Diese Publikation erscheint durchgehend seit Mai 1963 (1963-1990 unter dem Namen Le Livre Slovène, seit 1991 unter dem Namen Litteræ Slovenicæ).
Adresse des Herausgebers:
Društvo slovenskih pisateljev (DSP)
Tomšičeva 12, SI-1000 Ljubljana
Phone: +386 1 251 41 44, Fax: +386 1 421 64 30
Email: dsp@drustvo-dsp.si
http://www.drustvopisateljev.si/en/
2/2015/LIII/140
Vinko Möderndorfer: Wie im Film
Originaltitel: Kot v filmu
© Vinko Möderndorfer
© Slowenischer Schriftstellerverband (DSP) 2015
Übersetzung
Tadeja Lackner-Naberžnik
Redaktion von Litteræ Slovenicæ
Tina Kozin, Tanja Petrič
Redaktionelle Bearbeitung dieser Ausgabe
Tanja Petrič
Sprachliche Korrektur
Peter Scherber
Herausgegeben und verlegt vom
Slowenischen Schriftstellerverband (DSP), Ljubljana
Vertreten durch seinen Präsidenten, Ivo Svetina
This project has been funded with support from
the European Commission. This publication reflects the views only of
the author, and the Commission cannot be held responsible for any use
which may be made of the information contained therein.
E-Book
Zugänglich auf
http://www.biblos.si/lib/
Ljubljana 2017
CIP - Kataložni zapis o publikaciji
Univerzitetna knjižnica Maribor
821.163.6-93-311.2
MÖDERNDORFER, Vinko, 1958-
Wie im Film [Elektronski vir] / Vinko Möderndorfer ; aus dem Slowenischen von Tadeja Lackner-Naberžnik. - El. publikacija. - Ljubljana : Društvo slovenskih pisateljev = Slovene Writers’ Association, 2015. - (Litterae Slovenicae : Slovenian literary magazine, ISSN 1318-0177 ; 2015, 2)
ISBN 978-961-6995-25-2
COBISS.SI-ID 90875905
Vinko Möderndorfer
Wie im film
Aus dem Slowenischen von
Tadeja Lackner-Naberžnik
Društvo slovenskih pisateljev
Slovene Writers’ Association
Ljubljana 2017
Für meinen Neffen Gašper,
der ganz anders ist.
DIE PSYCHE
MEIN LEBEN IST OKAY.
Ich will sagen, dass meine Mama und mein Papa und ich okay sind. Und auch unsere Klasse ist okay. Na ja, fast okay. Einige kommen miteinander aus und andere nicht. Aber Mama meint: „Bruno, gewöhne dich daran, wenn du erwachsen bist, ist das laufend so.“
Ich bin natürlich nicht so ganz davon überzeugt. Ich weiß nicht, warum nicht alle Menschen miteinander auskommen könnten. In unserer Klasse herrscht meistens dann, wie soll ich sagen, Zwietracht, wenn Schurl, Pitsch und Walle in einer Tour Dinge tun, die den anderen missfallen. Sie glauben, sie wären die Größten, wenn sie etwas zerschlagen, den Mülleimer umkippen oder der Slowenischlehrerin immer wieder ins Wort fallen. Als ich ihnen sagte, ich würde das nicht richtig finden, entgegneten sie mir spitz, dass es ihrer Ansicht nach mehr als richtig wäre. Als ich das Mama erzählte, zuckte sie nur mit den Achseln und sagte: „Manche im Leben denken so wie du, und andere wiederum ganz anders. Und das muss man verstehen. Man muss anderem Denken gegenüber tolerant sein.“
Natürlich hält sie sich selbst überhaupt nicht daran. Ich meine, das mit den unterschiedlichen Meinungen. Ich will das nur an einem Beispiel zeigen, obwohl es sehr viele gäbe. Praktisch tagtäglich erlebe ich, wie meine Mama im wirklichen Leben nicht das tut, was sie sagt und denkt. Als ich sie einmal darauf ansprach, zuckte sie wieder nur mit den Achseln, gesagt hat sie aber nichts.
Also, das Beispiel: als ich sie fragte, ob ich mir im Fernsehen einen Film ansehen dürfte, der oben im Eck mit einem roten Dreieck mit der Aufschrift 12+ gekennzeichnet ist, gab sie mir glatt, ohne zu zögern, zur Antwort, dass ich nicht dürfe. Dann sagte ich, dass im Film wahrscheinlich nichts so Schlimmes vorkommen würde oder zumindest nichts, was ich nicht schon wüsste oder sogar schon gesehen hätte. Sie aber sah mich nur erstaunt an und meinte, dass diese Dreiecke wegen der Gewalt im Film dastünden und sie unter keinen Umständen erlauben würde, dass ihr elfjähriger Sohn gewaltsame Szenen mitansehe, weil sich das sehr schlecht auf meine Psycheauswirken könnte. Augenblicklich begehrte ich auf. Ich erklärte ihr, dass nicht mehr viel fehle bis zu meinem zwölften Geburtstag, nur noch ein Monat und zehn Tage, und sie solle nicht so übergenau sein. Dabei hatte sie selber gesagt, dass ich sehr reif für mein Alter wäre. Mama ließ sich natürlich nicht aus der Ruhe bringen. Sie sagte, dass dieses + über der Zwölf bedeutete, dass ich älter als zwölf sein müsste. Und ich fragte: „Wieviel älter? Eine Stunde, zwei Tage, einen Monat?“ Und sie antwortete, dass darüber sie entscheiden würde. Dieses + ermöglichte ihr ein uneingeschränktes Urteilen und Bestimmen über das älter als zwölf. Blödsinnig! Wirklich idiotisch! Völlig sinnlos! Dieses + erlaubt den Eltern einen ungeheuerlichen Missbrauch an ihren Kindern. Am Ende betonte Mama noch einmal: „Solche Filme können einen sehr schlechten Einfluss auf deine Psyche haben.“ Psyche, genau das hatte sie gesagt. Das werde ich mir merken, beschloss ich. Später würde ich im Internet nachschauen, was das genau bedeutete. Und natürlich gab ich weder den Mut noch die Hoffnung auf. Soweit kannte ich sie schon, dass ich wusste, dass man bei ihr beharrlich bleiben musste, wenn man etwas erreichen wollte. Protestierend führte ich gleich darauf einen anderen Standpunkt an. Bei den Nachrichten, die wir uns dreimal am Tag ansehen, kommt viel mehr Gewalt als in Filmen vor, versuchte ich sie mit viel Geduld zu überzeugen. Vor allem, fuhr ich fort, obwohl Mama schon die linke Augenbraue hob, was bedeutete, dass sie mich bald unterbrechen würde, ist die Gewalt, die wir in den Fernsehnachrichten sehen, viel grausamer, weil sie wirklich ist. Ein Film aber ist ausgedacht. Verstehst du? beendete ich meine Rede.
Mama ist definitiv keine tolerante Person, das wusste ich jetzt schon, obwohl sie die ganze Zeit von Toleranz spricht. Ich würde sagen, dass sie eine lebende Werbung für Toleranz ist. Sie spricht darüber, dass Menschen unterschiedlicher Meinung sein können und dass wir das respektieren sollten, hatte aber selbst meine andere Meinung nicht im Geringsten berücksichtigt. Natürlich muss ich nicht extra erklären, dass ich mir den Film nicht anschauen durfte. Stattdessen sah ich sofort nach, was genau das Wort Psyche bedeutete.
Im Netz fand ich unter Psyche 22.453 Treffer. Kurz gesagt: Psyche ist etwas, was wir im Kopf haben. Aber nicht etwa wie so ein inneres Organ. Die Psyche ist etwas Ähnliches wie das Befinden, irgendwie mit Nervosität verbunden. Und Mama ist oft sehr nervös, deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass ihr das Wort gefällt. Wir haben alle eine Psyche. So ist es zumindest zu verstehen. Psyche ist nicht gleich Seele. Auch das hatte ich verstanden. Obwohl wir in unserer Familie nicht an die Psyche glauben, weil wir nicht zur Kirche gehen. Oder wir gehen nicht zur Kirche, weil wir nicht an die Seele glauben. Keine Ahnung.
Aufgrund der großen Trefferquote ist mir klargeworden, dass niemand so genau weiß, was die Psyche genau ist. Wenn es den Leuten klar wäre, würde da nur eine Antwort stehen: Psyche ist … So aber herrscht überall reine Verwirrung. Deshalb weiß ich immer noch nicht, warum der Thriller Freitag der 13. schädlich für meine Psyche sein sollte. Vielleicht wegen der Unmenge an dieser roten Flüssigkeit, die man Blut nennt, oder wegen des Küssens und der Mädels, die ohne Büstenhalter herumlaufen. Als wäre das Herumlaufen ohne Büstenhalter so eine große Sache. Ich habe mir den Film zusammen mit Marko, der neben Tina mein bester Freund ist, dreimal angesehen. Einmal langsam, und zweimal im Schnelllauf. Die langweiligen Szenen haben wir vorgespult, bei anderen haben wir uns etwas länger aufgehalten. Nur zu Forschungszwecken. Um herauszufinden, warum meine und auch Markos Mutter glaubten, dass solche Filme einen schlechten Einfluss auf die Psyche von Elfjährigen haben. Echt, eine totale Verwirrung.
„Wir müssen uns den Film ganz genau anschauen“, sagte ich zu Marko.
„Warum?“ sah er mich mit einem dümmlichen Blick an.
„Damit wir sehen, warum die Psyche ein Problem darstellt.“
„Psy-che?“ wiederholte er und seine runde Brille lief an, was bedeutete, dass er sehr verwirrt war und intensiv nachdachte. Ungefähr so liefen sie an, wenn wir einen Mathe-Test schrieben. Und, nachdem er derart intensiv nachgedacht hatte, sagte er schlussendlich: „Meine Mama meint, dass unsere Wohnung zu klein für einen Hund sei…“
„Au weh!“ ich verdrehte die Augen. „Die Psyche hat nichts mit Hunden zu tun!“
Er nahm die Brille ab, wischte sie am Hemdsrand ab und setzte sie wieder auf. Als ob ihm die klare Sicht das Verstehen der Psyche ermöglichen würde. Er nickte.
Ich hatte keine Lust zu erklären. Ich schob die DVD mit dem Film, den wir sowieso vom Netz heruntergeladen hatten, in den Schlitz und drückte auf Play.
Als wir den Film bereits zum dritten Mal angesehen hatten, klingelte es. Ich drückte auf Pause und öffnete. Es war Tina. Sie brachte mir die Hefte, die ich ihr zum Abschreiben geborgt hatte, weil sie krank war. Dann sahen wir uns zu dritt den Film noch ein letztes Mal an. Ihr kam er sehr schwachsinnig vor. Noch dazu seien die entblößten Brüste der Mädels alle Plastik. So hatte sie sich ausgedrückt. Und außerdem hätten alle Schauspielerinnen, die sich in den Filmen ohne Büstenhalter zeigten, plastische Operationen gehabt. Und dass ihr das wirklich idiotisch vorkäme. Marko und ich spulten sofort zurück und überprüften die Brüste. Sie kamen uns nicht aus Plastik vor. Tina verdrehte die Augen und sagte, sie hätte ja gewusst, dass wir Gonzos wären, aber dass wir auch Psychos seien, das wusste sie nicht! Wir sahen uns an. Auch Tina gebrauchte das Wort Psyche. Na gut, ihre Verwandte:Psyche, Psycho. An dieser Stelle hörten wir auf, den Film Freitag der 13. zu erforschen. In Wahrheit war es gleichgültig. Außer wenn solche Filme tatsächlich unsichtbare Spuren auf der Psyche hinterließen. Und sich Menschen wegen solcher Filme veränderten. Vielleicht hatte ich mich wirklich verändert. Denn, schon nach einigen Tagen ertappte ich mich dabei, wie ich ungewollt auf die Brüste von Mädels aus der Oberstufe starrte. Vielleicht ist das die Psyche. Beziehungsweise der verderbliche Einfluss von Filmen mit einem 12+ in der Ecke.
Ich werde den Mädels aus der Oberstufe nicht auf die Brüste starren, beschloss ich. Ich werde nicht zulassen, dass ich ein Gonzo oder Psycho werde. Ich kämpfte entschlossen dagegen an. Mit einem starken Willen kann vieles verhindert werden. Wenn man zum Beispiel ahnt, dass eine Erkältung im Anmarsch ist, zieht man sich eben warm an und trinkt rechtzeitig riesige Mengen Tee. Den Mädels aus der Oberstufe werde ich ausschließlich in die Augen schauen. Oder auf die Haare. Oder auf die Hände. Ich werde nicht weiter als bis zum Hals hinschauen, obwohl sie ab dort am interessantesten sind. Ich werde nicht zulassen, dass meine Psyche verdirbt. Punkt.
DIE FAMILIE
UND ANDERE GRUPPEN
IN MEINER FAMILIE SIND WIR DREI.
Meine Mama, über sie habe ich schon einiges erzählt, ich, über mich werde ich noch vieles erzählen, und Papa. Wenn ich etwas von ihm will, sage ich Vati zu ihm. Dafür hat er eine wahnsinnige Schwäche. Mama ruft ihn Moritz. Was ein ziemlich lustiger Name ist, würde ich sagen. Würde mich echt interessieren, wie er in der Schule gerufen wurde. Höchstwahrscheinlich haben sie ihn aufgezogen und Mops gerufen. Mops! Mops ist ein sehr komischer Name … Mops … Es erinnert an Mädels, die keinen Büstenhalter tragen und bei denen man die Möpse sieht. Auweh, anscheinend hatte der Film Freitag der 13. wirklich einen schlechten Einfluss auf meine Psyche.
Mein Papa arbeitet im Büro. Er ist ein Chef, worauf er sehr stolz ist, obwohl er noch einige Chefs über sich hat. Letztens hatte er gesagt: „Mein Chef ist eine totale Niete!“
Das habe ich nicht verstanden. Was für eine Niete? Was hatte Papa damit gemeint?
„Wenn ich mich mit der Sache nicht auskennen würde, dann hätten wir im Betrieb ein echtes Problem. Keine Ahnung, wie er zu dieser Position gekommen ist. Klar, er hat die richtigen Freunde. Unfähiger Stümper!“
Unfähiger Stümper, hatte er gesagt. Nach diesen Worten nahm ich an, dass Papa keine großen Stücke auf seinen Chef hält. Wahrscheinlich ist auch totale Niete etwas Schlechtes.
Mama hatte nicht vor, seinen Ausfall zu kommentieren. Sie sagt nie etwas. Normalerweise nickt sie nur oder wundert sich. Weil aber Papa standhaft darauf wartete, was sie sagen würde, seufzte sie schließlich doch: „Es ist wirklich seltsam, dass Viktor dein Chef geworden ist.“
Weil ich sie aber sehr gut kenne, ich glaube sogar besser als Moritz, mein Papa und ihr Mann, weiß ich, dass es ihr ganz egal ist. Und sie in Wahrheit über ganz andere Dinge nachdenkt. Sie zeigt sich nur deshalb verwundert und vielleicht sogar etwas entrüstet, damit Papa nicht beleidigt wäre. Papa sagt nämlich öfters: Ich kriege überhaupt keine Unterstützung. Ich muss alles alleine machen! Deshalb bemüht sich Mama, wenigstens ein bisschen Anteilnahme an seinen Problemen zu zeigen und ihm auf diese Weise die so ersehnte Unterstützung zu bieten.
„Viktor ist mein Chef! Was für eine Ungerechtigkeit! In der Schule hat er von mir abgeschrieben, und jetzt ist er mein Chef!“ regte sich Papa auf, und das so sehr, dass seine Ohren anfingen zu glühen wie das rote Licht an der Ampel.
Und in genau diesem Augenblick läutete sein Handy. Eine bekannte Vier-Ton-Melodie. Ich glaube, es ist die bekannteste Tonfolge aus Beethovens Fünfter Symphonie. Habe es auf YouTube überprüft. Papa wählte sie für seine beruflichen Anrufe. Es hört sich sehr dramatisch an. Wie der Anfang eines Thrillers. Wie eine Musik, die anzeigt, dass jeden Moment ein Mörder das Zimmer betreten wird.
Ta ta ta taaaaaa, erklang es. Papa verdrehte die Augen, dann atmete er tief ein und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Auf seinem Gesicht machte sich ein Lächeln über beide Ohren breit, die jetzt in allen Rottönen blinkten. Dann meldete er sich mit süßlicher Stimme: „Oooo! Viktor! Wie gehts dir? Gerade habe ich Majda von dir erzählt … Ja, was wir für ein tolles Team sind. Ja, genau. Ja. Ja.“
Dann nickte er nur noch und lächelte dämlich, als hätte er gerade erfahren, dass er den Jackpot im Lotto gewonnen hat, im Wissen, dass Mama seine Hosen mitsamt seinem Lottoschein gewaschen hatte. Was letzten Sommer tatsächlich passiert war. Und dann saßen wir alle drei bei der Lottoziehung und hielten die Daumen, dass nicht Papas Zahlen gezogen würden. Ich glaube, wir waren die einzige Familie auf der Welt, die sich nicht gewünscht hat, dass ihre Zahlen gezogen würden. Und natürlich wurden sie nicht gezogen. War das eine Erleichterung! Und gerade so einen Ausdruck hatte Papa im Gesicht, als ihn sein Chef anrief. Etwas zwischen gestellter Freude und aufrichtiger Traurigkeit. Vielleicht war auch etwas Ärger dabei, der an den zusammengepressten Lippen und dem gelegentlichen Zähneknirschen erkennbar war.
Ich verstehe.
Ja.
Ich verstehe.
Ja.
Ich verstehe.
Ja.
Mama und ich machten uns aus dem Wohnzimmer. Ich auf mein Zimmer, und Mama in die Küche. Dort hält sie sich auch die meiste Zeit auf. Wenn sie gutgelaunt ist, geht sie in die Küche. Aber auch wenn sie traurig ist, geht sie in die Küche. Der Unterschied besteht nur in einem: wenn sie gutgelaunt ist, hüpft sie um den Herd herum, singt, lärmt mit den Töpfen und fragt in einem fort, ob jemand Pfannkuchen möchte. Das ist ein mehr als offensichtliches Anzeichen dafür, dass sie guter Laune ist. Wenn mir und Papa nicht danach ist, macht sie welche nur für sich selbst. Dann helfen wir aus reiner Solidarität so an die zehn Pfannkuchen zu verdrücken … Wenn Mama aber traurig ist, setzt sie sich auf den Stuhl in der Ecke beim Fenster und schaut hinaus. Am Fensterbrett hat sie eine große Blume. Eigentlich irgendein verdicktes Gras ohne Blüten. Was mir sehr seltsam erscheint; zu den Pflanzen am Fensterbrett sagen wir Blumen, und das Wesen der Blumen sind die Blüten, keine Ahnung, wozu es gut sein soll, Blumen zu haben, die keine Blüten haben. Nun, Mama bedeutet dieses verdickte Gras sehr viel, wo sie es doch von ihren Kolleginnen bekommen hatte. Sie arbeitete in einem Büro. Ich weiß nicht genau, was, ich glaube, sie half im Betrieb die Löhne zu berechnen. Deswegen war sie einmal im Monat sehr schlechter Laune. Dann war sie eines Tages nicht mehr Arbeiten. Ihr Arbeitsplatz wurde aufgelöst, sagte sie. Und die Kolleginnen, die sie sehr mochten, schenkten ihr zum Abschied dieses Grünzeug.
Mama war ehrlich gesagt im Büro nicht besonders zufrieden. So war sie die erste Woche, in der sie zu Hause bleiben musste, sehr guter Laune. Jeden Tag gab es Pfannkuchen. Und dann immer seltener und seltener. Es scheint mir, dass es ihr ohne Arbeit doch nicht so gut ging, obwohl sie die nicht mochte. Früher, bevor sie mich bekommen hatte, wollte sie Malerin werden. Das erfuhr ich ganz zufällig, als ich in den Schubladen herumstöberte und Berge an Zeichnungen und Bildern fand. Sie wollte nicht zugeben, dass es ihre waren. Aber Papa erzählte mir, dass sie die Kunstakademie besucht hatte. Als ich sie fragte, warum sie nicht Malerin geworden ist, antwortete sie: „Ich war nicht gut genug.“
In letzter Zeit sitzt Mama viel in der Küche, in der Ecke am Fenster, und schaut auf dieses verdickte Gras. Obwohl ich glaube, dass sie an dem Gras vorbei in den Himmel starrt. Irgendwo weit in den Himmel hinein. Denn was anderes kann man von unserem Fenster aus, wenn man am Sessel sitzt, gar nicht sehen. Wir leben im achten Stockwerk. Und wenn man sitzt, sieht man aus dem Fenster nur den Himmel. Ich habe es überprüft. Sozusagen ein Experiment gemacht. Auf den Sessel stapelte ich drei Bücher, damit ich auf gleicher Höhe wie Mama saß, und habe nachgeschaut, was man sieht. Nichts, sage ich euch. Grauer Himmel. Wenn es bewölkt ist und der Wind bläst, dann ist der Ausblick noch irgendwie interessant, weil die Wolken links rechts herumflitzen, ansonsten alles grau in grau. Keine Ahnung, warum ein Mensch den grauen Himmel betrachten sollte. Das ist genauso, wie wenn jemand in einen ausgeschalteten Fernseher oder auf einen Computerbildschirm im Standbymodus schaut.
Mama sitzt in letzter Zeit andauernd in der Küchenecke und schaut in den Himmel.
Schon sehr lange hatte sie nicht aus der Küche gerufen: Hat jemand Lust auf Pfannkuchen?
In meinem Zimmer schaltete ich den Computer ein. Ich ging ins Skype. Über Skype unterhalte ich mich mit meiner Freundin und Mitschülerin Tina. In der Schule reden wir nie miteinander. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht war es ihr peinlich, wenn andere Mitschülerinnen denken würden, dass sie gerne mit mir zusammen ist. Naja, wie soll ich sagen, ich bin nicht gerade ein Model. Es fehlt mir ja nichts. Ich habe Beine und Arme und alles, was für einen Jungen meines Alters notwendig ist … Also, ich bin nicht besonders beliebt. Ich bin auch ein bisschen, wie soll ich sagen, dick. Obwohl Mama meint, dass ich es nicht sei. Aber ich weiß, dass ich es bin. Und meine Haare sind glatt und auf einen Scheitel gekämmt. So will es Mama. Bevor ich die Klasse betrete, zerzause ich sie immer. Aber es hilft nicht. Meine Haare sind an den Scheitel gewöhnt und legen sich ganz von selbst zur Seite. Letztens sagte Marjana zu mir: Geleckter. Zuerst wusste ich nicht, was sie damit sagen wollte, doch dann war es mir klar: meine Haare. Und auch sonst bin ich anders als andere. Ich finde es nämlich sinnvoll, dass ich, wenn ich schon zur Schule gehe, zuhöre, mitarbeite; wenn mich die Lehrerin was fragt, versuche ich so logisch wie möglich zu antworten. Das aber ist bei uns in der Klasse nicht besonders populär. Schurl, Pitsch und Walle stellen sich manchmal absichtlich dumm. Ich finde es echt dumm, wenn jemand sich dumm stellt. Aber deswegen sind sie bei den Mädels sehr populär.
Allgemein sind die Mädels in unserer Klasse nur unter sich. So haben wir in der Klasse doch einige Gruppierungen. Genau genommen, vier.
Tina hat die eine Hälfte der Mitschülerinnen auf ihrer Seite, und Marjana die andere. Die Mitschülerinnen, die von Tina angeführt werden, sind schöner. Ich glaube, fast alle tragen schon einen Büstenhalter. Das wäre mir überhaupt nicht aufgefallen, wenn ich nicht den Film Freitag der 13. gesehen hätte. Erst nach diesem Film sind mir solche Dinge aufgefallen. Einiges wurde mir klarer. Eigentlich sollte dieses Zeichen am rechten Bildschirmrand, dieses rote Dreieck mit der 12+ darin, etwas Nützliches sein. Pädagogisch wertvoll, wie unsere Slowenischlehrerin sagen würde, und nicht ein Verbot. Also, wo war ich stehengeblieben …? Die Tatsache, dass meine Gedanken hin und her springen und ich oft nicht weiß, wo ich stehengeblieben war, ist auch eine meiner schlechten Gewohnheiten, aber ich kann mir nicht helfen, es gibt so viel von allem, dass man sich einfach nicht auf eine einzige Sache konzentrieren kann. Wie schon gesagt, die Hälfte der Mädels schart sich um Tina. Und fast alle wohnen in Häusern oder großen Wohnungen im Stadtzentrum. Ihre Eltern haben Autos und eine Arbeit. Marjanas Clique hingegen fährt mit dem Bus zur Schule, sie leben in Wohnblocks, ihre Eltern sind geschieden und arbeitslos und kaum eine von ihnen trägt einen Büstenhalter. Kommt mir vor. Obwohl ich nicht ganz überzeugt bin. Der Unterschied besteht auch darin, dass Tinas Mädels Vorzugsschülerinnen sind und ins Oberstufengymnasium gehen und dann die Wirtschafts- oder Rechtsfakultät besuchen werden, während die von Marjana noch keine Ahnung haben, was sie nach der Grundschule machen wollen.
Die dritte Gruppe bilden die Jungen. Bei denen ist Schurl der Anführer. Um ihn sind alle Jungen versammelt. Fast alle. So, und die letzte Gruppe bilden Marko und ich. Wir treffen einander. Ich weiß nicht, ob wir schon als Gruppe bezeichnet werden können. Als ich das Wort Gruppe googelte, bekam ich 51.700.000 Treffer. Was bedeutet, dass die Gruppe ein Wort ist, das die Menschen außerordentlich quält. Und wieder ein völliges Chaos. Anstatt einer klaren Antwort Millionen unterschiedlicher. Trotzdem ist mir jetzt klar, dass eine Gruppe eine Gemeinschaft von Einzelnen in einem klar definierten Raum darstellt, die durch gleiche Interessen, Überzeugungen, Motivationen, Tätigkeiten verbunden sind, zum Beispiel eine Musikgruppe. Eine Gruppe in der Tierwelt, wie zum Beispiel eine Herde, eine Horde, ein Schwarm dagegen ist eine mehr oder weniger begrenzte Anzahl von Vertretern ein und derselben Art, die ein gemeinsames Gebiet besiedeln. Das Leben in einer Gruppe bietet somit eine höhere Überlebenschance, gegenseitige Hilfe und auch eine höhere Konkurrenzfähigkeit im Kampf um Nahrung und Lebensraum. Veränderungen in der Umwelt, Vermehrungsprozesse, Wetter- und Klimaänderungen können einen Einfluss auf die Bildung von Gruppen ausüben. Mit dem Gefundenen war ich zufrieden. In Wahrheit interessierte mich vor allem, ob Marko und ich bereits eine Gruppe verkörperten. Ob zwei Menschen eine Gruppe bilden konnten, die eine höhere Überlebenschance besaßen, die sich gegenseitig halfen, und eine höhere Konkurrenzfähigkeit im Kampf um Nahrung und Lebensraum aufwiesen. Es interessierte mich, ob wir beide im Vergleich zu viel größeren Gruppen in unserer Klasse überhaupt eine Chance hatten. Vielleicht sind wir gar keine Gruppe. Vielleicht sind wir nur ein Auswurf außerhalb der Gruppe. Außenseiter. Sofort sah ich nach, was Außenseiter bedeutete. Nur 116.000 Treffer. Was wahrscheinlich bedeutete, dass es auf der Welt viel mehr Gruppen als Außenseiter gab. Und wenn wir Außenseiter waren, waren wir eine Minderheit. Und Minderheiten haben es nicht gut. Es wäre viel besser, wenn wir eine Gruppe wären. Doch eine Gruppe hat einen Anführer und dann noch eine Menge Mitglieder. Wir beide jedoch könnten nur einen Anführer und nur ein Mitglied haben. Ich glaube, dass wir nach der Logik, wie sie heute in unserer Klasse herrscht, keinesfalls eine Gruppe sind. Sondern Außenseiter. Natürlich ändert diese bittere Erkenntnis, zu der ich mich im Netz durchgerungen habe, in keinster Weise die Tatsache, dass unsere Klasse in Gruppen aufgeteilt ist. Die Tatsache, dass sich Gruppen bilden, gefällt mir nicht. Aber Mama sagt, dass es auch im Leben so sei und ich mich gleich daran gewöhnen sollte.
Und gerade wegen solcher Gruppenaufteilungen mag Tina nicht mit mir zusammen sein, wenn andere Mädels dabei sind. Dafür unterhalten wir uns jeden Tag per Skype. Weil es umsonst ist, sprechen wir auch mehrere Stunden miteinander.
Ich schaltete den Computer ein.
Und hängte mich ins Skype.
Bevor Tina antworten würde, machte ich noch einen Sprung aufs Klo. Ich hätte ja nicht müssen, in Wahrheit wollte ich nur wissen, was Mama tat. Es wäre super, wenn sie Pfannkuchen machen würde. Ich lugte in die Küche. Mama saß am Fenster. Sie hatte ihre Hände im Schoß gefaltet und starrte auf dieses Grünzeug am Fensterbrett. Oder darüber hinweg irgendwohin in die Ferne.
Als ich ins Zimmer zurückkam, wartete Tina bereits am Bildschirm auf mich.
„Wo warst du?“ fragte sie mich als ich Platz nahm.
Ich holte Luft, um ihr zu antworten … Ich wollte ihr erzählen, dass ich mir große Sorgen machte, weil Mama immerzu aus dem Fenster sah … Doch sie fuhr fort: „Was machst du?“
„Nichts. Und du?“ sagte ich, weil mir wirklich keine bessere Antwort einfiel.
„Ich warte, dass Morgen ist“, sagte sie.
„Ich nicht.“
„Warum? Die Schule ist für mich das einzig Richtige. Zu Hause ist es richtig arg öde.“
Nun, in dieser Hinsicht waren wir uns einig. Zu Hause war es richtig arg öde. Das war ein Thema, das auch mir zu schaffen machte. Ich fühlte die Gelegenheit, ihr zu erzählen, wie es bei uns zuhause lief. Weil es bei uns in letzter Zeit wirklich richtig arg öde ist. In Wahrheit wusste ich nicht ganz genau, was falsch lief. Vielleicht ist alles in Ordnung und auch andere Familien leben so. Vielleicht starrt auch Tinas Mama stundenlang aus dem Fenster. Darüber wollte ich mit ihr sprechen. Deshalb sagte ich:
„Ja, zu Hause ist es wirklich richtig arg öde.“ Und dann wusste ich nicht mehr weiter.
Einige Zeit sahen wir uns an, dann sagte sie: „Gehst du denn nicht gerne in die Schule?“
Ich schüttelte den Kopf.
Skype ist ein großer Vorteil der Kommunikation über Computer. Es ist viel besser als ein Handy, das mir meine lieben klugen Eltern gesperrt hatten, denn jetzt, wo Mama nicht mehr zur Arbeit geht, könnten wir uns diese Ausgabe angeblich nicht leisten. Und deshalb ist Skype meine einzige Möglichkeit zu kommunizieren. Es ist sehr praktisch, und nicht nur, weil es gratis ist, sondern vor allem deshalb, weil man einfach den Kopf schütteln, nicken, das Gesicht verziehen, seufzen, die Augen verdrehen kann, kurzum, man muss nicht unnötigerweise Worte verwenden. Es kann aber natürlich auch verräterisch sein. Wenn sich Papa zum Beispiel mit seinem Chef Viktor per Skype unterhalten würde, könnte dieser sein Gesicht sehen und sein Zähneknirschen und würde wissen, dass es Papa nicht ganz ernst meinte mit all den heuchlerischen Worten.
„Nein, ich gehe nicht gerne zur Schule und bin auch zu Hause nicht gerne“, gab ich Tina zur Antwort. Natürlich meinte ich es nicht ganz ernst. Ich wollte nur das Gespräch darauf lenken, dass sie mich fragen würde, was zu Hause nicht in Ordnung war … Nur deshalb hatte ich gesagt, dass ich nicht gerne zur Schule gehen würde, obwohl ich in Wahrheit gerne zur Schule ging. Was natürlich in gewisser Weise auch besorgniserregend ist, wenn ein Teenager wie ich lieber in der Schule als zu Hause ist.
„Wo würdest du denn hingehen, wenn nicht in die Schule?“ fragte Tina erneut und es war mir klar, dass unser Gespräch in eine völlig andere Richtung abgedriftet war.
„Was weiß ich“, hob ich die Achseln. Am Tisch hatte ich einen Stapel Comics liegen. „Ich würde nach Gotham City gehen.“
„Was ist das denn?“
„Die Stadt von Batman.“ Ich begann zu schwafeln. „Da sorgt Batman für Ordnung.“
„Ich würde nach Kalifornien gehen. Oder nach Florida.“
„Wenn ich achtzehn Jahre alt wäre, wäre ich Batman“, sagte ich.
„Warum denn achtzehn?“ schaute sie mich verwundert an.
Wieder hob ich die Achseln. Diesmal kam ich mir selbst dämlich vor. „Ich weiß nicht“, sagte ich. Ich wusste es wirklich nicht.
„Warum wärest du gern Batman?“
Diesmal hob ich nicht die Achseln und antwortete geradeheraus: „Weil er gut ist. Und stark. Weil er nicht dick ist. Und keinen Scheitel trägt. Und weil er sich in jeder noch so widrigen Situation zurechtfindet …“.
„Und ich wäre Britney Spears“, unterbrach sie mich, als würden sie meine Probleme überhaupt nicht interessieren.
„Aufgeblasene Zicke!“
Tinas sommersprossiges Gesicht verzog sich in die Länge. Jetzt ähnelte es einer Birne. Sie näherte sich der Kamera. Ihr Unterkiefer war unter den Bildschirm gefallen. Ja, sie ähnelte wirklich einer Birne.
„Ich?!“ fragte sie verärgert.
„Nein, nein, nein …“ begann ich mich zu entschuldigen. „Nicht du. Du bist keine aufgeblasene Zicke, auf keinen Fall … ich meinte Britney … Sie ist … Du nicht, du bist viel mehr als eine aufgeblasenen Zicke …“
Sie sah mich noch seltsamer an. „Mehr als eine aufgeblasene Zicke?“
„Ja, mehr, viel mehr …“ begann ich mich zu winden und panisch nachzudenken, wie ich mich herauslavieren könnte.
„Mehr als eine aufgeblasene Zicke ist was …?“
Wieder hob ich dumm die Achseln. Am liebsten hätte ich mir selbst den Hintern versohlt. Deshalb wechselte ich das Thema unseres Gespräches. „Glaubst du, dass auch Britney künstliche Titten hat?“
Tina sah mich an, als hätte sie ein Vampir heimgesucht und sich gerade an ihrer Halsader festgesaugt. An ihrem Gesicht konnte man etwas zwischen Entsetzen und Ekel ablesen.
„Bruno, du bist so ein Gonzo“, zischte sie. Dann fiel es ihr ein: „Und ein Psycho! Beides. Ich muss aufhören.“
Und sie klinkte sich aus.
Ich aber verpasste mir ein paar Ohrfeigen. Von links und von rechts. Zur Strafe, weil ich so ein vertrottelter Trottel war.
Ich schaltete den Computer aus.
Dann ging ich in die Küche.
Vielleicht bin ich wirklich beides: ein Gonzo und ein Psycho. Und noch ein Streber obendrauf. Und ein Geleckter.
Es wurde dunkel. Papa schaltete im Wohnzimmer das Licht an und begann, die Zeitung zu lesen. Der Fernseher lief. Wie immer. Obwohl er nicht fernschaute.
Ich spähte in die Küche.
Die Küche lag im Halbdunkel.
Mama saß noch immer völlig reglos in der Ecke und starrte aus dem Fenster.
TRANSZENDENTALE
MEDITATION
JEDE MEDIZIN HAT IHRE NEBENWIRKUNGEN. Manche sind ungefährlich, andere aber können ganz schön unangenehm sein. Wenn man zum Beispiel Angina auf die Schnelle heilen will, muss man ein starkes Antibiotikum nehmen, aber als Nebeneffekt stellt sich starker Durchfall ein. Das heißt, man hat keinen entzündeten Hals mehr, dafür aber möglicherweise, zumindest theoretisch, ständig angekackte Unterhosen. Oder: man hat Kopfweh, man nimmt ein Tablettchen, aber als Nebenwirkung kann es sein, dass man Schmerzen im Arm bekommt. Weil in dem Medikament gegen Kopfweh solche Wirkstoffe enthalten sind, die bei manchen Menschen eine allergische Reaktion hervorrufen, auf Grund derer eine Gelenksentzündung auftreten kann.
All das habe ich im Netz gelesen, in einer Internetapotheke. Und auch im Fernseher, wenn irgendwelche Medikamente gegen Grippe oder Erkältung beworben werden, und immer jemand ganz schnell, so dass man kaum nachkommt, herunterbetet: … zu Risiken und möglichen unerwünschten Wirkungen fragen sie ihren Arzt oder Apotheker …
Wahrscheinlich interessiert es euch, warum ich mich so viel mit den Nebenwirkungen von unterschiedlichen Medikamenten beschäftige. Wegen Mama. In ihrem Nachtkästchen hat sie sehr viele Tabletten. Nicht dass ich in ihren Sachen herumstöbern wollte, doch dieses Aus-dem-Fenster-Starren lässt mir keine Ruhe. Außerdem ist sie am Samstag, als Papa beim Match war, immer wieder ins Schlafzimmer gegangen. Ich dachte, sie sei müde und wolle sich ausruhen. Obwohl es unlogisch war, wenn sie müde wäre, dachte ich. Sie geht doch nicht arbeiten. Schon seit Anfang des Schuljahres nicht. Sie ist nur zu Hause. Demnach kann sie nicht müde sein. Vielleicht aber ist sie krank. Ich habe nicht gewagt sie zu fragen, sondern bin ihr am Nachmittag, als sie schon zum sechsten Mal ins Schlafzimmer gegangen war, nachgegangen. Ganz leise öffnete ich die Tür. Sie saß am Bett, die Nachttischlade war geöffnet … Als sie mich erblickte, warf sie schnell etwas in den Mund. Sie warf es, wortwörtlich. So wie man sich von weitem eine Erdnuss einwirft. Obwohl es mir nie gelingt. Ich treffe immer daneben. Papa trifft immer. Schon wieder bin ich vom Hauptthema abgekommen. Ich will sagen … Mama erblickte mich, erschrak, warf schnell etwas in den Mund und schluckte es hinunter.
„Was ist?“ fragte sie. Sie war ganz und gar nicht freundlich.
„Bist du krank?“ fragte ich sie.
Sie machte eine abwehrende Handbewegung durch die Luft.
„Hast du einen Virus?“
„Nein“, sagte sie und stand auf. Sie schob die Schublade zu und ging an mir vorbei in die Küche, zurück auf ihren Sessel und wieder dieses Fenster-Starren. Ich ging hinterher. Ich gebe zu, ich war sehr besorgt. Als sie bemerkte, wie unglücklich ich vor ihr stand und sie ansah, stand sie auf und nahm die Geldbörse aus der Schublade: „Da!“ sagte sie und ließ eine Banknote in meine Hand gleiten, „geh zum McDonald’s auf einen Hamburger!“ Mit Freude machte ich mich auf. Hamburger und Fishburger und Doppel Burger mag ich am liebsten! Das ist mein Lieblingsessen. In letzter Zeit schickt mich Mama oft dorthin, weil sie, wie sie sagt, keine Kraft zum Kochen hat. Manchmal scheint mir, sie will mich nur loswerden, weil sie gerne eine Zeitlang alleine wäre. Auch diesmal hat sie es so gemacht. Aber ich ging trotzdem. Was bin ich für ein …, ich lasse mich für einen Mekki kaufen!dachte ich. Doch nur für einen Augenblick.
Als ich vom McDonald’s zurückkam und sie sah, wie sie weiterhin durchs Fenster starrte, machte ich mir wieder totale Sorgen.