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Intro

Duke Ellington war der bedeutendste Jazzkomponist des 20. Jahrhunderts – Punkt. Doch schon diese Definition greift zu kurz. Ellington einzig als Jazzkomponisten zu bezeichnen engt seine künstlerische Stellung ungerechtfertigt ein, wäre etwa so, als würde man von Arnold Schönberg bloß als dem »bedeutendsten Zwölftonkomponisten« sprechen oder von Johann Sebastian Bach als dem »bedeutendsten Oratorien- und Fugenkomponisten«. Es macht wenig Sinn, Vergleiche zu ziehen, aber sehr wohl, sich ab und an Ellingtons eigene ironische Selbstsicht vor Augen zu halten, die alle Klassifizierungsversuche, so praktisch sie auch zum Sprechen über Musik sein mögen, als einengend ablehnte. Sein größtes Lob lautete »beyond category«, jenseits aller Kategorien.

Duke Ellington, 1965

Dieses Buch soll Ellington »beyond category«, also in seiner Einzigartigkeit als Komponist des 20. Jahrhunderts, würdigen, für den jedwede Schublade zu klein oder schlichtweg falsch erscheint. Es wird um einen Pianisten erster Güte gehen, der seine stupende Technik aber meist zurückstellte. Denn sein Instrument war, wie oft gesagt wurde, tatsächlich das Orchester, seine Bigband mit den von ihm ganz persönlich ausgewählten Sounds, den Klangfarben seiner Musiker, die dafür sorgten, dass man selbst in einem von der Ellington-Band gespielten Unisonosatz die Einzelstimmen durchzuhören meint.

Es wird um eine Persönlichkeit gehen, die in der Zeit der Harlem Renaissance ihre Karriere begann, deren letztendlich immer noch durch europäische Werte geprägten ästhetischen Maßstäbe aber bald ablegte und stattdessen eigene entwickelte, Maßstäbe, die sich auf eine lange afro-amerikanische Musikgeschichte bezogen, auf präsente wie verklungene Teile dieser Geschichte, auf eine musikalische und ästhetische Haltung, die zur Zeit, als Ellington zu seiner Klangsprache gelangte, noch nicht einmal ansatzweise erforscht war.

Es geht um einen Musiker, der von der breiten Öffentlichkeit im Nachhinein gern in die Stilschublade des »Swing« gepackt wurde, obwohl seine Musik mit der anderer Swingbands wenig zu tun hatte. Ellington bewegte sich aber auf diesem Markt, musste mit den Gegebenheiten des amerikanischen Showbusiness jonglieren, um sein Instrument – also, siehe oben, sein Orchester – zu finanzieren und seine eigenen musikalischen Ideen, gespielt von den Musikern, für die er sie geschrieben hatte, hören zu können.

Es geht in diesem Buch schließlich auch um Grundsätzliches. Zum einen ist Duke Ellington ein Musterbeispiel des selbstbewussten Afro-Amerikas, das aus sich heraus Geltung besaß und keiner Legitimation aus irgendwelchen anderen Quellen bedurfte, sei es aus der Welt der klassischen Musik, jener der Musikkritik ganz allgemein oder aber einer Avantgarde-Ästhetik, der sich ja auch der Jazz in der Lebenszeit Duke Ellingtons allmählich annäherte.

Zugleich beschreibt das Buch Ellington als einen »Omni-American«, dessen Musiksprache zwar aus der afro-amerikanischen Kultur geboren wurde, mit der sich aber jeder Amerikaner, gleich welcher ethnischen Herkunft, identifizieren konnte. Er selbst war es, der die afro-amerikanische Musik – und Kultur, um auf Stanley Crouch zu verweisen, von dem diese Beschreibung des »Omni-American«-Aspekts afro-amerikanischer Kultur stammt – in den »Mittelpunkt des amerikanischen politischen, spirituellen und kulturellen Lebens« stellte.

Neben Biographischem steht dabei die Musik im Mittelpunkt dieses Buchs. Sein Autor ist überzeugt davon, dass sich Musikgeschichte nur aus der Musik heraus beschreiben lässt, dass sich die Fragen an die Biographie des Künstlers, seine ästhetischen Entscheidungen, die Einbindung seines Werks in die Kulturgeschichte seiner Zeit nur aus dem offenen Blick auf die Musik beantworten lassen. Der Jazz ist für eine solche Herangehensweise ein dankbares Sujet, da seine Partituren nicht fest notierte, von anderen interpretierte Kompositionen sind, sondern ungemein persönliche Aufnahmen, die seit Beginn der Jazzgeschichte neben den Strukturen der Musik immer auch deren Interpretation dokumentieren, die Klang- und Improvisationsansätze, das Streben nach Perfektion genauso wie die nötige Risikofreude.

Und so beschreibt dieses Buch Ellington als einen Komponisten, dessen Handwerkszeug so völlig verschieden ist von dem, was in der europäischen Musik Tradition hat: nicht Bleistift und Notenpapier allein, sondern vor allem die offenen Ohren, das Hören auf und die Kommunikation mit seinen Musikern. Ellington ist das Beispiel eines Komponisten, der nur im selbstgewählten Team funktionieren konnte, bei dem die Teammitglieder ihm Ideen gaben, Klangfarben, Melodien, Harmonien, Voicings, die er dann in den unverwechselbaren Ellington’schen Sound verwandelte. Sein Ansatz entspricht dabei einer ur-afro-amerikanischen Art des Zusammenarbeitens, und das größte Problem, unter dem Ellington zeitlebens zu leiden hatte, war, dass sein kompositorisches Schaffen zu oft nach dem europäischen Verständnis von Komposition beurteilt wurde anstatt »beyond category«.

Dieses Buch stellt Ellington aber auch als einen Musiker vor, der sich und seinen Stil immer wieder neu erfand. Es verfolgt seine musikalische Sprache, fragt nach den konkreten kompositorischen Ideen und betrachtet deren Umsetzung in den verschiedenen Jahrzehnten seines Schaffens. Es versucht dabei mit dem Vorurteil aufzuräumen, der »späte« Ellington habe dem »frühen« oder »mittleren« an Kreativität nachgestanden, indem es mit nüchternem Blick die verschiedenen musikalischen Herausforderungen analysiert, denen sich Ellington mit sehr unterschiedlichen musikalischen Ansätzen stellte. Es zeigt Ellington dabei als einen Künstler, der sich selbst laufend in den ästhetischen Diskurs der Zeit einbrachte, zu dem bestimmte musikalische Entscheidungen genauso gehörten wie geschäftliche und ästhetische Positionierungen oder das Bewusstsein für neue Aufführungs- und Präsentationsmöglichkeiten für seine Musik, und der seine musikalische Produktivität den neuen Gegebenheiten laufend anzupassen verstand.

Das Buch beschreibt Ellington, den Pianisten, dessen kraftvoller Anschlag swing und Sound erzeugen konnte, wie dies nur wenigen Pianisten vor und nur ganz bedeutenden nach ihm gelang. Tief verankert im Stil des Harlem Stride Piano interessierten ihn Klänge, die nicht direkt von den Tasten gesteuert zu sein schienen: Zwischensounds, die er durch heftigen Anschlag, durch Nachklingen, durch den Einsatz von Arpeggien oder andere Techniken hervorbrachte und die dem Klavier, das doch eigentlich soundmäßig nicht sonderlich variabel ist, einen eben Ellington’schen Klangfaktor verliehen. Thelonious Monk, Randy Weston, Cecil Taylor, Dollar Brand / Abdullah Ibrahim und andere besonders sound-orientierte Pianisten bezogen sich in diesem Teil ihrer jeweiligen Personalstile direkt auf ihn.

Dieses Buch beschreibt Ellington als einen Klangmaler des 20. Jahrhunderts, dessen große »Werke« – diesmal durchaus im Sinne europäischer Werktradition – als gesellschaftliche Kommentare gedacht waren. »Black and Tan Fantasy« aus den 1920er Jahren, das hochpersönliche »Reminiscing in Tempo« aus den 1930ern, »Black Brown and Beige« aus den 1940ern, »A Drum Is a Woman« aus den 1950ern, seine »Sacred Concerts« aus den 1960er Jahren: Duke Ellington drückte jedem Jahrzehnt, das er als Musiker begleitete, seinen persönlichen Stempel auf, einen Stempel, der Geschichte durch den Blick des afro-amerikanischen Künstlers neu interpretieren wollte.

Das Buch beschreibt nicht zuletzt Ellington, den Privatmenschen, sensibel, sinnlich, kein Kostverächter (wie man so sagt), ob es nun um Essen ging oder um Frauen. Wer die Sinnlichkeit Ellingtons ignoriert, der wird seine Musik schwerlich verstehen können, die von nichts anderem handelt als von der sinnlichen Erfahrung von Menschen, Gesellschaft und Geschichte.

Neben den biographischen Aspekten geht es in diesem Buch dabei auch um die Darstellung einer alternativen Lesart afro-amerikanischer Kultur, um den Versuch, sie aus sich selbst heraus zu verstehen und dabei von den eurozentrischen Wertevorstellungen zu abstrahieren, die nicht nur unser Ellington-Bild, sondern auch jenes in den USA bis in die Gegenwart hinein prägen.

 

Zu Beginn der Recherchen für dieses Buchs stand ein mehrtägiger Aufenthalt in der Smithsonian Institution in Washington, D. C., die den Nachlass Duke Ellingtons verwaltet, d. h. seine Geschäftspapiere, seine Korrespondenz, vor allem aber die kompositorischen Skizzen, die teils von ihm, teils in Kooperation mit seinem musikalischen Partner Billy Strayhorn angefertigt wurden, sowie die Bandbooks, also die Stimmen, aus denen das Orchester über die Jahrzehnte hinweg die Musik spielte.

Der Besuch erfolgte, bevor ein einziges Kapitel dieses Buchs geschrieben war: Ich setzte mich ins Archiv, ließ mir Kiste um Kiste mit Papieren kommen, die Ellingtons Aktivitäten in unterschiedlichen Jahrzehnten dokumentierten, und hoffte darauf, dass die Stimmen und Partituren, dass der Blick in den persönlichen Nachlass des Duke mich zu Fragen anregen würden, von denen ich selbst noch nicht wusste, dass ich sie hatte. Dies erwies sich als eine kluge Entscheidung, denn dieser erste Blick in die Werkstatt Ellingtons sollte tatsächlich vieles über die ästhetischen und geschäftlichen Entscheidungen erklären helfen.

Am Schluss meiner Arbeit am Manuskript stand ein erneuter Besuch in der Sammlung der Smithsonian Institution, in der ich diesmal nur noch in die Notationen schaute. In der Auseinandersetzung mit Ellingtons Werk hatte ich immer mehr das Gefühl, zu verstehen, warum sich seine Klangstrukturen, die Komplexität seiner Kompositionsarbeit, die solistische Freiheit seiner Musiker über die Jahre veränderten. Der Blick in die musikalischen Skizzen, in denen Ellington (und Strayhorn) seine Musik festhielt, bevor sie von Kopisten in Partituren und Einzelstimmen exzerpiert wurde, der Vergleich unterschiedlicher Fassungen, die dabei von einzelnen Stücken vorhanden sind, und nicht zuletzt der genaue Blick auf ausgewählte Instrumentalstimmen, auf Änderungen, Streichungen, handschriftliche Notizen und vieles mehr gaben mir Gewissheit, mit meinen Einschätzungen nicht ganz so falsch gelegen zu haben.

Ich empfehle Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, bei der Lektüre die Musik – als LP, CD oder aus dem Internet – greifbar zu halten, für die ich im Folgenden nur Kontexte beschreiben kann, die aber letzten Endes immer für sich selbst steht.

Chorus 1

Washington, Jahrhundertwende

Duke Ellington wurde am 29. April 1899 in Washington, D. C., geboren. Wenn er sich auch mit knapp 24 Jahren entschied, nach New York zu ziehen und den Rest seines Lebens höchstens zu Besuchen und Konzerten in seine Geburtsstadt zurückkehrte, ist der Ort seiner Herkunft doch wichtig, um sein Selbstverständnis als afro-amerikanischer Künstler und als selbstbewusster Botschafter der amerikanischen Kultur zu verstehen. In den Vereinigten Staaten nämlich hat Washington bis heute eine ganz besondere Stellung inne.

Washington, D. C.

Die Vereinigten Staaten haben eine kurze, aber über lange Zeit wechselvolle Geschichte. Die ersten europäischen Kolonialisten waren anfangs weit stärker an Regionen in Mittel- und Südamerika interessiert als am Norden des für sie neuen Kontinents. 1565 hatten die Spanier eine erste Siedlung, San Agustín, im heutigen Florida gegründet. Frankreich siedelte seine erste nordamerikanische Kolonie im heutigen Kanada an und regierte bald auch über die Region westlich des Mississippi bis hinunter nach Louisiana. Die Briten wählten die Küste von Virginia zur Gründung von Jamestown, der ersten englischen Kolonie auf nordamerikanischem Boden. 1620 kam die Mayflower in die Plymouth Colony, das heutige Massachusetts, und über kurz oder lang übernahmen die Briten auch schwedische Kolonien am Delaware River und niederländische in Nieuw Amsterdam, dem heutigen New York. Sie alle sahen das neue Land als ein gottgewolltes Geschenk, pochten auf ihre Eigentumsrechte und bekämpften die Ureinwohner bis zur Vernichtung. Der eigentliche Kampf der Kolonialisten aber richtete sich schnell gegen die ferne Regierung in England, die ihre Übersee-Wertanlage mit Hilfe von Steuern ausnutzen wollte. Die Boston Tea Party und andere Boykottaktionen der Neu-Amerikaner führten schließlich zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und 1776 zur Unabhängigkeitserklärung von dreizehn Kolonien, die wenig später, im Jahr 1789, ihren Oberkommandanten George Washington zum ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten kürten.

Geschäftige Hauptstadt. Washington, D. C., um 1920

Das erste Jahr seiner Regierung lebte und wirkte Washington in New York, dann wurde Philadelphia für zehn Jahre zur Hauptstadt ernannt. Da die Regierung völlige Unabhängigkeit für sich benötigte, verlangten die Gründerväter der USA, dass ihr ein Distrikt zugeteilt werden solle, der nur ihrer eigenen Regierungsgewalt unterliege, nicht der irgendeines anderen Bundesstaates. George Washington wählte dafür ein 260 Quadratkilometer großes, dem neuen Staatenbund von Maryland und Virginia abgetretenes Gebiet um die Städte Alexandria und Georgetown am Potomac River. Die Stadt des neuen Regierungssitzes wurde dem ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten zu Ehren »Washington« genannt, der Distrikt erhielt den Namen Columbia, eine damals gebräuchliche poetische Umschreibung für Amerika. Der Kongress hielt seine erste offizielle Sitzung in Washington am 17. November 1800 ab. 1846 gab die Bundesregierung das Gebiet, das ihr anfangs von Virginia überlassen worden war, in die Regierungsgewalt des Bundesstaates zurück; der District of Columbia bestand seither nur noch aus dem ursprünglich in Maryland gelegenen Territorium. Die Anfang des 19. Jahrhunderts von dem in Frankreich geborenen Architekten Pierre Charles L’Enfant geplante Stadt wuchs um die Regierungsgebäude herum, von denen viele bis heute das Stadtbild der amerikanischen Hauptstadt prägen. Das Capitol etwa erhielt seine mächtige Kuppel in den 1860er Jahren; etwa zur selben Zeit wurde auch das Gebäude der Finanzverwaltung erweitert und in seiner heutigen Form fertiggestellt. Das Weiße Haus schließlich war bereits zwischen 1792 und 1800 erbaut worden; nachdem es im Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812 ausgebrannt war, wurde es neu auf- und dabei gleich gehörig ausgebaut.

Washington war ein wenig das Tor zum Süden – oder auch das Tor zum Norden, je nachdem, wie herum man es sehen wollte während des im 19. Jahrhundert tobenden Streits um die Rechtmäßigkeit der Sklaverei. Die Niederländer hatten damit begonnen, ihre »Westindien«-Kolonien mit Kreolen, freien Schwarzen, die auf ihren Schiffen als Seeleute oder Dolmetscher mitreisten, später mit Sklaven zu bevölkern, um die Kolonialisierung und Bewirtschaftung der neuen Landstriche voranzutreiben. Die Briten, Franzosen und Spanier, die anfangs das Eigentum an den verschiedenen Regionen Nordamerikas für sich beanspruchten, bedienten sich ebenfalls dieses Modells der Landerschließung durch Sklaven. Der Sklavenhandel blühte allerdings erst richtig auf, als in den Südstaaten mit den großen Tabak-, Reis-, Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen eine arbeitsintensive Landwirtschaftsindustrie entstand.

Auch nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 hielt ein Großteil der Bundesstaaten an der Sklaverei fest, die im 19. Jahrhundert auf der einen Seite zur »Great Migration« führte, einer Art Völkerwanderung der schwarzen Bevölkerung in die liberaleren, inzwischen oft die Sklaverei verbietenden nördlichen Staaten der Union, und in den 1860er Jahren schließlich zum amerikanischen Bürgerkrieg, nach dessen Ende die Sklaverei formal abgeschafft wurde. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein allerdings basierte die US-amerikanische Wirtschaft auf der billigen Arbeitskraft der ärmsten Bevölkerungsschicht, galt die Segregation, also die Trennung der Menschen nach Hautfarben, und wurden den schwarzen Amerikanern demokratische Grundrechte verweigert.

Die »Rassenfrage«, wie man das Thema in den USA immer noch nennt, bestimmt bis heute den amerikanischen politischen Diskurs. Obwohl die Vereinigten Staaten eines der integrationsfähigsten Einwanderungsländer der Erde sind, unterscheidet man immer noch nach ethnischen Gruppenzugehörigkeiten, unter denen die Einteilung in »schwarz« und »weiß« die stärkste und in der mangelnden Aufarbeitung der Geschichte nach wie vor schwerwiegendste ist. Aus der Gruppenzugehörigkeit aber entstanden auch politische und kulturelle Bewegungen, die viel Stolz auf eigene Geschichte und Tradition entwickelten. Die Harlem Renaissance der 1920er Jahre zählt dazu, eine vor allem kulturelle Selbstbewusstwerdung des schwarzen Amerikas, insbesondere aber die alle Bereiche des Lebens betreffende Bürgerrechtsbewegung, die in den 1950er und 1960er Jahren langsam, aber stetig zu einem Bewusstseinswandel auf allen Ebenen der amerikanischen Gesellschaft führte.

Die US-amerikanische Hauptstadt selbst, also der District of Columbia, erlaubte bis 1862 die Sklaverei. Die schwarze Bevölkerung der Stadt bestand noch 1830 zur Hälfte aus freien Schwarzen und zur Hälfte aus Sklaven. 1860 hatte sich das Verhältnis erheblich verschoben, 11 131 freien Schwarzen standen nur noch 3185 Sklaven gegenüber. Diese Freiheit war damals allerdings eine trügerische: Kein Schwarzer, egal ob Sklave oder »frei«, konnte vor Gericht gegen einen Weißen aussagen. Zusammenkünfte außerhalb der Kirche oder außerhalb von Bruderschaften waren verboten. Es gab eine allgemeine Ausgangssperre für Schwarze nach 22 Uhr.

Die Schwarzen in der Hauptstadt passten sich den beruflichen Möglichkeiten an, die sich ihnen boten. Sie eröffneten Friseurgeschäfte, arbeiteten als Dienstbote, Pförtner, Schuhputzer, Kellner, als Zimmermann und Maurer, Schuhmacher und Stellmacher, als Schmied, Gipser, Drucker oder Tischler. Freie schwarze Frauen verdingten sich als Schneiderin, Wäscherin, Pflegerin oder in der Hausarbeit. 1834 wurde die erste schwarze Schule gegründet, und auch die schwarzen Gemeinden der Stadt trugen zur Bildung der eigenen Community bei. Nachdem 1862 die Sklaverei abgeschafft war, erlaubte Präsident Lincoln es Schwarzen, sich für die Armee rekrutieren zu lassen, und als nach dem Bürgerkrieg etliche Soldaten ausgemustert wurden, wuchs die schwarze Bevölkerung in der Hauptstadt noch einmal beträchtlich, im Jahr 1880 auf knapp 60 000, ein Drittel der Gesamtbevölkerung.

Zum Ende des Jahrhunderts bildete sich eine schwarze Mittelschicht heraus; neben traditionellen Berufsbildern waren Schwarze jetzt noch mehr als Handwerker aktiv, handelten mit Grundbesitz, führten Gasthäuser oder besaßen Hotels. Die Feuerwehr und die Polizei der Stadt hatten seit spätestens 1870 Schwarze in ihren Reihen, und selbst in der Politik konnten sie zumindest nachrangige Pöstchen ergattern. Es gab immer mehr schwarze Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer und natürlich Priester in Washington, von dem man nach dem Bürgerkrieg sagte, es besitze »die vielfältigste und am meisten herausragende Ansammlung von Negern in der ganzen Welt«. 1897 wurde die National Negro Academy gegründet, zu deren Gründervätern der Dichter Paul Laurence Dunbar gehörte, der einen Job in der Library of Congress angenommen hatte. Die beiden wichtigsten schwarzen Zeitungen der Zeit, die Washington Bee und der Colored American, wurden in der Hauptstadt herausgegeben, die außerdem etliche Musikhallen besaß, in denen Stars wie Sissieretta Jones, bekannt als »Black Patti«, die Fisk Jubilee Singers und andere speziell für ein schwarzes Publikum sangen. Es gab sogar eine 1872 gegründete schwarze Operntruppe, deren Aufführungen im Ford’s Theatre zu sehen waren, jenem legendären Theater, in dem 1865 Abraham Lincoln durch ein Attentat ums Leben gekommen war.

Samstag, 29. April 1899

Dies also ist die Zeit und dies ist die Stadt, in die hinein am 29. April 1899 Edward Kennedy Ellington geboren wurde. Um seine Persönlichkeit zu verstehen, muss man um seine Herkunft wissen, um die Familie, um das Selbstverständnis und den sozialen Stolz sowohl seines Vaters als auch seiner Mutter, um Faktoren also, die großen Einfluss auf Ellingtons eigenes musikalisches, ästhetisches und dabei auch politisches Selbstverständnis haben sollten.

Duke Ellington mit vier Jahren

Ellingtons Vater James Edward Ellington arbeitete für Dr. Middleton F. Cuthbert, einen angesehenen weißen Arzt, dessen Haus sich auf der Rhode Island Avenue befand. James Edwards Mutter stand bereits zehn Jahre lang als Haushälterin in Cuthberts Diensten, und J. E. stieg schnell vom Kutscher zum Butler auf. Die Arbeit bei Cuthbert sorgte für den Hauptverdienst. Daneben hatte sich Ellington Senior ein zweites Standbein als freiberuflicher Caterer für größere Feste, gesellschaftliche oder politische Parties geschaffen. Selbst ins Weiße Haus wurde er ab und an gerufen, wenn dort eine Feier anstand und das dortige Personal nicht ausreichte. Im Januar 1898 heiratete er Daisy Kennedy, mit der er im ersten Jahr im Haus ihrer Mutter lebte, der Witwe eines Washingtoner Polizisten.

In seiner Autobiographie erzählt Ellington, wie er von den Frauen der Familie verhätschelt wurde, seiner Mutter, seiner Großmutter, den Tanten und Cousinen. Er besuchte zwischen 1905 und 1908 die Garnet Public School auf der U Street und erhielt zur selben Zeit seinen ersten Klavierunterricht. Marietta Clinkscale hieß die Klavierlehrerin – und Ellington ergänzt: »Das war wirklich ihr Name!« –, denn »Clinkscale« müsste man etwa mit »Klimpertonleiter« übersetzen. Statt Klavieretüden zu üben wollte Ellington damals allerdings lieber auf der Straße toben und Ball spielen. Sein erstes Lampenfieber habe er im Sport erlebt, erzählt der Duke, als er nämlich im Baseball Park, dem Griffith Stadium, als Süßigkeiten-Verkäufer durch die Ränge lief.

Während des Ersten Weltkriegs kündigte James Edward seinen Butler-Job, mietete ein großes Haus auf der K Street, vermietete Zimmer, verfolgte sein Catering-Business weiter und fertigte Blaupausen für die Navy-Werft an. Sein Vater, erzählt Duke später, habe zwar keine gute Schulbildung gehabt, aber er habe sich gut ausdrücken können, habe im gesellschaftlichen Auftreten eine Sicherheit besessen, die es ihm erlaubte, in allen Lebenslagen zu wissen, wie er sich zu benehmen oder welches Besteck er wie und wann zu benutzen habe. Die Erziehung durch seine Mutter sei stark religiös geprägt gewesen, erklärt Ellington, zugleich aber habe sie Wert darauf gelegt, dass er die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Hautfarben möglichst wenig wahrnehme. Man muss sich die Kindheit Edward Jr.s also weitgehend unbekümmert vorstellen, in wirtschaftlicher Sicherheit und geprägt von intellektueller Neugier. Mit seinem Cousin Sonny erkundete er die Stadt, verschlang Detektivgeschichten und wusste aus ihnen alles über Einbrecher oder Mordwerkzeuge. Seine Lehrerin in der Garrison Public School habe besonders viel Wert auf gute Sprache gelegt; zugleich habe man den schwarzen Schülern aber auch Stolz auf ihre eigene Geschichte vermittelt.

1914 wechselte Ellington auf die Samuel H. Armstrong Technical High School. In den Sommerferien schickte sein Vater die Mutter und ihn zu seiner Tante Carrie nach Atlantic City, wo er einen Sommerjob als Tellerwäscher ergatterte und auch seine ersten nachhaltigen musikalischen Eindrücke sammelte. Der Oberkellner des Restaurants, in dem er arbeitete, hatte ihm von einem gewissen Harvey Brooks vorgeschwärmt, einem Pianisten, der in Philadelphia auftrat und nicht viel älter als Ellington war. Gesagt, getan: Auf dem Rückweg von Atlantic City nach Washington hielt Duke in Philadelphia, hörte sich Brooks an und war gefangen. Als er aber ein paar Wochen krank zuhause bleiben musste, experimentierte er so lange auf den Tasten des elterlichen Klaviers, bis sich aus seinem Herumklimpern der »Soda Fountain Rag« herauskristallisierte, seine erste eigene Komposition, deren Titel durch einen Nebenjob als »soda jerk«, als Bediener des Getränkespenders im Poodle Dog Cafe, inspiriert ist.

Aufnahmen des Stücks existieren von 1937 und dann erst wieder aus den 1960er Jahren, und wann immer er es im Konzert spielte, erzählte er vorab, es sei zur Komposition gekommen, als er herausgefunden habe, dass er von niemandem sonst mehr etwas lernen konnte. Die Komposition ist in Form und pianistischer Anlage mit wuchtigem Oompah, also Bassnote und Akkord im Wechsel in der linken, und melodischer Umspielung in der rechten Hand dem Ragtime verbunden. Man denkt unweigerlich an Harlem Stride-Pianisten wie Willie ›The Lion‹ Smith, James P. Johnson oder den hochvirtuosen Eubie Blake, die Ellington tatsächlich aber alle erst später in New York kennenlernen und hören sollte.

Enter: The Duke

Einer seiner Schulfreunde, der immer in den modischsten Klamotten herumlief und auf Parties besonders beliebt war, gab Ellington damals einen Spitznamen, den er für die Kreise, in denen sie beide verkehrten, für angemessen hielt. Der Spitzname blieb: In Freundeskreisen war Edward Kennedy Ellington bereits lange vor seiner musikalischen Karriere zum ›Duke‹, also zum Herzog, geadelt worden.

Washington wies zwar eine der größten schwarzen Bevölkerungen in den Vereinigten Staaten auf, doch das schwarze Washington war vom weißen säuberlich getrennt. Zugleich besaßen die Schwarzen in D. C. aber auch eine Community, die weit fortschrittlicher strukturiert war als die in den meisten anderen großen Städten des Landes. Es gab schwarze Schulen, schwarze Kirchen, schwarze Theater, insbesondere das Howard Theatre, eine Spielstätte, die sich seit 1910 auf Revuen, Shows und Konzerte für ein schwarzes Publikum spezialisierte. Und schließlich gab es jede Menge Musiker, die es über die Jahre zu nationalem Ruhm bringen sollten, unter ihnen der Bandleader James Reese Europe oder der Geiger und Bühnenkomponist Will Marion Cook.

Während des Ersten Weltkriegs hatte Duke einen Botenjob, anfangs fürs Marine-, bald fürs Außenministerium, bei dem er neben der reinen Botentätigkeit auch schon mal Zugtickets für die Ministeriellen buchte – eine Arbeit, die ihm später, wie er meinte, gut zupasskam. Obwohl man damals mit unter 16 Jahren in keine der bei erwachsenen Männern beliebten Burlesque-Theater durfte, machten sich Ellington und seine Freunde einen Spaß daraus, sich für älter auszugeben und in die Stripteaseshows zu schleichen. Duke erinnert sich, dass ihn neben den Mädchen immer auch die Machart dieser Performances interessiert habe, das Handwerk des Showbusiness.

Im großen Billardsalon neben dem Howard Theatre traf Ellington nicht nur viele professionelle Pool-Spieler, sondern auch Pianisten, denen er begeistert zuhörte. Einer von ihnen war Oliver H. ›Doc‹ Perry, ein im Konservatorium ausgebildeter Musiker, der ihn unter seine Fittiche nahm und ihm Grundbegriffe der Harmonik vermittelte. Henry Grant, Ellingtons Musiklehrer an der High School, wurde auf die Talente seines Schülers aufmerksam und lud ihn zu sich nach Hause ein, wo er ihm privat Harmonielehreunterricht gab. Außer Frau Clinkscale, erinnert sich Ellington in seiner Autobiographie, hätten alle seine Lehrer ihm die Musik mündlich und damit ganz praktisch beigebracht, nicht also anhand von notierten Etüden. Sie hätten damit seine Fähigkeit zum musikalischen Memorieren geschult, die zeitlebens auch für sein kompositorisches Handwerk wichtig gewesen sei.

Seine ersten professionellen Erfahrungen machte Ellington als Begleiter eines Zauberers und Wahrsagers. Sein Ruf als Pianist sprach sich herum, und Kollegen wie Doc Perry und andere engagierten ihn als Ersatzmann, wenn sie für einen Job mal keine Zeit hatten. Von ihnen allen schaute sich Ellington Bühnengesten ab, die kaum pianistische Relevanz hatten, beim Publikum aber gut ankamen, etwa, wenn er wie Lucky Roberts seine Hände dramatisch in die Luft warf. Das Repertoire dieses jungen, selbstbewussten »Tastenstreichlers«, wie man die Ragtime-Pianisten seiner Zeit oft nannte, umfasste allerdings gerade mal vier Titel.

The Duke’s Serenaders, Louis Thomas’ Cabaret, Washington, D. C., um 1920.

V. l. n. r.: Sonny Greer (Schlagzeug), Bertha Ricks (Sängerin), Duke Ellington, Mrs. Conaway (Sängerin), Sterling Conaway (Banjo)

Als Ellington mitbekam, dass mit Musik bei privaten Veranstaltungen eine ganze Menge Geld zu verdienen war, ließ er sich ins Telefonbuch unter der Rubrik »Musik für jede Gelegenheit« eintragen. »Es war Krieg«, erzählt er in seiner Autobiographie, »und es waren viele Auswärtige in der Stadt, die Meyer Davis und Louis Thomas nicht von Duke Ellington unterscheiden konnten. Meine Anzeige sah genau wie deren aus, und ich kriegte schnell Arbeit.« Bald war er damit so erfolgreich, dass er genug Aufträge einsammelte, um vier oder fünf Bands pro Nacht rauszuschicken. Er verdiente Geld, konnte sich Haus und Auto leisten, und betrieb daneben, als sei das alles nicht genug, noch ein Geschäft für Schildermalerei, in das er wegen seiner graphischen Begabung hineingeschlittert war. Und er verknüpfte all seine Tätigkeiten miteinander: Wenn jemand kam, um ein Plakat für eine Tanzveranstaltung zu bestellen, fragte er, ob sie denn schon eine Band hätten. Und wenn jemand eine Band buchte, fragte er, wer denn ihre Plakate malte.

Innerhalb kurzer Zeit war Ellington so gut im Geschäft, dass er es sich leisten konnte, eine Familie zu gründen. Am 2. Juli 1918 ging er die Ehe mit seiner Freundin Edna Thompson ein. Acht Monate später kam das erste Kind, Mercer Kennedy Ellington. Mercer, der später selbst Musiker und zeitweise Manager seines Vaters werden sollte, urteilte später, wäre er nicht unterwegs gewesen, hätten seine Eltern wahrscheinlich nie geheiratet. Im Jahr darauf kam ein zweites Kind, das die Geburt aber nicht überlebte.

Die Musik war für Ellington damals, im Alter von etwa 19, 20 Jahren, allerdings nur ein Nebenerwerb. Er selbst sah seine Zukunft in seinem künstlerischen Talent, verstand sich vor allem als Maler. Musik machte er nur zum Spaß. Mit der Zeit aber wandelten sich sowohl diese Gewichtung wie auch sein eigenes Interesse. Ein Freund hatte ihm eine Klavierwalze von James P. Johnson vorgespielt, einem New Yorker Pianisten, dessen Interpretation seiner eigenen Stücke antreibend swingte wie nichts sonst, was Ellington je zuvor gehört hatte. Eine dieser Aufnahmen von Johnsons »Carolina Shout« spielte er auf dem heimischen Walzenklavier in langsamem Tempo immer wieder ab und memorierte dabei die niedergedrückten Tasten, bis er es selbst spielen konnte.

Anzeige für The Duke’s Serenaders

Die Mitmusiker seiner Band waren zuerst ein paar Brüder aus der Nachbarschaft, Bill Miller an Gitarre und Banjo, Felix Miller am Schlagzeug und ›Devil‹ Miller am Saxophon. Später kam der fünf Jahre jüngere Otto Hardwick hinzu, der anfangs Kontrabass spielte, bis er sich ein C-Melody-Saxophon zulegte. Arthur Whetsol spielte Trompete, und Elmer Snowden ersetzte Bill Miller am Banjo. 1919 schloss sich der Schlagzeuger Sonny Greer an, der ein paar Jahre älter war und aus New York stammte. Er hatte bereits mit dem berühmten Fats Waller gespielt, und die jungen Musiker aus D. C. waren beeindruckt von seinen Erzählungen und seinem »jive talk«. In Washington konnte man jede Menge Musik hören, und alle großen Künstler der Zeit kamen in die Stadt. Das Zentrum der schwarzen Musik, der Sehnsuchtsort auch der jungen Musiker um Edward Kennedy Ellington, aber war New York, war Harlem.

Chorus 2

New York, 1920er Jahre

Harlem. Schwarzes Mekka

Als Greer das Angebot auftat, den Klarinettisten Wilbur Sweatman zu begleiten, entschied sich die Band im März 1923, nach New York zu gehen. Sweatman stammte ursprünglich aus Missouri und war seit Anfang des Jahrhunderts als musikalischer Leiter von Varieté-Bands aktiv. Er wirkte eine Weile in Chicago und seit 1912 in New York, und er war als beliebter Showman in den Unterhaltungszentren der Ostküste gefragt. Bei seinen Auftritten, bei denen er schon mal auf drei Klarinetten gleichzeitig spielte, ließ er sich oft nur von einem Pianisten und einem Schlagzeuger begleiten, vergrößerte diese Besetzung 1923 aber auf sechs Köpfe. Er mag Greer und Ellington im Howard Theatre in Washington gehört haben und war vor allem von Greers Showtalent angetan. Der aber wollte nicht ohne seine Freunde gehen und überredete Sweatman, Ellington und Hardwick gleich mit zu engagieren.

Duke Ellington, um 1924

New York hatte sich in den 1920er Jahren zur Hauptstadt des Musikbusiness entwickelt. In New Orleans war der Jazz geboren worden, in Chicago hatte er seine ersten Erfolge gefeiert, aber die Musikverlage saßen in New York, und letztlich waren sie es, die die Musikindustrie damals ausmachten. Der Jazz befand sich ja noch in seinen Kinderschuhen, konnte kaum auf ein Jahrzehnt Geschichte zurückblicken. 1917 hatte die Original Dixieland Jazz Band jene Aufnahmen gemacht, die allgemein als erste Jazzeinspielungen gehandelt werden, wenn auch andere (und auch schwarze) Ensembles bereits zuvor Platten vorgelegt hatten, die den Geist von Ragtime und Blues und improvisatorischer Experimentierlust atmeten. Die Plattenindustrie war in jenen Jahren allerdings eher ein Werbeträger für das Medium, mit dem man im Musikgeschäft tatsächlich Geld machte, nämlich mit den Notenfassungen der großen Hits. Aus heutiger Sicht erscheint es fast unglaublich, dass die Noteneditionen von Broadwayschlagern, patriotischen Songs und Ragtime-Piècen einmal ertragreicher waren als die Einspielungen derselben Titel.

Musiker und Verleger folgten dabei dem Ruf des Geldes. Die Musikindustrie des 20. Jahrhunderts war in Midtown-Manhattan entstanden, in der sogenannten »Tin Pan Alley«, wie jene Häuserblocks um die 28th Street zwischen Broadway, Fifth und Sixth Avenue, in denen sich besonders viele Musikverlage niedergelassen hatten, genannt wurden, weil die Klaviere sich durch die offenen Fenster anhörten wie eine Versammlung von Blechpfannen. Der Komponist Irving Berlin hatte seinen eigenen Verlag in dieser Nachbarschaft; und hier begann auch George Gershwin seine Karriere als »song plugger«, als Vertreter für Notenpublikationen, der Interessenten die neuesten Titel vorspielte und vorsang.

New York war zur Metropole der USA geworden, des weißen Amerikas genauso wie des schwarzen. Harlem, der Stadtteil nördlich des Central Park in Manhattan, wurde zunehmend zu einem Mekka Afro-Amerikas. 1910 hatten dort gerade mal 10 Prozent Schwarze gelebt, 1930 waren es bereits 70 Prozent. Der Aufstieg Harlems zum kulturellen Zentrum dieser Bevölkerungsgruppe wurde erstmals nach dem Ende des Ersten Weltkriegs öffentlich wahrgenommen. Damals empfing man Lieutenant James Reese Europe und sein Militärensemble des 369. Infanterieregiments, die Harlem Hellfighters, mit einer Parade durch Harlem, bei der nicht nur der Kriegserfolg gefeiert wurde, sondern auch die Tatsache, dass der Sieg über Deutschland nur mit Hilfe schwarzer Soldaten hatte bewerkstelligt werden können. All dies trug zum Selbstwertgefühl schwarzer Amerikaner bei, die sich insbesondere in Harlem ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung sowie ihrer eigenen Geschichte in der erzwungenen zweiten, tatsächlich aber für alle ja hier Geborenen ersten Heimat bewusst wurden.

Auf kulturellem und intellektuellem Terrain wurde dieses neuerstarkte Selbstbewusstsein in der Harlem Renaissance gefeiert. So nannte man später die künstlerische Selbstentdeckung des schwarzen Amerikas in den 1920er Jahren, als in der Einwanderungsstadt New York Menschen aus allen Gegenden der Vereinigten Staaten lebten und feststellten, dass sie jeder für sich eigene und doch auch alle gemeinsame Erfahrungen zu teilen hatten. Der Beginn der Harlem Renaissance wird allgemein mit einem musikalischen Ereignis verknüpft, nämlich mit der Premiere der Broadway-Revue Shuffle Along am 23. Mai 1921. Die Musik der Show stammte vom Ragtime-Pianisten und -Komponisten Eubie Blake und vom Sänger und Textdichter Noble Sissle. Es war die erste Broadway-Show, die von Schwarzen verfasst war und die ein rein schwarzes Ensemble hatte. Sie lief in damals sensationellen 484 Aufführungen.

Als »Harlem Renaissance« bezeichnete man die neue Entwicklung allerdings erst weit später; in den 1920er Jahren wurde sie nach einer Anthologie des Autors Alain Locke das »New Negro Movement« genannt. Die Protagonisten der Bewegung waren in erster Linie Autoren, unter ihnen Literaten genauso wie Wissenschaftler, aber auch bildende Künstler und Komponisten. Sie alle verband das Bewusstsein, dass für eine Gleichberechtigung der Schwarzen eine Neudefinition von Schwarzsein und dafür wiederum ein Bewusstsein für die eigene intellektuelle und kulturelle Geschichte nötig seien.

Dies also war das New York, in das Duke Ellington 1923 kam: eine Stadt in Aufbruchsstimmung, vergleichbar höchstens mit dem Berlin derselben Jahre, eine Stadt, in der die Spannung, die aus den rasanten technischen wie sozialen Entwicklungen entstanden war, enorme kreative Ausbrüche zeitigte.

Auf Entdeckungsreise in New York

Wilbur Sweatman, in dessen Band die drei Washingtoner Ellington, Greer und Hardwick spielten, plante mit seinem Quintett auf Tournee zu gehen. Er hatte die Washingtonians sowie die Bluessängerin Flo Dade vor allem deshalb engagiert, um seinen eigenen, etwas abgestandenen Act up to date zu bringen. Die drei Freunde aber entschieden, stattdessen lieber in New York zu bleiben. Sie waren weder glücklich mit den Varieté-Bühnen, auf denen Sweatman auftrat, noch mit der dauernden Reiserei, für die sie laufend ihre Taschen und Instrumente packen mussten. Nicht zuletzt waren sie entsetzt darüber, dass Sweatman von ihnen verlangte, ihre Gesichtsfarbe mit Makeup aufzuhellen. Und sie waren auf Sweatmans Zug ja ohnehin nur deshalb aufgesprungen, weil der ihnen die Reise nach New York ermöglicht hatte. Nun, fanden sie, hatten sie genügend eigene Kontakte in der New Yorker Szene geknüpft, um auf eigenen Beinen stehen zu können.

Ellingtons Charme und sein modischer Geschmack machten ihm schnell Freunde. Willie ›The Lion‹ Smith nahm ihn unter seine Fittiche und führte ihn in die New Yorker Musikszene ein. Smith gehörte zu den Stride-Pianisten der Stadt, die ihren guten Ruf nicht nur ihrer instrumentalen Virtuosität verdankten, sondern auch der Tatsache, dass sie im Zentrum jener legendären Rent Parties standen, mit denen sich etliche Bewohner Harlems ihre Mieten finanzierten. ›The Lion‹, wie man ihn nannte, hieß mit vollem Namen William Henry Joseph Bonaparte Bertholoff Smith und war zwei Jahre älter als Ellington. Er war im benachbarten Newark aufgewachsen, hatte die New Yorker Szene aber seit ersten Besuchen im Alter von 16 Jahren kennengelernt.

Die Pianisten der New Yorker Schule kamen zu jener Zeit alle vom Ragtime her, hatten dessen feste Struktur aber durch Improvisation aufgelockert. Das war durchaus keine Innovation – so war schließlich im Süden des Landes etwa zur selben Zeit der Jazz entstanden, und Musiker wie Tony Jackson oder Jelly Roll Morton taten in New Orleans nichts anderes. Der Stride der Ostküstenmusiker unterschied sich davon vor allem in einer anderen rhythmischen Auffassung. Wo die Klaviervirtuosen des Südens im Blues verwurzelt waren, wo die Melodik etwa in Jelly Roll Mortons Musik nach wie vor am wichtigsten blieb, da schufen die Stride-Pianisten fast schon abstrakt ornamentale Umspielungen der Melodie, virtuose harmonische Brechungen in schnellsten Tempi, die sowohl als reine Verzierung einer zugrundeliegenden Melodie wie auch als improvisatorische Interpretation derselben dienen konnten.

Willie ›The Lion‹ Smith spielte bald in New York, Philadelphia, Baltimore, Washington, Atlantic City, in Bars, Spielkasinos, Speakeasies und anderen zwielichtigen Schuppen. Er war einer von mehreren Pianisten, die sich die besten Jobs teilten, weil sie vielseitig einsetzbar waren: Sie konnten allein spielen oder Sängerinnen begleiten; sie hatten ein gutes Ohr, kannten die neuesten Hits genauso wie die abwegigsten Hörerwünsche; und sie besaßen jeder für sich einen eigenständigen Stil, der ihnen insbesondere auch den Respekt ihrer Pianistenkollegen einbrachte. Zum Teil hatten sie besondere Stücke, für die sie bekannt waren, zum Teil spezielle Basslinien. Die einen waren ausgewiesene Bluesinterpreten, die anderen zitierten gern populäre klassische Musik, wieder andere begeisterten ihr Publikum durch alle möglichen musikalischen Späße.

Willie ›The Lion‹ Smith

Auch ›The Lion‹ hatte sich sein eigenes musikalisches Profil erarbeitet. Er konnte vollhändige Stride-Partien spielen wie James P. Johnson, Eubie Blake oder der junge Fats Waller; daneben aber besaß er ein Gespür für die lyrische Seite der Musik, für harmonische Feinheiten, für den Sound, der sich aus den Klängen ergab, die er auf seinem Instrument anstimmte.

In seiner Autobiographie definiert Smith den Stride-Stil folgendermaßen: »Stride Piano bedeutet, dass du mit beiden Händen in perfektem Einklang spielst – es ist wie komplett ausbalanciertes Gehen.« Duke Ellington unterstreicht diese Definition und erinnert sich, wie er 1923 in den Capital Palace Club gekommen sei, in dem Smith spielte, und wie er fast automatisch in den Schritt der Musik gefallen sei, so, wie alles in dem Club durch den Rhythmus der Musik diktiert schien: »Die Kellner servierten in dem Tempo; jeder, der den Club betrat, verließ oder in ihm herumlief, fiel automatisch in diesen Beat.«

Smith also nahm Ellington unter seine Fittiche. Er ließ ihn im Capital Palace einsteigen und kritisierte ihn dabei scherzhaft und herausfordernd zugleich. Und als Ellington und seine Kumpane der Mut verließ, weil sie keine Gigs an Land zogen, wies er sie zurecht: »Warum solltet ihr nach Washington zurückgehen, wenn ich es hier doch so gut habe. Lasst uns die Zeit einfach aussitzen. Ihr seid doch schon so weit gekommen.« Es machte ihm Spaß, mit dem fast gleichaltrigen, die Damenwelt schon damals anziehenden Ellington um die Häuser zu ziehen und in Speakeasies, also den während der Jahre der Prohibition überall aufblühenden illegalen Alkoholkneipen, und bei Rentparties auf die Pianistenkollegen zu treffen.

Nach ein paar Wochen entschied sich Ellington, doch wieder zurück nach Washington zu gehen; er hatte aber Blut geleckt. Das wirkliche musikalische Leben, wusste er nun, spielte sich anderswo ab. Der Gig mit Sweatman hatte ihm Einblick in die Realität des Showbusiness vermittelt, und das Herumstromern mit Smith hatte dafür gesorgt, dass Ellington inzwischen jede Menge Leute in New York kannte. Als der Gitarrist Elmer Snowden im Juni 1923 zusammen mit Hardwick, Greer und dem Trompeter Arthur Whetsol für einen sicher geglaubten Gig nach New York reiste und ihm der eigentlich geplante Pianist – kein geringerer als Fats Waller – absprang, bedurfte es keiner großen Mühe, Ellington zu überreden, nachzukommen. Dieser, so geht die Geschichte, buchte ein Erste-Klasse-Zugticket, aß ein luxuriöses Mahl auf dem Weg, weil er sich des Erfolgs sicher war. Als er allerdings in New York ankam, stellte sich heraus, dass der Gig, für den er sich aufgemacht hatte, geplatzt war und dass seine Freunde und er quasi auf der Straße saßen. Ada ›Bricktop‹ Smith verschaffte ihnen einen Job, bei dem sie im vornehmen Exclusive Club Hintergrundmusik für die reichen weißen und wenigen hellhäutigen schwarzen Gäste spielten. Die fünfköpfige Kapelle machte unter der Bezeichnung »Novelty Orchestra« sogar erste Plattenaufnahmen, die allerdings nie veröffentlicht wurden.

Im Hollywood, einem Kellerclub nahe des Times Square, Ecke 49th Street und Broadway, erhielt die Band ein Engagement, das anfangs für ein halbes Jahr abgemacht war, dann aber fast vier Jahre dauerte. Der Club fasste keine 130 Leute, die Bühne war so klein, dass der Flügel auf der Tanzfläche stehen musste. Aber die Band, die sich inzwischen in »The Washingtonians« umbenannt hatte, wurde einmal die Woche live im Rundfunk übertragen, der damals noch in seinen Kinderschuhen steckte, und sie erhielt ihre erste Pressenotiz, eine Rezension des Kritikers Abel Green im Fachblatt Clipper. Green stellt die Vielseitigkeit der fünf Musiker heraus, von denen die Bläser alle mehrere Instrumente spielten. Er zeigt sich beeindruckt von der Garderobe und davon, dass sie ohrenfällig ausreichend genug geprobt hätten, um die Arrangements Ellingtons ohne Noten zu spielen. Ellington selbst erinnert sich, hier habe seine Musik – er spricht von »unsere Musik« – tatsächlich »neue Klangfarben und neuen Charakter« erhalten.

Whetsol kehrte im Herbst nach Washington zurück, um wieder zur Schule zu gehen, weil er Medizin studieren wollte; er wurde durch den Trompeter James »Bubber« Miley ersetzt, der eine weitere neue Klangfarbe in die Band einbrachte: Miley hatte den großen New-Orleans-Kornettisten King Oliver gehört und war sowohl von dessen melodischer Sprache als auch von seinen Klangeffekten beeindruckt. Als Miley zu den Washingtonians stieß, war er bereits ein Star in der schwarzen New Yorker Musikerszene. Ellington beschreibt Mileys Beitrag zur Bandsprache als »eine weitere unserer frühen Sound-Identitäten«, nämlich eine klangliche Vokabel, die vom Blues her kam, weit stärker in der schwarzen Seele geerdet war als die sanfte Musik, die die Band ansonsten spielte. »Er growlte die ganze Nacht durch«, beschreibt Ellington den Sound des neuen Trompeters, »und spielte gutbucket [erdig] auf seinem Horn. Damals entschieden wir uns, diese ganze Sweet Music einfach zu vergessen.« In Bubber Mileys Händen wurde die Trompete durch die Dämpfer zu einer Verlängerung der menschlichen Stimme. Zugleich gab Miley Ellington, dem Kunstmaler, eine Klangfarbe an die Hand, mit der er in der Musik seine Palette ergänzen konnte.

Es war eine gute Lehrzeit für Ellington. Er arrangierte für die kleine Besetzung, die dabei durchaus unterschiedliche Klangfarben bedienen konnte, waren doch die meisten der Musiker der Washingtonians vielseitig und spielten, wie dies damals für professionelle Tanzmusiker üblich war, mehrere Instrumente. Ellington schrieb erste eigene Stücke, von denen »Blind Man’s Bluff« von 1923 die erste zum Copyright angemeldete Komposition seines Œuvres war. Im Oktober gab es eine weitere Plattensitzung, diesmal für das Label Victor, aber auch diese beiden Aufnahmen wurden nie veröffentlicht.

Ellington lernte den Komponisten Will Marion Cook kennen, der von der Presse einst als größter schwarzer (klassischer) Geiger gefeiert worden war, ein Lob, das ihn aber nur zornig machte, weil ihm die Einengung auf seine Hautfarbe nicht gefiel. Cook stammte ebenfalls aus Washington, hatte in den 1880er Jahren in Berlin bei einem Schüler des großen Geigers und Freundes von Johannes Brahms, Joseph Joachim, und dann in den 1890er Jahren bei Antonín Dvořák studiert, als dieser in New York unterrichtete. 1898 hatte er mit Clorindy. The Origin of Cakewalk eine abendfüllende Komposition zu Texten des Dialektdichters Paul Laurence Dunbar geschrieben, und im neuen Jahrhundert das New York Syncopated Orchestra gegründet. Cook war ein angesehener Komponist, und Ellington fragte ihn auf etlichen Taxifahrten aus. Öfter, erzählt Ellington, habe er eine Komposition angefangen und dann nicht mehr weitergewusst und schließlich Cook gefragt: »Welche Richtung soll ich nehmen?« Der habe ihm dann geantwortet:

»Eigentlich solltest du ja zum Konservatorium gehen. Aber da du das nicht tun willst, werde ich dir eine Antwort geben. Erst einmal musst du den logischen Weg finden, und wenn du ihn gefunden hast, musst du genau diesen vermeiden und auf dein inneres Ohr vertrauen, das dich führen wird. Sei nie jemand anderes als du selbst.«

Eine Band findet sich. Erste Platten

Die Washingtonians wuchsen 1924 um den Posaunisten Charlie Irvis an; zugleich verließ der bisherige Bandleader Elmer Snowden das Ensemble. Die Mitmusiker hatten herausgefunden, dass er die Gagen nicht gerecht aufteilte. Ellington war quasi der natürliche Nachfolger. Die Washingtonians traten immer noch im Hollywood Club auf, spielten aber, als der Club Anfang 1925 durch ein Feuer schwer beschädigt wurde, auch in anderen Ballsälen New Yorks oder im Umland. Im März eröffnete der Club unter neuem Namen.

Ellingtons Biograph John Edward Hasse beschreibt einen typischen Abend in diesem neuen, alten Spielort, dem Kentucky Club: Die Washingtonians spielten von 21 oder 22 Uhr bis Mitternacht zum Tanz. Dann begleiteten sie Sängerinnen, Profitänzer und Komödianten um Mitternacht und um 2 Uhr morgens. Schließlich, nachdem die Band bereits nach Hause gegangen war, wurde das Klavier von der Bühne gehievt und von Tisch zu Tisch gefahren, wobei Sonny Greer jede Menge an Trinkgeldern für den Pianisten einsammelte. Das ging teilweise bis 7 Uhr morgens.

Die ersten Aufnahmen Duke Ellingtons stammen vom November 1924