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Hedwig Richter

Moderne Wahlen

Eine Geschichte der Demokratie in Preußen und den USA im 19. Jahrhundert

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Für Matthias G.

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

© 2017 by Hamburger Edition

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras, unter Verwendung von Ausschnitten aus »Isolierwände zur Herstellung von Nebenräumen für die Reichstagswahl«.

Inhalt

Einleitung

Demokratie als Fiktion

1Elitenprojekt. Wahlen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Bürgerliche Lauheit und die preußische Städteordnung

Obrigkeitliche Interessen und Wahltechniken

Republikanische Eliten in den USA

Das vermögende Subjekt

Der statistisch Erfasste

Der sesshafte Bürger im Herrschaftsterritorium

Lebensalter und Partizipation: Der mündige Mann

2Mobilisierung. Die Gemeinschaft der Männer in der Jahrhundertmitte

Die Nation an der Urne

Der Hunger und die Eieraufkäufer

Parteienzirkus in Amerika

Wer ist das Volk? Wahlen als Marker für Zugehörigkeit

Gewalt. Staatsmacht und Volkswille

Staatsbürgerliche Männlichkeit

Kommunikation

3Wahlen in traditionsbedürftigen Zeiten

Das Dreiklassenwahlrecht, der Hybrid zwischen Tradition und Moderne

Traditionale Bedenken

Demokratie und ihre Einhegung

Neuinterpretationen und konservative Aneignung

Krieg

Boykott und Wahlabstinenz

4Freiheit und Manipulation. Probleme moderner Herrschaft

Allgemeines und gleiches Männerwahlrecht in den USA und Deutschland

Wahlmanipulationen der preußischen Obrigkeit

Bürgerliche Aneignung der Wahlen und nicht-staatliche Manipulationen

»Das Dynamit des Gesetzes«. Staatliche Bemühungen um das universal suffrage

Wahlen als Gesinnungstest

Korruption und Mord bei amerikanischen Wahlen

Neue Bedenken gegen die Demokratie

5Massenpartizipation als Konsens vor dem Weltkrieg

Rationalisierung

Reformdiskurse, Skandalisierung und Fortschrittsoptimismus

Die Bildung der Bürger

Die Ordnung der Dinge im Wahllokal

Beschleunigte Zeiten

Rassismus

Universalisierung partizipativer Techniken und Erster Weltkrieg

Fazit

Beförderung des Wahlrechts durch die Herrschenden

Ideale, Praktiken und Strukturen

Analogien und Unterschiede zwischen Preußen und den USA

Anhang

Abkürzungen

Quellen

Literatur

Register

Dank

Zur Autorin

Einleitung

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Demokratie als Fiktion

Warum haben sich politische Wahlen durchgesetzt, sodass die Legitimation politischer Herrschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts kaum noch ohne Massenpartizipation möglich ist? Wie lässt sich der Erfolg dieses Verfahrens erklären? Als Antwort finden sich recht eindeutige Erzählungen: Wahlen ermöglichen den Menschen ein gleiches, allgemeines, direktes und freies Mitspracherecht. Folglich haben sich Männer und Frauen dieses Recht im Laufe der Jahrhunderte in Form von Massenwahlen und gegen die politische Autorität erkämpft. Zuerst geschah das in England, dann prominent in den USA und Frankreich. Andere Länder zogen nach, während Preußen mit seiner Demokratieunfähigkeit auf den Abgrund undemokratischer Entwicklungen verweist. »In jedem von uns gibt es etwas, das nach Freiheit schreit«, rief Martin Luther King im Kampf für das Wahlrecht der Afroamerikaner, und gegen alle Widrigkeiten haben sich Frauen und Männer immer wieder diese Freiheit angeeignet, Demokratien errichtet und damit Gleichheit und Gerechtigkeit installiert.

Diese Geschichten sind populär, und sie werden vielfach von der Forschung aufgegriffen.1 Doch wollten die Menschen tatsächlich von jeher wählen? Und warum wurde der Schrei nach Freiheit ausgerechnet seit der Aufklärung so laut? Und kam er tatsächlich zunächst nur aus den Kehlen von angloamerikanischen oder französischen Männern (denn tatsächlich sind Frauen in diesem Chor lange Zeit kaum zu hören)? Warum setzte sich ausgerechnet das Verfahren der Massenwahlen durch, dessen Technik durch seine Manipulations- und Korruptionsanfälligkeit besonders viele Fallstricke birgt? Damit scheint das Wahlverfahren den Versprechen der Moderne, der Gleichheit, der Freiheit und der Autonomie der Individuen, nicht besonders förderlich zu sein. Wählen bedeutet aber auch deswegen ein gerüttelt Maß an Unfreiheit, weil sich alle dem Mehrheitsentscheid beugen müssen. Würde also nicht das Losverfahren für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen?2 Und gesetzt den Fall, es würde aufgrund des Freiheits-, Gleichheits- und Selbstbestimmungsprinzips gewählt werden, warum setzte sich dann nicht die direkte Demokratie durch, in der die Dinge unmittelbar vor Ort abgestimmt werden?3 Warum ging stattdessen Massenpartizipation Hand in Hand mit der Entwicklung des modernen Staates und der Nationskonstruktion?

Da das Narrativ des Freiheitskampfes zur Erklärung offenbar nicht ausreicht, will ich es um drei Thesen ergänzen. Diese untersuche ich in jenem Zeitraum, in dem sich moderne Massenwahlen entwickelt haben: im 19. Jahrhundert. Die Untersuchung soll vergleichend anhand von Preußen und den USA durchgeführt werden, also zweier Länder mit einer als konträr geltenden Wahlgeschichte. Ich möchte dabei vor allem die Praxis der Wahlen untersuchen, auch wenn ich ideengeschichtliche und diskursive Aspekte nicht unbeachtet lassen werde. Durch diesen Zugriff ergeben sich die folgenden drei Thesen: Erstens wurden Wahlen zu Beginn der modernen Demokratiegeschichte eher von oben oktroyiert als von unten eingefordert, und auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts erwiesen sich moderne Wahlen zwar nicht immer, aber immer wieder als Elitenprojekt. Zentral erscheint mir die Funktion von Wahlen als Disziplinierungsinstrument der Eliten. Dabei fasse ich Elite diskursiv als einen wertfreien Begriff, der Personen bezeichnet, die sich in den Augen der Mehrheitsgesellschaft im weitesten Sinn durch Machtfülle oder Leistungen auszeichneten und dadurch Einfluss genossen.4

Entsprechend entwickelte sich zweitens die Massenpartizipation nicht notwendig aufgrund einer normativen Dynamik, etwa als Freiheitskampf, sondern wurde häufig durch sozialstrukturelle Bedingungen gefördert – wobei sich ideelle und strukturelle Impulse gegenseitig befeuern konnten. Die strukturellen ökonomischen Grundlagen etwa dienten unterschiedlichen Akteursgruppen als Anreiz, Wahlen durchzuführen oder einzufordern: Für die Regierung konnte es beispielsweise in der ersten Jahrhunderthälfte sinnvoll sein, die immer reicher werdende Bevölkerung mit Wahlen zu integrieren, während es für die insgesamt besser gestellten, gebildeten, politisierten Arbeiter in der zweiten Jahrhunderthälfte zweckmäßig wurde, mehr Partizipationsrechte in Preußen einzufordern.

Drittens ergab sich auf der Grundlage eines Sets an spezifischen Ideen und strukturellen Prozessen eine relativ parallele Entwicklung für Preußen und die USA, die den Schluss einer nordatlantischen Geschichte nahelegt und rein länderspezifische Erklärungen für die Ausbreitung der Massenwahlen wenig überzeugend erscheinen lässt.

Dabei waren die USA und Preußen im 19. Jahrhundert grundverschieden. In der Neuen Welt stimmte man stolze Lobgesänge auf die Republik an, Männer präsentierten sich als freie Bürger auf freiem Grund. In Preußen aber herrschte vielfach die Reaktion, und die Obrigkeit unterdrückte Revolutionen und Sozialisten. Universal suffrage hier – Dreiklassenwahlrecht da. Immer wieder werden Preußen und die USA als Gegenpole verstanden. Daher ist es sinnvoll, diese Fallbeispiele zu analysieren.5 Falls meine Thesen auf beide Länder zutreffen, können bestimmte nationale Erklärungsmuster, die in Demokratie- und Parlamentsgeschichten auftauchen, neu überdacht werden.

Sowohl für Preußen als auch für die USA liegen bereits hervorragende Forschungen zum Thema Wahlen vor, sodass es möglich ist, beide über diesen langen Zeitraum in den Blick zu nehmen. Doch weil sich diese Studie für die genaue Wahlpraxis und ihren sozialen und kulturellen Kontext interessiert, sollen in jedem Land beispielhaft zwei Tiefenbohrungen durchgeführt werden: in je einer ländlichen Gegend – Pommern und South Carolina – und in je zwei Metropolen – Berlin und New York City. Alle vier Regionen sind in gewisser Weise symptomatisch für den ganzen Staat: Pommern mit seiner relativen Rückständigkeit,6 South Carolina mit seiner einflussreichen Elite in einem (ehemaligen) Sklavenhalterstaat; Berlin als Residenz-, aber auch als Revolutionsstadt, mit seinen Möglichkeiten liberalen und sozialistischen Denkens, New York mit den sozialen und ethnischen Spannungen und seinem hitzigen politischen Leben; schließlich stehen beide Metropolen für den Hochdruck, mit dem Städte im 19. Jahrhundert wuchsen und Innovationen entfesselten. Sämtliche vier Regionen sind zugleich Extremfälle, doch gerade das Extreme kann wie in einem Brennpunkt das Typische verdeutlichen, so etwa die konservative Gesinnung der Menschen auf dem Lande in Pommern oder South Carolina. Wichtig ist dabei allerdings die Einbettung der Befunde in die Zusammenhänge des jeweiligen Nationalstaates, um unangemessene Verallgemeinerungen zu vermeiden. Im Fall Preußen geht der Blick zudem immer auch wieder in die anderen deutschen Länder, weil Preußen eng in den deutschen Kontext eingebunden war, spätestens mit der Reichsgründung 1871 kaum noch eine unabhängige Politik betrieb und weil insbesondere seit Ende des 19. Jahrhunderts sein Wahlrecht als eine gesamtdeutsche Frage diskutiert wurde.

Obwohl es vor allem in der Zeit nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, der 1865 endete, zu einem Austausch zwischen den Ländern kam und transnationale Prozesse die Entwicklung moderner Wahltechniken wesentlich prägten, geht diese Studie vergleichend vor. Allerdings handelt es sich nicht um einen strengen historischen Vergleich im orthodoxen Sinne.7 Vielmehr lässt sich die Studie von globalhistorischen Ansätzen inspirieren, die aus ihrem weit schweifenden Blick eine Vielfalt an Erkenntnissen gewinnen können.8

Um den Erfolg der Institution Wahlen zu verstehen, gilt es, jene Jahrzehnte in den Blick zu nehmen, in denen sie sich herausgebildet hat. Der Untersuchungszeitraum setzt daher mit der Zeit um 1800 ein und endet mit dem Ersten Weltkrieg, in dessen Vorfeld sich ein gewisser Konsens für allgemeine Wahlen durchsetzen konnte, der dann durch den Brandbeschleuniger des Weltkriegs in vielen Ländern auch das Frauenwahlrecht ermöglichte. Bewusst entscheide ich mich für den Begriff »Moderne«. Moderne bedeutet in diesem Zusammenhang ganz konventionell mit Max Weber gesprochen die Rationalisierung der westlichen Welt. Damit verbunden sind (idealtypisch zugespitzt) die Industrialisierung und ein Anstieg des Wohlstandes, die Konstruktion von Nationen mit dem einhergehenden Gleichheitsanspruch der Bürger, die Differenzierung der Gesellschaft in funktional spezifizierte Teilbereiche, sodass sich Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion zunehmend unabhängig voneinander artikulieren konnten. Moderne bedeutet der selbstbewusste Auftritt des Bürgertums und damit der Anstieg des Bildungsniveaus, die Entwicklung der Presse, die Möglichkeit einer unabhängigen Öffentlichkeit. Koselleck nennt den Anbruch der Moderne »Sattelzeit«: Die westliche Welt überwand das Bergmassiv, und vor ihr lag eine neue, verheißungsvolle Welt. Die Antinomien der Moderne gehören freilich dazu, nationalistische Exklusionsprozesse etwa, Rassismus oder die Disziplinierung des Subjekts. Die ideellen Grundlagen moderner Zeiten lassen sich entsprechend mit den aufklärerischen Forderungen nach Rationalität, nach der Würde des Menschen und nach seiner Pflicht zur Selbstbefreiung identifizieren, aber auch mit einem konservativen Sicherheitsbedürfnis, mit Ängsten und der Sehnsucht nach Traditionen. Vor allem die Freiheitsdiskurse waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts Elitendiskurse, doch entwickelten sie eine faszinierende Dynamik. Gewiss, »Moderne« und »Modernisierung« sind hochumstrittene Begriffe. Wenn man sich ihnen aber ohne akademische Ressentiments nähert, bieten sie ein theoretisches Modell mit hoher Erklärungskraft.9

Die Konzentration auf die Moderne ist deswegen sinnvoll, weil erst mit ihr die Forderung nach der universellen Würde des Menschen und damit die ungeheuerliche Idee der Gleichheit – der Gleichheit im Hier und Jetzt – zum Durchbruch kamen. Die Gleichheitsforderung gab der Freiheitsforderung eine neue Schärfe. Denn Freiheit für wenige gab es seit jeher. Mit der Moderne und ihrem Universalisierungsanspruch entwickelte sich Freiheit zu einer unerhörten Herausforderung. Nicht zuletzt nährte sie die Vorstellung von einem Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen.10 Es mag interessant sein, ob in der Antike mit Scherben oder Bohnen, geheim oder mit Hammelsprung abgestimmt wurde, und Diversität und Komplexität vormoderner Gesellschaften zeigen sich auch in ihren Wahlpraktiken, doch für die Frage nach dem Funktionieren moderner Demokratie spielt all das eine untergeordnete Rolle.11 Erst in der Sattelzeit wurde das Wahlrecht zu einem universellen und zugleich individuellen Rechtsanspruch, der auf der Nationalidee und deren Postulat der egalitären Staatsbürger gründete.12 Und es ist dieser Rechtsanspruch und nicht der Vorgang der Abstimmung oder die Idee des Mehrheitsentscheides, der politische Massenwahlen begründet.13 »Eine recht klare Zäsur trennt vormoderne von modernen Wahlen«, so Barbara Stollberg-Rilinger.14

Die immer wieder bemühte Geschichte der Demokratie von der Antike (dann langes, langes Schweigen über die dunkle Vormoderne) über bedeutende Denker seit der Renaissance bis zu den Gelehrten der Zeit nach 1945 erscheint zuweilen unreflektiert, weil darin eine Geschichtsschreibung von großen Männern mit klassischem Profil betrieben wird, die womöglich weniger mit dem historischen Gegenstand als vielmehr mit der politischen Selbstverortung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun hat. Insbesondere die politikwissenschaftliche Ideengeschichte betreibt manchmal eine Historiografie ohne Anschauung sozialer Gegebenheiten und ideeller Implikationen, unberührt häufig von gender- oder globalgeschichtlichen Einsichten.15 Die immer gleiche Auswahl der analysierten Personen, ob Hobbes, Locke oder Jefferson, verführt dazu, lediglich die alten Erzählungen zu bestätigen.16 Diese Forschung erklärt eher die Jakobiner oder einen totalitären Geist wie Rousseau zu Vätern der Demokratie, als dass sie die Bauernaufstände im Spätmittelalter oder einen Reformer wie Karl August von Hardenberg berücksichtigt.17

Aber sieht sich eine Geschichte, die sich auf die USA und Preußen konzentriert und mit einem Konzept der Moderne operiert, nicht einem ähnlichen Vorwurf ausgesetzt, nämlich dem des Eurozentrismus? Doch so wie es selbstverständlich sinnvoll sein kann, sich etwa europäischen Denkern des 18. Jahrhunderts zu widmen, so gibt es durchaus Themen, die den Westen als Referenzraum haben, und zu ihnen gehört die Entwicklung moderner Wahlen.18 Dekonstruktivistische Kritik hat die Meistererzählung des Westens nicht überflüssig, sondern reflektierter und theoretisch informierter gemacht.19 Ulrich Mücke notiert, die Globalgeschichte mit ihrem Blick auf die Verflechtungen sei gewiss inspirierend, doch was die Entwicklung der Wahlen betreffe, »handelt es sich (leider) um eine sehr einseitige Verknüpfung«, nämlich um den Einfluss des Westens auf die anderen Länder.20 Jürgen Osterhammel konstatiert generell, es sei »kapriziöse Willkür, eine Geschichte ausgerechnet des 19. Jahrhundert zu entwerfen, die von der Zentralität Europas absähe«.21 Und dass Grenzen und Unterscheidungen zuweilen unscharf sind und unterlaufen werden, setzt diese Grenzen voraus und bestätigt ihr Vorhandensein.22 Bei der Geschichte der Massenwahlen ist es insofern einleuchtend, vom »Westen« zu reden, weil die postulierte Menschenwürde in diesem Raum aufkam und damit auch die Forderung des Wahlrechts als individuelles Recht.23 Da sich Wahlen auf das Staatsbürgerrecht konzentrierten und die Gleichheit bis ins 20. Jahrhundert in aller Regel als staatsbürgerliche Gleichheit gedacht war, ist es zudem ratsam, den nationalen Rahmen zu beachten (der nicht zuletzt durch die Staatsbürgerschaft konstituiert wurde).24

Die ersten Ansätze einer globalen Demokratie-Geschichte haben einen anderen Fokus. So zeigt John Keane in seiner beeindruckenden Studie über weltweite demokratische Praktiken, dass Wahlen und demokratische Ideen in reicher Vielfalt weltweit anzutreffen sind. Doch ähnlich wie bei dem Blick auf die Antike und Vormoderne fehlt den meisten dieser Wahlen der moderne egalitäre Anspruch.25 Damit ist bereits auch etwas zu dem Einwand gegen eine »deterministische«, »teleologische« und »lineare« Geschichte gesagt. Auch wenn Meistererzählungen eine Verführungskraft besitzen und zuweilen Historikerinnen und Historiker davon abhalten, genauer hinzuschauen und Abweichungen zu registrieren, so finden sich eben doch auch richtungsgebundene Prozesse und Kausalitäten, die eine bestimmte Entwicklung wahrscheinlicher werden lassen als andere Entwicklungen. Geschichte ist allerdings niemals determiniert, weil der Zufall und der Eigensinn der Menschen allen Plausibilitäten immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Dennoch lassen sich Muster und Prozesse erkennen, und die wissenschaftliche Mühe ihrer Interpretation ist unverzichtbar. Das oft vorgebrachte Argument gegen eine Geschichte der Moderne, dass es Kontinuitäten zur Vormoderne gebe, ist ohnehin wenig überzeugend. Selbstverständlich gibt es in historischen Entwicklungen immer Überschneidungen und »Ungleichzeitigkeiten«. Und dennoch finden Entwicklungen statt, die Zeitabschnitte voneinander unterscheidbar machen. Auch muss ein Konzept von Modernisierung nicht zwangsläufig davon ausgehen, dass die ganze Welt früher oder später diese Entwicklung nimmt, wodurch die Welt in Vorreiter und Nachzügler eingeteilt werden kann. Es ist zuweilen interessanter, mit Max Weber danach zu fragen, warum ausgerechnet der Westen diesen Weg in die Moderne gegangen ist.

Dank der Forschungsleistungen in der Globalgeschichte und in den Postcolonial Studies muss eine Geschichte des Westens allerdings ihre Fokussierung reflektieren und in die Analyse einbeziehen. Dipesh Chakrabarty spricht von den »privilegierten Erzählungen der Staatsbürgerschaft«, ohne die die Moderne nicht zu denken ist, ohne die aber auch die Konstruktion der Anderen nicht denkbar geworden wäre.26 Nicht zufällig erreichten Kolonialismus und »wissenschaftlicher« Rassismus einen Höhepunkt in der Zeit um 1900, als sich im Westen die Gleichheit und das gleiche Stimmrecht weitgehend Bahn brachen (mit allen Abstrichen, die nach wie vor am Werk waren). Für die Konstruktion der staatsbürgerlichen Gleichheit in den nordatlantischen Ländern war der Gegenentwurf der »nicht-zivilisierten« Welt bedeutsam, und angesichts der Fremdheit der Anderen in der kolonialen Welt schien die Gleichheit der »Weißen« besonders augenfällig. Eine Geschichte der politischen Wahlen im 19. Jahrhundert muss eine weitere Einseitigkeit reflektieren: Sie beschäftigt sich fast ausschließlich mit Männern und Männlichkeit. Nicht nur, weil die Akteure Männer waren, sondern auch, weil fast alles, was mit Wahlen zusammenhing, mit Konstruktionen von Männlichkeit verbunden wurde. Die Genderforschung hat dazu beigetragen, diesen Umstand in die Analyse zu integrieren. Dabei kann es nicht darum gehen, dass Frauen den Wahlkämpfern Kaffee gekocht und für die Partei Flugblätter verteilt haben. Solche Erkenntnisse können leicht zu Verzerrungen führen und verdecken, wie konsequent die Exklusion der Frauen herrschte und wie überaus mächtig die politischen und sozialen Konstruktionen von männlicher Hegemonie waren. Hilfreich sind dabei Ansätze, wie sie Karen Hagemann, Ute Planert, Raewyn Connell oder Jürgen Martschukat vertreten, denen es mit der Einbeziehung der Geschlechterebene gelingt, neue Zusammenhänge aufzuzeigen, etwa die enge Symbiose von Männlichkeitsidealen mit Staatskonzepten und Nationskonstruktionen.27

Was aber ist mit Wahlen gemeint? Meistens werden sie als eine Technik definiert, um eine Körperschaft zu bilden oder eine Person mit einem Amt zu betrauen.28 Die Politikwissenschaft unterscheidet zwischen Wahlen und Plebisziten (wobei Letzteres oft mit dem Terminus »Abstimmung« bezeichnet wird).29 Die Akteure im 19. Jahrhundert trennten hier allerdings weniger säuberlich: Wenn etwa Amerikaner elections abhielten, sorgten sie häufig sowohl für die Bestimmung von Personen zu Ämtern als auch für die Abstimmung über Plebiszite wie etwa Verfassungsänderungen; beides fand sich auf einem Stimmzettel. Da sich diese Studie vor allem für den Wahlakt und dessen Interpretationen im historischen Kontext interessiert und der Inhalt der Wahlentscheidung sekundär ist (ob für das Bürgermeister- oder Präsidentenamt oder für einen Verfassungszusatz), ist also die Unterscheidung zwischen Wahlen und plebiszitären Abstimmungen nicht zielführend. Daher ist für diese Untersuchung die weitere Definition in der Encyclopedia Britannica sinnvoll, die Wahlen definiert als »den formalen Prozess, durch eine Abstimmung eine Person für ein öffentliches Amt auszuwählen oder ein politisches Vorhaben zu akzeptieren bzw. zurückzuweisen«.30

Selbstverständlich bildet die Frage, was gewählt wurde, dennoch einen unverzichtbaren Hintergrund meiner Untersuchungen: War es ein Abgeordneter, dessen Wahl schon im Vorfeld feststand; ging es um ein mächtiges Parlament oder einen wenig attraktiven Magistrat? Die Frage der Wahltechniken lässt sich davon nicht lösen. Auch ist es wichtig, sorgsam das jeweilige Wahlrecht zu berücksichtigen. Während sich die Wahlen in den Vereinigten Staaten stark ähnelten und häufig Kommunalwahlen, Präsidentschaftswahlen, Kongresswahlen oder Plebiszite rechtlich und verfahrenstechnisch gleich organisiert waren, ist Preußen ein besonders interessanter Fall, weil hier ab 1867 das Dreiklassenwahlrecht auf Landesebene durch das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht auf der Reichsebene ergänzt wurde. Diese wahlrechtliche Diskrepanz offenbarte die Vorstellungen der Menschen besonders deutlich, weil sie zu einer nicht endenwollenden Reformdebatte um das seit 1849 geltende preußische Dreiklassenwahlrecht führte.

Immer wieder drängen sich normative Ansprüche in die Definition hinein – vor allem durch die fünf Attribute einer demokratischen Wahl im heutigen Sinne, »gleich«, »allgemein«, »geheim«, »direkt« und »frei«. Auf die Frage nach Essenz von Wahlen verweisen einschlägige Definitionen auf das Prinzip der freien Auswahl.31 Die durch die Grundsätze »geheim« und »direkt« gewährte Wahlfreiheit jedoch war im 19. Jahrhundert nur selten gegeben, denn Geheimhaltung war eine abstrakte Idee, auf die zunächst nur intellektuelle Eliten verfielen, und auch die Direktheit konnte sich nur nach und nach durchsetzen.32 Ob in Neuengland Wahlämter innerhalb einer Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurden, in den Südstaaten nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg eine Einparteienherrschaft das Land regierte oder ob beim preußischen Dreiklassenwahlrecht Junker die Landarbeiter zu einer ihnen genehmen Wahl drängten: Wahlfreiheit erwies sich häufig als dysfunktional, und Geheimhaltung kam nur wenigen in den Sinn. Ähnlich sieht es mit der Allgemeinheit aus. US-amerikanische Wahlen schlossen die indigene Bevölkerung, häufig Latinos und selten auch Juden aus, sie hatten zum Teil bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Zensus (also Besitz- oder Steueranforderungen für das Wahlrecht), um 1900 wurden vielfach die Analphabeten und erneut die Afroamerikaner ausgeschlossen. Preußen hatte zwar bereits ab 1848 ein allgemeines Männerwahlrecht, doch seit 1849 war es ungleich, weil die Stimmen je nach Steuerleistung unterschiedlich gewichtet wurden. Allerdings hatten alle diese modernen Wahlen in ihrem Kern den Anspruch auf Allgemeinheit, das hieß auf Einbeziehung aller Bürger. Dieser Anspruch war über viele Jahrzehnte im 19. Jahrhundert der deutlichste Ausdruck der aufklärerischen Gleichheitsforderung, denn das aufgeklärte, gleiche, würdige, freie Subjekt sollte mitbestimmen können. Das Neue an diesen Wahlen war nicht die Gleichheitsforderung für die Wahlberechtigten, denn auch in den meisten vormodernen Wahlen hatte die Elite der Wahlberechtigten ein gleiches Stimmrecht (»one voter, one vote«). Das Neue an modernen Wahlen war ihr universeller Anspruch, der sich aus der aufklärerischen Gleichheitsforderung für alle ergab (»one man, one vote«). Daher nannten die Zeitgenossen das moderne Wahlrecht meistens auch universal suffrage oder allgemeines Wahlrecht. Wie dieser Anspruch umgesetzt wurde, ob mit Geheimhaltung oder mit Waffenschutz, und wer überhaupt zur bürgerschaftlichen Allgemeinheit gehörte, war umstritten.

Erst um 1900 trafen sich die diversen Entwicklungsfäden der Wahltechnik in dem, was ungefähr den heutigen Normen zur Geheimhaltung und einer freien, direkten Wahl entspricht, und erst nach dem Ersten Weltkrieg genügte das Wahlrecht in etwa dem heutigen Verständnis von Allgemeinheit und Gleichheit. Daher verstehe ich unter politischen Wahlen die Technik des Abstimmens, um kollektive politische Entscheidungen zu treffen, wobei sich das originär Moderne in dem prinzipiellen Anspruch auf Allgemeinheit zeigt. Da die Durchsetzung dieses Anspruchs wesentlich die Geschichte der modernen Demokratie prägt, ist diese Studie ein Beitrag zur Demokratiegeschichte.

Die Vorstellungen, was unter Demokratie zu verstehen sei, haben sich immer wieder grundlegend verändert. Eine auf heutige Demokratievorstellungen fixierte, normativ festgelegte Definition erlaubt es kaum, Demokratieentwicklungen vor 1919 oder selbst vor 1945 sinnvoll zu analysieren – sei es in den USA oder in Europa. Doch seit den »demokratischen Revolutionen« in Frankreich und Amerika wurde Demokratie mit Gleichheit verbunden und mit Freiheit – dem Anspruch, dass die Gleichen kraft ihrer Freiheit die Herrschaft ausüben und in Freiheit ihr Leben gestalten.33 Hier wird erneut mit dem Universalitätsanspruch das Umstürzende der Moderne deutlich: »Moderne Demokratie« heißt in letzter Konsequenz die Relevanz aller Menschen – nicht zuletzt für die Herrschaft. Ernst Moritz Arndt, der zu den vielen Intellektuellen gehörte, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Zukunft in der »Demokratie« sahen,34 erklärte 1814: »Die besten Kaiser und Könige und alle edlen Menschen haben ja auch immer nur bekannt, daß sie für das Volk da sind und für das Volk und mit dem Volke regieren.«35 Arndt knüpfte damit an das 1791 von Claude Fauchet notierte Diktum an: »Alles für das Volk, alles durch das Volk, alles dem Volke« (»tout pour le peuple, tout par le peuple, tout au peuple«),36 das dann Jahrzehnte später von Lincoln aufgegriffen wurde: »Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk« (»government of the people, by the people, and for the people«). Der Historiker Edmund S. Morgan, dem diese Studie wesentliche Anregungen verdankt, schreibt darüber: »Nüchternes Nachdenken dürfte uns zeigen, dass alle Regierungen vom Volk sind, dass sie alle bekunden, für das Volk zu regieren, und dass keine von ihnen im buchstäblichen Sinne durch das Volk regiert.«37 Tatsächlich verwiesen Theoretiker und Intellektuelle von Beginn der modernen Wahlgeschichte an auf den utopischen und fiktiven Charakter von Demokratie.38 Denn wie soll das funktionieren, dass alle regieren? »Die Identität von Staat und Gesellschaft, von souveräner Entscheidungsinstanz und Gesamtheit der Bürger ist von Anbeginn dazu verurteilt, ein Mysterium zu bleiben«, so Reinhart Koselleck über die Entstehung demokratischer Ideale.39 Durch die aufklärerische Forderung nach der Autonomie des Individuums einerseits sowie durch die ökonomischen Umwälzungen, dank derer sich diese Autonomie aller zu einem realistischen Projekt kristallisierte, ergab sich die drängende Frage, wie die Freiheit aller möglich sein könne, solange überhaupt noch Herrschaft ausgeübt wurde.40 Wahlen nun boten, so meine These, für dieses Dilemma der Moderne ein zuverlässiges Verfahren. Sie erfüllten die zentrale Funktion, Herrschaft in aufgeklärten Zeiten zu ermöglichen, indem sie auf der einen Seite Herrschaft – und damit zwangsweise soziale Asymmetrie und Dominanz – legitimierten; auf der anderen Seite respektierten sie das aufklärerische Gebot der Gleichheit und Freiheit aller Menschen. Anders gewendet: Wahlen ermöglichten die Fiktion von Demokratie, sie boten eine Performanz der demokratischen Utopie. Das bedeutet zugleich, dass Wahlen ein Scharnier zwischen den Bürgern und dem Staat bildeten und damit wichtiger Bestandteil der Nationskonstruktion wurden.

In dieser Studie sind Wahlen das zu Erklärende, das Explanandum, das Eigentliche, das Faszinierende. In der klassischen politikwissenschaftlichen und historischen Wahlforschung hingegen dreht sich in der Regel alles um den einen Aspekt der Wahlergebnisse, letztlich also darum, wer wen wann warum wählte.41 Diese Studien haben eine Fülle an Erkenntnissen hervorgebracht, die für jede weitere Wahlforschung die Basis bildet.42 Dass jedoch die regelmäßige Abhaltung von Wahlen selbst erklärungsbedürftig ist, kam Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts kaum in den Sinn. Die normative Aufladung von Wahlen erwies sich als so stark, und Wahlen hingen als Herzstück der Legitimation so eng mit den politischen Nachkriegsordnungen zusammen, dass sie von Ausnahmen abgesehen, bei denen es um eine Fundamentalkritik an der liberalen Demokratie ging, kaum selbst infrage gestellt werden konnten.43

In der Geschichtsschreibung gibt es aber seit einiger Zeit eine Reihe von Arbeiten, die weniger nach Wahlergebnissen und Wahlentscheidungen fragen.44 Wegweisend für den neuen Zugang und damit auch für eine neue Geschichte der Wahlen sind die Studien des Wahlforschers Frank O’Gorman geworden, der nach Bedeutungen der Wahlen für die Zeitgenossen sucht, die über die offiziellen Wahlfunktionen hinausgehen.45 In Frankreich bot der Historiker Pierre Rosanvallon mit seinen Wahlstudien einen demokratietheoretisch reflektierten Zugang,46 der dazu beitrug, dass im französischsprachigen Raum vielfältige Studien über die Praxis und Kultur der Wahlen entstanden.47 In den Vereinigten Staaten ist die Wahlforschung zwar nach wie vor an Fragestellungen über Wahlrecht oder Wahlergebnis orientiert, wie nicht zuletzt die beeindruckende und umfassende Studie von Alexander Keyssar über US-amerikanische Wahlen zeigt. Doch nimmt hier die historische Wahlforschung immer wieder die Praxis in den Blick, auch wenn sie theoretisch kaum reflektiert wird.48 In Deutschland wurde in der Geschichtsschreibung bereits in den 1980er Jahren die Forderung laut, Wahlen nicht primär an aktuellen normativen westlichen Standards zu messen.49 Eine kulturalistisch interessierte Politikgeschichte weitete denn auch den Blick für neue Perspektiven50 ebenso wie die Frühneuzeitforschung, die in Anbetracht der völlig anders gelagerten Wahlpraktiken ihrer Untersuchungszeit ohnehin ein weiteres Wahlverständnis entwickelte.51 Historikerinnen und Historiker wie James Retallack, Simone Lässig oder Karl-Heinrich Pohl haben mit lokal- und regionalgeschichtlichen Studien die historische Wahlforschung auf eine mikro- und akteursbezogene Ebene gehoben, und Peter Steinbach drang mit seiner großen Arbeit über die Reichstagswahlen als Ausdruck des politischen Massenmarktes bereits tief in die Wahlpraxis ein. Maßgebliche Impulse für die Wahlforschung lieferte zudem Karl Rohe mit seinem Verständnis von »politischer Kultur«.52 Thomas Kühne zeigt mit seinen Arbeiten über das Dreiklassenwahlrecht, welcher Erkenntnisgewinn möglich ist, wenn Praktiken und symbolisches Handeln in die Analyse einbezogen werden. Seine Studie erweist sich ebenso wie die der Historikerin Margaret L. Anderson über die Wahlen im Deutschen Kaiserreich als Meilenstein in der historischen Wahlforschung.53 Andersons Forschungen haben darüber hinaus für Aufsehen gesorgt, weil sie – empirisch dicht argumentierend – die demokratischen Funktionen der Wahlen und des Reichstags aufzeigen. Außerdem haben in den letzten Jahren auch kulturhistorisch interessierte Forscher wie Robert Arsenschek, Andreas Biefang oder Thomas Welskopp in Studien über das parlamentarische Leben in Deutschland die Wahlpraktiken aufgegriffen. Thomas Mergel verweist in programmatischen Texten generell auf die kulturhistorische Dimension von Wahlen.54

Vor diesem Hintergrund entstand eine Neue Wahlgeschichte, eine new electoral history, wie Malcolm Crook und John Dunne sie nennen.55 Sie ist ein spätes Kind des cultural turn, der einerseits auf die Konstrukthaftigkeit sozialer Wirklichkeit und die symbolische Qualität von Kommunikation verweist, andererseits aber auch – in einer gegenläufigen, später einsetzenden Bewegung – Materialitäten und Praktiken ins Visier nimmt. In beiden Fällen geht es darum, »hinter« die Dinge zu schauen, und auf Unausgesprochenes, Nichtexplizites aufmerksam zu machen.56 Dadurch hat sich der Fokus in der Neuen Wahlgeschichte vom formellen Wahlrecht und den Wahlergebnissen hin zu den symbolischen, diskursiven, aber auch praxeologischen und materiellen Dimensionen der Organisation von Wahlen und der Stimmabgabe verschoben.57 Yves Déloye und Olivier Ihl sprechen von einer »Materialitätsgeschichte der Demokratie«.58 Diese Perspektive soll die ideengeschichtlichen Ansätze, die für die Erkenntnis der aufklärerischen Dynamik in der Wahlgeschichte unverzichtbar sind, ebenso ergänzen wie die strukturellen Bedingungen, die sich etwa in der außerordentlichen Bedeutung der Ökonomie für die Entwicklung der Demokratie zeigen.

Entscheidend für die vorliegende Studie ist es, den Wahlakt als einen erklärungsbedürftigen Brauch zu betrachten. Dadurch geraten vernachlässigte Funktionen ins Blickfeld, und neue Bedeutungen werden offengelegt. Die unerwarteten Funktionen und vielfältigen Bedeutungen, die Menschen zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Regionen und Milieus den Wahlen zuschrieben, sind ein wichtiger Bestandteil, um zu verstehen, warum Wahlen im Laufe des Jahrhunderts so wichtig wurden.59 Dabei gilt es, vorsichtig mit einer funktionalen Argumentation umzugehen und die Kausalitäten sorgsam abzuwägen. Es sind nämlich nicht die Funktionen, die Wahlen hervorgebracht haben; doch die Vielfalt der Funktionen, die Wahlen nach und nach an sich zogen, gaben diesem Verfahren Stabilität und ließen es schließlich, so vermute ich, für moderne Herrschaft so wichtig werden.60

Dieser theoretisch-methodische Ansatz, der geistesgeschichtliche Analysen mit Praxis und sozialstrukturellen Bedingungen verbindet, erweist sich als zentral für die Untersuchung meiner drei Thesen. Wenn Wahlen von oben forciert wurden, wie meine erste These lautet, und das Interesse der Eliten an Wahlen auch im weiteren Verlauf wichtig blieb, so stellt sich die Frage, welche Interessen und Funktionen die Herrschenden mit Wahlen verbanden. Dieses Problem kann aber erst aufgeworfen werden, wenn die herkömmlichen Erklärungsmuster hinterfragt werden, die Wahlen geradezu als menschliches Bedürfnis interpretieren, als ein von unten errungenes Recht gegen den Willen der Regierenden. Dabei stütze ich mich auf die Forschungen von Edmund S. Morgan, der in der Ausrufung des »Volkes« und den daraus folgenden partizipativen Idealen eine Erfindung der Eliten sieht, um Herrschaft mit dem Namen des Volkes zu legitimieren und gegen unten, zuweilen auch gegen oben (etwa den König), abzusichern.61 Die neuere Forschung, insbesondere die von Eric Nelson, haben diese Thesen speziell für die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung nachgewiesen und deren elitären Charakter unterstrichen.62 Wichtig ist in diesem Zusammenhang die angelsächsische quantitative Forschung über die historische Entwicklung der Demokratie, die ebenfalls diskutiert, inwiefern Demokratie von oben oder von unten forciert wurde.63 In der vorliegenden Untersuchung wird aber deutlich, dass es bei der Analyse moderner Herrschaft sinnvoll ist, noch einen Schritt weiterzugehen. Herrschafts- und Verfassungsgeschichte kann nicht in dem Sinne aufgefasst werden, dass Macht einseitige Kommunikation von oben nach unten bildet und in der Regel repressiv ausgeführt wird,64 indem sie das Volk täuscht, zensiert, beschränkt. Vielmehr ist Macht produktiv. Staatliche Herrschaft in der Moderne bedarf der Nutzbarmachung aller Bürger.65 Die vielfältigen Aufgaben des modernen Staates, die dafür notwendige Rationalisierung der Herrschaft und Differenzierung der Gesellschaft, aber auch die Konstruktion der Nation sind ohne diese Fruchtbarmachung und Einbindung der Staatsbürger nicht denkbar.

Der Blick auf Praktiken und Materialität ist wichtig für die zweite These: dass die Entwicklung von Massenpartizipation sozialstrukturell bedingt und nicht notwendigerweise normativ motiviert ablief. So zeigt Lynn Hunt, wie die veränderte Einstellung zur Würde des Körpers, etwa Mitleid mit den Schmerzen der Anderen, Scham oder körperliche Distinktion, das Postulat der universellen Menschenwürde mit hervorgebracht hat.66 Doch erst der wachsende Wohlstand bot diesen Diskursen die Möglichkeit zur Konkretisierung. Peter Blickle weist nach, wie die schiere Empörung gegen körperliche Erniedrigung und Leibeigenschaft die Menschen aufgebracht hat und damit wesentlich zur Konstruktion der Menschenrechte beitrug.67 Der Zusammenhang von Körperlichkeit und Materialität mit Fragen der Menschenwürde verweist darauf, wie wichtig die Berücksichtigung dieser Aspekte auch im Hinblick auf die Geschlechterfrage ist. Die Dominanz des Männlichen bei den Wahlen ist überaus erstaunlich, wenn man den impulsiven und expansiven universalen Gleichheitsanspruch von Wahlen im 19. Jahrhundert bedenkt. Sie ist umso merkwürdiger, weil schon zu Beginn des Jahrhunderts religiöse Differenzen (die über Jahrhunderte die Menschen in erbitterte Kriege geführt hatten) im Wahlrecht weitgehend ausgeschaltet wurden, weil bereits in der Jahrhundertmitte die Exklusion der Armen relativiert und teilweise beendet wurde (obwohl das Argument, dass nur Steuerzahler wählen sollten, einige Plausibilität beanspruchen konnte) und weil ein Großteil der Bürger sogar die Kategorie Rasse nicht mehr als Ausschlusskriterium gelten lassen wollte. Die in der Moderne durchdeklinierte und durch Wissenschaft unerbittlich gewordene Dichotomie der Geschlechter – Frauen als Kreaturen des häuslichen Lebens, Männer als die zuständigen Akteure für die Außenwelt inklusive der Politik68 – erscheint mir zumindest als zentrale Antwort nicht überzeugend. Denn warum sollte gerade ein besonders junger Diskurs so besonders stabil sein, wenn doch andere Exklusionsmuster wie Religion, Klasse und Rasse in Anbetracht der egalisierenden Kraft der Staatsbürgerschaft so erfolgreich infrage gestellt wurden? Ich würde daher dafür plädieren, Materialität und Praktiken in die Analyse der Geschlechterfrage einzubeziehen, um zu verstehen, wie gerade auch in Körpern das männlich überlegene »Sein im Modus der Evidenz« (Bourdieu) wieder und wieder reproduziert werden konnte und der Ausschluss der Frauen gewissermaßen »in der Natur der Dinge« lag.69

Es ist also hilfreich, wenn die Wahlforschung nicht nur über Symbolsysteme und die Performanz des Wahlaktes reflektiert, sondern auch darüber, wie das Wahllokal und die Straßen rings um den Wahlort, wie Wahlkabinen und Registraturlisten Macht zuteilen oder verweigern, wie Wahlpraktiken männliche Körperlichkeit präferieren oder domestizieren und wie sie geschlechtsspezifische Festlegungen treffen. Die Materialität des Wählens verdichtete den Wahlakt im 19. Jahrhundert als Herrschaftsakt der weißen Männlichkeit und determinierte die Exklusion der Anderen – nicht zuletzt aufgrund der Lust der jungen Männer an Gewalt.70 Wahlen dienten dabei nicht nur als ein Spiegel der männlichen Ordnung. Vielmehr lassen sie sich als eine »große rituelle Zeremonie« verstehen, wie Bourdieu es nennt, um die männliche Herrschaft immer und immer wieder zu reproduzieren.71 Erst ein sich veränderndes Setting der Dinge und der Körper konnte den Horizont für die Partizipation der Frau öffnen.72

Es waren also oftmals materiale und sozioökonomische Bedingungen, die Hoffnung auf demokratische Zeiten und eine universelle Menschenwürde weckten. Häufig wurden die Ideale aber von einer geistigen Avantgarde formuliert, und es konnte einige Zeit dauern, bis sie in den unteren Schichten auf Resonanz stießen. Das Wahlrecht blieb für viele Menschen oft noch Jahrzehnte nach seiner Einführung ein Abstraktum, das ihnen wenig bedeutete. Hier zeigen sich beispielhaft Kontinuitätslinien. Denn oft verbanden die Menschen mit Wahlen noch lange Zeit alte Herrschaftsnormen und übten die Wahl etwa als Akt des Gehorsams gegenüber den alten Autoritäten aus. Auch wenn Wahlen also Ausdruck der legitimen, rationalen Herrschaft sind, um mit Max Weber zu sprechen, so wurden sie doch oft mit traditionalen oder charismatischen Herrschaftsformen verbunden. Der Blick auf die Wahlpraktiken zeigt schillernde Hybride, die einen Einblick in den politischen Horizont der Menschen geben können.

Dieser mikrohistorische Blick auf die Praktiken offenbart bemerkenswerte Ähnlichkeiten über den Atlantischen Ozean und über unterschiedliche Herrschaftssysteme hinweg. Die dritte These dieser Arbeit muss sich auch mit der Frage auseinandersetzen, ob Preußen und das Deutsche Reich in demokratischer Hinsicht gegenüber den anderen westlichen Ländern einen Ausnahmefall bilden. Nun gilt die Sonderwegthese seit den 1980er Jahren als überholt, wozu nicht zuletzt eine reiche und differenzierte Preußenforschung beigetragen hat.73 Und so wurde deutlich, dass von einer Sonderentwicklung Deutschlands nicht viel übrig bleibt, sobald die Forschung empirisch interessiert und international ausgelegt ist. Dazu gehört beispielsweise die quantitative Studie der Politikwissenschaftlerin Isabela Mares, die das Kaiserreich als typischen Fall in seiner Zeit interpretiert – »Deutschland ist ein Mikrokosmos Europas«.74 Im europäischen Vergleich war das deutsche Bürgertum nicht besonders rückständig und adelshörig, die deutsche Gesellschaft nicht besonders militarisiert, die deutschen Liberalen erwiesen sich nicht als singuläre Verräter an der fortschrittlichen Sache, der Kulturpessimismus war nicht tiefer verwurzelt als in anderen Ländern. Besonders interessant und für diese Studie aufschlussreich ist die Tatsache, dass die preußische und deutsche Presse nicht von kaiserlichen Zensoren maßlos geknebelt wurde, sondern sogar besonders frech war.75 Das hat paradoxerweise dazu geführt, dass die Bilder der bissigsten Satireblätter wie des »Simplicissimus« oder des »Wahren Jacob« in der Nachwelt häufig als getreues Abbild deutscher Vergangenheit gelten und damit in zahllosen Reproduktionen die Geschichte der deutschen Wahlen verzerrt haben. Die prominenteste Darstellung über den deutschen Wahlgang in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist der Junker in Ostelbien, der sein Wahlvolk schikaniert (vgl. Abb. 25).

Tatsächlich erweist sich die Vorstellung einer abweichenden demokratischen Entwicklung Deutschlands als besonders zählebig und empirieresistent. Womöglich fühlen sich Wissenschaftler irgendwie unwohl, wenn sie den Deutschen in Sachen Demokratie nicht ein historisch kumuliertes Defizit nachweisen können. In Überblicksdarstellungen, in wissenschaftlichen Diskussionen und im öffentlichen Diskurs gilt die Demokratieunfähigkeit der Deutschen im 19. Jahrhundert jedenfalls weithin als gesetzt. Selbst Margaret Andersons Studie über die Wahlen im Deutschen Reich, die allgemeine Anerkennung gefunden hat und empirisch stichfest ist, wird dann mit einer Fußnote abgetan.76 So fördern zahlreiche Einzeluntersuchungen über die preußischen Wahlen wichtige Erkenntnisse zutage, doch mangels Vergleich bestätigen sie ein ums andere Mal die Anomalität der Preußen: Die ostelbischen Junker oder rheinländischen Fabrikanten, die den Wählerwillen unterdrückten, die Landräte, die nichts von Wahlfreiheit wissen wollten, die manipulative Wahlkreiseinteilung oder die Missachtung des Stimmengewichts der wachsenden Städte, auch die im 19. Jahrhundert übliche Nichtgeheimhaltung beim Dreiklassenwahlrecht werden immer wieder als Ausweis der deutschen Autoritätshörigkeit und Reformunfähigkeit angeführt.77

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Abb. 1Die in Deutschland besonders lebhafte Satire und Kritik gelten der Nachwelt häufig als reales Abbild und beherrschen das Image der deutschen Wahlen bis heute: Pickelhaube und Rindviehvolk. »Mitbürger, auf zur Wahl!!«,

Simplicissimus, Juni 1898 ©VG Bild-Kunst, Bonn 2017; Künstler: Th. Th. Heine

Um die Demokratieferne Deutschlands zu belegen, wird gerne betont, dass ein weites Wahlrecht keineswegs »demokratisch« genannt werden könne, denn immerhin besaß Deutschland ein solches Wahlrecht. Folglich wird das Parlament als maßgeblicher Indikator für Demokratie ins Feld geführt – und lange Zeit wurde die Bedeutung des Reichstags kleingeredet. Als man diese nicht mehr abstreiten konnte, wurde die »Parlamentarisierung« als entscheidendes Demokratiemerkmal identifiziert, diese habe in Deutschland gefehlt, weil die Regierung nicht vom Parlament abhängig war (während ein undemokratisch gewähltes Parlament wie in England demgegenüber unproblematisch erscheint und die parlamentarische Unabhängigkeit des amerikanischen Präsidenten nicht als defizitär gilt).78 Die unterschiedlichen Gewichtungen von Parlament, Wahlrecht oder Regierungsbildung besagen viel über die jeweilige politische Kultur. Aber es ist wenig überzeugend, ein einzelnes Merkmal normativ aufzuladen und zum allgemeingültigen Kennzeichen für »Demokratie« zu erklären.79 Martin Kirsch konstatiert in seiner vergleichenden Studie: »Eine generelle Regel, ob für die Durchsetzung des parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaates eine ›Demokratisierung ohne volle Parlamentarisierung‹ (Frankreich, Dänemark, Deutschland) oder eine ›Parlamentarisierung ohne volle Demokratisierung‹ (Großbritannien, Italien u.a.) vorteilhafter war, lässt sich aus der europäischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht herauslesen.«80 Deutschland weise, so Kirsch weiter, im europäischen Vergleich »eine relativ frühe Demokratisierung auf«.81 Auch die neueste Forschung bestätigt die alte These Manfred Rauhs von einer »stillen Parlamentarisierung« Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg.82 Die vorliegende Studie will mit dem Blick auf die Wahlpraktiken nicht zuletzt zeigen, dass auch im Vergleich mit den USA Deutschland im 19. Jahrhundert schlicht nicht außergewöhnlich war.