Buchcover

Lise Gast

Randi und Michael

SAGA Egmont




Randi sprang die Schultreppe hinunter, immer drei Stufen auf einmal. Sie hatte es erreicht, sie hatte frei bekommen, ihr atemloses Gestammel hatte genützt! Der Klassenlehrer war im Grunde doch ein netter Kerl, gottlob hatte sie Deutsch bei ihm, ihr Lieblingsfach, so daß er sie mochte. Und obwohl er erst den Kopf geschüttelt und gesagt hatte, eigentlich müßte er zum Rektor gehen und dort die Erlaubnis einholen, hatte er schließlich gesagt: „Na, da lauf halt!“

Zwei Stunden eher aus, das mußte reichen! Sie rannte in den Fahrradkeller und riß die alte Mühle aus dem Ständer. Natürlich reichte es! So weit war es nicht bis Taucha, vor allem, wenn man wie sie im Osten von Leipzig wohnte. In Taucha war heute Turnfest der Nikolaischule, das mußte sie miterleben! Eigentlich war die Nikolaischule „ihre“ Schule, drei Jahre war sie als einziges Mädchen ihrer Klasse dort gewesen; die Schule war ein Jungengymnasium und nahm Mädchen nur ausnahmsweise. Randis Vater hatte die Erlaubnis erwirkt, weil er unbedingt wollte, daß seine Tochter Latein lernte. Aber als es später in der Stadt eine Mädchenschule mit einem humanistischen Zweig gab, schulten Randis Eltern die Tochter um. Noch jetzt war ihr Kummer nicht verheilt, daß sie in den „blöden Gänsestall“ gesperrt worden war. Aber gegen die Ansicht der Eltern war nicht Sturm zu laufen. „Sie ist sowieso schon ein halber Junge“, hatte Mutter oft geseufzt, und Vater stimmte zu.

„Dort wird sie auch Freundinnen finden und nicht nur mit Jungen herumlaufen“, hatte Mutter hoffnungsvoll geäußert. Sie wollte nun einmal ein „richtiges Mädchen“ zur Tochter. Aber Randi fand keine Freundin, sie wünschte sich auch keine. Sie hatte Ralph, den zwei Jahre älteren Bruder, den sie liebte und bewunderte und mit dem sie sich herrlich verstand, aber damit Schluß. Allerdings hätte sie gern ein bestimmtes Mädchen als Freundin gehabt, eine Blonde mit Zöpfen, braungebrannt und mit Kleidern, wie sie sonst keine Schülerin hatte: weiter weißer Nesselrock und buntes, enganliegendes Mieder, dazu Sandalen an den nackten Füßen. Sie war stets umlagert von anderen, nein, da traute sich Randi nicht heran!

Randi radelte die Liebigstraße entlang, während ihr dies alles durch den Kopf huschte, halb unbewußt, denn heute tat es nicht weh. Heute war sie so froh, daß sie frei bekommen hatte und nach Taucha radeln konnte, dem größten Fest ihrer geliebten Schule entgegen, dem alljährlichen Turnfest. Ob Ralph eine Urkunde bekam? Sicherlich nicht, aber dabeisein würde er, ihr Bruder! Nicht jeder kann siegen, aber dabeisein ist alles — beim Weitsprung, beim Schlag-ball-Werfen, beim Hundertmeterlauf und schließlich beim Ringkampf, der die letzte Ausscheidung brachte. Voriges Jahr waren es die beiden Klassenbesten der Oberprima und der Unterprima gewesen, die gegeneinander antraten. Daß es das gab, daß Klassenbeste nicht mehr wie früher blasse, bebrillte Streber waren, sondern handfeste Jungen, das war doch schön! Überhaupt war es schön auf der Welt! Randi trat in die Pedale und legte noch an Tempo zu. Sie hatte sich gerade überlegt, daß sie doch noch schnell nach Hause fahren und sich umziehen könnte, ihr helles Kleid, und das Turnzeug einpacken. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit, in Taucha mitzutun, es gingen ja auch ein paar Mädchen in die Nikolaischule. Mutter öffnete, in der Küchenschürze, sehr erstaunt. „Was willst denn du um diese Zeit?“ Randi überstürzte ihren Bericht. Aber Mutter hatte andere Sorgen. „Du, Randi, du könntest noch mal schnell zu Graupners laufen. Ich habe noch keine Milch geholt, und ich brauche geriebenen Käse.“

Das fehlte noch, zu Graupners! Dort mußte man um diese Zeit ewig warten zwischen all den Hausfrauen. Dazu war man nun mit aller List und Überredungskunst aus der Schule entkommen! Aber Mutters Wille war wie Gottes Wille. Randi stopfte Turnschuhe und Anzug in einen Beutel, warf ihn auf die Kommode und lief zur Küche, ein Einkaufsnetz und die Geldbörse holen. „Und vom Bäcker bringst du ein frisches Brot mit.“

Meine Kinder brauchen mal nicht zu Graupners zu gehen, wenn sie in Eile sind und was Wunderbares vorhaben, knirschte Randi und rannte die Treppe hinunter, um nicht noch mehr Aufträge aufgehalst zu bekommen. Meine Kinder wachsen hoffentlich nicht in einer Vorstadtstraße auf, sondern im Grünen, das war ihr Wunsch seit langem. Sie wollte hinaus, sie liebte Sonne und Bäume, Wiese und Bach. Deshalb freute sie sich ja so sehr, heute einmal weit hinausradeln zu können. Im Laden stand sie wie auf heißen Kohlen, trat von einem Bein aufs andere. Mußte es denn so lange dauern!

„Ich bin eilig, Frau Graupner“, sagte sie bittend, „ich muß zum Sportplatz. Mein Bruder hat heute Turnfest in Taucha.“

„Jaja. Eile mit Weile“, sagte die Verkäuferin, „wenn man vormittags schon zum Sport gehen kann, hat man’s gut. Unsereiner durfte nie“, Randi entfloh. Nun noch um die Ecke in den Bäckerladen. Das frische Brot roch herrlich, sie brach sich an dem aufgeplatzten Ende ein Stück ab und zerknirschte es im Laufen. Wenn Mutter nur nicht noch auf eine neue Idee kam … Nein. „Nun lauf, mein Mädchen, aber zurück kommst du mit Ralph, nicht allein, und nicht erst, wenn es dunkel wird“ … das mußte unbedingt noch kommen. Randi rief: „Jaja!“ und war schon aus der Haustür hinaus. Aufs Rad und los. Endlich!

Sie warf die Zöpfe über die Schultern nach hinten und faßte die Lenkstange mit einem Untergriff, als wäre sie ein Gegner. Vorwärts! Schnell war sie in Taucha. Der Sportplatz wimmelte von Jungen jeden Alters, man sah blonde und braune Schöpfe, kurzgeschorene Köpfe und solche mit wehenden Haaren, nackte Beine mit kurzen, bunten Hosen und hellhäutige Körper. Noch war es Frühsommer, richtig gebräunt konnte bisher keiner sein, der nicht in südlicher Sonne verreist gewesen war, und wer sollte das wohl können! Man ging „auf Fahrt“, schwamm in Teichen und in der Mulde, auch wenn es barbarisch kalt war, aber braun wurde man davon nicht. Trotzdem war es ein hübsches und lebendiges Bild, diese vielen jungen, sportbegeisterten Menschen. Randi lehnte ihr Fahrrad an den Pfosten des Fußballtors, den hinteren selbstverständlich, damit es nicht im Wege war. Wo fand sie Ralph in dem Gewimmel?

„Ralph Hansen? Du suchst doch sicher deinen Bruder.“ Sie wandte sich um, da stand Benno, einer aus Ralphs Klasse, der manchmal zu ihnen nach Hause kam, „der ist dort drüben, soll ich ihn herschicken?“ Benno war groß, er hatte das ganze Gesicht voller Sommersprossen. „Nein, bloß nicht! Was glaubst du, wie er sich ärgern würde. Hauptsache, er ist hier. Ich guck erst mal hier beim Hundertmeterlauf zu.“ Es war ein Rennen über nur fünfzig Meter für die Kleinen, aber sie liefen die Strecke mit nicht weniger Ernst und Eifer als die Großen. „Ja, hier werden Rekorde aufgestellt“, plauderte Benno und lehnte sich neben sie auf die Barriere, „sieh nur, der Kleine dort! Wie er schaufelt, aus dem wird mal ein Olympiasieger.“ Sie lachten beide.

Der höchstens Zehnjährige lief, ohne nach rechts oder links zu sehen, die Bahn entlang, als ginge es ums Leben, er erreichte den etwas Größeren, der mit seinen längeren Beinen natürlich mehr Chancen hatte, und ließ ihn wahrhaftig um einen Meter hinter sich.

„Bravo, bravo, das gefällt mir!“ schrie Benno und klatschte in die Hände, „der Wille macht es! Nicht die Lunge oder die längeren Beine, der Wille —“

„Gut gelaufen“, lobte auch der Lehrer und notierte die Zeit auf seinem Block, „Rainer Quint, wenn du im Ballweitwurf ebenso gut bist …“ „Ballweitwurf … kann ich …“ japste der Kleine, herankommend, stellte sich auf die Zehen und versuchte, dem Lehrer in den Notizblock zu gucken. Dabei mußte er sich sehr recken, klein wie er war. In diesem Augenblick kam ein größerer Schüler über den Platz gerannt — hier rannte eigentlich jeder — prallte auf Rainer und warf ihn einfach über den Haufen. Der Kleine, noch atemlos von seinem Rekordlauf, flog mit dem Gesicht gegen den Eckpfosten der Barriere, daß es krachte — es war ein scheußliches, ein ekelhaftes Geräusch. Randi schauderte es, während sie schon zugesprungen war und bei dem Kleinen kniete. Der lag auf der Erde, und die rechte Seite seines kleinen, eben noch so vergnügten Gesichtes begann sofort anzuschwellen.

„Beiß die Zähne zusammen, es wird gleich besser“, redete ihm Randi zu. „So, so — siehst du, jetzt liegst du besser —“ Eine kleine Gruppe stand bei Rainer. Der Lehrer, der große Junge, der ihn überrannt hatte, das Gesicht weiß vor Schreck, Benno, und noch ein großer Schüler, der sogleich behutsam und geschickt zugriff. Er und Benno hoben den Kleinen auf und trugen ihn vorsichtig zum Sanitätszelt. Randi lief hinter ihnen drein. Im Zelt legten sie ihn auf eine Trage. „Gibt’s denn hier keine kreuzrote Schwester?“ raunzte Benno, gewollt barsch, und hatte damit auch den beabsichtigten Erfolg: der kleine Rainer mußte lachen. „Das heißt doch —“

„Schwester, rotkariert! Zum Teufel noch mal …“ „Nicht fluchen“, lachte Randi erlöst, wenn der Kleine lachte, konnte es nicht allzu schlimm sein. Sie hatte bereits Joch- und Wangenbeinbruch gefürchtet; in der Schule waren sie in Biologie gerade bei diesen vielen, schwer zu behaltenen Beinen, aus denen der Schädel bestand. Jetzt erschien auch ein Sanitäter, keine kreuzrote Schwester. Man merkte jedoch sofort, daß Rainer in bester Hut bei ihm sein würde. Alles ging wie am Schnürchen. Der Sanitäter hatte gleich die richtige Salbe in der Hand, strich sie zärtlich und gekonnt über die geschwollene Gesichtshälfte und gab dem Kleinen eine Tablette zu schlucken. „Gegen die Schmerzen. Kriegst dann noch eine Spritze, aber die tut nur wie eine Mücke, ich meine: den Stich merkst du gar nicht.“ „Spritzen hab ich schon viele gekriegt, die machen mir nichts aus“, sagte Rainer stolz, „Tetanus und einmal fünfzehn gegen Tollwut, weil ich unsere Katze angefaßt hatte. Alle in den Bauch.“