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Christiane Edler/Margit Miosga
Dann hau ich eben ab

Christiane Edler/Margit Miosga

Dann hau ich eben ab

Verlassene Eltern –
Verlorene Kinder

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Die Geschichten in diesem Buch basieren auf Gesprächen mit Betroffenen. Namen und biographische Details wurden auf Wunsch der Interviewpartner geändert.


1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2001)

ISBN 978-3-86284-220-9

Inhalt

Vorwort

Verlassene Eltern

»Ich habe sie immer als Leiche auf der Toilette liegen sehen«

»Bei Jesus auf dem Acker«

»Aber im echten Leben hatte er viel Angst«

»Sie hat sich von niemandem finden lassen«

»Der Verlust des Mannes ist nicht so elementar wie der des Kindes«

»Ich muß mich von meiner Tochter distanzieren«

Verlorene Kinder

In Berlin geht immer was: Die Hauptstadt der Straßenkinder

»Daß es so was in Deutschland gibt!«

»Ich hatte Freiheit gesucht und habe Abhängigkeit gefunden«

»Manchmal hat er mir mit der Bratpfanne auf den Kopf gehauen«

Wenn es passiert ist … – Erklärungen und Hilfe für Kinder und ihre Eltern

»Bis ein Kind die Eltern verläßt, muß es oft verlassen worden sein«

Schulschwänzen als erster Schritt zu einer Straßenkarriere?

Das Nürnberger Schulschwänzer-Programm

Das »Rebus«-Projekt in Hamburg

Die »StrassenSchule« in Freiburg

Die »Aufsuchende Schule« am Hauptbahnhof in Hamburg

Möglichkeiten und Grenzen der Jugendhilfe

Anlaufstelle für Straßenkinder aus der ganzen Republik: Das Jugendamt Friedrichshain in Berlin

Zwischentöne aus dem »Zwischenland«

Erziehungsberatung: Die erste Adresse im Sozialsystem

Der Apparat setzt sich in Bewegung – Die Arbeit der Polizei und der Vermißtenstellen

Eine soziale Aufgabe: Junge Mädchen auf dem Straßenstrich

»Ich fühlte mich allein gelassen und als Versagerin«

»Es war reine Glückssache, auf diesen engagierten Menschen zu treffen«

»Die Polizei drang in meine Privatsphäre ein«

Vor dem Gesetz sind alle gleich – Straßenkinder und Justiz

Drogenprobleme auf der Straße

»Es machte mich ganz krank, daß ich ihn nicht retten konnte«

Exkurs: Drogenkompendium

Endstation? Die Kinder- und Jugendpsychiatrie

»Es war meine Pflicht, sie vor sich selbst zu schützen«

Der Weg in die Kinder- und Jugendpsychiatrie

Es war wie in dem Film ›Einer flog über das Kuckucksnest‹ «

Unschuldig-schuldige Eltern: Ein Nachtrag

Schlußwort

Anhang

Wie stehen Sie zu Ihrem Kind? – Ein Selbsttest

Was tun, wenn das Kind wegbleibt? – Eine Checkliste

Gründen Sie eine Selbsthilfegruppe! – Praktische Tips

Dank für Unterstützung

Weiterführende Literatur

»Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen; so wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben. Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren. Denn der eine hat die, die anderen andere Gaben; jeder braucht sie, und jeder ist doch nur auf eigene Weise gut und glücklich.«

Johann Wolfgang von Goethe

Vorwort

»Haben Sie ein bißchen Kleingeld übrig?« fragen sie und streicheln dabei ihren Hund. Sie sitzen in Berlin auf den Treppen zu S-Bahnhöfen oder vor Supermärkten. Heruntergekommen aussehende Kinder mit abgeschabten Lederjacken, Ringen in Ohren und Nase, Kampfstiefel an den Füßen. Straßenkinder, die sich in einer gesellschaftlichen Zwischenwelt eingerichtet haben. Berlin ist ihr Mekka, in anderen deutschen Städten gibt es kaum eine derartig ausgeprägte Szene. Wenn man sie sieht, denkt man unwillkürlich daran, daß sie vor nicht allzu langer Zeit kleine und hoffnungsvolle Kinder waren.

Das führt zum nächsten Gedanken: Auch sie haben Eltern. Wo sind sie? Aus welchen Familien kommen diese Kinder? Vermißt sie denn niemand? Dieses Buch handelt von den oft vergessenen Eltern dieser Kinder. Man weiß wenig über sie.

Die eine Hälfte von ihnen kommt nicht zu Wort, weil sie nichts sagen will. Es sind Eltern, die ihre Kinder wie überzählige junge Katzen behandelt haben. Sie haben ihren Sohn, ihre Tochter rausgeworfen, sie gehen lassen und nie gesucht. Das passiert öfter, als man sich vorstellen mag.

»Dann hau ich eben ab« ist der anderen Hälfte gewidmet: Den Eltern, die nie wollten, daß ihre Kinder weglaufen. Denn auch das passiert öfter, als man sich vorstellen mag. Hunderte von Müttern – es sind mehr als Väter – suchen ihre Kinder, es zieht sie immer wieder zu den einschlägigen Treffpunkten in den Städten, sie warten am Telefon auf ein Lebenszeichen. Sie sind gepeinigt von der Vorstellung, daß ihre Kinder auf der Straße oder in abbruchreifen Häusern schlafen, daß sie Drogen nehmen, daß sie mißbraucht und mißhandelt werden. Sie werden von Scham- und Schuldgefühlen aufgefressen.

Wir versuchen, die biographischen Wege der verlassenen Eltern nachzuzeichnen, wir lassen sie erzählen, wie und warum es so weit kam. Ein Erklärungsmuster, das auf alle zutrifft, gibt es nicht. Aber Annäherungen an Erkenntnisse aus der Perspektive von Psychologen, Therapeuten, Lehrern, Sozialarbeitern und Polizisten. Sie ergeben ein Bild, warum Kinder weglaufen und welche Warnsignale man beachten sollte.

Dieses Buch soll Eltern Hinweise geben, die Schwierigkeiten mit ihren pubertierenden Kindern haben, die Verhaltensweisen nicht deuten können und verunsichert sind, wie streng sie sein sollen oder aber wie geduldig sie sein dürfen.

Es gibt Studien, Filme und Bücher über Straßenkinder, aber in Deutschland nur eine Selbsthilfegruppe für ihre Eltern und damit auch nur einen Ort, an dem sie Hilfe finden können. Die Eltern haben das Recht, daß ihnen jemand zuhört und sie ernst nimmt. Und sie haben ein Recht auf Hilfe. Sie sind keine herzlosen Kreaturen, sondern mit Fehlern behaftete Menschen, die gute Eltern sein und alles richtig machen wollten.

Berlin, im Juli 2001
Christiane Edler und Margit Miosga

Verlassene Eltern

Straßenkinder, Bahnhofskinder, minderjährige Obdachlose, nicht seßhafte Jugendliche, Treber oder Trebegänger, Ausreißer oder Aussteiger – so werden Kinder und Jugendliche genannt, die weggelaufen sind. Wenige unter ihnen sind Kinder unter 14, die meisten Jugendliche und Heranwachsende. Einige fliehen nur für kurze Zeit aus Heimen oder ihrer Familie, andere haben endgültig mit ihrem bisherigen Leben gebrochen und führen eine illegale Existenz in subkulturellen Milieus wie der Bahnhofs- oder der Punkszene.

Man sieht sie vereinzelt oder in kleinen Gruppen an den Ausgängen der Bahnhöfe, vor Supermärkten oder auf öffentlichen Plätzen gemeinsam mit ihren Hunden. »Haste mal ’ne Mark?« ist der Satz, mit dem sie auf uns zukommen. Mehr erfahren wir in der Regel nicht.

Straßenkinder sind in Deutschland ein aktuelles, aber kein neues soziales Phänomen. Sie wurden in den Anfängen der Sozialarbeit kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen, obwohl bereits 1910 von Wilhelm Polligkeit in der Zeitschrift für Jugendwohlfahrt über »Die Behandlung der jugendlichen Bettler und Landstreicher« geschrieben wurde. Es folgten 1914 Paul Gustav Müllers Berichte über »Jugendliche Wanderbettler, Landstreicher und Großstadtbummler«, und Gustav Lesemann forschte 1930 über »Obdachlose jugendliche Wanderer in der Großstadt«. 1957 veröffentlichte Else Mues »Probleme der Hilfe für heimatlose weibliche Jugendliche«.

Für außerordentliches öffentliches Interesse allerdings sorgte erst die 1978 von Kai Hermann und Horst Rieck aufgeschriebene Geschichte der Christiane F., »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. Durch Buch und Film wurde eine breite Öffentlichkeit auf die bis dahin kaum wahrgenommenen Kinder und Jugendlichen aufmerksam.

Mittlerweile befassen sich auch staatliche Organisationen mit Straßenkindern. Denn weltweit – so die Schätzungen von UNICEF im Jahr 2000 – leben und arbeiten 100 bis 200 Millionen Kinder auf der Straße. Auch aufgrund der zunehmenden Armut und Verstädterung wird mit einem Anstieg dieser Zahl gerechnet. Industrienationen wie Deutschland bleiben, wenn auch aus anderen Gründen, von dieser Entwicklung nicht verschont.

Der Deutsche Kinderschutzbund spricht von bundesweit 50 000 Kindern und Jugendlichen, die jährlich von zu Hause ausreißen und in Gefahr sind, eine Straßenkarriere zu durchlaufen, und von 3 000 bis 7 000, die bereits auf der Straße leben. Diese Zahlen wurden im Januar 2001 genannt.

Das Deutsche Jugendinstitut ermittelte bereits 1995 eine Zahl von 7 000 Straßenkindern. Diese Zahl ist allerdings ungenau, denn nur diejenigen werden statistisch erfaßt, die in den Kinder- oder Jugendnotdiensten auftauchen. Zumeist suchen jedoch Kinder und Jugendliche, die gerade weggelaufen sind, diese Einrichtungen nicht auf. Den Notdiensten werden in der Regel diejenigen durch die Polizei zugeführt, die offiziell vermißt gemeldet sind. Viele sind das nicht. Nicht alle Eltern geben Vermißtenanzeigen auf. Sie suchen ihre Kinder nicht, wenn sie sie ohnehin schwer vernachlässigt oder mißbraucht haben. Auch Eltern, die mit ihrer Lebenssituation völlig überfordert sind, forschen ihren Kindern selten nach. Deswegen gibt es keine genaue Statistik über die Zahl der Straßenkinder in Deutschland.

Sie kommen aus den alten und den neuen Bundesländern, zunehmend in den letzten Jahren aus Osteuropa, aber auch aus Holland, Frankreich, England, Australien, Schweden, Kanada, den USA und anderen Ländern.

Zwischen 50 und 60 Prozent stammen aus sozial schwachen Familien, die anderen haben wohlsituierte Eltern. Sie kommen nicht nur aus zerrütteten, sondern auch aus sogenannten intakten Familien und allen gesellschaftlichen Schichten.

Diejenigen Eltern, die ihre Kinder nicht aus dem Haus gejagt haben und auch nicht froh sind über deren Verschwinden, suchen ihre Kinder – und Hilfe. Das Kind ist ihnen entglitten, weggelaufen und verlorengegangen gegen ihren Willen. Vielleicht, weil sie krank geworden sind, vielleicht, weil ein Partner gestorben ist und der neue dem Kind nicht paßt, vielleicht, weil die Partnerschaft zerbrochen ist. Oder vielleicht, weil sie aus anderen Gründen überfordert waren mit eigenen Sorgen und Problemen.

Für die betroffenen Kinder und Jugendlichen gibt es inzwischen bundesweit viele Hilfsangebote wie Anlaufstellen, Übernachtungsmöglichkeiten, Suppenküchen und Betreuung in unterschiedlichster Form.

Für deren Eltern gibt es kaum Hilfe. Auch die Sozialarbeit hat sie lange vernachlässigt, da Parteilichkeit für das Kind gefordert wurde, und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in den betreffenden Einrichtungen der Meinung waren, daß eine Parteilichkeit für beide Seiten nicht zu vereinbaren sei.

Über die Eltern dieser Kinder wurde bisher kaum berichtet. Sie werden stigmatisiert, ihnen wird allzu eilig alleinige Schuld daran gegeben, daß ihre Kinder weglaufen. Sie fühlen sich allein gelassen, und sie werden es auch. Eltern, deren Kinder weggelaufen oder gänzlich verschwunden sind, sprechen selten über ihr Unglück, weil sie sich viel zu sehr schämen.

Es gibt unterschiedliche Formen des Weglaufens: Jugendliche können nur einige Stunden weg sein oder aber auch Tage, Wochen, Monate, manche bleiben für immer von zu Hause weg. Sie können sich weit vom Elternhaus entfernen oder in der Nähe bleiben. Meistens kündigen sie ihren Entschluß mehrfach an. Selten haben sie dieses Vorhaben vorher in aller Konsequenz durchdacht. Es gibt Jugendliche, die diesen Schritt spontan in einer Krise gehen, mit der unbewußten Absicht, ihre Eltern auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. In diesem Fall werden sie über kurz oder lang nach Hause zurückkehren. Hier sollten Eltern mit ihrem Kind die Ursachen besprechen und das Signal ernst nehmen. Gemeinsam kann meistens eine Lösung gefunden werden.

Manche Jugendliche nehmen zwar wieder Kontakt zu den Eltern auf, leben aber weiterhin auf der Straße oder in Einrichtungen wie betreuten Wohngemeinschaften. Andere bleiben für immer verschwunden, und die Eltern erfahren nie etwas über ihr Schicksal. Wieder andere werden als Opfer einer Gewalttat aufgefunden.

Wenn ein Kind nicht mehr nach Hause kommt, beginnt für die Eltern ein Leidensweg: »Am Anfang stand ich unter Schock, ich wußte nicht, wie ich mich aufrecht halten sollte, mit wem ich reden konnte. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt und bin lediglich zum Schlafen nach Hause gegangen. Die Wohnung hatte ohne mein Kind für mich völlig ihren Wert verloren«, erzählt eine betroffene Mutter.

Eine andere, deren Tochter inzwischen in einer betreuten Wohngemeinschaft lebt, erinnert sich: »Ich bin zusammengeklappt, habe geschrien, geweint. Das hat sich bis in meine Träume festgesetzt. Ich habe mich nachts herumgewälzt, fragte mich, warum sie uns das antut, warum sie uns so weh tut. Was haben wir denn getan, daß sie uns so verletzt?«

Diese Eltern quälen sich mit Schuldgefühlen und Ängsten, sind traurig und verzweifelt, sie werfen sich Versagen vor. Ein Vater, dessen Tochter sich fünf Monate nicht meldete, erzählt: »Je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde die Angst, daß sie vergewaltigt wird, daß sie auf den Strich geschickt oder schlimmstenfalls umgebracht wird. Daß sie auf der Straße verkommt und irgendwann im Dreck liegt.«

Nach Aufgabe der Vermißtenanzeige bei der Polizei – zumeist der erste Schritt, wenn das Kind nicht mehr nach Hause kommt – suchen sie mit deren Hilfe nach ihren Kindern. Manche werden bei der Suche anfänglich von Familienmitgliedern und Freunden unterstützt. Oft sind sie tage- und nächtelang in der Stadt unterwegs. Sie hinterlassen Nachrichten in Wärmestuben, Bahnhofsmissionen und anderen Einrichtungen, in denen ihre Kinder auftauchen könnten, und zeigen Fotos von ihnen herum. Sie warten stundenlang in Anlaufstellen – sofern es ihnen gewährt wird – in der Hoffnung darauf, daß ihr Kind kommt.

Viele Eltern müssen auf der Suche nach Hilfe die Erfahrung machen, daß ihnen die alleinige Schuld am Verschwinden ihres Kindes gegeben wird. Abfällige Blicke und Bemerkungen wie: »Na ja, wenn dein Kind weg ist, dann mußt du ja schuld sein«, sind keine Seltenheit und führen dazu, daß sie sich zurückziehen und häufig das Verschwinden den Nachbarn oder Freunden verheimlichen. Sie erzählen beispielsweise, ihr Kind wäre im Internat oder würde vorübergehend bei Verwandten in einer anderen Stadt leben.

Andererseits haben sie ein starkes Bedürfnis, immer wieder über das Geschehene zu sprechen, müssen aber feststellen, daß ihre Umgebung sich immer weniger dafür interessiert. »Ich hatte eigentlich nur eine Freundin, bei der ich mich auch mal ausheulen konnte. Die anderen waren schockiert und wollten nichts hören«, erzählt eine Mutter, deren Sohn monatelang abgetaucht war.

Da sich die Gedanken und Gespräche in erster Linie um das verschwundene Kind drehen, kommt es in der noch »verbliebenen« Familie oft zu großen Spannungen. Geschwisterkinder bekommen nicht mehr die nötige Aufmerksamkeit oder werden mit Sorge und Zuwendung überfrachtet, Partnerschaften können zerbrechen. Alle Gedanken drehen sich um das verschwundene Kind. Die Vorwürfe, die Schuldzuweisungen, das Warten, die Angst zermürben. Das eigene Leben wird unbedeutend. »Sie hat eine Lücke hinterlassen, eine gewisse Leere. Wir haben als Familie zusammengewohnt, und auf einmal ist ein Platz leer«, so eine Mutter, deren Tochter seit vier Jahren auf der Straße lebt.

Eltern, deren Kinder gegen ihren Willen und Wunsch weggelaufen oder verschwunden sind, benötigen und wünschen sich in der Regel professionelle Hilfe, um das Geschehene zu verarbeiten. Durch das Verschwinden ihres Kindes sind sie in eine extreme Krisen- und Verlustsituation geraten, die sie zumeist allein nicht bewältigen können. Sie haben jahrelang ihr Leben mit ihrem Kind geteilt, und plötzlich ist es verschwunden. Die Eltern kommen nicht mehr mit sich selbst, mit anderen, mit ihrem Leben und nicht mehr mit ihren täglichen Problemen zurecht.

In Berlin existiert seit 1996 »Exilium«, eine Selbsthilfegruppe für Eltern, deren Kinder weggelaufen sind – neben Heidelberg die einzige in Deutschland. Die Erfahrung hat gezeigt, daß Eltern mindestens ein Jahr brauchen, um die veränderte Situation überhaupt annehmen zu können. »Wichtig für mich ist heute, daß meine Tochter lebt, daß sie auf der Straße überlebt hat. Ich dachte immer, wenn ich sie nicht beschützen und umsorgen kann, ist sie verloren. Früher hat man einem Schnorrer eine Mark gegeben und sich darüber gewundert, fand das ein bißchen exotisch. Und plötzlich war meine Tochter eine von denen«, sagt eine Mutter, die seit vier Jahren regelmäßig an den Treffen teilnimmt.

Für Eltern ist der Kontakt zu anderen hilfreich, die diesen Prozeß schon durchlebt haben. Mit anderen Betroffenen können sie ausführlich über ihre Nöte sprechen, von Leidensgenossen erfahren sie das größte Verständnis, die beste Unterstützung.

Der erste Schritt bei der Suche nach Hilfe für sich selbst kann sein, sich einer Selbsthilfegruppe für Eltern anzuschließen, die es bisher aber leider nur in Berlin und in Heidelberg gibt. Oder andere Eltern zu suchen, eine Gruppe zu gründen. Gemeinsam läßt sich vieles besser ertragen, was allein aussichtslos erscheint. »Die Elterngruppe hat mir geholfen, daß ich mich wieder aufbauen konnte. Denn irgendwann kommt der Punkt, da braucht mich mein Kind wieder. Und dafür will ich stark sein«, sagt ein Vater, dessen Sohn seit zwei Jahren nichts von sich hören läßt. In einer Selbsthilfegruppe besteht die Möglichkeit, offen über die Sorgen und Ängste zu sprechen und zu erfahren, daß es anderen ähnlich geht. »Ohne die Gruppe wäre ich in meiner Panik verloren. Ich habe endlich Menschen, die mich verstehen, mit denen ich offen reden kann, ohne etwas beschönigen zu müssen«, erzählt eine Mutter, deren Tochter immer wieder von zu Hause wegläuft.

In der Regel durchlaufen Eltern verschwundener Kinder verschiedene Phasen. Diese verlaufen ähnlich wie bei anderen Trennungen, bei Verlust oder Trauer. In der ersten Zeit wollen sie nicht wahrhaben, daß ihr Kind weg ist. Sie stehen unter Schock, fühlen sich verloren, verwirrt und sind wie betäubt. Manche flüchten sich in übermäßige Geschäftigkeit und lassen sich keine Schwäche anmerken, ihre Umwelt lobt sie als tapfer. Diese vermeintliche Tapferkeit ist ein Schutz vor Gefühlsausbrüchen, die sie sich und ihrer Umwelt ersparen wollen.

Bei anderen Eltern breitet sich eine große Leere aus. Sie absolvieren ihren Alltag wie Automaten und verfallen in Depressionen. Diese erste Phase kann auch mit körperlichen Reaktionen wie motorischer Unruhe, Herzrasen, Schlafstörungen, Schwächeattacken, Appetitmangel und Übelkeit einhergehen. Das kann Wochen dauern.

In der zweiten Phase kommt es zu den unterschiedlichsten Gefühlsreaktionen. Schmerz, Leid, Wut, Zorn, Traurigkeit und Angst wechseln sich ab. Ängstliche Menschen werden eher von intensiven Angstgefühlen überrollt, andere neigen mehr zu Wutausbrüchen und beschuldigen ihr soziales Umfeld. Die Wut kann sich auch gegen das verschwundene Kind richten. Körperliche Reaktionen wie Panikattacken, Konzentrationsstörungen, Depressionen und Schlafstörungen sind in dieser Phase die Regel. Die Schuldgefühle sind massiv und binden alle Energien der Betroffenen.

In der nächsten Phase versuchen sie sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß ihr Kind nicht mehr da ist. Sie wollen die Ursachen für das Weglaufen ergründen und beginnen, Rat und Hilfe zu suchen. Sie fangen an, über ihre Schuldgefühle zu sprechen. Das dauert Monate, nur langsam wird es wieder möglich, das eigene Leben zu gestalten.

Wenn es Eltern gelungen ist, wieder in Kontakt mit ihrem Kind zu kommen, sei es, daß es sich von selbst meldet oder von ihnen gefunden wird, sind sie erst einmal verständlicherweise voller Hoffnung und erleichtert. Wenn die Kontakte jedoch sporadisch und unverbindlich bleiben, weil sich der Jugendliche entschieden hat, auf der Straße zu leben, oder in eine Maßnahme der Jugendhilfe eingegliedert ist, hängt die Verfassung davon ab, wie es dem Kind jeweils geht.

Eltern, deren Kinder über eine lange Zeit gänzlich verschwunden sind, befinden sich in einer Situation, die nicht schlimmer sein könnte, da sie keinerlei Anhaltspunkte haben, was mit ihrem Kind geschehen ist. Sie sind in einem andauernden Spannungszustand und kommen nicht zur Ruhe.

Eltern von verschwundenen Kindern suchen häufig Hilfe bei Therapeuten: »Ich bin zu einer Familientherapeutin gegangen. Das hat mir geholfen, mit meinen Schuldgefühlen besser fertig zu werden. Ich habe mein Kind erzogen, so gut es ging, aber Fehler macht jeder. Die Schuldgefühle kommen immer mal wieder, in Wellen. Aber es ist besser, nach vorn zu schauen«, erzählt eine Mutter, deren Tochter seit drei Jahren auf der Straße lebt.

Es gibt viel zu wenig Organisationen, Vereine und Initiativen, die Eltern von weggelaufenen und vermißten Kindern in ihrer Not helfen und beistehen. »Das Schlimmste war, daß mir niemand helfen konnte. Wo ich auch anfragte, beim Jugendamt, bei der Polizei, bei der Erziehungsberatungsstelle oder bei Einrichtungen, die für Straßenkinder da sind, nur Achselzucken«, sagt eine Mutter aus der Selbsthilfegruppe »Exilium«. Die Eltern in der Gruppe berichten über die meist hoffnungslose Suche nach adäquater Hilfe und ihrer Erleichterung, endlich gleichermaßen Betroffene gefunden zu haben. Mit anderen trauten sie sich immer seltener, über ihre Probleme zu sprechen.

Wir haben Mütter und – selten – Väter gefunden, die bereit waren, uns ihre Geschichte zu erzählen. Sie wollen das Schweigen durchbrechen und Verständnis wecken für ihre Nöte und Sorgen.

»Ich habe sie immer als Leiche auf der Toilette liegen sehen«

Ulrike auf dem Weg in die Unabhängigkeit

Wenn Ulrike von ihrer Tochter erzählt, dann findet sie schöne Bilder, denn sie ist eine belesene Frau. Zu DDR-Zeiten arbeitete sie festangestellt in einem Verlag. Sie gehörte zu einer kleinen, aber feinen Künstlerclique in Ostberlin. Interessante Leute trafen sich, diskutierten tief und feierten heftig. Aus diesem Umfeld kam auch der Vater von Sina, Ulrikes Tochter. Eine Liebe ohne Zukunft war das, denn er war verheiratet und reiste später aus der DDR aus. Im 200 Kilometer entfernten Hamburg war er so weit weg, als wohnte er in der Inneren Mongolei.

Ulrike ging es trotzdem gut, bis mit der Wende ihre Lebenskonstruktion zusammenbrach: Der Verlag wurde umgemodelt, sie verlor ihre Arbeit, weil sie Parteimitglied war. Fast zwei Jahre blieb sie arbeitslos, dann folgte eine ABM-Stelle, wie bei vielen anderen auch. Mittlerweile hat sie sich als freiberufliche Lektorin eingerichtet. Ulrike wohnt am Prenzlauer Berg, immer noch in der alten Wohnung. Inzwischen wurde das Haus saniert, der Ausblick allerdings ist fast so wie früher. Wenn sie heute zufällig alte Kollegen trifft, und die sich nach ihrer Tochter erkundigen, dann kann sie sagen: »Die macht gerade Abitur« – das klingt für eine 20jährige ziemlich normal.

»Sina mußte ziemlich viele Umwege machen«, sagt Ulrike. Und sie sagt auch: »In der Pubertät mußte die ganze Welt für sie entzaubert gewesen sein.« Damals fingen die Probleme an. Die Wende hatte alles verändert. Die Mutter ohne Arbeit, so etwas hatte es vorher nicht gegeben. Die Erwachsenen schienen zum ersten Mal hilflos, konnten vieles nicht erklären. Sina war neun, als die Mauer fiel. Sie war keine kleine Rebellin, aber sie fand die Schule langweilig, die Freundinnen auch: »Mutti, wie lernt man andere Leute kennen, wie leben andere Menschen?« Gegenüber hatten junge Leute ein altes Wohnhaus besetzt, ihre bunten Fahnen, die Musik, die Partys im Vorgarten, das alles erweckte ihre Neugier. Als Ulrike sie über die Straße schickte: »Geh doch hin, frag, wie die da leben«, traute sie sich nicht.

Eine neue Zeitrechnung fängt an, ohne daß die alte wirklich aufhört.

In der Schule sind die Lehrer verunsichert, das alte System gilt nicht mehr, das neue hat unbekannte Koordinaten. Wie streng dürfen Lehrer sein, wieviel Disziplin verlangen? In der DDR waren die Anweisungen eindeutig, die Hierarchie auch, aber was ist jetzt? Chaos an der Schule! Das Probehalbjahr am Gymnasium ist für Sina kein Problem, trotzdem ist es langweilig. »Sie hat nur Wissen vermittelt bekommen, aber nichts für die Seele«, urteilt Ulrike im Rückblick.

Der einzige Lehrer, der etwas mehr vermittelt, ist der Religionslehrer. »Und das ausgerechnet bei meiner Tochter, wo ich doch ausgesprochene Atheistin bin und mich heute noch als Marxistin bezeichnen würde!«

Ulrike selbst war eine pflegeleichte Tochter gewesen, das hatte ihre Mutter unnachgiebig verlangt. In der Schule hatte sie nur beste Noten schreiben und auch sonst keine Schwierigkeiten machen dürfen. »Ich wurde immer gedeckelt, ich hätte mir eine Mutter zum Reden gewünscht«, sagt sie, und dabei rutscht ihr ein Seufzer raus. Die Mutter hatte keine Kraft für Konflikte gehabt, weder für die eigenen noch für die mit der Tochter. Das versteht Ulrike erst jetzt. Sie wollte für ihre Tochter natürlich eine andere Mutter sein, eine, die zuhört, die versteht. »Ich wollte so eine Mutter sein, die mit Ruhe die Entwicklung des Kindes begleitet, die nicht zu viel eingreift, ja … mein Vater war eher so gewesen.«

In Sinas Klasse am Gymnasium spalten sich die Schüler in die, die meinen, ohne Markenklamotten nicht auf die Straße gehen zu können, und die, die dagegenhalten, ihre Kleidung zerfetzen und mit Kugelschreiber vollschreiben. Sina gehört zu der letzten Gruppe. »Ich fand das ziemlich beherzt und war stolz auf sie, daß sie diesen Konsumzwang so ablehnte«, sagt Ulrike. »Macht kaputt, was euch kaputtmacht« – der in den frühen Achtzigern so berühmte Slogan der Band »Ton Steine Scherben« ist für Sina wie ein Lebensmotto. Sie geht weiter in die Schule, hat gute Noten und spielt äußerlich ein bißchen den Bürgerschreck. Ulrike ist arbeitslos, ein Ende ist nicht abzusehen. Manchmal wird sie von ihrer Tochter dabei ertappt, wie sie weint. Obwohl Ulrike versucht, ihre Existenzangst, ihre Ausweglosigkeit vor Sina zu verbergen. Sie setzt sich zusätzlich unter Druck: »Das Kind hat ja Anspruch auf eine ausgeglichene Mutter.« Das funktioniert nur manchmal. Beide sind in ihre eigenen Probleme wie in einen Kokon eingesponnen: Sina mit den typischen Pubertätserscheinungen, sie findet sich fürchterlich häßlich, sie weiß nicht, wohin mit ihren Stimmungsschwankungen, sie hadert mit sich und ihrer Umwelt, Ulrike mit ihrer beruflichen Perspektivlosigkeit. Sie leben nebeneinanderher, schweigen aus falscher Rücksichtnahme. Jetzt erst reden sie darüber, daß sie damals aneinander vorbeigedacht und -gehandelt haben.

Es geht ziemlich unspektakulär weiter, die siebte Klasse, die achte Klasse – dann der Herbst 1994 – Ulrike weiß heute noch genau, wie er langsam losging, der Erosionsprozeß aller Werte.

Es sind drei Freundinnen in Sinas Klasse, die die Fahne der kleinen Revolution gegen Markenterror und Boygroups hochhalten. Im Januar verschwindet die erste, Britta, nachdem sie den Schuldirektor, als er sie halten wollte, zum Abschied in die Hand gebissen hatte. Britta zieht in die aktive und vielfältige Hausbesetzerszene im Bezirk Friedrichshain. Sina findet es dort interessant. Da trifft sie andere Leute, lernt andere Lebensformen kennen. Immer wieder ruft sie abends die Mutter an: »Mutti, es ist so schön, darf ich noch eine Stunde bleiben?« Ulrike besteht auf 22 Uhr. Sina rastet aus: »Ich finde es so scheiße, daß du immer sagst, ich bin erst 13, ich bin nicht so wie andere 13jährige! « Sina fängt an zu rauchen, daß sie auch kifft, merkt die Mutter nicht. »Wie riecht es denn hier?« – »Ach, das sind Räucherstäbchen«, lügt Sina sie an. Ulrike wundert sich über die roten Augen ihrer Tochter und denkt an Schlafmangel. Sie bekommt aber mit, daß auf dem Schulhof gedealt wird, und setzt sich mit dem Vertrauenslehrer in Verbindung; beide sprechen das Thema auf einer Gesamtelternkonferenz an. Ulrike bemängelt, daß die Schüler so ungern in den Unterricht kämen, daß es keine Lehrer gebe, die Begeisterung für ein Fach erzeugen könnten. Die Direktorin windet sich wie ein Hecht am Haken. »Es war dann doch irgendwie wieder wie im Osten«, sagt Ulrike enttäuscht. Es wird nicht darüber gesprochen, andere Eltern haben kein Interesse, über Pubertät und Drogen zu reden. Ulrikes Vorstoß bleibt folgenlos.

Sina dehnt ihre abendlichen Ausflüge immer länger aus, und wenn sie nach Hause kommt, riecht sie wie eine ganze Kneipe nach Rauch und Alkohol. Sie ist vor allem in den besetzten Häusern in Friedrichshain, ihre beiden Freundinnen wohnen schon da. Sina sieht sich als politische Aktivistin, sie kämpft mit den Freunden für den Erhalt eines Abenteuerspielplatzes mit Nachtwachen am Lagerfeuer. Davon erzählt sie aber nicht viel. »Ich bin im ›Klik‹«, sagt sie der Mutter und ergänzt vage: »Das ist so ein Café.« Ulrike sucht eine Erziehungsberatung auf und erfährt, daß sich im »Klik« Straßenkinder treffen. »Da ist sie schon ganz schön weit unten«, sagt die Beraterin, Eva Kraft, und nickt bedenklich. Sie weiß, wovon sie redet, denn sie war selbst lange genug in der Punkszene gewesen. Ulrike geht zu diesem »Café« und sieht diese heruntergekommenen, wie Punks aussehenden Kinder, die aus ganz Deutschland nach Berlin pilgern, um in der anonymen Stadt und in der Szene unkontrolliert leben zu können. Obwohl Ulrike den Begriff Straßenkind noch nicht in Zusammenhang mit ihrer Tochter bringt, geht sie zur neugegründeten Elterngruppe ins »Klik« und muß nach kurzer Zeit erleben: »… dann war meine Tochter ganz schnell eine von denen.«

Sina bleibt die erste Nacht weg, Ulrike macht kein Auge zu. Um sieben Uhr morgens kommt das Kind zurück. »Du brauchst dir keine Sorgen machen, das sind alles liebe Leute«, versucht Sina ihre Mutter zu beruhigen. Ulrike ist außer sich, sie nimmt ihre Tochter und geht zur Erziehungsberatung. Aber es ist noch vor neun Uhr, das Amt geschlossen, die beiden müssen warten. Auf der Straße auf- und abgehend, sprudelt es aus der Tochter, was sie vom Leben will: sich nicht anpassen, sich nicht von ihrer Mutter bestimmen lassen, deren Erfahrungen nicht hören, sie wolle überhaupt ein ganz anderes Leben. Als Frau Kraft ihren Dienst antritt, redet sie allein mit der 13jährigen. Am Nachmittag holt Sina den Schlafsack aus der Wohnung, einige Klamotten, der Rucksack mit den Schulsachen bleibt da. Für die Mutter läßt sie einen Brief zurück, in dem nur kurz und knapp steht, daß sie weggeht. Es ist der 4. April 1995. Ulrike ruft im »Klik« an, die Tochter kommt ans Telefon. »Ich wohne nicht mehr bei dir, ich wohne in der Soundso-Straße, Nummer 19.« Sie komme nicht mehr nach Hause. »Das kannst du doch nicht machen«, empört sich die Mutter. »Doch, das kann ich«, sagt Sina und legt auf.

Über eine andere Mutter erfährt Ulrike, daß ihre Tochter auf den Dachboden eines besetzten Hauses gezogen ist. Gemeinsam kampieren die Kinder dort mit ihren Ratten, Schildkröten und Hunden – ein anarchisches Ferienlager im Dauerzustand.

Daß sich Sina nicht ganz von ihrer Mutter abgewendet hat, zeigt sich daran, daß sie trotz des dramatischen Auszugs die schon bezahlte Ferienreise zur Jugendweihe nach Spanien antritt. Treffpunkt Berlin Mitte, Alexanderplatz. Ulrike wartet mit den anderen Eltern auf den Bus. Auftritt Sina: »Mir stockte der Atem, unglaublich, sie sah so hexenhaft abgerissen aus, und das zwischen den ganzen normal aussehenden Jugendlichen«, erinnert sich Ulrike. Sina trägt einen braunen Kapuzenpullover, der von den Hunden ganz zerbissen ist, sie hat frische Blondiercreme auf dem Kopf, die sie erst in Spanien abspülen will, darüber die Kapuze. Die Augen sind knallrot, die Hände schwarz, die Finger gelb vom Rauchen, in der Lippe steckt eine Sicherheitsnadel. Die Reisebegleiterin schluckt, und Sina fährt mit.

Aus Spanien kommt sie fröhlich zurück, mit blonden Haaren und Sonnenbräune, die Sicherheitsnadel durch einen Ring ersetzt. Sie geht zu ihrer Mutter, packt ein bißchen in der gemeinsamen Wohnung und sagt einen Satz, der Ulrike wie ein Hammerschlag trifft. »Ich gehe jetzt nach Hause.« Nach Hause auf den Dachboden. Da ist Sina 13 Jahre alt.

Alle 14 Tage zumindest kommt Sina zu Besuch in ihr ehemaliges Zuhause. Diese Vereinbarung hat die Sozialarbeiterin mit dem Mädchen getroffen. So weiß Ulrike, wie Sina aussieht, sie kann einschätzen, wie es ihr geht. Die Mutter vergeht bei jedem dieser verordneten Gespräche vor Unsicherheit und Schuldgefühlen. Wenn Ulrike ihrer Erziehungsberaterin davon erzählt, sagt die patente Frau Kraft immer wieder: »Ach, da haben Sie mal wieder genau das Falsche gesagt. Wenn Sie immer so weinerlich sind und betteln, daß Sina zurückkommt, wird das nichts.«

Der erste Verdacht, daß Sina etwas mit Drogen zu tun haben könnte, kommt ungefähr vier Monate, nachdem sie auf den Dachboden gezogen war. Sie wird von der Polizei aufgegriffen und zum Jugendnotdienst gebracht. Ulrike wird verständigt, sie fragt, wie sie aussehe, ob sie gesund sei. Nach einigem Zögern rückt der Sozialarbeiter damit heraus, daß das Pärchen, mit dem Sina zusammen aufgegriffen worden war, heroinsüchtig sei. Alle Alarmglocken gehen an.