwürdigen Grund hing sie noch immer an ihrem Leben.

Sie und der Hund mussten den Laut gleichzeitig gehört haben.

Er richtete sich auf, hob den Kopf und stupste ihre Hand an, während er leise knurrte.

Sie lauschte. Jetzt war es fast vollkommen still, sie hörte nur die Drossel und das schwache Rascheln aus dem Garten, aber da war etwas gewesen. Ein Laut. Hier im Haus. In einem alten Haus gab es immer viele Geräusche, knarrende Böden, seufzende Wände, aber das war keiner der gewohnten Laute gewesen. Das war eine Tür, die irgendwo ging. Fast, aber nicht ganz lautlos. Und ihrem Gehör zumindest fehlte es an nichts. Ganz im Gegenteil.

Wieder knurrte der Hund.

»Ssst«, flüsterte sie und legte ihm die Hand auf den Kopf, während sie in das Dunkel lauschte.

Sie fühlte mehr, als sie hörte, dass oben jemand herumging. Und das war definitiv nicht Grete Krag. Zum einen war sie in Urlaub und zum anderen trat sie anders und kräftiger auf, wenn sie ging. Die jungen Frauen heute traten so hart auf, dachte Kamma Greve bedauernd. So unschön. Nein, Grete Krag war das nicht. Sie würde sich nicht mitten im Urlaub nachts nach Hause schleichen. Sie umgab immer ein gewisser Lärmpegel.

Aber wenn sie das nicht war, dann ...

Jetzt war es wieder still. Das Dunkel schloss sich um sich selbst. Vielleicht hatte sie sich doch geirrt, aber der Hund hatte auch etwas gehört.

Sie strengte ihr Gehör an.

Und dann hörte sie es.

Das Geräusch einer Schublade, die herausgezogen wurde.

Sie erkannte das Geräusch. Das war Grete Krags Schreibtischschublade. Sie war einfach hoffnungslos. Sie hakte und man musste daran rütteln und ziehen, obwohl Grete Krag es mit Stearin und Bohnerwachs und Sandpapier versucht hatte.

»Und wer versucht Fräulein Krags Schreibtischschublade mitten in der Nacht zu öffnen, während sie in Urlaub ist, mein lieber Watson?«, fragte sie sich.

Die Antwort lag auf der Hand.

Ein Einbrecher!

In der Wohnung über ihr musste ein Einbrecher sein.

Wahrscheinlich ein Rauschgiftsüchtiger.

Sie hatte gehört, dass die meisten Einbrüche von verzweifelten Rauschgiftsüchtigen verübt wurden, die nach Geld für neuen Stoff suchten.

Und wenn diese verzweifelte Person in Grete Krags Wohnung nichts fand – und dessen war sie sich ziemlich sicher –, was würde sie dann tun?

Auch die Antwort darauf lag auf der Hand.

Die alte Kamma Greve setzte sich im Bett auf und schwang die Beine auf den Boden. Sie suchte mit den Füßen nach ihren Pantoffeln, während sie resolut nach dem Telefon griff, das auf dem Nachttisch stand.

Dann wählte sie die 110.


Der Indianer schloss vorsichtig die Schreibtischtür und erhob sich mit einem Seufzer. Das war der Schreibtisch und hier war er nicht, darauf könnte er schwören. Aber wo dann? Und was jetzt? Sollte er systematisch das Wohnzimmer durchsuchen und sich dann die anderen Räume vornehmen oder seinem Instinkt folgen? Wo zum Teufel konnte sie ihn versteckt haben? Lautlos öffnete er die Tür zum Schlafzimmer. Ja, vielleicht unter der Matratze, unter ihrer Unterwäsche, in der Nachttischschublade, aber das war fast schon zu offensichtlich. Wenn sie ihn nicht im Schreibtisch versteckt hatte, hatte sie sich bestimmt etwas Cleveres einfallen lassen. Jeder sah sich heute Kriminalfilme an und las Spionageromane. Es gab also viele Möglichkeiten.

Er schloss die Tür wieder und ging in die Küche, wo er den kleinen Lichtstrahl von Schranktür zu Schranktür wandern ließ. Er verweilte einen Augenblick auf der Kühlschranktür und für einen kurzen Moment hatte er ein ganz deutliches Sehr-heiß-Gefühl, aber im selben Moment ließ das Motorengeräusch eines Autos ihn erstarren und die Taschenlampe ausschalten. Lautlos ging er zurück ins Wohnzimmer und stellte sich, halb von der Gardine verborgen, ans Fenster. Jetzt sah er das Licht der Autoscheinwerfer langsam näher kommen.

Na und? Es wäre verwunderlicher, wenn den ganzen Abend kein einziges Auto vorbeikäme. Die Straße war eine Sackgasse, die an einem Wendehammer mit Parkplatz endete, sodass selbst Leute, die jemanden am Anfang der Straße besucht hatten, vermutlich bis zu ihrem Ende fuhren und dort wendeten.

Das Auto hielt vor dem Haus. Vielleicht war es die alte Dame, die nach Hause kam.

Er hörte, wie Autotüren nahezu gleichzeitig geöffnet und wieder geschlossen wurden, und zog sich noch ein wenig weiter zurück, während er noch immer einen Zipfel der Gardine festhielt.

Jetzt waren Schritte auf dem Weg unten zu hören. Langsame, zögernde Schritte. Wachsame Schritte, dachte er und spürte, wie ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.

Konnte es sein ...? Nein, das war unmöglich. Außerdem hörte er, dass es zwei waren.

Jetzt konnte er sie auch sehen. Zwei Männer, die hintereinander den schmalen Weg heraufkamen. Das Mondlicht spiegelte sich in den Metallknöpfen ihrer Uniformjacken.

Polizei!

Was zum Teufel wollten sie hier?

Er war sich sicher, dass niemand ihn hatte hereingehen sehen und hören. Warum tauchten sie dann so plötzlich auf?

Er dachte kurz nach. Was konnte ihm schon passieren? Er hatte ein Recht, sich hier aufzuhalten. Die Wohnung gehörte seiner Freundin. Sie konnten ihm absolut nichts anhängen. Er konnte einfach seine Tasche nehmen, die Wohnung verlassen und die Treppe hinuntergehen. So simpel war das. Es würden natürlich einige Erklärungen nötig sein und es kam seinen Plänen ein wenig in die Quere, aber okay, dann musste er die Pläne eben ändern. Das war keine Katastrophe. Noch nicht.

Er steckte die MagSolitaire unter den Hosenbund, nahm seine Tasche und ging zur Tür. Öffnete sie und trat auf die Treppe hinaus. Er ging schnell hinunter ohne den geringsten Versuch, lautlos aufzutreten, ganz im Gegenteil. Sie konnten ihn gerne hören. Mehr als gerne. Hier kam ein Mann, der ein gutes Recht hatte, da zu sein, wo er war.

Sie öffneten die Tür, als er den Fuß der Treppe erreicht hatte.

In dem Moment ging ihm auf, dass er kein Licht gemacht hatte. Das war ein Schnitzer.

»Oh, guten Abend«, sagte er mit genau der richtigen Prise Überraschung und trat höflich zur Seite, um sie passieren zu lassen, während er gleichzeitig auf den Lichtschalter drückte.

Es wirkte, dachte er triumphierend. Es wirkte tatsächlich. Der jüngere Beamte sah ihn verwirrt an. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. In seinem Gesicht machte sich bereits ein höflich entschuldigender Ausdruck breit.

Der Indianer lächelte noch immer verbindlich, als der andere Beamte rief: »Teufel auch, wenn das nicht der Indianer ist! Bist du wieder im Einsatz?«

»Kennst du ihn?«, fragte der erste.

»Ja und ob. Das ist der Indianer. Einer der geschicktesten Einbrecher, die wir haben.«

Er drückte sich ganz so aus, als spräche er von einem olympischen Medaillenträger.

Das war Pech. Dass es gerade einer der Älteren sein musste, die ihn von früher kannten.

»Er hat zugenommen und die Haarfarbe gewechselt, aber man kennt schließlich seine Pappenheimer, nicht?«, fuhr der Beamte fort.

»Es ist lange her, dass ich diesem Gewerbe nachgegangen bin«, sagte der Indianer. »Das waren Jungenstreiche. Mit so etwas gebe ich mich nicht mehr ab. Schon seit Jahren nicht mehr«

»Offensichtlich doch«, lachte der andere. »Du kommst besser mit.«

»Verdammt nochmal, ich habe nichts Ungesetzliches getan. Ich komme oben aus der Wohnung meiner Freundin. Es ist wohl kaum verboten, seine Freundin zu besuchen.«

»Nein, ist es nicht. Aber sollten wir dann nicht raufgehen und mit deiner Freundin sprechen?«

»Sie ist ... sie ist leider nicht zu Hause. Sie ist in Urlaub. Aber ich darf die Wohnung benutzen, wenn ich in der Stadt bin.«

Der Polizist lachte.

»Ja, sicher darfst du das, Mann. Das kannst du erzählen, wem du willst. Das glaubt dir jeder.«

Vielleicht hätte der Indianer bestimmter klingen können, vielleicht hätte er sie sogar überzeugen können, wenn er es gewollt hätte. Aber dann war ihm etwas anderes eingefallen.

Ihm wurde bewusst, dass er niemanden das Auto hatte verlassen hören, das früher am Abend ein Stück weiter die Straße hinunter gehalten hatte.

Deshalb war es vielleicht gar nicht so schlecht, unter Polizeischutz diesen Ort zu verlassen.