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Dörte Müller

Kissing Kate

Kurzgeschichten für unglücklich Verliebte





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Komm doch mal rüber!

 

 

Was du liebst, lass frei.

Kommt es zurück, gehört es dir für immer.

 

(Konfuzius)

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Komm doch mal rüber!

 

Liebeskummer lohnt sich nicht

 

Kissing Kate

 

Rache ist süß

 

Ein unvergesslicher Sommer

 

Die neue Freundin

 

Liebes Tagebuch

 

Herz ist Trumpf

 

Das rote Kleid

 

Der Hochzeitstag

 

Mädchen ohne Gesicht

 

 

 

 

Komm doch mal rüber!

 

„Geh doch mal rüber und sag HALLO, sein Auto steht vor der Tür“, drängte mich meine alte Mutter. Sie stand am Küchenfenster und rührte unentwegt in einem Topf. Kein Mensch würde sie für achtzig Jahre halten, sie sah noch sehr jung aus, obwohl sie schon lange graue Haare hatte. Ich wirkte mit meinen 60 Jahren auch viel jünger. „Das sind die Gene!“, pflegte meine Oma stets zu sagen und da hatte sie recht.

Ich schaute aus dem Fenster. Es stimmte, Axels Wagen stand vor der Tür. Ich hatte ihn eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen, es hatte sich einfach nicht ergeben.

Wir waren Nachbarskinder, hatten viele Jahre zusammen gespielt und denselben Schulweg gehabt. Einmal hatte er mir einen Ring aus dem Kaugummiautomaten geschenkt, den ich dankbar angenommen hatte. Leider war er mir ins Klo gefallen, doch das hatte ich ihm nie erzählt.

Mit vierzehn war ich einige Monate unsterblich in ihn verliebt gewesen. Ich konnte mir damals nicht genau erklären, wieso das passiert war. Meine Gefühle zeigte ich ihm allerdings nie, dazu war ich viel zu schüchtern. Stattdessen schrieb ich mehrere Tagebücher voll und heulte Rotz und Wasser, als er mit der schicken Susanne aus dem Nachbardorf beim Eisessen gesehen wurde.

Irgendwann war ich zum Studium nach Göttingen gezogen und wir hatten uns aus den Augen verloren. Wie das dann so ist.

Von meiner Mutter hatte ich hin und wieder über die Jahre verteilt etwas von Axel gehört.

„Axel hat geheiratet!“

„Axel ist Schlosser geworden!“

„Axel ist nach Hamburg gezogen!“

„Axel hat drei Kinder!“

„Axel ist geschieden!“

Ich nahm die Informationen mit mehr oder weniger Interesse auf. Axel war eine Randfigur in meinem Leben geworden und ich hatte meine eigenen Probleme.

Die Liebe meines Lebens hatte ich irgendwie nie gefunden und später auch nicht mehr danach gesucht. Meine Eltern warteten vergeblich auf Enkelkinder und hatten die Hoffnung inzwischen schon aufgegeben. Geschwister hatte ich keine.

„Mama, ich kann da jetzt doch nicht einfach so klingeln! Nach all den Jahren! Was soll ich denn sagen?“, entgegnete ich und doch spürte ich ein leichtes Kribbeln im Bauch wie damals mit vierzehn. Warum eigentlich nicht? Was hatte ich schon zu verlieren?

„Jetzt geh schon rüber, in zehn Minuten ist das Essen fertig. Ich rufe dich dann. Beeil dich, er würde sich sicher sehr freuen, dich zu sehen!“

Ich nickte wie im Trance. Und dann ging ich tatsächlich rüber. Ich fühlte mich wie damals. Nena hatte gerade ihren großen Hit gelandet „Nur geträumt“. Dieses Lied kam mir wieder in den Sinn. Schnell lief ich die Treppe herunter und sprang dann über den kleinen Gartenzaun, der unsere Grundstücke trennte. Wenige Minuten später stand ich vor seiner Haustür und klingelte. Mein Herz raste. Es dauerte nicht lange, da öffnete jemand die Tür. Es war ein alter Mann ohne Haare. Er hatte tiefe Furchen im Gesicht, doch seine brauen Augen zwinkerten lustig. Verwundert blickte er mich an, in seinem Kopf schien es zu arbeiten.

„Axel!“, rief ich aus. Es war wie ein Reflex.

„Barbara!“, entgegnete er. Es war wie ein Flüstern. Und dann fielen wir uns um den Hals nach all den Jahren.

„Ich habe dein Auto im Hof gesehen und dachte, ich komm kurz mal rüber und sage HALLO!“, stammelte ich verlegen.

„Komm rein, toll siehst du aus!“, sagte er.

„Du auch!“, erwiderte ich und merkte, wie mir die Füße langsam wegsackten. Wie war das möglich?

„Was hast du gemacht? Von deinen Eltern weiß ich, dass du nach dem Studium nach Rumänien gezogen bist!“, sagte er. Sein Blick brachte mich ganz durcheinander. Wir gingen in die Küche und setzten uns an den großen Eichentisch.

„Ja, aber das ist schon lange her. Inzwischen lebe ich im Schwarzwald und schreibe Romane!“, erzählte ich.

Plötzlich kam sein Vater in die Küche. Er lächelte mir zu und gab mir die Hand.

„Barbara, schön, dass du rüber gekommen bist!“

Axel war nervös. Er war aufgesprungen und rannte urplötzlich aus dem Zimmer. Verwundert blickte ich ihm hinterher. Wenige Minuten später kam er zurück. Er hatte einen Schuhkarton unter seinen Arm geklemmt.

„Schau, das sind die Briefe, die ich dir geschrieben habe!“, sagte er stolz.

Verwundert blickte ich ihn an.

„Die habe ich nie bekommen!“

„Ich habe sie ja auch nie abgeschickt!“, gestand er und wurde über und über rot. Mir wurde ganz schwindelig. Ich zog meine Jacke aus und schob den kurzen Ärmel meines T – Shirts hoch.

„Was ist das?“, fragte Axel.

„Das ist das kleine Herz mit dem A, das ich mir wegen dir eingeritzt habe!“, erklärte ich ihm. Ich erinnerte mich noch genau, wie weh das getan hatte.

„Das hast du mir nie gezeigt!“, stammelte Axel.

Axels Vater hatte die Küche unmerklich verlassen. Er spürte wohl, dass wir gerne allein sein wollten.

„Was wohl passiert wäre, wenn dich deine Mutter damals nicht gerufen hätte!“, überlegte Axel.

„Unsere Leben wären sicher ganz anders verlaufen!“, stimmte ich ihm zu. Wir blickten uns tief in die Augen.

Da hörte ich ihren Ruf. Laut und grell wie damals. Er schnitt mir durch Mark und Bein.

 

„Barbara! Essen ist fertig!“

 

„Ich muss rüber!“, sagte ich entschuldigend und lief davon.

„Komm aber gleich zurück! Nicht so wie vor fünfzig Jahren!“, rief Axel mir noch hinterher.

Ganz aufgewühlt setzte ich mich zu meinen alten Eltern an den Tisch.

Die rote Suppe roch köstlich. Meine Mutter war die beste Köchin, darum kam ich auch immer gerne nach Hause zurück.

„War es schön bei Axel?“, fragte meine Mutter fürsorglich. Ich nickte.

Eine Fledermaus flog quer durch unser Wohnzimmer, in der Ferne hörte man Donnergrollen.

„Heute ist Vollmond!“, sagte mein Vater.

Noch ganz in Gedanken an Axel löffelte ich meine Blutsuppe.

„Es ist so schade, dass wir Vampire sind!“, seufzte ich und dachte darüber nach, dass ich Axel vermutlich nie mehr wiedersehen würde.