Der Autor

Peter Maxwill – Foto © privat

Peter Maxwill, Jahrgang 1987, ist Redakteur bei SPIEGEL ONLINE. Er studierte Germanistik und Geschichtswissenschaft in Münster, Hamburg und Rom, absolvierte eine Journalistenausbildung in München und arbeitete sieben Jahre lang als Lokalreporter für die »Westfälischen Nachrichten«. Nach Stationen bei der »Frankfurter Allgemeinen«, beim WDR und bei mehreren Nachrichtenagenturen kam er Anfang 2015 zu SPIEGEL ONLINE, wo er sich seither vor allem mit Geschichten über Diskriminierung und die Spaltung der Gesellschaft beschäftigt.

Das Buch

Der Journalist Peter Maxwill reist seit 2015 für SPIEGEL ONLINE durch Deutschland und berichtet über aktuelle Brennpunkte. Seine Geschichten zeichnen das Bild eines gespaltenen Landes inmitten einer kollektiven Identitätskrise. Mal geht es um Rechtsterrorismus oder Islamisten, mal um den Zusammenhalt in der Kirchengemeinde, im Dorf, im Stadtteil. Immer aber geht es dabei um den Riss, der sich seit einigen Jahren durch das Land zieht und es wohl für viele Jahre prägen wird.
Aus den Recherchen in etlichen Dörfern und Städten, aus Hunderten Gesprächen im ganzen Land ist über mehrere Jahre hinweg ein Mosaik entstanden, das in der Zusammenschau das Wimmelbild einer mit sich ringenden Gesellschaft bildet. In den Reportagen kommen Priester und Lehrer zu Wort, Lokalpolitiker und Teenager, Großstadthipster und Dorfbewohner. Trotzdem geht es um sehr viel mehr als um Lokalpossen, nämlich um die abstrakten Debatten in Deutschland, europäische Konflikte und globale Verwerfungen im Konkreten: die Integration von Zuwanderern, die Rolle der privaten Seenotretter im Mittelmeer, den Bürgerkrieg in Syrien.

Peter Maxwill

Die Reise zum Riss

Berichte aus einem gespaltenen Land

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage August 2019
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
In Kooperation mit der SPIEGEL ONLINE GmbH & Co.KG, Hamburg
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Titelabbildung: © Shutterstock / Globe Turner; PyzhovaOlena; Cafe Racer
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2143-1

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Deutschland, was ist los mit dir? Ein Vorwort

Wissen Sie noch, wann es anfing, wo und wie genau? Populisten, die durch Innenstädte und in Landesparlamente ziehen. Flüchtlinge, die in Dörfern und Städten ein neues Leben anfangen. Extremisten, die Asylunterkünfte anzünden oder vermeintlich Ungläubige angreifen. Und Menschen, die mit diesen Veränderungen umgehen müssen. Viele Menschen. Wir alle.

Über die Jahre ist ein regelrechtes Sammelsurium mehr oder weniger präziser Begriffe entstanden, die diese Umwälzungen beschreiben sollen: Von einer Polarisierung und einem Riss durch die Gesellschaft gehen Beobachter und Experten aus, andere sprechen lieber von einem Rechtsruck. Aber was genau ist da verrutscht, zerrissen?

Wohl niemand kann sagen, wann das alles anfing, wo und wie genau. Für mich ging es am 26. Juni 2015 los, im Zentrum von Berlin.

Um 9 Uhr morgens sitze ich an diesem Frühsommertag in der wahrscheinlich kürzesten Redaktionskonferenz meines bisherigen Journalistenlebens. Draußen brennt die Sonne überm Pariser Platz, drinnen sagt mein Ressortleiter einen entscheidenden Satz: »Ich glaube, wir sollten mal nach Freital fahren.«

Zehn Minuten später radle ich durchs Brandenburger Tor, vorbei an Neubauten und Doppeldeckerbussen, aus denen mit Selfiesticks ausgerüstete Asiaten die Beton­ödnis von Berlin-Mitte bestaunen. In meiner Wohnung packe ich hastig einen kleinen Rucksack, wenig später sitze ich im Zug nach Sachsen. Noch ahne ich nicht, wie sehr dieser Spontantrip in die sächsische Provinz meinen Blick auf das Land verändern wird.

Ich wuchs am anderen Ende der Republik auf. Zwölf Jahren im bürgerlich-katholischen Rheinland folgten zwölf Jahre im bürgerlich-katholischen Westfalen: ein Wessi aus christlichem Elternhaus, der vom Kalten Krieg nur aus Büchern wusste und erst als Erwachsener realisierte, was für ein vergleichsweise friedliches Jahrzehnt die Neunzigerjahre waren. Sachsen kannte ich bis zu meiner ersten Freital-Reise nur aus der Perspektive des Tagestouristen, seit ich 2010 einen Ausflug durch die neuen Bundesländer gemacht hatte (die zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung schon ziemlich alte Bundesländer waren). Von Dresden war ich fasziniert, obwohl tiefer Schnee die pseudobarocke Pracht der Altstadt bedeckte und der eiskalte Wind am Elbufer kaum zu ertragen war. Aber ich hatte sehr nette Menschen kennengelernt, und in jeder Gasse schlugen mir Geschichte und Kultur entgegen.

Als ich im Sommer 2015 in Richtung Dresden aufbreche, ist die Stadt nicht wegen ihrer Geschichte und Kultur regelmäßig in den Nachrichten. Sondern wegen Pegida. Die selbst ernannten »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« ziehen seit Monaten regelmäßig durch die Altstadt und skandieren wütende Parolen. Begriffe wie »Gutmensch« und »Wutbürger« haben jetzt Konjunktur. Und natürlich »Lügenpresse« – damit sind Journalisten gemeint, Menschen wie ich.

Was ist geschehen? Viel ist die Rede von den angeblichen Protagonisten dieser Entwicklung, den Politikern. Die einen sehen in den Jahren nach 2015 vor allem in Angela Merkel, der Bundeskanzlerin, das zentrale Problem – unter anderem wegen ihrer angeblich zu liberalen Asylpolitik. Andere arbeiten sich an Themen wie Umweltschutz, Heimat, Gleichstellung, Digitalisierung, Extremismus oder Landflucht ab.

Aber was hat all das mit dem Alltag der Deutschen zu tun? Wie engagiert sich eine Kellnerin in Ostsachsen für Asylsuchende? Warum verliert ein Münchner Gastwirt wegen Pegida seine Gaststätte? Wie reagiert ein Standesbeamter aus dem Münsterland auf anonyme Drohungen von mutmaßlich Rechtsextremen? Und was haben sogenannte Reichsbürger und Prepper mit alldem zu tun?

Dieses Buch ist der Versuch, Fragen wie diese zu beantworten. Über Jahre bereiste ich Dörfer und Städte in allen Ecken der Republik – und sprach mit Unternehmern, Priestern, Schülern, Aktivisten, Lokalpolitikern, Rentnern. Mal ging es um Rechtsterrorismus oder Islamisten, mal um den Zusammenhalt im Dorf oder im Stadtteil, mal um Überalterung und Vereinsamung. Einmal führte eine solche Reise auch aus Deutschland heraus – weil es einige Fragen gibt, auf die ich in Belgien besonders beeindruckende Antworten fand.

Aus diesen Recherchen sind Dutzende Berichte aus einem Land inmitten einer kollektiven Identitätskrise entstanden. Wer verstehen möchte, warum sich vielerorts aggressiver Widerstand gegen Zuwanderer in der Nachbarschaft entwickelt hat, findet ganz unterschiedliche Antworten in Wurzen bei Leipzig, Hamburg-Blankenese oder Solingen. Man könnte das Konzept dieses Buchs also wie folgt zusammenfassen: Da fuhr einer los mit vielen Fragen im Gepäck, um Geschichten über dieses Land zu sammeln.

Die Geschichten erzählen davon, wie sich europäische Krisen und globale Verwerfungen in Dörfern und Stadtvierteln niederschlagen: Die Integration von Zuwanderern, der Bürgerkrieg in Syrien, die Rolle der Seenotretter im Mittelmeer – all diese Konflikte haben mitunter sehr konkrete Auswirkungen auf die Gesellschaft, unser Miteinander, unseren Alltag.

Es ging mir bei meinen Reisen nicht primär um die großen Linien der Politik, um Angela Merkel oder die AfD oder die Asylkrise. Diese Entwicklungen standen stets wie eine gigantische Kulisse im Hintergrund, mein konkretes Interesse galt dem Alltag der Republik. Es ging mir bei keiner Recherche darum, Berufspopulisten zu verstehen oder das Argumentationsmuster tonangebender Rassisten zu analysieren. Ich wollte wissen, warum immer mehr Deutsche solchen Menschen folgen. Wie es sein kann, dass sie Lügen und Halbwahrheiten glauben. Und welche Strategien andere haben, um die zunehmende Polarisierung zumindest zu bremsen.

Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit, es soll kein Atlas der Polarisierung sein. Jede Geschichte steht für sich und zeigt einen eigenen Aspekt dieses Risses, der die Gesellschaft in Lager zu spalten droht. Die Berichte sind auch nicht wie fundierte Feldstudien zu verstehen, die eindeutige Antworten auf komplexe Fragen liefern. Im Gegenteil: Die Antworten, die auf den folgenden Seiten stehen, sind mitunter mehrdeutig oder sogar widersprüchlich. Und keine Episode ist als endgültiges Urteil über einen Ort oder dessen Bewohner zu verstehen. Sondern als komplexe Momentaufnahme, als Wimmelbild mit Fußnoten.

So zuckelte ich mit Regionalbahnen und Überlandbussen in Dörfer und Kleinstädte, manchmal schloss ich eine Reise auch mit einem halbstündigen Fußmarsch am Rande einer Bundesstraße ab.

Die besuchten Orte und ihre Bewohner stehen in den einzelnen Reiseberichten im Mittelpunkt, in den Analysekapiteln hingegen ordne ich als Autor meine Erfahrungen ein – wertend, erläuternd, interpretierend.

Manchmal kam ich von einer Recherche auch mit mehr Fragen als Antworten zurück. Aber Fragen, davon bin ich fest überzeugt, sind der ideale Antrieb, um immer weiterzumachen. Auch deshalb beginnt jedes der vier übergeordneten Kapitel mit einem Bericht über Freital – weil ich nach jedem Besuch im Osten von Sachsen neue Fragen hatte und mich die Geschichte dieses Ortes über die Jahre begleitet hat.

I. Alle in Angst. Die Sorgenrepublik

Freital: Ein Spalt entsteht

Der Typ steht da mit seiner Fahne, als wolle er sie gleich vor den Augen eines Millionenpublikums in die Mondoberfläche rammen. Dazu dürfte es allerdings an einigem mangeln: Statt eines Astronautenanzugs trägt dieser grimmig dreinschauende Hüne ein graues Jäckchen zum grauen Haar. Und er steht auch nicht auf dem staubigen Untergrund des Mondes – sondern im sächsischen Freital, in einer Straße namens Am Langen Rain.

Das Sonderbarste an dieser Erscheinung aber ist die Fahne. Die spaltet eine schnurgerade Diagonale in zwei gleich große Dreiecke: auf der einen Seite die russischen Nationalfarben, auf der anderen drei Balken in Schwarz-Rot-Gold. Könnte ein Symbol der deutsch-russischen Völkerverständigung sein. Verständigung steht an diesem Sommerabend allerdings nicht auf der Tagesordnung, und um Russland geht es schon gar nicht.

Stattdessen brüllen die Leute rund um den Fahnenmann: »Kriminelle Ausländer – raus, raus, raus!« Das gilt der anderen Gruppe, die keine fünfundzwanzig Meter entfernt steht. Flüchtlingshelfer und linke Aktivisten. Ein Mann mit Bierbauch und Spiegelreflexkamera schiebt sich in die erste Reihe, fotografiert die Flaggentruppe, von denen einige mit ausgestrecktem Mittelfinger und grimmiger Mimik fürs Foto posieren. Eine Frau in der ersten Reihe, Typ Rugby-Bezirksmeisterin, ruft dem Fotografen zu: »Deine Fresse merk ich mir!«

Freital ist an diesem 24. Juni 2015 ein ziemlich ungemütlicher Ort. Schon seit einigen Wochen debattiert das sächsische Städtchen über ein Flüchtlingsheim, in diesen Tagen eskaliert der Streit. Das hysterische Treiben rund um den blassgelben DDR-Bau mit dem irreführenden Namen Hotel Leonardo veranschaulicht, wie sich in diesem Sommer das Land verändert. Wie Hass entsteht, wie alte Konflikte aufbrechen, wie eine Gesellschaft sich in Grüppchen aufteilt.

Freital, im sächsischen Behördenjargon »Große Kreisstadt«, hat 39 547 Einwohner, fünfzehn Ortsteile, vier S-Bahnhöfe, knapp neun Prozent Arbeitslose. Wer mit dem Zug aus Richtung Dresden anreist, fährt durch einen seltsam gleichförmigen Ort, der sich in ein enges Tal drängt.

Das Hotel Leonardo liegt in Freital dort, wo andernorts Schlösser, Siegesdenkmäler oder Burgruinen stehen. Auf einem flachen Hügel, den man wahlweise über eine serpentinenartige Straße oder nicht enden wollende Treppen erreicht, thront dieser trostlose Bau über der Stadt. Einige Stunden vor dem wütenden Aufmarsch unterhalten sich vor dem Haupteingang ein paar Asylsuchende, vom Bolzplatz hinterm Haus hallt Kindergeschrei. Diese Menschen also sind das Problem.

Jedenfalls aus Sicht von Leuten wie Lutz Bachmann.

Bachmann gehört zu denjenigen, die den Protest gegen die Bewohner des Leonardo organisieren. Ein paar Hundert Zuwanderer sollen in diesen Tagen aus provisorischen Zelten in Chemnitz nach Freital umziehen. Viele im Ort wollen das nicht hinnehmen, sie fühlen sich von den Behörden übergangen. Bachmann weiß diese Wut zu kanalisieren und auf die Straße zu bringen, er ist einer der Mitbegründer der Dresdner Pegida-Demonstrationen. In Freital organisiert sich der Protest zunächst in sozialen Netzwerken, unter Namen wie »Freital wehrt sich« und »Widerstand Freital«. Eine Gruppe nennt sich »Frigida«. Dass das eher an das Wort »frigide« erinnert als an eine Mischung aus Freital und Pegida, fällt offenbar niemandem auf.

Aus dem Internet schwappte die Wut schließlich auf die Straße, seit zwei Tagen ziehen nun Menschen abends zum Leonardo – und seit zwei Tagen kommen auch Gegendemonstranten. An diesem Mittwoch geht es um viel für beide Seiten, von Freital soll ein Zeichen ausgehen. Die vorerst letzten fünfzig Asylsuchenden werden erwartet, ihnen wollen beide Parteien einen Empfang bereiten. Hässlich soll er aus Sicht der einen sein, herzlich aus Sicht der anderen.

Die Befürworter der Flüchtlingsunterkunft hat eine Frau zusammengetrommelt, die sich schon am späten Nachmittag mit ihrem Sohn vor einer Hecke am Leonardo postiert. Nico und Steffi Brachtel heißen die beiden, sie gehören zur »Organisation für Weltoffenheit und Toleranz Freital und Umgebung«. Nico ist Schüler, seine Mutter Kellnerin. »Ich stelle mir das schrecklich vor«, sagt sie, »von einem Flüchtlingslager ins nächste geschoben zu werden und dann so eine Begrüßung zu bekommen.« Das sehen etwa sechzig Mitstreiter ähnlich, die nach und nach den Leonardo-Hügel erklimmen.

Vor allem aber kommen Polizisten. Die Behörden haben vom ersten größeren Aufeinandertreffen rechter Demonstranten und linker Aktivisten offenbar gelernt: Die zwölf angerückten Polizeibeamten hatten vorgestern alle Mühe, die Kontrahenten voneinander fernzuhalten. Einen Tag später rückten bereits dreiundvierzig Polizisten an. Schließlich stockte die Behörde nun auf mehr als hundert Sicherheitskräfte auf, nachdem beim Aufeinandertreffen der beiden Gruppen zuletzt Eier geflogen waren.

Woher kommt der Volkszorn? Wer ein wenig recherchiert, stößt schnell auf den Umstand, dass Freital erst 1921 entstanden ist – als Fusion dreier Industriegemeinden, in denen zwei Drittel der Einwohner SPD wählten. Diese linke Zweidrittelmehrheit bastelte sich in diesem Tal bei Dresden eine Arbeiter-Utopie, die frei sein sollte von Ausbeutung und Unterdrückung. Daher der Name: Freital. Damals war es die einzige Stadt Sachsens mit einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister, heute erhält die SPD bei Kommunalwahlen kaum noch elf Prozent der Stimmen.

Der Glaube an die Utopie ist dem Frust gewichen. Vor dem Hotel Leonardo stehen auf der Seite der Flüchtlingsgegner ein paar Dutzend Leute in einer Traube, es sind vor allem Männer. Einer von ihnen ist Mirko Meyer, er heißt eigentlich anders. »Jeden Abend ist hier so eine Scheiße«, sagt Meyer, »ich halte das nicht mehr aus.« Dann zeigt er auf einen Mann mit dunkler Haut und schwarzen Haaren, der auf der Gegenseite steht: »Da, die leben hier doch alle auf unsere Kosten – ich verstehe einfach nicht, warum die alle hier bei uns haben wollen.« Er klingt verzweifelt, beinahe fassungslos.

Meyer zahlt seit Jahren Miete, um in einer der schmucklosen Mietskasernen nebenan zu wohnen. Von dort aus beobachtet er nun, wie Ausländer mietfrei in einem ehemaligen Hotel untergebracht werden. Was er sieht: Die Flüchtlinge tragen Jeans und besitzen Handys. Was er nicht sieht: Auch Jeansträger mit Handys fliehen vor Krieg und Terror.

Die Meyers und Brachtels tauschen ihre Ängste und Argumente nicht aus. Stattdessen bekriegen sie sich in Internetforen und auf Facebook, bewerfen sich mit Schimpfwörtern und Hühnereiern. Und weil das so ist, stellt die Polizei an diesem Abend zwei Einsatzwagen quer auf die Straße, nur ein kleines Schlupfloch bleibt zwischen den Motorhauben. Jeder, der nun den Langen Rain betritt, gehört automatisch zu einer Seite. Die Freitaler sind in zwei Gruppen gespalten.

Um kurz vor acht erschallen die ersten Sprechchöre. »Nazis raus«, brüllen Dutzende Demonstranten, »wir wollen keine Nazi-Schweine!« Es sind ausgerechnet die Gegner der Unterkunft, die das fordern, und die Reaktion auf der Gegenseite fällt entsprechend hämisch aus: schallendes Gelächter, tosender Applaus. Dann brüllt jemand zurück: »Wir wollen euch auch nicht!«

Wenige Minuten später quält sich ein Reisebus im Schritttempo den Hügel hinauf. Er kommt, beschützt von Polizisten, in der Mitte des Schotterplatzes vor dem Leonardo zum Stehen. Der Bus spuckt müde Gestalten aus, einige haben Reisetaschen und kleine Koffer dabei, die meisten halten nur eine Plastiktüte oder gar nichts in den Händen. Es ist der Moment, in dem die Demonstranten im Chor rufen: »Kriminelle Ausländer – raus, raus, raus!« Gut möglich, dass auch die Unterstützer der »Organisation für Weltoffenheit und Toleranz« irgendetwas rufen, zu hören ist es nicht. Der Hass ist lauter.

Aber nicht unüberwindbar. Gegen 19 Uhr passieren ein paar Anwohner die von der Polizei gezogene Grenze zwischen Flüchtlingshelfern und Flüchtlingsgegnern: Zwei Dutzend Migranten spazieren völlig ungerührt am Rande des Platzes entlang, als hätten sie mit dem Treiben nichts zu tun. Stefan Vogl, ein Geschichtslehrer aus dem Ort, begleitet die Gruppe zur nahe gelegenen Turnhalle des Weißeritzgymnasiums, dort wollen sie gemeinsam Volleyball spielen.

Einer der Männer nennt sich Umer, ein Pakistaner mit Pagenschnitt. Hat er keine Angst vor den Leuten, die da gerade gegen Menschen wie ihn demonstrieren? »Nein, ich fühle mich hier wunderbar«, sagt er, »ich habe mich noch nie so sicher gefühlt wie hier.«

Bleibt zu hoffen, dass Umer diese Einschätzung nicht eines Tages ändern muss.

Die Proteste in Freital werfen Fragen auf, grundsätzliche Fragen. Gut möglich, dass es bei den Protesten vor dem Leonardo eigentlich nicht um Flüchtlinge geht – sondern um etwas, für das der Groll auf die neuen Nachbarn eine Art Ventil ist. Womöglich ist es ein diffuses Gefühl des Vergessen- und Abgehängtseins, das über Jahre zu massiver Wut herangegoren ist. Wut aus Einsamkeit.

Es ist ein Gefühl, für das es in manchen Gegenden der Republik durchaus eine faktische Grundlage gibt: Viele Tausend Menschen haben in den vergangenen Jahren Dörfer und Kleinstädte verlassen, zwei Fachbegriffe haben sich deswegen zu Modewörtern gewandelt: Demografie und Strukturwandel. Manche Regionen veröden regelrecht, sterben wie altersschwache Löwen einen langsamen Tod.

Die Auswirkungen dieses schleichenden Umbruchs sind mitunter dramatisch, wie sich zum Beispiel im Städtchen Tangerhütte zeigt. Im Garten von Herbert Hoffmann.

Tangerhütte: In der Leere

Einsamkeit beeinträchtigt nicht den Sinn für Humor. Der Beweis dafür findet sich in einem rustikal eingerichteten Wohnzimmer in Sachsen-Anhalt. Herbert Hoffmann sitzt am großen Holztisch in der Raummitte und stützt die Ellbogen auf – ganz so, als wolle er an diesem Tag im Spätsommer 2015 noch mal so richtig loslegen. Womit auch immer.

Hoffmann ist sechsundachtzig Jahre alt, hört nicht mehr so gut, beide Kniegelenke und die Hüfte sind ersetzt worden. »Ich hab ja noch zwanzig, dreißig Jahre Zeit, um mich um meinen Lebensabend zu kümmern«, sagt er und legt mit breitem Grinsen sein Gesicht in Falten. »Aber ich fang schon mal langsam damit an.«

Dabei könnte man meinen, Hoffmann habe nicht viel zu lachen.

Denn der gebürtige Rheinländer mit dem akkurat gestutzten Kinnbart lebt seit acht Jahren allein – in einer der einsamsten Gegenden Deutschlands: Hoffmanns Einfamilienhaus bildet mit einer Handvoll anderer Gebäude das Dörfchen Sophienhof, als Teil von Tangerhütte zwischen Stendal und Magdeburg in der dünn besiedelten Altmark. Das Städtchen dehnt sich auf einer Fläche aus, die größer ist als Frankfurt am Main, doch in den zweiunddreißig Einzelortschaften leben nur rund elftausend Menschen. Und jährlich werden es weniger.

Für Senioren wie Herbert Hoffmann ist diese Entwicklung bedrohlich: Wer kümmert sich um ihn, wenn er nicht mehr ohne Hilfe gehen kann? Was passiert mit seinem Haus? Das hatte er 1990 gebaut, den Dreitausend-Quadratmeter-Garten selbst bepflanzt und einen großen Weiher angelegt. Vor acht Jahren starb Hoffmanns Frau, die beiden waren ein kinderloses Paar. »Jetzt bin ich fast immer allein«, sagt er, »umso lieber habe ich Menschen um mich.«

Der Witwer ist ein Spiegelbild seines Wohnorts, der ganzen Region: alt und einsam.

Tangerhütte ist kein Einzelfall. Es gibt Hunderte Herbert Hoffmanns – in Nordhessen, im Harz, in Mecklenburg, in der Eifel. Weil ganzen Landstrichen die Entvölkerung droht, wollen Politiker gegensteuern: Die EU fördert regionale Projekte mit sogenannten Struktur- und Investitionsfonds, die Bundesregierung bekämpft den Strukturwandel mit der »Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« und Forschungsprojekten. Hinzu kommen Maßnahmen einzelner Bundesländer.

Klingt toll, reicht aber nicht.

Denn Prospekte und wissenschaftliche Aufsätze verändern die Lebensbedingungen zunächst ebenso wenig wie kostspielig sanierte Innenstädte – zumal viele Förderprojekte befristet sind. Man kann das vielerorts beobachten, gerade in den östlichen Bundesländern: Viele Kommunen haben inzwischen wunderschöne Altstädte, schrumpfen aber weiter.

Herbert Hoffmann schöpft Hoffnung, seit er Marion Zosel-Mohr kennengelernt hat. Die 59-Jährige mit der schwarzen Kurzhaarfrisur arbeitet für das Modellprojekt »Leben mit Familienanschluss« der Sozialakademie Potsdam. Sie will eine Familie finden, die mit Hoffmann in einem Haus leben möchte.

Zosel-Mohr hat Rosinenplunder und gute Neuigkeiten mitgebracht: Mitte August will eine Familie aus dem nahen Meseberg den Rentner kennenlernen. »Wenn die Chemie gut passt, könnten Sie dort einziehen«, sagt sie zu Hoffmann. In Tangerhütte würde dann ein Mensch weniger vereinsamen. Aber es stünde auch ein weiteres Haus leer. Hoffmann träumt deshalb davon, sein Heim einer Familie zu verkaufen und sich selbst in zwei Zimmer im Obergeschoss zurückzuziehen.

Realistisch ist das nicht. Der Immobilienmarkt in der Gegend steckt in der Krise: Seit der Wiedervereinigung hat Sachsen-Anhalt ein Fünftel seiner Einwohner verloren, keinen Landkreis verlassen mehr Menschen als die Region um Stendal. Das Statistische Landesamt erwartet in der Altmark binnen zehn Jahren einen Bevölkerungsschwund von mehr als 25 Prozent im Vergleich zu 2008.

Ein Viertel weniger Menschen, ein Viertel weniger Konsumenten, ein Viertel weniger potenzielle Kulturschaffende, Geschäftsleute, Lokalpolitiker, Feuerwehrleute. Und unter den wenigen, die bleiben: immer mehr Alte, Kranke, Alleinstehende und Hilfsbedürftige.

Der Mann, der diesen Trend stoppen möchte, klingelt um kurz nach eins an Hoffmanns Haustür. Andreas Brohm, ein Blondschopf mit glatt rasiertem Gesicht und blauem Jackett. Der 36-Jährige wuchs selbst in Tangerhütte auf, ist heute Bürgermeister und tourt für sein Ziel seit seinem Amtsantritt im vergangenen Herbst durch die Dörfer.

Er träumt davon, den Strukturwandel mit kulturellen Angeboten, schnellerem Internet und eigenem Autobahnanschluss zu gestalten. Der Neupolitiker, der eifrig twittert und eine eigene Homepage betreibt, wirkt wie ein Tropenvogel in Hoffmanns Wohnzimmer, das den braun gemaserten Charme der Achtzigerjahre versprüht.

Brohm ist hoch motiviert, aber realistisch: Viele Aufgaben müsse die Stadt in die Hände von Ehrenamtlichen geben, das Geld fehle. Klingt in der Theorie gut, sagt Zosel-Mohr – sie wisse nur nicht, wie das in der Praxis funktionieren solle: »Wir haben ja gar keine Leute mehr, um ein System des Helfens aufzubauen.«

Brohm will den Bevölkerungsschwund unter anderem mit etwas bekämpfen, das er »Entkommunalisierung« nennt: Nicht jedes Dorf brauche einen eigenen Sportplatz, sogar das traditionsreiche Kulturhaus müsse aufgegeben werden. »Das ist unpopulär, aber alternativlos«, sagt er, »und glauben Sie mir: Es ist kein schönes Gefühl, den gesamten Stadtrat gegen sich zu haben.« Aber selbst falls Brohms Politik erfolgreich sein sollte: Wann wäre deren Wirkung spürbar?

Für Hoffmann wohl zu spät. Sein 180-Quadratmeter-Haus hat fünf Zimmer, je zwei Bäder und Toiletten, Dachboden, Keller. In Berlin wäre der Senior damit ein reicher Mann, doch in Tangerhütte liegt der Quadratmeterpreis bei 384 Euro. Sein Backstein-Paradies im Grünen hat damit derzeit einen Marktwert von etwa 69 000 Euro. Sollte Hoffmann zum Pflegefall werden, könnte er damit gerade mal sechseinhalb Jahre im Heim finanzieren – in der niedrigsten Pflegestufe.

Hoffmann ist wohl kaum jemand, der für dumpfe Parolen und schlichte Schuldzuweisungen anfällig wäre. Dabei hätte er immerhin handfeste Gründe, verärgert und desillusioniert zu sein: Wenn selbst Eigentümer stattlicher Häuser, die ein Leben lang gearbeitet haben, um die Finanzierung der eigenen Pflege im Alter bangen müssen, während Steuergelder für die Rettung kriselnder Banken ausgegeben werden – dann ist der Frust programmiert. Und die Suche nach den Schuldigen beginnt.