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Esmahan Aykol

Hotel Bosporus

Ein Fall für
Kati Hirschel

Roman

Aus dem Türkischen von
Carl Koß

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2001 bei Everest Yayınları, Istanbul,

erschienenen Originalausgabe: ›Kitapçı Dükkânı‹

Copyright © 2001 by Esmahan Aykol

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2003 im Diogenes Verlag

Der Schluß des Buches wurde

von der Autorin für die deutsche Ausgabe

geringfügig erweitert

Umschlagillustration:

Jean-Jules-Antoine Lecomte du Nouy,

›Die weiße Sklavin‹, 1888 (Ausschnitt)

Foto: Copyright © Gérard Blot/RMN Paris

 

 

Für Ö.

 

 

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23443 5 (7. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60652 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen
der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Wie eine Irre fahre ich in der Gegend herum. Kein Parkplatz! Am frühen Morgen eine halbe Stunde nach einer Parklücke suchen, das geht verdammt auf die Nerven. Es ist ätzend! Und wenn ich jetzt den Verstand verliere? Kommen dann der Kaufmann und der Teekocher angelaufen, um mir zu helfen? Da sehe ich doch lieber zu, daß ich nicht durchdrehe.

Während ich mir noch selbst gut zurede, um nicht auszurasten, schließt ein Mann sein Auto auf. Der Herr im Himmel ist gnädig! Wie heißt es doch gleich: Wenn dein Schäflein in Not geraten ist, schickst du deinen Engel zu Hilfe.

Seit zwei Wochen ist Juan Antonio, mein kleiner Fofo, wie ich ihn nenne, schrecklich verliebt. Völlig abgedreht. Sie hatten sich an dem Wochenende kennengelernt, als er nach Şile gefahren war. Eigentlich kaum zu glauben, daß sie sich vorher nicht über den Weg gelaufen sind, sich nicht schon in Istanbul, sondern eben in Şile kennenlernten. Na, jedenfalls haben sie sich kennengelernt und ineinander verknallt. Alfonso unterrichtet am spanischen Kulturzentrum. Und Fofo? Fofo, der hilft mir angeblich bei der Arbeit im Laden. Ich will ja nicht ungerecht sein, im Grunde hat er mir bis vor etwa zwei Wochen tatsächlich geholfen. Inzwischen kann ich mich allerdings glücklich schätzen, wenn ich ihn [6] überhaupt zu sehen bekomme. Wir treffen natürlich in meiner Wohnung aufeinander, wenn er kommt, um sich umzuziehen, aber das ist auch alles. In den letzten zwei Wochen haben wir insgesamt keine zwanzig Minuten miteinander geredet.

Seit Fofo nur noch verliebt herumflattert, muß immer ich morgens den Laden aufmachen. Das bedeutet, daß ich jeden Morgen früh aufstehe und Abend für Abend ins Bett falle wie ein nasser Sack. Nachtleben, Treffen mit Freunden und dergleichen – Fehlanzeige. Ich komme nicht mal dazu, mich mit Lale zu verabreden.

Aber was soll’s, ich liebe meine Arbeit. Ich liebe sie allerdings noch mehr, wenn ich nicht zehn Stunden im Laden festgenagelt bin.

»Logisch, daß ein Mensch, der gern Kriminalromane liest, auch Lust hat, sie zu verkaufen«, hatte Fofo gesagt. Tatsächlich hatte ich das auch gedacht, als ich damals den Laden aufmachte. Der Gedanke ist naheliegend.

Meinem geliebten Laden verdanke ich es, daß ich jeden Krimileser kenne, der in Istanbul lebt oder den sein Weg nach Istanbul und ins Viertel Kuledibi führt. Vor drei Jahren, als ich den Laden gerade eröffnet hatte, war Mick Jagger einer meiner ersten Kunden. Als ich begriff, wer da vor mir stand, war ich furchtbar aufgeregt. Um ein Autogramm oder so was bat ich ihn natürlich nicht, aber ich hätte mich nur zu gern mit ihm zusammen fotografieren lassen. Ich hab mich zusammengerissen und ließ mir nicht mal anmerken, daß ich ihn erkannt hatte. Lale hat sich damals sehr über mich lustig gemacht: »Manchmal hast du die deutsche Verstopfung«, hat sie gesagt. Aber es liegt nicht daran, daß [7] ich Deutsche bin, ich denke, ich bin ganz einfach zu blöd. Halten Sie sich fest, ich werde Ihnen sagen, warum ich mir nicht anmerken ließ, daß ich Mick Jagger erkannt hatte: Weil mir das mit dem Image einer seriösen Geschäftsfrau nicht vereinbar schien… Als ich den Laden gerade aufgemacht hatte, hielt ich mich für die Konzernchefin Güler Sabancı. Dieser glückliche Zustand hielt allerdings nicht allzu lange an. Wenn man zehn Stunden am Tag schuftet wie ein Schwerstarbeiter, fühlt man sich bestenfalls wie Havva Hanım* [* ›Frau‹, dem Vornamen nachgestellt] beim Putzen.

Trotzdem geht es mir sehr gut im Vergleich zu früher: Ich habe viel vom Geschäft gelernt, und auch finanzielle Probleme habe ich kaum noch. Eigentlich müßte ich mit Fofo reden. Wenn diese blödsinnige Verliebtheit weitergeht und er nicht bald in den Laden zurückkommt, muß ich einen anderen für ihn einstellen. Mein kleiner Fofo denkt und fühlt wie eine Hausfrau aus der Mittelschicht. Ich will jetzt nicht über ihn herziehen, ich sage ihm das gern auch ins Gesicht. Also ich meine diese Frauen, die keinen Finger mehr krümmen, sobald sie einen Mann gefunden haben, an den sie sich anlehnen können… Und nicht wissen, was sie tun sollen, wenn sie dann eines Tages geschieden sind.

Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Als Fofo und ich uns vor ungefähr zwei Jahren kennenlernten, hatte er sich in seiner Heimatstadt Granada in einen Türken verliebt und war ihm bis nach Istanbul hinterhergelaufen. Er hatte einfach alles stehen- und liegenlassen, seinen Rucksack gepackt [8] und sich ins nächste Flugzeug gesetzt. Ali, sein Geliebter, war Rechtsanwalt und Krawattenträger. Beim bloßen Gedanken daran mußten einem die Haare zu Berge stehen! Wie lange konnte ein Verhältnis zwischen Fofo und so einem schon dauern? Das sagte ich mir immer wieder, und dann hielt es doch recht lange, fast ein Jahr war er mit dem Mann zusammen. Daß Fofo sein Geliebter war, hielt der Kerl vor seinen Freunden geheim. Er hielt sogar Fofo selbst vor ihnen geheim. Aus irgendeinem Grunde brannte Fofo aber darauf, die krawattentragenden Freunde seines Geliebten kennenzulernen. Er tauchte manchmal unangekündigt in dessen Kanzlei auf – nicht aus Eifersucht, sondern in der Hoffnung, dort einem Freund von ihm zu begegnen. Lale und ich kochten vor Wut. Insbesondere die letzte Zeit ihrer Beziehung war eine richtige Katastrophe. Fofo saß ständig in der Wohnung herum und sah sich türkische Fernsehprogamme an. Was sich schließlich als nützlich erwies, er fing nämlich an, Türkisch zu reden. Er spricht jetzt zwar ein albernes Fernseh-Türkisch, sagt: »Hallo Kinder, heute fühle ich mich bombig« oder »Cool, cool, cool, Jungs«, aber alle, die auch fernsehen, verstehen das.

Eigentlich war unser Leben wieder in Ordnung, als wir diesen verfluchten Ali losgeworden waren. Fofo zog in meine Wohnung und fing an, bei mir im Laden zu arbeiten. Mein kleiner Fofo steht dem Leben gegenüber wie ein kleines Kind. Ich bin gespannt, was er alles mit diesem neuen Mann erlebt. Seit zwei Wochen mache ich mir große Sorgen.

Ich habe seinen Geliebten noch nicht kennengelernt. Bei unseren sehr kurzen Begegnungen habe ich Fofo zwar [9] ausgehorcht, aber er ist gerade verliebt, und man kann nichts darauf geben, was er einem sagt.

Zwar versucht sie, es sich nicht anmerken zu lassen, aber auch Lale ist besorgt. »Mensch, du bist wie eine Türkin«, sagt sie zu mir, »und zwar wie eine türkische Mutter.« Als ob sie selbst so anders wäre! Im Grunde sind wir beide besorgt, weil wir Fofo gut kennen und wissen, wie heftig er sich in so was hineinsteigern kann. Ich bin sogar mehr als besorgt… In letzter Zeit macht mich das völlig kribbelig.

Und deshalb dreh ich auch durch, wenn ich keinen Parkplatz finde.

Dabei könnte ich doch einfach erst einmal den Laden aufschließen, lüften, ein, zwei Tassen Kaffee trinken und alles ruhig angehen lassen, oder? Aber nein. Noch während ich den Schlüssel ins Schloß stecke, läutet schon das Telefon. Ich hasse so ein Gehetze; ich schließe die Tür auf und stürze mich auf den Apparat. Eine deutschsprechende, fröhliche, ausgelassene Frauenstimme. Und das am frühen Morgen! Im Grunde geht das zu weit, um diese Uhrzeit ist eine ausgelassene Frau schwer zu ertragen.

»Deine Telefonnummer habe ich von deiner Mutter, und die habe ich im Berliner Telefonbuch gefunden…«

»Ja«, sage ich. »Und wer sind Sie, bitte?«

Ach! Es ist Petra! Meine Freundin aus der Studienzeit. Wir haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, mindestens fünfzehn, sechzehn Jahre. Zwar habe ich Petras Karriere immer verfolgen können, in der Presse oder auf irgendeine andere Weise. Petra ist nämlich meine berühmteste Freundin. Sie ist ein Star, wenn nicht des internationalen, [10] so doch des deutschen Films. Aber außer Marlene Dietrich haben die Deutschen bisher ohnehin keine Weltstars hervorgebracht. Und die war ja auch mehr Amerikanerin als Deutsche.

Was wollte ich gerade sagen?

Petra hatte bei uns an der Hochschule Theater studiert. Nach dem Abschluß nahm ich den Rucksack, um mich nach einer neuen Stadt umzuschauen, und schon hatten wir uns aus den Augen verloren. Wie das eben so läuft.

Petra war schon im Fernsehen zu sehen, als ich noch in Berlin war. Sie hatte eine Rolle in einem Tatort ergattert. Und wenn ich in den letzten Jahren in Deutschland war, und es lief gerade ein Film mit ihr, ließ ich mir den nicht entgehen. Einmal war ich auch auf dem Istanbuler Filmfestival, nur weil sie in einem der Wettbewerbsbeiträge mitspielte.

Ich sah mir ihre Filme an, las alle Artikel über sie, aber es gibt eben dieses bekannte Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Freunden, die berühmt werden. Man denkt, sie würden einen nicht mehr erkennen, wenn man ihnen auf der Straße begegnete. Oder ihre Sekretärin würde einen nicht zu ihnen durchstellen… Solche Gefühle hegte ich gegenüber Petra. Eigentlich hatte ich keinen vernünftigen Grund dafür: Schließlich waren wir uns nie auf der Straße begegnet, und angerufen oder so hatte ich sie auch nie. Daher konnte ich gar nicht wissen, ob sie hochnäsig geworden war oder nicht. Nun aber hatte ich Petra – wie in einem Roman – plötzlich am anderen Ende der Leitung. Und da sie mich angerufen hatte, war ihr entweder der Ruhm nicht zu Kopf gestiegen, oder aber sie hatte ihn verloren, war zu [11] einem bedauernswerten Geschöpf geworden, das von der deutschen Sozialhilfe lebte und den Leuten beim Sozialamt mühsam die paar Groschen entlocken mußte, die der Staat herausrückte. Die Sache mit der Sozialhilfe, das war zuviel für sie gewesen, und sie hatte angefangen, nach einem Ausweg zu suchen. Und so rief sie nun mich an, entweder um mich anzupumpen oder um mich zu fragen, ob ich einen Job für sie hätte. Ich hatte ein bißchen Geld, das ich ihr hätte leihen können; meine Freunde beurteilen mich in diesem Punkt gemeinhin positiver als den deutschen Staat. Und wenn sie eine Arbeit brauchte, so konnte ich noch heute mit Fofo reden. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war so oder so sehr willkommen.

»Ich habe dich aus den Augen verloren«, sagte sie. »Dabei habe ich immer, wenn ich einen gemeinsamen Freund traf, nach dir gefragt. Und gestern habe ich auf einer Filmgala Alex getroffen. Er sagte, er wohnt in Berlin und arbeitet als Kameramann. Er hat dich offensichtlich vor ein paar Jahren im Sommer in Berlin gesehen, da hast du bei deiner Mutter gewohnt. Ja, und so kam mir der Gedanke, deine Mutter anzurufen. Wie dumm von mir, daß ich darauf nicht früher gekommen bin. Aber du, warum hast du nie etwas von dir hören lassen?« Ich stammelte irgendwelchen Unsinn, ich konnte ja schlecht sagen: »Ich habe dich nicht angerufen, weil du berühmt geworden bist!« Außerdem hatte ich nicht das Gefühl, daß wir so dicke Freundinnen gewesen waren, daß wir uns auf keinen Fall aus den Augen hätten verlieren dürfen, aber das ist eine andere Sache.

»Kommst du mal nach Deutschland?« fragte sie.

[12] »Ich weiß nicht«, sagte ich; eigentlich hatte ich das nicht vorgehabt; aber um Petra zu sehen, würde ich vielleicht doch hinfahren. Es freute mich, daß sie nicht hochnäsig und immer noch berühmt war. Sie war eine Reise nach Deutschland wert.

Ich legte auf und betrachtete für bestimmt zehn Minuten das Telefon, so verwundert war ich. Petra kommt! Sie hat die Hauptrolle in einer türkisch-deutschen Koproduktion, einem Film, der in Istanbul spielt, und wird länger als einen Monat hierbleiben. Sie will weder Geld noch Arbeit, sie will auch nicht während der Dreharbeiten bei mir wohnen. Sie will sich nur mit mir treffen, will, daß wir wie zwei alte Freundinnen miteinander tratschen, will mir Tips geben, welche Anti-Aging-Creme die Krähenfüße am besten beseitigt, oder, wer weiß, vielleicht will sie mir auch ein von ihr persönlich entwickeltes Verfahren beibringen, mit dem man die Flecken am Spülbecken wegbekommt, ohne dabei die Emailschicht zu beschädigen. Sie will mit mir also nur das machen, was jede Frau mit ihrer Freundin tut – als wäre sie gar nicht berühmt.

Ich riß mich zusammen und faßte den Entschluß, endlich Kaffee zu kochen, um den Tag doch noch beginnen zu lassen. Im Laden gab es eine Nische, die wir als Küche benutzten. Fofo und ich, wir trinken so viel Tee, daß es uns schnell Pleite machen würde, wenn wir ihn uns aus der Teeküche im Gewerbegebäude an der Ecke kommen ließen. Bis wir darauf kamen, uns einen Kocher in diese Nische zu stellen, hatten wir aber schon dafür gesorgt, daß der gute Recai mit seiner Teeküche noch einen illegalen Wolkenkratzer [13] errichten konnte, der beim nächsten Erdbeben von 5,8 in sich zusammenfallen wird.

Eigentlich finde ich Teeküchen großartig, vor allem, wenn ich sie mit diesen menschenfeindlichen Automaten für Kaffee und Tee vergleiche… Zum einen weiß der Teekocher, wie Sie heißen, ob Sie den Kaffee mit oder ohne Zucker mögen oder wann Sie lieber Tee und wann Sie lieber Kaffee trinken. Und wenn Sie einen wie unseren Recai als Teekocher haben, dann weiß er, wann Sie und Ihr Schatz sich getrennt, wann Sie sich wieder versöhnt haben, wie lange Sie in der letzten Nacht unterwegs waren oder ob Sie den Abend vor dem Fernseher verbracht haben, kurz gesagt, er weiß mehr, als er eigentlich wissen sollte. Wenn Sie in keiner illegalen Organisation tätig sind, brauchen Sie sich durch solche Teekocher nicht gestört zu fühlen. Denn in Istanbul läuft der Klatsch und Tratsch über ein so engmaschiges Netz, daß ohnehin jeder diese Dinge über Sie weiß. Da kommt es auf einen mehr oder weniger nicht an.

Klar, in einer riesigen Stadt wie Istanbul ist es auch nicht einfach, immer auf dem neusten Stand zu sein. Daher unterhalten sich die Türken auf der Straße, auf der Arbeit, beim Essen mit der Freundin, ja sogar im Theater und im Kino ständig über ihr Handy. Ich möchte wirklich gern wissen, ob Graham Bell nicht doch türkischer Abstammung war, und, falls nicht, wie es dazu kommen konnte, daß die Türken an der Erfindung eines Gerätes, auf das sie so sehr abfahren, nicht wenigstens beteiligt waren.

Am Abend kam ich wieder völlig erledigt nach Hause. Ich hasse solche Tage. Dauernd sind Kunden da, ständig klingelt das Telefon, Leute kommen und gehen… Ein [14] totales Durcheinander! Als ich die Ladentür zuschließen wollte, hatte ich nicht die Kraft, den Schlüssel umzudrehen, obendrein mußte ich dafür zahlen, daß ich mit dem Wagen zur Arbeit gekommen war. In Istanbul bereitet einem ein Auto nur Probleme – keine Rede davon, daß es einem das Leben erleichtert. Einerseits sind die Straßen sehr eng, die Stadt ist ja alt und das Viertel, in dem sich mein Laden befindet, erst recht: Kuledibi gibt es schon seit der Zeit der Genueser.

In dieser Stadt sind einfach alle Tag und Nacht unterwegs, von zehn Millionen Menschen sucht anscheinend kein einziger irgendwann seine Wohnung auf. Auf den Straßen wimmelt es immer von Menschen und Autos. Zehn Millionen Einwohner, das sagt sich so leicht. Das ist ein ganzes Land!

Es geht daher ziemlich an die Nerven, wenn man in Istanbul einen Parkplatz sucht oder sich im Stau nur zentimeterweise auf sein Ziel zubewegt. Aber ich bin eben faul – wenn ich von meiner Wohnung zum Laden zu Fuß gehe, dauert das eine halbe Stunde, und mit dem Auto auch; da fahre ich lieber mit dem Auto.

Weil ich den ganzen Tag über so viel zu tun hatte, war ich gar nicht dazu gekommen, mich über Petras Anruf zu freuen. Kaum war ich zu Hause, hängte ich mich wie jeder normale Istanbuler ans Telefon. Ich rief Lale an. Sie wußte, wer Petra war, in den Film, der auf dem Festival gezeigt wurde, waren wir zusammen gegangen. Ein paar Mal hatte ich ihr auch den Vorschlag gemacht, in deutschen Zeitschriften erschienene Interviews mit Petra für ihre Zeitung zu übersetzen, sie hatte sich aber schlichtweg geweigert, [15] darauf einzugehen. Lale ist eben manchmal sehr anstrengend. Aber was soll’s, sie ist meine beste Freundin.

Nach Lale wollte ich Fofo anrufen, konnte es aber nicht, da ich seine Telefonnummer nicht hatte. Ich saß ein bißchen herum, rauchte drei Zigaretten innerhalb einer Viertelstunde und rief noch einmal Lale an. Es war besetzt. Ich duschte, nur damit die Zeit verging, versuchte es wieder – immer noch besetzt. Ich überlegte, ob ich schnell ins Auto springen und zu ihr fahren sollte, hatte aber keine rechte Lust dazu. Ich drückte auf die Wahlwiederholung, wieder besetzt. Auf der Suche nach Trost rief ich meinen alten Liebhaber an, der immer für mich da ist und den ich etwas an der langen Leine halte. Nun raten Sie mal: Richtig, auch sein Telefon war besetzt. Vor lauter Ärger muß ich dann wohl eingenickt sein. Im Traum versuchte ich, Graham Bell mit einem Telefonhörer den Kopf einzuschlagen. Und Madame Curie schrie dazu: »Das ist Mord! Das ist Mord!« Schweißgebadet wachte ich auf.

Am nächsten Morgen war Samstag, der erste der schönsten Tage der Woche, der zweite schöne Tag war der Sonntag, und das war gleich der folgende. Viele Landeskinder, die nichts anderes im Kopf hatten, als Geld zu scheffeln, befanden sich an diesem ersten der schönen Tage der Woche an ihrem Arbeitsplatz. Ich wollte weder das eine noch das andere. Wenn Fofo nicht gerade eine Depression hatte und im Laden saubermachte, blieb – wie auch das Schild an der Tür dann anzeigte – samstags geschlossen.

Samstags pflege ich mich mit meinem lieben Freund und Nachbarn Yılmaz in einer Ecke des Teegartens unseres [16] Viertels auf die Lauer zu legen und Vorbeigehende abzufangen. Yılmaz ist um die Fünfzig, hat eine Glatze, ist klein und dick und arbeitet in der Werbung. Ein irrer Typ! Er kennt jeden und jedes Gerücht, er erzählt mir alles, was er weiß, und den anderen alles, was er über mich weiß… Ich habe meine Meinung hierzu ja schon gesagt; auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an, und deshalb ist Yılmaz einer meiner ganz dicken Freunde.

Yılmaz und ich, wir holen uns samstagsmorgens Pasteten und Kringel vom Bäcker und Zeitungen vom Laden nebenan und richten uns damit im Teegarten ein. So gegen zehn. Die ganze Szene von Cihangir zieht dann an uns vorbei, manche gehen uns ins Netz und setzen sich an unseren Tisch, manche sind vorsichtiger, winken uns nur zu und gehen vorbei. Wenn uns der Klatsch und Tratsch langweilig wird, gehen Yılmaz und ich ins Kino, und wenn gerade kein guter Film läuft, geht jeder von uns einfach nach Hause.

Entsprechend unserer Arbeitsteilung kauft Yılmaz immer die Zeitungen und ich die Backwaren. Da ich unter der Woche fast nie Zeitungen lese, ist der Samstagmorgen auch in dieser Hinsicht für mich eine Abwechslung: Und es hat ja niemand gesagt, daß jede Abwechslung unbedingt angenehm sein muß.

Es hat sich so eingebürgert, daß Yılmaz jedesmal früher als ich – oder besser gesagt: pünktlich – in den Teegarten kommt. Und da ich kein pünktlicher Mensch und obendrein auch noch eine unpünktliche Deutsche bin, läßt er keine Gelegenheit aus, mich deswegen aufzuziehen. Und ich ziehe ihn auf, indem ich sage, daß alle Türken die [17] Deutschen kategorisch für pünktliche und fleißige Stockfische hielten und er offensichtlich keine Ausnahme bilde. Wie Sie sich denken können, ist es für Yılmaz die größte Beleidigung, ihm zu sagen, er sei wie alle anderen.

Hier komme ich nicht umhin, von den seltsamen Vorurteilen zu sprechen, die die Türken in bezug auf die Deutschen hegen: Wenn Türken etwa einen fröhlich lachenden Deutschen sehen, fallen sie vor Staunen fast vom Hocker. Wenn ich dagegen lache, denken sie, ich sei bereits ziemlich gut in die türkische Gesellschaft integriert, und finden das gut. Bis heute konnte ich noch niemanden davon überzeugen, daß ich auch in den Jahren, als ich in Deutschland lebte, wenigstens gelegentlich gelacht habe und deswegen dort nicht besonders isoliert war. Ich habe sogar Bekannte, die annehmen, daß ich mich als lachende Deutsche in Deutschland nicht heimisch gefühlt und mich deshalb in Istanbul niedergelassen hätte.

Auch daß ich Kati heiße, ist für die Türken ein Zeichen dafür, daß ich anders bin als die normalen Deutschen. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe tatsächlich Türken kennengelernt, die glaubten, daß es in Deutschland nur zwei Vornamen gäbe und alle Männer Hans und alle Frauen Helga hießen. Keine Ahnung, woher dieser Unsinn kommt.

Als ich eine Viertelstunde verspätet in den Teegarten kam, verwirrte mich Yılmaz dadurch, daß er diesmal keinen Witz über die Pünktlichkeit und die Eigenarten der Deutschen machte. Wahrscheinlich war er viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt: Er erzählte, wie viele andere Firmen in der Türkei sei auch die Werbeagentur, in der er arbeitete, [18] in einer finanziellen Krise. Man habe angefangen, Leute zu entlassen. Für den Fall, daß man ihn entlassen würde, schlug ich ihm die Stelle von Fofo vor, die ja wahrscheinlich bald zu haben war. Er sah mich hämisch an. Wie, wollte er mich jetzt etwa aufziehen, weil ich ihm keine zehntausend Dollar Monatsgehalt zahlen konnte?

Petra hatte gesagt, sie würde mich wieder anrufen, sobald feststand, daß sie kommen würde, sobald also der Schreibkram zwischen dem türkischen Kulturministerium und den Produzenten erledigt war. Zwei Wochen gingen ins Land, ohne daß ich etwas von ihr hörte. Natürlich blieb ich in der Zwischenzeit nicht untätig: Als ich Fofo einmal erwischte, machte ich ihm klar, daß ich jemand für ihn einstellen würde, falls er nicht gedachte, in den Laden zurückzukehren. Ich hätte keine Lust, tagtäglich wie eine Wahnsinnige zu arbeiten und deswegen vorzeitig in die Kiste zu springen. Zwar liefen die Straßen nicht gerade über von Leuten, die in einer Krimibuchhandlung arbeiten wollten, aber ich würde bestimmt jemanden finden.

Statt mir eine Antwort zu geben, druckste Fofo nur herum. Weder sagte er, daß er wieder zur Arbeit kommen, noch, daß er dies nicht tun würde. Gereizt schnitt ich ihm das Wort ab:

»Dann suche ich erst mal jemanden für drei Monate. Und du entscheidest dich in der Zwischenzeit, was du in deinem Leben vorhast. Ob du auch den Rest deines Lebens hinter irgendwelchen Männern herlaufen willst oder doch noch lernen möchtest, auf eigenen Füßen zu stehen!«

Nach dieser wichtigen und bedeutungsvollen Erklärung [19] ging ich hinaus und schlug die Tür hinter mir zu. Ich glaube nicht, daß sich Fofo etwas aus dem machte, was ich gesagt hatte, oder daraus, daß ich die Tür krachend hinter mir zugeschlagen hatte. Für ihn gab es im Moment nur Alfonso. Aber ich hatte schließlich auch meinen Stolz.

Einige Tage später ging ich zu meiner Freundin Candan, die einen großen Buchladen in Beyoğlu hat, und bat sie, eine geeignete Person für meinen Laden zu finden. Candan ist der reine Wahnsinn in solchen Dingen; wann immer ich sie um so etwas bitte, sie findet sofort eine Lösung. Und so war es auch diesmal. Über das Handy rief sie vier, fünf Nummern an; eine Stunde später saß ein sympathisches Mädchen vor mir: Pelin.

Pelin erklärte mir, sie sei Studentin an der Istanbuler Universität und studiere englische Sprache und Literatur. Sie sei aus Izmir, sei nach Istanbul gekommen, um zu studieren und fern von ihrer Familie frei atmen zu können. Sie sei seit sieben Jahren hier, arbeite und studiere gleichzeitig, daher sei sie noch nicht fertig.

»Das macht doch nichts«, sagte ich. Es war sogar ein Pluspunkt für sie. »Ich mag übermäßig fleißige Menschen nicht«, fügte ich hinzu.

»Obwohl Sie Deutsche sind?« fragte Pelin.

Wir nahmen eine Arbeitsteilung vor. Sie war nicht gerecht, dennoch war es eine Arbeitsteilung. An drei Tagen in der Woche würde Pelin den Laden aufmachen und ich bis gegen Mittag schlafen können. Da sie schon früher in einer Buchhandlung gearbeitet hatte, kam Pelin sofort mit ihren Aufgaben zurecht und kam nun regelmäßig in den Laden – unter den vorwurfsvollen Blicken von Recai, dem [20] Teekocher, dem es nicht paßte, daß er nicht als allererster informiert worden war.

Fofo ist mein Freund, daher sage ich es ungern, aber Pelin arbeitet mindestens fünfmal so gut wie Fofo. An den Tagen, an denen sie an der Reihe ist, macht sie den Laden pünktlich auf, staubt die Bücher ab, auch wenn sie keine Depressionen hat, macht alles sauber, stellt Blumen auf unseren Tisch, wir haben immer frischen Tee und frischen Kaffee, und auch meinen deutschen Eigenarten bringt sie Verständnis entgegen… Eigentlich hat sie nur einen Fehler, nämlich, daß sie Kriminalromane nicht mag. Ich denke, mit der Zeit werden wir auch das überwinden, ich mache mir deshalb keine Sorgen.

Pelin mag zwar keine Krimis, aber sie liebt Bücher und arbeitet gern in einem Buchladen. Allerdings hat sie mir einige Male durch die Blume gesagt, daß sie lieber eine besser bezahlte Arbeit machen würde. Wohlerzogene Türken sagen einem nie direkt, wenn sie mehr Geld haben wollen, sie sagen es einem nur durch die Blume.

»Mal sehen, was die Zeit so mit sich bringt«, sagte ich einmal, um ihr auch etwas durch die Blume zu sagen.

Während dieser Gespräche überlegte ich, ob ich mein Auto verkaufen sollte, um Pelin im Laden halten zu können, falls Fofo nach drei Monaten immer noch nicht zurück war. Nun ja, inzwischen hat mich meine liebe Freundin Lale vor solchen Finanzierungsproblemen weitgehend gerettet; kaum hatte ich Pelin kennengelernt, da fing Lale an, vor dem Mädchen über mich herzuziehen: Obwohl ich die ersten sieben und die letzten dreizehn Jahre meines Lebens, insgesamt also zwanzig Jahre und damit fast die Hälfte [21] meines Lebens, in Istanbul zugebracht hätte, litte ich immer noch unter den Zerstörungen, die das Leben in einem deutschen Dorf in meiner Seele angerichtet habe, ich sei ein typischer deutscher Geizkragen, würde nie unnötig eine Glühbirne in meiner Wohnung einschalten, hätte mir sogar nur deshalb keine Halogenlampen einbauen lassen, weil ich sie für Stromschlucker hielte; nur Scham würde mich davon abhalten, die Abende im Licht von ein paar Kerzen zu verbringen wie die anderen Deutschen. Und da Lale, hatte sie einmal angefangen, nicht mehr aufhören konnte, zog sie hemmungslos über mich her. Nein, auch in kein Taxi würde ich steigen, nur um das Geld zu sparen. Gästen, die in meine Wohnung kämen, würde ich nur einen Tee vorsetzen; einmal hätte ich in einem Restaurant vorgeschlagen, daß jeder seine Rechnung selbst bezahlen solle, und außerdem hätte ich… Ich kann hier nicht umhin zu erwähnen, daß die Türken es »auf deutsche Art« nennen, wenn jeder seine eigene Rechnung bezahlt, und jedesmal, wenn sie diesen Ausdruck benutzen, schielen sie zuerst zu mir herüber und blicken sich dann grinsend an: Als sei ich es, die die deutsche Art zu bezahlen erfunden hätte! Nun ja, Lale ließ kein gutes Haar an mir, und ich hielt den Mund und sagte kein einziges Wort, um nicht auch noch diese unerträglichen Deutschen zu verteidigen. Und das alles wurde wie zu erwarten am Ende zu einem Punkt für mich. Pelin glaubt jetzt, ich sei eine von den Türken schikanierte Einwanderin, und empfindet große Sympathie für mich. Ich bin überzeugt, daß sie nicht kündigen würde, selbst wenn sie jemanden fände, der ihr dreimal soviel zahlt wie ich…

[22] 2

Es war Ende Mai, als Petra zum zweiten Mal anrief.

Aus dem Istanbuler Frühling, diesem Weltwunder, das im Nu vorbei ist, war schon Sommer geworden. Dabei hätte ich gerne gehabt, daß Petra diesen Frühling erlebt: daß sie Tee trinkt in den Gärten der prächtigen osmanischen Paläste im Schatten von jahrhundertealten Platanen, an denen die ersten Blätter sprießen, daß sie durch die nach Mimosen duftenden Gassen streift, daß ihr die Feuchtigkeit in die Knochen geht in den byzantinischen Zisternen, daß sie sich das Hippodrom und den Sultan-Ahmet-Brunnen anschaut, während sie sich auf taubedecktem Rasen in der lauwarmen Frühlingssonne entspannt, oder daß sie bei Hacı Halil Artischocken in Olivenöl probiert…

»Wir haben erst jetzt die Drehgenehmigungen bekommen«, sagte Petra. Die türkische Bürokratie stand der deutschen in Sachen Umständlichkeit und Papierverbrauch nicht nach, deshalb wunderte es mich gar nicht, daß es so lange gedauert hatte. Ende April wollten sie mit den Dreharbeiten beginnen, nun würde es wohl Anfang Juni werden.

›Ihr habt den Frühling verpaßt‹, dachte ich bei mir.

Ich versprach Petra, sie am Flughafen abzuholen. Ihr Hotel lag in der Nähe meiner Wohnung, es machte mir also keine Umstände.

[23] So verbrachte ich eine endlos lange Stunde in einem Café auf dem neu ausgebauten Atatürk-Flughafen, der Athen Konkurrenz zu machen versuchte. Vor lauter Zigarettenqualm konnte man kaum die Hand vor Augen sehen, doch wenn Sie nun denken, das liege an der Aufregung – die Menschen sind aufgeregt, weil sie ihre Angehörigen verabschieden oder wiedersehen, und rauchen daher mehr –, dann muß ich Ihnen gleich sagen, daß die Türken solche Vorwände nicht nötig haben, um sich eine Zigarette nach der anderen anzustecken. Daß die Qualmwolke in dem Café mir in den Augen brannte und ich fast erstickte, war daher vollkommen normal. Notgedrungen schloß ich mich der erdrückenden Mehrheit der Raucher an.

War ich aufgeregt, weil ich Petra gleich wiedersehen würde? Hatte ich sie vermißt? Ich versuchte mir vorzustellen, wie ihr Gesicht aussah und wie es sich in all den Jahren verändert haben mochte. Was hatte sie erlebt, und was hatte ich erlebt? Als ich mich gerade in eine sinnlose Abrechnung mit dem Leben verstricken wollte, wurde über die Lautsprecher bekanntgegeben, daß Petras Maschine gelandet sei.

Ich mußte einsehen, daß es ein sinnloses Unterfangen war, Petra auf dem Flughafen begrüßen zu wollen. Es wimmelte von Journalisten, die das Filmteam fotografieren wollten. Dann tauchten ein paar Sicherheitsleute auf und schleusten Petra aus der Menge heraus. Irgendwie mußte sie jetzt aber mein Winken und Herumhüpfen bemerkt haben, denn sie schrie die Männer an, Platz zu machen und mich durchzulassen. Für ein paar Sekunden schloß sich die Mauer aus Menschen um uns, bis uns irgendwelche Leute zum Ausgang drängten.

[24] Ich hatte nicht bedacht, daß meine alte Freundin tatsächlich ein Star war, und das Team hatte offenbar nicht damit gerechnet, daß Petra in Istanbul eine so vertrottelte Freundin haben könnte, jedenfalls wartete draußen ein Straßenkreuzer auf sie. Da konnte ich ja schlecht sagen: Halt dir mal diese Bestien vom Leib, ich hole schnell mein Auto. Mein Peugeot Baujahr 82 hätte neben der Luxuskarosse verdammt ärmlich ausgesehen. Während die Männer sie in den Wagen stießen, konnte ich ihr gerade noch zurufen, daß wir uns im Hotel sehen würden. Petra winkte zum Einverständnis, der Fahrer trat aufs Gas, und sie brausten davon.

In einer für Freitagnachmittag anständigen Geschwindigkeit, ja gelegentlich sogar mit Vollgas, fuhr ich auf der Küstenstraße dahin, auf der einen Seite das Marmarameer mit dem Bosporus in der Ferne, auf der anderen die Viertel der unteren Mittelschicht, hohe Wohnblocks, einer gräßlicher als der andere, und vielleicht zum ersten Mal, seitdem ich nach Istanbul gekommen war, ließ mich diese wilde, allen Geschmacklosigkeiten und Zerstörungsbemühungen trotzende Schönheit kalt. Ich war mit den Gedanken bei Petra. Nur für einen kurzen Augenblick hatte ich ihr Gesicht gesehen. Der Ausdruck… Eine gebrochene Frau, wie erschlagen von einem Leben, das zu schwer für sie war… Es gibt Dinge, die sich im Gesicht, in der Mimik festsetzen und auf Fotos nicht zu sehen sind… Und die keine Creme und keine Schönheitsoperation wieder entfernen können… Eine finstere, düstere Traurigkeit…

[25] Als an der Serailspitze der Verkehr zum Erliegen kam, war die Sonne über dem Goldenen Horn schon am Untergehen. Ich mußte Pelin anrufen und ihr sagen, daß sie den Laden schließen und gehen und nicht auf mich warten sollte. Beim Weggehen hatte ich ihr gesagt, ich würde bald wiederkommen, und inzwischen waren Stunden vergangen. Ich hatte nicht an den Freitagnachmittagsverkehr gedacht. Hilflos kämpfte ich mich durchs Verkehrschaos, in das ein waschechter Istanbuler unter keinen Umständen geraten wäre. Fuhr ich noch beim Laden vorbei, würde ich zu spät zu Petra ins Hotel kommen, tat ich es nicht, würde Pelin umsonst auf mich warten.

Es war ein Augenblick, in dem ich ein Handy hätte brauchen können, ach was, unbedingt eins hätte haben müssen. Ich mußte irgendwo parken und nach einer Telefonzelle suchen, aber selbst wenn ich einen Parkplatz fände, hätte ich damit noch lange keine Telefonzelle gefunden. Als ich kurz davor war, den Verstand zu verlieren, aber eben doch noch kurz davor, kam mir eine geniale Idee: Ich rief dem braven Familienvater am Steuer des Wagens neben mir zu:

»Entschuldigung, haben Sie vielleicht ein Handy?«

Klar, daß der gute Mann sich über meine Frage wunderte. Heutzutage hatten sogar die Schüler in der Grundschule Handys, wie sollte er da keines haben?

»Ich muß ganz dringend telefonieren, ich hatte nicht gedacht, daß so viel Verkehr sein würde. Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen?«

Ich gab ihm das Handy offen zurück, weil ich es nicht geschafft hatte, es zuzuklappen, und bot ihm an, das Gespräch zu bezahlen. »Aber ich bitte Sie«, sagte er.

[26] Und um mir zu zeigen, wie unmöglich er meinen Vorschlag fand, biß er sich auf die Unterlippe und spreizte die Finger auseinander: »Ist doch nicht der Rede wert!«

Ich kam noch später in Petras Hotel an als in meiner pessimistischsten Schätzung vermutet, völlig fertig und schweißgebadet, mit Krämpfen in den Beinen vom Treten auf Gaspedal, Bremse und Kupplung, mit einem Gesicht, das schmutziggelb war von all den Zigaretten, die ich vor lauter Streß geraucht hatte. Die anderen mußten längst da sein. Es wäre doch lächerlich, wenn es den Riesenschlitten im Verkehr genauso erwischt hätte, oder?

Als ich den Jungen an der Rezeption bat, Petra in ihrem Zimmer anzurufen und ihr Bescheid zu sagen, konnte ich mit der Mischung aus Ehrerbietung und Bewunderung auf seinem Gesicht zunächst nicht viel anfangen. Als dieser Gesichtsausdruck wieder verschwand, sobald ich sagte, ich sei Petras Freundin, wurde mir klar, daß der Junge auch mich für eine dieser V.I.P.s gehalten hatte. Und das bei meinem Zustand!

Petra hatte eine Suite mit einer großartigen Aussicht, fast größer als meine Wohnung. Hier nun fand unser nicht gerade überschwengliches Wiedersehen statt. Eine Szene, wie sie eben abläuft zwischen zwei Deutschen, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen haben; Sie müssen sich das vorstellen wie bei Schlöndorff. In Die Stille nach dem Schuß zum Beispiel, den ich mir bei meiner letzten Reise nach Berlin angesehen hatte, gab es so einen Moment: Zwei militante Frauen von der Roten-Armee-Fraktion kämpfen für dieselbe Sache, gehen zusammen nach Palästina, entführen [27] Leute, töten Polizisten… Daß sie gemeinsam ihr Leben aufs Spiel setzen, müßte doch, meint man jedenfalls, eine gewisse Nähe zwischen den beiden erzeugen? Aber nein, tut es nicht. Wie auch immer, die beiden militanten Frauen sehen sich nach vielen Jahren zufällig in Ostdeutschland wieder. Und da kommt es zu dieser Begegnung, zu einer richtig deutschen Begegnung, genau wie zwischen Petra und mir: Man gibt sich die Hand, die Wangen berühren einander, wie es sich gehört. Und das war’s! Keine Umarmung, kein In-die-Arme-Nehmen und Drücken, kein gegenseitiges Über-den-Rücken-Streichen… Sie sehen, obwohl ich selbst zu den Menschen gehöre, die ganz besonders unter Klischeevorstellungen zu leiden haben, muß ich zugeben, daß ein Teil der Vorurteile über die Deutschen doch zutreffen.

Wo war ich noch gleich? Ach ja: Petra bedauerte, mir nicht gesagt zu haben, daß ich nicht zum Flughafen kommen sollte. Daß aber ihr Eintreffen einen solchen Menschenauflauf verursachen würde, damit hatte auch sie nicht gerechnet.

Wir waren beide so geschafft, daß wir keine Lust hatten, noch mal rauszugehen. Petra schlug vor, daß wir uns beim Zimmerservice etwas zu essen bestellen. Was soll ich es leugnen, ich war ihr verdammt dankbar dafür.

Bei unserem anschließenden Gespräch wurde ich den Eindruck nicht los, daß Petra viel verschlossener war als früher. Gut, sie war nie meine dickste Freundin gewesen, aber sie war mir auch nie so fremd gewesen. Wenn ich irgendeine alte Freundin nach langer Zeit wiedersah, stellte ich gewöhnlich fest, daß viel Wasser den Berg [28] hinuntergeflossen war und sich unsere Wege getrennt hatten, diesmal aber war es anders, das ging über die gewöhnliche Spannung zwischen zwei Freundinnen, die sich nach Jahren wiedersehen, weit hinaus. Etwas war abhanden gekommen. Es lag nicht an mir, auch nicht an unserer Beziehung, nein, Petra mußte einen Verlust erlitten haben. War sie jetzt bei mir auf Spurensuche?

Als ich sie schließlich auf dem Sofa zurückließ, war sie fast eingenickt. Mir gingen alle möglichen Gedanken im Kopf herum. »Wie in einem Kessel«, sagen die Türken, ja, es brodelte in meinem Kopf wie in einem Kessel. Ich holte mein Auto vom Hotelparkplatz. In Ortaköy mußte die Freitagabendinvasion bereits eingesetzt haben. Egal. Ich bog zur Brücke ab, die mich auf das asiatische Ufer bringen sollte, und fuhr zu Lale. Ich hatte keine Lust, diesen Freitagabend wie eine Schleiereule allein in der Wohnung herumzusitzen.

Als ich am nächsten Morgen auf dem Sofa in Lales Arbeitszimmer aufwachte, rief ich erst mal Yılmaz an, um ihm zu sagen, daß ich nicht zu unserem Samstagstreffen kommen könne, danach rief ich Petra an. Sie war längst wach und hatte sogar schon gefrühstückt. Sie würde bald ihren Tagesplan bekommen und mich dann gleich wieder anrufen.

Wir hatten im Garten des Hauses in Kuzguncuk gefrühstückt, saßen vor den leeren Tellern und tranken unseren Kaffee, als das Telefon klingelte. Es war Petra. Sie würde sich bestimmt nicht vor dem Abendessen mit mir treffen können. Sie seien ohnehin schon in Verzug, und der [29] Regisseur wolle keine Zeit verlieren, es würde sofort losgehen mit der Arbeit.

Das ärgerte mich zwar, aber ich ließ es Petra nicht spüren. Außerdem war es ja nicht ihre Schuld. Nichts war irgend jemandes Schuld, nur – was sollte ich jetzt mit diesem tollen Samstag anfangen?

Lale war mindestens so ratlos wie ich. Obendrein war heute ihr einziger freier Tag. Also beratschlagten wir, was wir mit dem Tag anfangen konnten, und nach einer halben Stunde hatten wir beschlossen, diesen großartigen Samstag im Schönheitssalon zu verbringen. Wenn Sie nämlich einen Tag in Ihre Schönheit investieren, kann das am Ende für Sie nur von Vorteil sein, besonders wenn Sie eine Frau in mittleren Jahren und auf der Suche nach einem Mann sind.

Als ich gegen Abend nach Hause kam, war ich von einer wohligen Erschöpfung durchdrungen und sah großartig aus. Das ist eine der Seiten, die ich an Istanbul besonders liebe, das gepflegte Aussehen: Hier ist es ganz normal, zum Friseur oder zur Kosmetikerin zu gehen. In Deutschland dagegen schneiden und färben sich alle – bis auf meine Mutter und ihre Freundinnen – die Haare selbst; zur Maniküre, Pediküre oder Hautpflege zu gehen kommt niemand in den Sinn. Die Straßen sind daher voll von Menschen, denen Sie am liebsten nicht ins Gesicht schauen würden. München geht da noch, aber in Berlin vergeht einem angesichts dieses Heers von häßlichen Enten manchmal regelrecht die Lust, auf die Straße zu gehen.

Am schicksten laufen in Berlin eigentlich die Türkinnen herum, nicht alle, nur die türkischen Mädchen mit Kopftuch aus der zweiten und dritten Generation. Die sind so schick, [30] daß einem die Spucke wegbleibt. Natürlich nicht, weil sie die letzten Kreationen von Jil Sander tragen, sie machen sich ihre Mode selbst und bleiben ihr bis zum Schluß treu: Plateausohlen, billig wirkende, aber modern geschnittene Hosen aus schwarzem Nylon, Kunstledermäntel… Schicke Kopftücher in den Modefarben der Saison, lange Jacken, Ton in Ton zum Kopftuch…

Die Frauen aus der ersten Generation in Berlin, die auch Kopftuch tragen, haben mit ihren Töchtern nichts gemein. Als ich klein war, haben wir die Frauen der ersten Generation »Pinguine« genannt. Auch die sahen aus wie von der Stange, aber aus einer geschmacklosen Kollektion. Klein und dick watschelten sie in ihren gekräuselten grauen Mänteln durch die Gegend wie Pinguine. Das Kopftuch ist der gemeinsame Nenner, aber sie leben in einer ganz anderen Welt als ihre Töchter.

Als ich erfuhr, daß Petra auch zu dem verabredeten Abendessen nicht kommen konnte, war es schon acht. Sie müsse den Abend unbedingt mit dem Filmteam verbringen. Wir unterhielten uns ein wenig am Telefon. Sie wirkte genervt, wäre offenbar hundertmal lieber mit mir zusammengewesen. Mir tat das leid. Ich wollte ihr schon sagen, daß ich mir Sorgen um sie machte und sie mir sehr müde und lustlos vorkam, aber dann hielt ich doch den Mund. Es ist nicht gut, wenn man den Leuten so was auf den Kopf zusagt. Wenn der andere das dann ernst nimmt, kann das sehr verletzend sein.