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Titelseite

 

 

 

 

 

 

Kindergarten »Little Ladybirds«

»Ich finde das nicht besonders witzig«, sagt Miss Cherry und wirft den vier kleinen Mädchen, die im Schneidersitz vor ihr auf dem Boden sitzen, einen missbilligenden Blick zu. »Wie ich euch bereits zuvor gesagt habe, möchte ich nicht, dass ihr Piraten spielt. Piraten sind unanständig. Lach nicht, Pearl. Selbst ein Pirat würde niemals seine Unterhose zeigen und eine Ladybird macht so etwas erst recht nicht. Kat, Betty, bitte sitzt still. Während ich jetzt die Milch austeile, möchte ich, dass ihr alle gut darüber nachdenkt, wie sich echte Ladybirds benehmen. Bea, hör auf, das zu essen – das ist für den Hasen.«

1

Zehn Jahre, vier Anfänger-BHs
und einen großen Streit später
 

Eine kleine, nackte Person leckt mich ab. Ich verfalle nicht in Panik – das kommt öfters vor. Jetzt fängt sie an, mir das Gesicht zu küssen. Ich rieche Marmite, Banane und … Moment … die Person ist nicht vollständig nackt. Sie trägt Gummistiefel. Gummistiefel? Das ist neu. Und geht gar nicht.

Ich taste nach meinem Handy … 5.34 Uhr.

»Bea!«, ruft Emma. »Geburtstag!«

»Verschwinde. Ich hab heute gar nicht Geburtstag.« Ich versuche, sie aus meinem Bett zu schieben, aber sie wehrt sich, und wir fangen an zu rangeln. Was ein großer Fehler ist. Für eine Dreijährige ist meine Schwester eine überraschend geschickte Ringerin. Ich überlege kurz, ob ich mich nicht lieber wie eine Erwachsene verhalten soll, aber bevor ich so weit bin, kämpfen wir schon richtig miteinander.

»Ich hab ein Geschenk für dich!«, höre ich ihre gedämpfte Stimme irgendwo unten bei meinen Füßen.

»Geschenk später?«, frage ich. Vermutlich könnte ich mit ihr an meinen Füßen wieder einschlafen. Das ist gar nicht so übel. Schön kuschelig und …

»GESCHENK JETZT!«, brüllt sie. Offensichtlich hat sie heute wieder eine ihrer ganz besonderen Launen, also sage ich das, was ich immer sage, wenn ich sie loswerden will: »Hast du das gehört?«

»Was?«

»Ich hab Daddys Stimme gehört … Er ist wieder zu Hause!« (Ist er nicht. Er ist in Mexiko.)

»Daddy!« Sie schießt aus meinem Bett und die Treppe hinunter, sodass ich mich noch mal umdrehen kann und mein Gesicht an etwas Warmes, Glitschiges lege. Ein vergessenes Stück Banane vielleicht?

Ich schnüffle. Es ist keine Banane.

Zwei Stunden später kommt Emma an die Tür, um mich zu verabschieden. Ich bin auf dem Weg zur Schule. Sie drückt mir den Kopf in den Bauch und ruft: »Ich hab dich lieb, Froschnase!«

»Ich dich auch, Stinkerschnute.« Und mit diesen Worten schiebe ich sie zurück ins Haus.

Ich gehe den Weg zum Gartentor entlang und vom Dach des Nachbarn steigen Vögel in den Himmel auf … Jetzt ist der Moment gekommen, in dem mich die Schüchternheit überfällt. Ich lasse die echte Bea zu Hause zurück und die Schüchterne Bea geht zur Schule.

Schon während ich zur Bushaltestelle laufe, sorgt die Schüchterne Bea dafür, dass ich die Schultern hängen lasse und auf den Boden starre. Je weiter ich mich vom Haus entferne, mit Emmas gelber Rutsche auf dem ungepflegten Rasen und der roten Haustür, desto weniger fühle ich mich wie ich selbst.

»Klein mag sie sein, doch furchtlos ist sie!«, flüstere ich, während ich mich den Elftklässlern nähere, die vor dem Supermarkt an der Wand lehnen. Ich setze mich an meine übliche Stelle, weit weg von den anderen, und hole mein Handy raus. Einer der Jungs wirft ein M&M nach mir. Es prallt von meinem Kopf ab und landet in meinem Schoß. Er lacht und beobachtet mich. Ich starre das M&M an. Es ist blau.

Klein mag sie sein, doch furchtlos ist sie!, wiederhole ich in Gedanken.

Iss das M&M, Bea! Los doch, iss es!

Ich schiebe es auf den Boden. Nicht gerade mein furchtlosester Moment.

Bis der Bus schließlich hält, hab ich mich schon ziemlich unsichtbar gemacht. Als ich mich auf den Sitz neben Kat fallen lasse, sieht sie nicht mal auf. Sie starrt in den winzigen Spiegel, den sie immer überall mit hinnimmt. Zuerst denke ich, dass sie den Sitz ihrer perfekten blonden Haare überprüft, aber dann greift sie nach meinem Arm und zieht mich zu sich rüber. »Schau mal nach hinten!«, zischt sie.

Ich spähe durch den Bus. »Was?«

»Er ist es: Ollie ›Knuddelbär‹ Matthews. Oh Gott! Dreh dich nicht um! Schau hin! Nein. Schau nicht hin. Okay. Jetzt kannst du gucken. Wow, der ist scharf.« Ich werfe ihr einen Blick aus dem Augenwinkel zu. Genau wie ich vermutet habe – ihr Mund steht halb offen, sie hat die Augen weit aufgerissen und ihren Welpenblick aufgesetzt. Sie macht ihr »Sexy-Lady-Gesicht«. Emma sieht genauso aus, wenn sie auf dem Klo »groß« macht.

»Du sollst nicht mich anschauen, sondern ihn!«

Also schaue ich ihn an. Diesmal weiß ich sogar, was sie meint. Ollie Matthews hat freundliche braune Augen, leicht zerzauste Haare und Schultern, die wie Männerschultern aussehen. Und seine Hände sind …

»Bean, hörst du zu?« Kat klappt ihren Spiegel zu. »Ich glaube, ich sollte etwas realistischer denken und mich auf die Zehntklässler konzentrieren. Vergessen wir die Elftklässler. Vielleicht ist er ja der Eine? Immerhin war da ja diese Umarmung.«

»Was? Er hat gesagt, das war ein Missverständnis.«

Kat schnaubt. »Es hat sich aber nicht wie ein ›Missverständnis‹ angefühlt!«

»Er hat dich für seine Schwester gehalten. Ihr habt die gleiche Jacke. Die mit den Vögeln drauf.«

»Er ist so, so, so scharf. Findest du nicht?«, fragt Kat und ignoriert meine Erinnerung an die REALITÄT.

»Der ›Knuddelbär‹ hört irgendwas auf seinem iPod und schaut aus dem Fenster, aber auf eine irgendwie scharfe Art, und sieht sexy hinaus auf die Bäume … scharfe Bäume mit sexy grünen Blättern. »Ja, Kat«, stimme ich zu. »Ollie scheint …«

»Sag es!«, drängt mich Kat. »Na los, sag es. Ollie Matthews ist SCHARF!« Ich klappe den Mund zu. »Sag es, sag es, sag es!«

»Okay. Ich sehe, wie er aus deiner Sicht … scharf wirken kann.«

»Ja! Weil er es ist!« Sie schnappt meinen Arm. »Und jetzt sag mir alles, was du weißt.«

Ich verfüge über ein tolles Gedächtnis. »Zehnte Klasse.«

»Das weiß ich selbst.«

»Er ist letztes Jahr in Bugsy Malone aufgetreten.«

»Als wer?«

»Bugsy.«

»Das ist gut, oder?«

»Ja.«

»Weiter«, verlangt sie gierig.

»Rugby-Team.«

»Mmmmm.«

»Kapitän des Rugby-Teams.«

»MMMMM.«

»Hat mit seiner Band beim Festabend dieses Lied gesungen.«

»Welches Lied?«

»Do ya think I’m sexy?«, singe ich leise.

»Bean. Bitte nicht.«

»Okay. Sorry.«

»Weiter?«

Ich schaue noch mal hinüber zum Knuddelbären. Er rollt immer seine Ärmel hoch und seine Arme sind … Ich schweife ab. Ich weigere mich, schon wieder dieses Wort zu benutzen. Kat wirft mir einen Blick aus leicht zusammengekniffenen Augen zu. »Ich brauche dein Mathebuch. Ich hab vergessen, meine Hausaufgaben zu machen.« Lächelnd setzt sie sich aufrecht hin.

Kat »vergisst« ständig, ihre Hausaufgaben zu machen, und ich zeige ihr immer meine. Das hat wahrscheinlich was mit unserem BFF-Status zu tun. Ich krame in meiner Tasche herum, aber statt meines Mathebuchs ziehe ich etwas Hartes, Haariges aus Plastik hervor.

»Was ist das denn?«, fragt Kat entsetzt.

Huch! Ich habe den Kopf einer nackten Barbiepuppe in der Hand. Nackt ist allerdings nicht das richtige Wort, denn ihre »Ninni« – wie Emma diesen Bereich hartnäckig nennt – ist sorgfältig mit einem Filzstift blau angemalt und mit Glitter verziert worden. Moment mal – sind das etwa auch noch Teeblätter?

»Das ist Ralph!«, erkläre ich lachend.

»Ralph?« Mein Lachen wird nicht erwidert.

»Emmas Puppe. Sie hat gesagt, sie hat ein Geschenk für mich. Vermutlich ist es das. Sie hat Ralph nach dem Schäferhund unserer Nachbarn benannt.«

»Ist mir völlig egal, nach wem deine komische kleine Schwester sie benannt hat. Lass sie verschwinden!«

»Schau mal.« Ich zeige ihr den Collagenbereich. Kat zuckt zurück. »Das ist so witzig. Sie soll aussehen wie Mum … was nicht heißen soll, dass Mum eine glitzernde …« In diesem Moment schießt der Bus jedoch um eine Kurve und den Hügel hinauf und Ralph fliegt mir aus der Hand und rollt den Gang hinunter.

»Bea, du Loser, hol sie!« Ich taste zwischen den Füßen und Taschen der anderen Schüler herum.

»Bean!«, höre ich da eine Stimme aus dem hinteren Teil des Busses. »Hast du deine Barbie verloren?«

Oh nein. Das ist jetzt echt ganz dumm gelaufen. Pearl Harris hat Ralph. Sie thront auf dem hinteren Sitz, die langen, glatten, gebräunten Beine über den Schoß eines Jungen gelegt. Ralph baumelt zwischen zwei blauen Fingernägeln, die jetzt mit Glitter und Teeblättern beschmiert sind.

Ich gehe auf sie zu. Kaum vorstellbar, dass ich mit diesem Mädchen mal Schlüpfer getauscht habe (von Disney, mit Arielle drauf … damals, als wir noch zu den Ladybirds gehörten).

»Jelly Bean, warum nimmst du denn deine Puppe mit in die Schule?« Die ganze hintere Reihe fällt unisono vor Lachen über Pearls tollen Humor fast vom Sitz. Pearl hat mir damals den zuerst liebevoll gemeinten Spitznamen »Bean« verpasst. Ein paar Jahre später hat sie daraus eine Beleidigung gemacht, als sie im Sportunterricht mit schriller Stimme rief: »Sie wabbelt wie ein Jelly Bean!« Das war echt nervig. Jelly Beans wabbeln nicht. Die sind sogar ziemlich fest.

»Hallo? Ist das deine kleine Freundin?« Sie gibt Ralph einen dicken Kuss und beugt sich dann vor, um mir die Puppe an den Mund zu halten. Ich schiebe sie weg, fange aber an zu schwanken, als der Bus beschleunigt. »Oh mein Gott«, sagt Pearl und wirft einen genaueren Blick auf Emmas »Kunst«. »Du hast ihre Unterwäsche angemalt! Moment mal, das ist ja gar keine Unterwäsche!«, quiekt sie.

Ich widerstehe der Versuchung, ihr die Puppe aus der Hand zu reißen, aber dafür schiebt Pearl jetzt Ralphs Füße in meine Nasenlöcher. Ihre Clique kichert und sieht uns dann schweigend zu. Sie warten darauf, dass die Show weitergeht. Ich sage oder tue nichts. Ich stehe einfach nur da und hoffe, dass ihr langweilig wird. »Und, willst du sie wiederhaben?«

»Sie gehört meiner Schwester«, sage ich.

Ich sehe diesen kleinen Moment, in dem Pearl denkt: Du hast eine Schwester? Seit wann? Aber dann verfällt sie sofort wieder in ihren üblichen schnippischen Ton. »Ja, klar.« Und ihre Clique macht »hahaha«. »Sie hat wunderschöne Haare«, fügt sie noch hinzu und streichelt über die dichten, verfilzten Barbiehaare. »Genau wie du, Bean.«

Plötzlich beugt sie sich über den Sitz vor ihr – Ollies Sitz – und hält die Puppe aus dem Fenster. Ollie dreht sich um, um zu sehen, was da vor sich geht, und zieht langsam einen seiner Ohrstöpsel heraus. Pearl hält Ralph noch weiter hinaus, ein dummes Grinsen auf ihrem blöden Gesicht.

Jetzt muss ich etwas sagen. Emma liebt Ralph noch mehr als mich. Ich versuche, ihr die Barbie abzunehmen. »Gib sie mir wieder, Pearl. Das ist die Lieblingspuppe meiner Schwester!«

Aber sie streckt sie nur noch weiter hinaus. »Ahh. Ist das deine kleine Lieblingsbarbie, mit der du immer fein im Bettchen kuschelst?«

Langsam – er tut alles langsam – greift Ollie nach oben, nimmt Pearl die Puppe aus der Hand und wirft sie in meine Richtung. Natürlich fange ich sie nicht und muss auf dem Boden des Busses herumrutschen, um sie zu finden.

Als ich wieder aufstehe, teilen sich Ollie und Pearl gerade seine Ohrstöpsel. Ihre Gesichter sind so nah zusammen, dass man kaum unterscheiden kann, wo Ollies Ohr aufhört und Pearls Lippen anfangen. Glücklicherweise haben sie mich vergessen.

»Das war ja wohl unglaublich peinlich«, sagt Kat, als ich mich mit glühenden Wangen auf meinen Sitz fallen lasse. »Du bist peinlich, Bean.«

»Ich weiß. Sorry.« Ich schiebe Ralph zurück in meine Tasche. Den Rest der Fahrt bis zur Schule verbringen wir schweigend.

Als wir den Raum betreten, in dem die wöchentliche Schulversammlung stattfindet, hat mir Kat zu neunundneunzig Prozent vergeben. Sie hakt mich sogar unter. Mrs Pollard, die Direktorin, stürzt sich sofort in das Thema Mülltonnen. Die Frau ist von Mülltonnen besessen. »Es ist nicht nur unhygienisch, Siebtklässler dort hineinzustecken«, sagt sie. »Es ist außerdem furchtbar gemein.«

Sie klimpert und klappert auf ihrem Laptop herum, bis ein Foto von einer Mülltonne auf der Leinwand erscheint. Sie ist rot durchgestrichen. In der Mitte des roten Kreuzes ist ein winziges Gesicht, das einen Ashton-Park-Schüler darstellen soll. Ihr Mund entspannt sich zu einem winzigen Lächeln. »Also, denkt dran, Neuntklässler«, sagt sie. »Die Mülleimer sind für euch verboten. Gibt es sonst noch etwas anzusagen?«

»Ich habe noch etwas«, ruft Miss Hewitt, unsere Sportlehrerin, und tänzelt nach vorne. »Also, Neuntklässler, ich habe große Neuigkeiten.« Sie macht eine dramatische Pause. »Wie wäre es, wenn ihr alle ins Fernsehen kommt?« Interessiertes Gemurmel ertönt. »Mir wurden Informationen über eine neue TV-Talentshow namens Starwars geschickt. So was wie Britain’s Got Talent für Jugendliche. Es soll eine Staffel für Sänger geben, eine für Schauspieler, eine für Comedians, ihr versteht schon. Jedenfalls ist die erste Staffel für … na? Für Tänzer! Hurra!«

Während Miss Hewitt zur Feier dieser Ankündigung einen kleinen Moonwalk hinlegt, hört man vereinzelt Stöhnen, hauptsächlich von den Jungs, aber deutlich mehr Freudenschreie, sogar von mir, und ich bin definitiv kein Freudenschrei-Typ. Die Mädchen in unserer Klassenstufe sind total tanzverrückt und im sicheren Schutz meines Zimmers zu Hause (Tür zu, Vorhänge zu, Handys an der Tür abgeben) liebe ich Tanzen.

»Was gibt es denn zu gewinnen?«, fragt jemand aus der hinteren Reihe.

Mrs P setzt an, aber Miss Hewitt ist schneller. »Die Gewinner erhalten eine professionelle Ausbildung an einer Tanzschule während der Sommerferien. Danach dürfen sie bei einem Musical im Westend auftreten. Und natürlich wird alles im Fernsehen übertragen.« Flüstern überall. »Wenn man es bis ins Fernsehen schaffen will, muss man erst zu einem Vortanzen gehen. Unser nächstgelegenes ist in Brighton am nächsten Donnerstag. Jeder kann vortanzen, entweder solo oder als Gruppe, zu jedem Stil und jeder Art von Musik. Sagt mir Bescheid, wenn ihr weitere Informationen wollt.«

Sofort fangen alle gleichzeitig an zu reden. »Ruhe, Ruhe«, ruft Mrs P. Je mehr sie ignoriert wird, desto lauter wird ihre Stimme. Ich bleibe natürlich ruhig.

»Hey, Bea«, flüstert Kat. »Da sind wir dabei! Ich frage mal Pearl, ob wir bei ihr mitmachen dürfen. Sie ist eine wahnsinnig gute Tänzerin.«

Mit dieser Idee stimmt so vieles nicht, dass ich nicht mal weiß, wo ich anfangen soll, aber bevor ich irgendwas sagen kann (»Hallo? Wir sind keine Freundinnen mehr, seit wir sieben waren!«), beugt sich Kat vor und spricht mit Pearl.

Pearl schüttelt den Kopf, dreht sich um und sieht mich an. Ich starre geradeaus, aber ich kann trotzdem spüren, wie ihre blauen Augen mich mustern und alles aufnehmen. Ich werde rot, und Pearl lächelt, ehe sie sich wieder umdreht. Ihre schwarzen Haare bleiben dabei perfekt aufgetürmt und ihr Parfüm umhüllt mich wie ein Zauberbann. Mrs P brüllt ein entschlossenes »Ruhe!« und alle schweigen.

Kat flüstert mir zu: »Keine Angst, Bean. Ich kümmere mich in der Mittagspause darum. Wir treffen uns dann zur ersten Probe in der Turnhalle!«

»Beatrice Hogg, aufstehen!« Mrs P zeigt mit dem Finger in meine Richtung und Blicke aus zweihundert Augenpaaren folgen. Ich stehe auf – in meinem Magen schlagen Haferflocken und Rosinen Purzelbäume. »Du meldest dich mittags zum Müllaufsammeln bei mir.« Sie hält inne und versucht, ihren Ärger zu kontrollieren. Erfolglos. »Und für den Rest der Schulversammlung kannst du stehen bleiben.«

Nein. Nein. NEIN!

Und so muss ich stehen bleiben, mit hängendem Kopf, während der Kapitän der Basketballmannschaft einen detaillierten Bericht über das letzte Spiel gibt, einschließlich einer Aufnahme des Siegerwurfes in Zeitlupe, gefolgt von Mr Higgins Beitrag über die »18 Schritte für eine sichere Nutzung des Internets«.

Er beantwortet viele Fragen. Die erste stammt von Carl Fisher: »Sir, wenn ich mich im Chat mit einem scharfen Mädchen unterhalte, woher weiß ich, dass nicht Sie es sind?«

Mr Higgins vielleicht ein wenig irreführende Antwort: »Ich könnte es sein, Carl!«

Ein Fußball fliegt an meinem Kopf vorbei.

»Schieß ihn rüber!«, ruft ein Junge. Ich tue so, als ob ich ihn nicht gehört hätte (und auch nicht die nachfolgende Beleidigung), und stapfe weiter, um das halbe Thunfischbaguette aufzuheben. Meine Hand steckt in einem Gummihandschuh, den mir Mrs P gegeben hat. Ich sehe Kat über den Sportplatz auf mich zukommen. Wir treffen uns beim Korb: Demütigungszone für den Sportunterricht und illegaler Raucherbereich.

»Tut mir echt leid, Bea.«

»Na ja, ich bin fast fertig.« Ich schwenke meine prall gefüllte Mülltasche.

»Nein, ich meine nicht, was bei der Schulversammlung passiert ist«, sagt sie und sieht eher den Korb an als mich. »Es ist so, dass die anderen Mädchen denken, dass vier besser sind als fünf, und Pearl glaubt nicht, dass du dich für Tanzen und so interessierst.«

»Was soll das heißen?«

»Du weißt schon … der Tanzwettbewerb. Pearl denkt, es sollten nur sie, ich, Holly und Lauren im Team sein.«

»Ich interessiere mich nicht fürs Tanzen? Wir haben immer zusammen getanzt! Unser halbes Leben haben wir damit verbracht, uns in unseren Zimmern Tänze auszudenken.« Meine Augen brennen verdächtig. Ich ziehe die Zehen in den Schuhen hoch. (Diesen Trick, um einen Tränenausbruch zu verhindern, hat mir meine Mum beigebracht. Er ist ziemlich gut.)

»Außerdem hast du nicht die richtige Figur … du bist ein bisschen kleiner als wir und … na ja … weniger dünn.«

»Was hat denn das damit zu tun?«

»Pearl glaubt, dass die Juroren nach einem bestimmten Look suchen«, sagt Kat, beißt sich auf die Lippe und fummelt mit ihrem Handy herum. »Du bist so kurvig und so und hast diese Haare. Bea, kannst du nicht einfach …« Sie bricht ab und schnieft. Weint sie etwa gleich? Oder tut sie nur so, um das Gespräch zu beenden? »Das hier ist echt schwer für mich, verstehst du?« Unsere Blicke treffen sich und sie wertet das als ein gutes Zeichen und lächelt … tapfer. »Vielleicht kannst du ja zusammen mit Betty auftreten? Ihr habt doch früher viel Zeit miteinander verbracht.«

Das ist die Untertreibung des Jahrzehnts. Wir haben früher immer viel Zeit miteinander verbracht, sehr viel Zeit sogar: ich, Kat, Betty und Pearl. Wir waren eine Clique. Wir waren die Ladybirds! Wir waren unzertrennlich, aber als wir älter wurden, haben wir uns auseinandergelebt, und als wir nach Ashton Park kamen … waren wir so unterschiedlich.

Kat ist immer noch meine beste Freundin, aber ab und zu tut sie etwas richtig Gemeines. Etwas von der Art, bei dem ich mich frage, ob ich ihr das umgekehrt auch antun würde. Die Antwort ist immer »Nein«. Ich möchte ihr am liebsten das Thunfischbaguette ins Gesicht reiben … aber ich brauche sie auch als beste Freundin. Also lächle ich nur ein bisschen und sage: »Mach dir keine Gedanken. Ich wollte sowieso nicht mitmachen.«

»Cool, danke, Bea«, sagt sie und entspannt sich sichtlich. »Ich wusste doch gleich, dass es dir nichts ausmacht. Pearl hat gemeint, du würdest ausflippen. Die hat ja keine Ahnung. Du bist klasse, weißt du das?«

Armseligerweise freut sich ein kleiner Teil von mir über ihr Lob. »Okay«, sage ich. »Ich sollte das hier besser zu Mrs P bringen.«

»Sehen wir uns später?« Sie wirkt ein bisschen peinlich berührt.

»Ja … klar.« Und ich humple über das Spielfeld, weil ich meine Zehen so hochziehe, wie es nur geht.

Nach dem Unterricht warte ich bei unseren Spinden auf Kat. Es dauert nicht lange, bis die Schule gespenstisch leer wirkt und die Lehrer mir mitleidige Blicke zuwerfen. Es wird Zeit zu gehen.

Fünf Minuten später erhalte ich eine SMS: SORRY B VERPASSE BUS :’) TANZTRAINING!! LG KAT ;) Das sind schuldbewusste Grüße.

Als ich zu Hause ankomme, laufe ich nach oben in mein Zimmer, knalle die Tür zu und werfe mich aufs Bett. Endlich gebe ich zu, dass ich gerne bei Starwars mitgemacht hätte. Auch wenn ich das Kat niemals beichten würde – als Miss Hewitt davon anfing, hab ich Kat und mich in Gedanken schon eine Choreografie erstellen sehen – nichts Umwerfendes, aber etwas Besonderes, ein bisschen anders als die anderen. Wir wären zum Vortanzen gegangen und hätten es natürlich nicht geschafft, aber den anderen Mädchen in unserer Klasse hätte es gefallen, und plötzlich wäre die Schüchternheit verschwunden, und ich wäre plötzlich cool und Teil dieser magischen Clique in meiner Klasse, in der alles so leicht und lustig ist.

Aber das würde nun nicht passieren.

Ich tanze wahnsinnig gerne, aber ich bewege mich nicht so natürlich wie Kat oder Pearl. Ich sehe auch nicht so aus wie die anderen. Kat hat recht. Ich habe die falsche Figur. In diese sogenannten Skinny Jeans werde ich niemals reinpassen. Ich hatte gehofft, dass das bei Starwars nichts ausmacht.

Ich rolle mich auf die Seite. Mein Zimmer macht mich normalerweise glücklich. Der Teppich ist weich und in dunklem Pink gehalten, meine Decke ist dünn und flauschig. Außerdem bin ich hier von Blumen umgeben. Nan überlässt mir immer ihre alten Gartenzeitschriften und ich schneide mir dann die Blumen aus und klebe sie an die Wände. Anfangs war Mum davon genervt, aber als sie anfingen, bis hoch zur Decke zu wachsen und zur Tür hinaus, hat sie es aufgegeben.

Mein Blick fällt auf den Nachttisch, wo mein Handy liegt. Dort häufen sich Stifte, Playmobilmännchen (nicht meine), ein Stapel Bücher und … Was ist das? Ich setze mich auf und greife nach dem Glas Wasser, das ich immer neben dem Bett stehen habe.

Da liegt was drin. Etwas Weiß-Rosafarbenes. Langsam dreht es sich im Wasser, bis es mir zugewandt ist. Man könnte auch sagen, es lächelt mich an. Es sind Zähne. Ich starre auf ein großes Paar grinsender Zähne!

»Hallo, mein Schatz!«, sagt eine vertraute Stimme vom Türrahmen her.

Oh.

Offensichtlich ist meine Großmutter in meinem Zimmer eingezogen. »Hi, Nan«, sage ich und überfliege schnell die großmütterlichen Beweise, die überall verstreut herumliegen: ein Stapel Zeitschriften, die Unterhosen in Kissenbezuggröße, die auf der Heizung trocknen, der Hauch Chanel N°5 und die elektrische Heizdecke auf meinem Bett (es kam mir heute doch gleich besonders kuschlig vor). »Was machst du denn hier? In deinem … Overall?«

Eigentlich sollte sie sich um diese Uhrzeit in der betreuten Wohneinheit am anderen Ende der Stadt gerade ihre Lieblingsgameshow ansehen.

»Überraschung!«, lispelt sie – es ist schwierig, ohne Zähne zu reden. Das scheint ihr auch aufgefallen zu sein, denn sie fischt sie aus dem Wasserglas und steckt sie wieder in den Mund. »Trink das lieber nicht mehr, mein Schatz. Meine Wohnung ist überflutet. Doreen über mir hat einen Kuchen in ihre Waschmaschine gesteckt und die hat dann den ganzen Tag gewaschen und Wasser rausgepumpt. Im Gemeinschaftsraum sah es aus wie bei einer Schaumparty. Deine Mum musste kommen und mich retten.«

Sie setzt sich an meine Frisierkommode und dreht sich winzige blaue Lockenwickler in die Haare. »Was ist denn mit dir los, du Griesgram?«

»In der Schule war’s schrecklich heute«, sage ich und ziehe meine Zehen so hoch, dass es wehtut. Dann erzähle ich ihr von meinem furchtbaren Tag. Während sie mir zuhört, pudert sie sich ihr Dekolleté mit einer riesigen Quaste und feilt sich die Nägel. Als Mum mich zum Abendessen nach unten ruft, hat sie schon zwei Schichten Make-up aufgetragen.

»Mach dir keine Sorgen, Bea, meine Liebe«, sagt sie. »Ich habe den perfekten Plan, um diesen gemeinen Mädchen eine Lektion zu erteilen.«

Oh, oh … Aber gerade, als sie mir das näher erläutern will, ruft Mum, dass ich den Tisch decken soll. Nan lässt sich auf mein Bett fallen, wobei meine Beanie-Babies auf den Boden geschleudert werden, und tippt auf ihrem iPhone herum.