1 “Guten Tag! Guten Tag!“

2 „Aus Jugoslawien?“

3 „Ich bin aus Ungarn.“

4 „Von 1956 - nicht wahr?“

5 „Ja, von damals.“

6 „Wir sind angekommen. Du warst nirgends auf dem Bahnhof.“ ... „Ich war dort, nur der Zug hatte Verspätung.“

7 „Wir kommen jetzt.“ - „Dann kommt doch.“

8 „Komm doch herein, Bubi...“

9 „Setzt Euch.“

10 „Warst du auf dem Bahnhof?“

11 „Nicht wahr, der Zug hatte keine Verspätung?“

12 „Ich habe gerade gemalt, als du vom Hotel angerufen hast.“

13 „Wie ist das Zimmer im ‘Cecilc’?“... „Gut.“... „Wollt ihr Tee?“... „Du brauchst nicht...

14 „Das ist Lindenblütentee“

15 „Ich trinke keinen Tee.“

16 „Warte, es fehlt noch Zucker.“ „Schon gut“.

17 „Lindenblütentee“

18 „Wie seid ihr gefahren?“

19 „Gritli, jetzt werden wir zwei aufbrechen und bevor es Nacht wird, schnell die Stadt besichtigen.“

20 „Wenn ihr ins Zentrum wollt, müßt ihr mit dem Lift fahren!“ „Mit dem Lift?“ „Ja, am Ende der Rue Niccolo ist eine Überführung.“

21 „Soll ich etwas vorspielen? Aus meinen Kompositionen?“

22 „Machen wir es so: Wir gehen jetzt zwei, drei Stunden schnell durch Basel und kommen ungefähr um acht zurück.“

23 „Soll ich ein kleines Abendessen zubereiten?“... „Nein... oder doch, wenn du willst“,

24 „Was denn?“

25 „Oh, Kaffee, Brot, was du willst“,

26 „Kaffee und Brötchen“,

27 „Wenn du in der Stadt bist, telefoniere mir, bitte.“ „Gut abgemacht.“

28 „Bitte, frag mich, ob ich Klavierstunden gebe und wann. Hast du mich gehört? Frag mich wie ein Fremder.“

29 „Warum?“

30 „Weißt du, sie hören mich ab... hier und da spionieren sie mir nach...“

31 „Ach wo...“

32 „Nein, sie spionieren mir im Haus und am Draht nach. Sie hören mich ab... Wievielmal soll ich es dir noch wieder holen?“

33 „Du mußt beide Münzen hineinwerfen. Du fragst, du wollest dich am Telefon erkundigen, ob da die Frau Meyer wohne, die Klavierlehrerin. Dann sagst du, bitte, könnte ich Klavierstunden nehmen... und ich antworte: Kommen Sie am Donnerstag um fünf. Dann bedankst du dich und das Gespräch ist aus.“

34 „Auf Wiedersehen.“

35 „Entschuldigen Sie, wie komme ich von hier zum Barfüsserplatz?“

36 „Raus, Hure, raus!“

37 „Raus!Raus!“

38 „Hier Frau Margrit Meyer, Klavierlehrerin...“ „Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe...“

39 „Macht nichts“,

40 „Was wünschen Sie?“... „Ich möchte Sie fragen, ob Sie noch einen freien Platz haben?“... „Ja, ich habe noch eine leere Stelle am Nachmittag um fünf...“

41 „Könnte ich am Donnerstag...“

42 „um fünf Uhr zur ersten Lektion kommen?“ „Ja, das können Sie... Ich erwarte Sie am Donnerstag ab fünf... Abgemacht.“ ... „Danke... Auf Wiedersehen.“ „Gute Nacht“

43 Stoff

44 „Das Telefongespräch hast du gut ausgeführt,“

45 „Nach dem Abendessen werde ich Euch etwas von mir vorspielen....“

46 „Zweite Komposition.“

47 „Und, wie hat es euch gefallen?“... „Gut“,

48 „Kommst Du morgen mit uns durch die Stadt?“

49 „Nein... wir gehen lieber hinauf zur Rue della Curron. Dort oben gibt es schöne Plätze...“

50 „Dort warst du einmal mit Vati. Es gibt Tennisplätze...“

51 Frühstück

52 „Ich war pünktlich um halb neun vor der Haustür...“

53 „Ich verbiete mir deine Frechheiten! Ich bin alle diese Treppen hinuntergelaufen und kein Mensch war vor der Tür.“

54 „Du bist ein wenig plemplem, Bub“,

55 „Salut! Guten Morgen.“

56 „Nein, ich gehe nicht hinaus.“ ... „Gestern haben wir darüber gesprochen, dass wir heute einen längeren Spaziergang machen werden.“ ... „Nein, ich gehe nicht hinaus.“

57 „Dann komm mit uns durch die Stadt.“

58 „Ich habe überhaupt nichts zum Anziehen.“

59 „Was fällt Dir denn ein?“

60 „Nun, dann gehen wir allein. Abends sehen wir uns wieder“,

61 „Vergiss nicht, mir zu telefonieren: um elf oder abends nach fünf.“

62 „Was ist geschehen? Was?...“

63 „Ein Häschen...“

64 „Oh bitteschön?“

65 „Könnten wir ein wenig Ihre Bücher anschauen?“

66 „Bitteschön“,

67 Die „Schildbürger“ des Altertums, Einwohner der altgriechischen Stadt Abdera

68 Markt und politischer Versammlungsplatz der altgriechischen Stadt

69 „Merci. Aufwiedersehen, liebe Dame, lieber Herr“,

70 „Frau Meyer, könnte ich bei Ihnen Klavierstunden nehmen?“ ... „Ja, kommen Sie am Donnerstag“,

71 „Das glaube ich nicht“,

72 Du warst damals erst zwei oder drei Jahre alt, als wir ins Gerbergässli umzogen und kannst dich sicher nicht mehr erinnern.“

73 „In diesem Haus befand sich ein braunes Zimmer“,

74 „Das sind unsere Basler Schnecken“,

75 „Erinnerst du dich an diesen Schrank?“

76 „Das war Mamas Schrank“,

77 „Immer war er mit uns... auch im Haus auf dem Elisabethenplatz... in der Steinenvorstadt, an der Rue Helder... im Gerbergässli, wohin wir auch umzogen, kam er mit.

78 „Ich erinnere mich nicht.“

79 „Hast du eine Foto von mir, als ich noch klein war?“

80 „Warte, ich habe etwas“,

81 Organ Zaštite Naroda (Armije); die Abteilung für Volksschutz

82 „So warst du...“

83 „Aber das kann doch gar nicht ich sein“,

84 „Ich meine nur“,

85 „wie du immer deine Hose am Gürtel hochgezogen hast... Immer hoch und hoch...“

86 „Immer hast du die Hose so hochgezogen... du warst ein nervöser Bengel.“

87 „Jetzt könnten wir meine Bilder anschauen.“

88 „Bei diesem Bild musst du fünf bis sechs Schritte zurücktreten“,

89 „Bei diesem musst du dir das Motiv ganz aus der Nähe anschauen.“

90 „Das gefällt dir?“

91 „Wenn Vati und Mama nicht so blöd gewesen wären, dann würden wir Kinder woanders sein...“

92 „Es sind immer die Schlechtesten, die übrigbleiben. Der um­gekehrte Darwinismus“

93 „Sie bekommt nichts, sie hätte auf dich aufpassen müssen!“

94 „Aber nicht heute. Morgen gehen wir zusammen mit dir hin und kaufen ihr eine Tafel Schokolade“,

95 „Nicht morgen! Heute! Heute!“

96 „Schlaf, schlaf“,

97 Verkäufer

98 Warst du im Garten? Hast du den Tod gesehen? Hast du Angst vor ihm?

99 „Iss nur“,

100 „man lebt nicht nur von der Liebe.“ ... „Nächstes Jahr kommen wir vielleicht mit dem Auto.“

101 „Auch die Eltern von meinen Schülern laden mich manchmal zu einem Autoausflug in den Jura zum Picknick oder so ein, aber ich lehne ab.“

102 „Zwei Kaffee“,

103 „Wir befinden uns an der Kreuzung des goldenen Tores der Schweiz: Point des Trois: auf... Grad... Minuten... Sekunden Länge; dagegen auf... Grad... Minuten... Sekunden.“

104 Mama, die ‘Europa’ kommt ungefähr in fünfzehn Minuten.“

105 Nicht aus dem Fenster lehnen

106 Nicht hinauslehnen. (Anm. des Üb.)

Društvo slovenskih pisateljev, Slovenski center PEN, Društvo slovenskih književnih prevajalcev

The Association of Slovenian Writers, The Slovenian PEN Centre, The Slovenian Literary Translators' Association

Lojze Kovačič

Basel

[Drittes Fragment]

Übersetzt von Andrej Špendov

Društvo slovenskih pisateljev
Slovene Writers’ Association

Ljubljana 2016

Lojze Kovačič: Basel

Originaltitel: Basel [tretji fragment]

Copyright © Lojze Kovačič, 1989; Študentska založba 1989–2011

www.zalozba.org

Študentska založba ist der einzige Eigentümer der Rechte für die Werke von Lojze Kovačič. Für alle Informationen zur Verfügbarkeit der Rechte wenden Sie sich an: info@zalozba.org

Herausgegeben und verlegt vom

Slowenischen Schriftstellerverband, Ljubljana

Vertreten durch seinen Präsidenten, Ivo Svetina

Redaktion von Litterae Slovenicae 2016

Tina Kozin, Tanja Petrič

Redaktionelle Bearbeitung

Tanja Petrič

Übersetzung

Andrej Špendov, Peter Scherber

Nachwort

Zvonko Kovač, Gašper Troha, Mateja Komel Snoj

Sprachliche Korrektur

Peter Scherber, Martin Schwitter

Titelfoto

Tihomir Pinter

E-Book

Zugänglich auf

http://www.biblos.si/lib/

Ljubljana 2016

CIP - Kataložni zapis o publikaciji

Narodna in univerzitetna knjižnica, Ljubljana

821.163.6-311.2(0.034.2)

821.163.6.09Kovačič L.(0.034.2)

012Kovačič L.(0.034.2)

KOVAČIČ, Lojze, 1928-2004

Basel [Elektronski vir] : drittes Fragment / Lojze Kovačič ; Übersetzt von Andrej Špendov, [Peter Scherber] ; [Nachwort Zvonko Kovač, Gašper Troha, Mateja Komel Snoj]. - El. knjiga. - Ljubljana : Društvo slovenskih pisateljev = The Slovene Writers' Association, 2016. - (Litterae Slovenicae : Slovenian literary magazine, ISSN 1318-0177 ; 2011, 1)

Prevod dela: Basel : (tretji fragment)

ISBN 978-961-6547-99-4 (ePub)

COBISS ID 283495424

November 1972: Zum ersten Mal nach vierunddreißig Jahren, seit ich Basel nicht mehr gesehen habe, wieder in meiner Heimatstadt.

In Buchs schaue ich aus dem Fenster. Der Bahnsteig: Schmal und sauber; gusseiserne Pfeiler unter der Über­dachung. Meiner Aufregung gleichsam zum Spott: Drei oder vier Bosnierinnen in bunten Röcken und Schürzen, Körbe auf den Köpfen, Körbe auf dem Boden und den Sitzbänken. Als ich einen Augenblick später hinschaue, ist der lange Bahnsteig menschenleer, als hätte man sie weggefegt. War wohl die falsche Seite. In jener Nacht im Jahre achtunddreißig, als wir vom Basler Zug auf die jugoslawische Eisenbahn umstiegen, bewegten wir uns auf grobem Schotter zwischen lauter Eisenbahnwagen und Schienensträngen. Es goss in Strömen, so dass sich der Regen vor den Lichtern der Lokomotive in weihnachtliches Feuerwerk verwandelte. Vater verschwand in einem großen Amtsgebäude und wir mussten lange warten, bis er wieder auftauchte. Danach betraten wir einen leeren, schwach beleuchteten Wagen, der, wie mir schien, schief dastand und an dessen Wänden nur kyrillische Tafeln hingen. So begann die Reise... Jetzt traue ich mich nicht aus dem Abteil heraus, um vom Gang des Schlafwagens nicht zufällig jene Schienen und Steinhaufen mit dem Gebäude und den schwarzen eisernen Sitzbänken davor zu erblicken. Die schweizerische Polizei ist bis auf die Knochen verfettete Pedanterie, die auf der Welt ihresgleichen sucht; damals wies sie uns für immer aus, „mit Kind und Kegel“, wie es heißt... Was soll ich tun, wenn sie wirklich Verzeichnisse mit sich herumtragen, diese berüchtigten Zettel, von denen mir Margrit erzählte. Dass man mich an der Grenze zurückweisen könnte, habe ich D. mit keinem Wort erwähnt weder in den Monaten zuvor noch während der Fahrt... Ich starre auf das Pflaster des Bahnsteigs... es ist wie die zu Stein erstarrte Einleitung der Erinnerungen... und danach, als mir ein Polizist mit Sturmriemen über der Brust den Reisepass durchsieht... starre ich unverwandt auf einen Punkt über seiner Schulter... das habe ich mir im Umgang mit einfachen Leuten in Uni­form angewöhnt. Auch als wir wieder alleine sind, deute ich D. mit keiner Silbe meine Angst, meine Panik von vorhin an.

Draußen reihen sich reinliche, hübsche Einfamilienhäuser an Villen und Wirtshäuser mit gelb- und graugrünen Gärten, in denen Fahnenmasten mit Schweizerflaggen stecken. Ich rasiere mich vor dem Spiegelkästchen, und als von den Puffern aus... vor einem Signal oder Bahnübergang... ein Stoß durch die ganze Zugskomposition geht, verletze ich mich. Blut rinnt mir von den Mundwinkeln über das Kinn, so dass mich D. sofort mit einem Heftpflaster verarzten muss. „Auch das noch“, sage ich ihr,“ jetzt komme ich in die Schweiz wie ein Komitadschi von den Bergen des Bal­kan.“ Nicht nur die Fahnen und Gärten mit den weißen Kreuzen ziehen am Zug vorbei, sondern auch kilometer­lange Umzäunungen aus verwittertem Wellblech und verrostetem Gitterwerk, die den Augen der Reisenden die dilettantisch zusammengenagelten Baracken, die Dreck­schicht und die bunte Wäsche auf den Leinen verdecken sollten.

Auf und ab wie das Meer... Häuser, eine weiße Straße an der Bahnlinie, ein Hügel, Schilder. Wie immer, wenn mir etwas Ungewöhnliches zustößt, hüllt mich Nebel ein und trübt meinen Blick. Als erstes erwartet mich der Basler Bahnhof mit seiner gläsernen Kuppel. Sieht er noch gleich aus wie früher? Eigentlich weiß ich nicht mehr, wie er aussah... Zwei Polizisten führten uns, wir waren nur mit dem nötigsten Gepäck beladen, vom Gerbergässli über die kleine Brücke, die sich über jenen Bach spannte, wo ich noch vor ander­t­halb Stunden mit gelben Bachsteinen unter dem Felsen gespielt hatte. In der Ambulanz des Bahnhofs erhielten Gisela und ich von der Krankenpflegerin eine Tasse Milchkaffee. Die beiden Polizisten schienen einer Schachtel entnommen, ihre Gummiknüppel leuchteten wie Diri­gentenstäbe unter den Regenmänteln hervor. Als sie uns an Bord des Eisenbahnwagens brachten und einer die Tür von innen zuschloss, winkten uns Claire und Margrit unter dem letzten Pfeiler mit Taschentüchern... Damals stand ich den ganzen Nachmittag auf dem Gang beim Fenster, um Vatis Heimatland als erster zu erblicken und ihm, Mutter und Gisela als erster unsere Ankunft zu verkünden... Was ich nicht alles sah... den Eglisee zum Beispiel, ein Freibad mit einem großen gestreiften Ball im Wasser, mit dem ich einst gespielt hatte... einen Tennisplatz im dichten Schatten der Eichen, wo ich mit Vater eines Sonntags hingegangen war... Der lange Steg beim Klybeck mit der Hafenanlage Neptun... die widerhakenförmigen Glocken­türme der zahlreichen Kirchen, jede mit einem anderen Kreuz... lauter gelöste Rätsel, Hieroglyphen, Irrgärten... Adieu! Adieu!... Und jetzt? Ein wahrer Strom von Ereig­nissen aus der Gegenwart, ein ununterbrochener Wasserfall von Tatsachen, den ich in diesem Augenblick wie eine Marionette durchlebe, unfähig, mich auf etwas zu stützen, mir selbst ein Geheimnis, von dem ich nicht weiß, wie es sich in jeder der folgenden Minuten verhalten wird. Ich bräuchte jemanden, wenn niemand da sein wird, mit dem ich meine Verwirrung teilen könnte. Und jetzt, während D. hier sitzt, kerzengerade auf dem Rand des unteren Bettes, gewinnt alles noch mehr Ähnlichkeit mit dem aufgewühlten Wasser und der Planke, an der ich mich festhalte, weil ich die Richtung nicht kenne!

Soll er sich aus der Ferne betrachten...? Etwa so, wie ein Zuschauer, der ein bestimmtes fundamentales Erlebnis mitverfolgt, das sich unter ihm auf einer Bühne abspielt und mit dem ihn nichts verbindet? Sollte er sich gänzlich dem Erlebnis ausliefern... nicht an die Entfernung und die Augen dort oben auf der Galerie denken? Einmal so, einmal anders, alles in allem wohl eher eine Mischung als ausdrücklich nur das Eine oder das Andere.

HAUPTBAHNHOF SBB BASEL

Eine hohe Halle aus Glas... Darunter lange Zugschlangen. Bumm, bamm, bäng... diese Architektur hört aufmerksam hin und auch in ihr drin ist alles außerordentlich gut hörbar. D., so ruhig und leise wie nie zuvor, lenkt ihren Schritt genau dorthin, wohin sich auch er ohne einen Anhaltspunkt begibt. Margrit ist nirgends zu sehen und dieser Koloss von Bahnhof bleibt für mich unerkennbar. Der Hauptein­gang zum Zentralgebäude, ein hohes abgerundetes Gewölbe in einem Eisennetz mit milchiger Rosette... drinnen herrscht rußige Dämmerung, als hätten sie das Innere eines weichen Massivs aus faserigem Stein betreten... der geräuschlose Fußboden ist aus Kork, liegt es an meinen Gummisohlen oder bin ich taub? Lautlose Gepäckwagen, die Reisenden schreiten wie Schatten in den weißen Schein der hohen undurchsichtigen Kuppel... auf der anderen Seite, neben dem riesigen Ausgang, wo der helle Tag erstrahlt, sehen die Menschen im Neonlicht der Boutiquen wie durchleuchtete Korallenfische aus. Ich schaue in die Seiten­eingänge, in dunkle Stollen aus weichem Stein... und spüre, dass Margrit nicht da ist. Mehr noch, dass sie schon jahrelang nicht mehr hier war. D. im Pelzmantel mit ihrem weißen kleinen Gesicht und den hinter den Brillengläsern vergrößerten Augen folgt mir dicht auf den Fersen. Ja, hier bin ich zu Hause... war ich zu Hause. Meine Wurzeln reichten fast bis zur Hölle. Ich habe mich bemüht, sie zu erhalten. Stets war ich von heimlichem Stolz erfüllt: Basel die Treue halten, Europa treu bleiben... Dieses Wunder werde ich ihr zeigen, dieses ewig gleiche Phänomen der aufgehenden Sonne: Die Stadt... ich werde sie mit Margrit bekannt machen, sie in die sog. Urgeschichte mit einbeziehen... in dieses, mein großes Grab. Er hält nach Margrit Ausschau, dreht sich langsam zur hinter ihm stehenden D. um. Ach,

die Geheimnisse ihres Lebens, die ihm weder zugänglich waren, noch zugänglich gemacht wurden, boten ihm bisher immer genügend Möglichkeiten, selber unaufrichtig zu sein... denn auch sie musste nicht wissen, wer oder was er ist und wovon er träumt; in dieser Hinsicht unterschieden sie sich nicht. Doch das wird sich jetzt ändern. Wenn Margrit jedoch nicht da sein wird, wird dies die erste Kränkung sein, die sie an einem Ort ereilt, den sie beide eigentlich noch nicht betreten haben.

Draußen: Ein Kettengeländer und Taxis mit leuchtenden Emblemen... Gerade hier müsste eine steile Straße ihren Anfang nehmen... und in der Mitte jenes runde Eckhaus an der Mauer der Rue de Helder stehen... Nichts. Das wellenförmige Dach einer Haltestelle und ein Straßenbahn­wagen mit drei Anhängern. Er zieht die Luft, die er vor vierunddreißig Jahren geatmet hat, in sich hinein, ordnet die Koffer neu, schaut hinunter, in den Abgrund... Die Situation ist seelenlos, leer, absolut still, jeglichen Sinnes beraubt. So etwas... Auch hier ist von Margrit keine Spur, schwarzer Staub einer Ewigkeit hat sich in die faserigen Steine der Fassaden unter den beiden hohen Türmen mit der Uhr eingefressen... Eine Limousine mit der leuchtenden Aufschrift „Taxi Stern“ fährt ans Geländer heran. „Rue de Niccolo, Hotel Cecile“, sagt er, als würden Wattepfropfen seinem Mund entweichen und auf seine Wangen und Heftpflaster auftreffen. Der Fahrer steigt aus... einer jener unschönen, hässlichen Bewohner der Stadt, dessen Ana­tomie schon die vorangegangenen Generationen geformt und ihm die grüne Joppe, die an ein Jägerkostüm erinnert, übergestülpt haben... Über sein Telefon meldet er, wohin er fahren wird. Vielleicht fürchtete er sich? Vielleicht hat er erraten, dass sie von dort stammen, von jenem Erdteil, der den Hiesigen schon seit Menschengedenken ein selbst­verständliches Rätsel in seiner Verwirklichung als auch Nicht­verwirklichung ist? Von einer Magie, die sich in elementaren Weiten verborgen hält, einem Leben, das sich immer wieder auf gut Glück einer Ordnung anpasst und einem Kolorit, wo sich eine schweigende, verbissene IDEE über Berge, Meer und Völker ausgebreitet hat. Das er­schreckt und ärgert ihn wohl. Auch mich ärgert es, dass der GEIST dort wohnt, am meisten aber wundere ich mich dar­über, dass er so dumpf ist und eher dem aufsteigenden Nebel, der einbrechenden Dunkelheit, dem aufgewühlten Meer, den schwebenden Wolken, den aufeinanderfolgen­den Jahreszeiten gleicht als etwas mehr Menschlichem. Ein Ursprung solcher Art...

Er sieht sich auf dem Gehsteig um, gern würde er Bewegungen, Haltungen oder Kleider erblicken, die in ihm auf der Stelle Sympathie erweckten. Es ist vier Uhr, für alles zu früh oder zu spät. Eine kurze Brücke... Das Geländer ist eine einzige Betonwand; er möchte mehr sehen und ist enttäuscht. Im Schaufenster eines Geschäfts: Verschiedene Bürsten und Waschpulver. Als er sich umdreht, trifft er D. mit dem Kinn an der Schläfe. Er hat Angst, weil er sie zu Margrit führt, von der er im Grunde genommen nicht weiß, wie sie ist. Eine wunderliche Person? Ein marodes Geschöpf? Ein unerträgliches Frauenzimmer? Er weiß wirklich nicht, wie sie jetzt ist? Sie bewohnt eine Einzimmerwohnung oder ein größeres Zimmer, soviel ist ihm bekannt. Aus ihren Brie­fen weiß er, dass sie von der Rente und vom Klavier­unterricht lebt und dass sie sich in ihrer Freizeit mit Malerei beschäftigt. Doch was im vergangenen Jahrzehnt aus ihr geworden ist... ist ihm ein Rätsel. Sie war mit dem Anwalt Joseph Meyer verheiratet, der eine Zeitlang Ausschussmit­glied oder Abgeordneter des Stadtrates war, den er jedoch nie gesehen hat, selbst auf einem Bild nicht. Ein kränklicher Mann; er starb vor vier oder fünf Jahren. So wie früher hatte Margrit auch damals, als er noch lebte, ihre Liebhaber. Der Letzte ihrer Auserwählten war reich; Besitzer eines großen Elektronikgeschäftes. Sie hat ihn ihm auf einer Fotografie gezeigt: Wie er... ein dürrer, lächerlicher Wallenstein mit Druidenbärtchen, eine Pelerine über die Schulter geworfen, mit einer Reihe von Knöpfen aus Hirschhorn, Totenköpfen ähnlich... dasteht, umgeben vom elektrischen Glanz seines Luxusgeschäfts irgendwo im Zentrum der Stadt. Ein stilisiert folkloristischer Typ... der in ihm eine Abneigung weckte, wie jeder wichtigtuerische, blutarme Volksstamm, mit Ausnahme der Indianer und Menschenfresser, die er noch nie zu Gesicht bekommen hat... Für ihn pflegte sie sich, unterzog sich Schönheits­operationen, verbrachte tagelange Fastenkuren im Bett, wobei sie sich nur von Äpfeln ernährte... Was für eine Dame auf schnellen Beinen, erhobenen Hauptes mit einer Pelzmütze und einem Persianermantel im Jahre 1952, als er sie nach vielen Jahren zum ersten Mal wiedersah, als sie beide, Margrit aus der Schweiz und er aus Jugoslawien die Mutter, Claire und Gisela im DP Lager Kellerberg besuchten. Sie war ein lebendiger Teil Basels. Er, den beim Anblick jeder einzelnen Basler Postkarte und beim Dialekt, den die Radioansager sprachen, stets beinahe traumwand­lerische Gefühle überkamen oder der in Tränen ausbrach bei den Aufnahmen vom mitternächtlichen Läuten der Weihnachtsglocken aus der Basler Kathedrale... hat sich - verständlicherweise - beinahe in sie verliebt... Gemeinsam verbrachten sie Stunden mit Spaziergängen im Lager, mit Gesprächen am Ufer der kalten Drau, hielten sich bei der Hand... umarmten sich... küssten sich sogar... Eines Abends saßen sie, nachdem sie vom Kino zurückge­kehrt waren, beinahe bis zum Morgengrauen auf den Meilen­steinen vor dem Lagereingang. An einem anderen Tag hockten sie ganze fünf Stunden in einer Schenke im russischen Teil des La­gers unter einem Wandbild mit überdimensionierten russischen Gutsherren und kleinen weißen Hirschen, tranken Sprit, den ihnen ein Muschik in einem Rubaschkahemd fleißig auftrug, weil er dachte, sie seien ein Liebespaar... Er fragte sie über Basel aus, über die Straßen, die Bezirke, die verschiedenen Winkel, die Rhein­hafen, in denen er sich herumzutreiben pflegte, über die Schulen, die Kirchen, die Menschen, die Brunnen... wohl wurde er in Basel geboren, doch erst zehn Jahre später kam er im Dorf Cegelnica auf die Welt... Sie erzählte ihm unter anderem, dass er, was ihm neu war, als Kind beim Mitta­gessen stets Blumen auf dem Tisch haben wollte, sonst hätte er nichts zu sich genommen... Und wenn sie ihm irgend­welche Zierblumen unterjubeln wollten, sogenannte Stoffpompons, die in der Werkstatt herumlagen oder nur so - aus erfinderischer Not - ein von einer Hecke gepflücktes Ästchen, hätte er keinen Bissen in den Mund nehmen wollen und einen Hungerstreik angekündet, bis man ihm woher auch immer einen Blumentopf gebracht und auf den Tisch gestellt hätte... Oh Gott, durchfuhr es ihn, das hat er nicht gewusst, wie viel forderte diese Kindheit, über die er sich wie über ein eigenes, legitimes Kind zu neigen anschickte... Doch schon bald nach diesen ersten Tagen in Kellerberg hatte Margrit... obwohl sie hierhergereist war, um mit viel Lärm und Prunk diese Stätte zu erhellen... ihr wahres Gesicht gezeigt... Hochmut, kalte Einsamkeit und Spott... Sie zerstritten sich. Als Kind, erinnert er sich, war sie lebhaft, teuflisch und schrecklich intrigant. Vaters Liebling. Mit sechzehn hatte sie einen Haufen Verehrer, die ihr durch Parks und Schwimmbäder nachstellten... in Gedanken sieht er die Männer, die wie Schatten um das Haus schlichen. Ihre Redeweise war ein bloßes Aneinander­reihen von durchdringenden Rufen, Geschrei und Gezi­schel. In seiner Kindheit fürchtete er sich vor ihrer nervösen Gewandtheit, ihrer plötzlichen Wut, den buschigen schwar­zen Haaren, die sie wie eine Löwenmähne zu schütteln pflegte. Nur sie schaffte es, ihn ins Spital zu bringen, ohne dass er ihr auf dem Weg entwischte... Am meisten fürchtete er ihr Lachen: die reine Unschuld der weißen Zähne und darüber die boshaften kleinen Bilder der grünen Augen. An ihnen erkannte er sie, wenn sie den Weihnachtsmann spielte, der ihm jedes Jahr Geschenke brachte: zwischen dem Wattehaar und dem Zausbart aus Hasenfell stachen sie hervor wie Insekten.

Nur wenige Schritte nach dem Geschäft mit den Bürsten hält das Taxi: Das Hotel Cecil steht mit grünem Vordach in einer Reihe

gleichförmiger Häuser an der Rue de Nicollo... und in der gleichen Straße wohnt Margrit. „Guete Daag! Guete Daag!1“ Ein dicklicher Verwalter in gestreifter Weste, schwarzen Hosen und einer Fliege hopst von der Eingangs­tür, wo er gerade noch Wache hielt, zum Kofferraum, dem er selbst mit dem Rücken zugewandt ist. Zuerst denkt er, es sei Hans Moser, der österreichische Filmkomödiant, nur spricht er Basler Dialekt statt wienerisch. Das Hotel, ein schmales Haus, gleicht einer Familienpension. Sie geben ihre Pässe einer ergrauten Frau mit langem Gesicht... „Mlle Jeanette“, steht auf ihrer Visitenkarte. „Uus Jugoslawie?2 Er nickt. „Ych bii uus Ungarn.3 Eine steife, graue Frisur und eine Art dunkles Dirndl. „Vò 1956 - gäll?4“ fragt er. „Joo, vò dooz­mool.5 Er kennt einige Ungarn. Claires Mann, Josko Pall, war ein Ungar - Fußballtrainer, und, da schau her, Hand­schuh-, Handtaschen- und Krawattenhändler!... Sie füllen eine Anmeldung aus, die so klein ist wie ein Fahrschein. Die Pension ist wahrscheinlich bereits ausgebucht oder dann menschenleer. Sie folgen einer kräftigen jungen Frau in weißem Kittel nach oben. Ein Etagenzimmer mit Du­sche - 40 Franken pro Tag. Die Treppe beschreibt einen Bogen... ein Läufer mit Messingstangen... die Stäbe des Geländers... ein Jagdbild im Korridor... auf den Gängen: unter­schied­lich große und in verschiedenen Farben gestrichene Türen... Kurze und lange Gänge mit verschiedenar­tigen, aus allen Himmelsrichtungen zusammengetragenen Läufern... Bilder der Alpen und der Helvetia mit einer Fackel über dem Kopf. Die Treppe beschreibt erneut einen Bogen... Eckschränke, Toilettentische, Tischchen, bedeckt mit kleinen Tischdecken... das stört ihn jetzt nicht, obwohl er es am liebsten hat, wenn die Wände kahl sind, Wände, die er berühren kann. Wie sehr es durch das Geländer nach Bohnerwachs riecht... und nach Persil! Ihr Zimmer befindet sich zuoberst, auf einem kleinen Korridor. Zwei Betten mit schwarzbraunem Tafelwerk. Ein Porzellankrug mit Enten­schnabel in einer massiven Waschschüssel aus weißem Porzellan... Ein Schrank wie ein Ahnherr - ein Holzfäller aus dem Jura, dunkle Blumentapeten und neben der Stützmauer eine lange unökonomische Ecke, die über dem Treppenhaus herausragt. Die Reproduktion der Decke der Sixtinischen Kapelle über einem Schränkchen. Ein Zimmer wie zu Großmutters Zeiten Ende des letzten Jahrhunderts. D. freut sich darüber. Sie waschen sich, packen die Geschenke für Margrit aus dem Koffer in Tüten um. Darauf eilt er hinunter, um ihr zu telefonieren. Im Korridor mit den Schränken verirrt er sich in eine Kammer mit düsteren Reinigungsutensilien... Mlle Jeanette verkauft ihm einen Jeton und lächelt ihn an,... natürlich, ihre beiden Heimat­länder berühren sich wie die Rockzipfel zweier Zechbrüder. Er betritt die Telefonkabine... sich selbst fremd und unnahbarer noch als irgend jemand, dem er jetzt zum ersten Mal begegnete. Die enge Kabine ist von oben bis unten mit königsblauem Samt ausgekleidet. Er hört die nur wenige Häuser entfernte Stimme Margrits... Nicht daran erkennt er sie, sondern am Dialekt, der Bildungssilbe „li“. „Miir sinn koo. Du bisch niene ùff em Bahnhof gsii.“... „Y bii dèèrt gsii, nùmme der Zùùg hèt Verspeetig ghaa.“6 Nein, der Zug war keine Minute verspätet. „Miir kèmme jètz.“ - „Dènn kèmmet doch.7 Die etwas gleichmütige Stimme wirkt auf ihn einen Moment lang wie eine kalte Dusche. Ja, so etwas nennt sich Familie!... Er eilt wieder nach oben, nimmt zwei Tritte auf einmal: Seine innere Landkarte hat mit der äußeren Verbindung aufgenommen, keine Minute darf versäumt werden. D. wartet schon mitten im Zimmer, mit ausgebreiteten Armen und mit Tüten beladen... Grazil und schlank erinnert sie nicht an die Spitalangestellte, die sich abrackert. Jetzt sind sie da... endlich!... von dort gekommen, wo sie in der Realität beinahe nicht existieren, hierhin, denn sie werden... was werden sie, wie werden sie sein in dieser eingebildeten Welt? Sie gehen nach unten, unter dem Gewölbe der Familienpension... aus einer großen Blech­büchse riecht es intensiv nach Bohnerwachs. Oh, wie er sich fühlt... wie eine Person, die er von weitem beneidet, weil ihr alles wie geschmiert läuft... wie ein Junge, den Gewohnheiten und Überraschungen, die in seinem Alter selbst noch jugendlich sind, vor der Tür erwarten... Welch ein vortreffliches Gefühl von Zeit- und Grenzenlosigkeit! Wie auf dem Gipfel eines Berges, dessen Aussicht noch niemand bewundert hat.

Auf der Straße: Stille wie Wasser im Krug... Sie sind ange­kommen... eine vergitterte Eingangstür in einer Reihe gleichförmiger Häuser... Über der Klingel: Sein Name und Meyer. Als er den Knopf drückt, beginnt die Tür zu summen. Wie jeder, der neugierig ist, wo sein Geschwister lebt, das man so viele Jahre nicht mehr gesehen hat, schaut er sich in der weitläufigen Vorhalle um. Ein schwarzweißes Mosaik. Eine Drehtür. Die schmale, schwarze Tür des Liftes neben dem Treppenhaus. Der grüne Knopf unter dem geschliffenen Glas leuchtet wie ein Smaragd. Ein mit vier Bronzeschrauben befestigter Spiegel. Auf Augenhöhe: Die Schatten der Menschen, die an den Wänden lehnten. Unter den Sohlen: Ein Teppich, Gobelinmotiv, 17. Jahrhundert, ein Jagdhorn auf den Lippen eines Unbekann­ten, von Schuhen zertreten... Als sie aussteigen... links und rechts ein keimfreier Gang. Eine Reihe weißer Türen von Einzelzimmern oder Einzimmerwohnungen, klösterliche Stille, im Mund und in der Nase spürt er Bleiche und feines Desinfektionsmittel. Sie gehen von Tür zu Tür, vorsichtig, auf Zehenspitzen, dann wieder zurück zum schwarzen Lift, zum Treppengeländer, auf die linke Seite des Ganges, als sich hinter ihnen am Ende des ersten Teils eine Tür öffnet, Licht fällt auf die Wand. „Margrit!“ Sie eilen dorthin. Die Tür steht offen, zwischen den Türpfosten... im Flur... eine kleine, dicke, schwergewichtige Frau in schwarzem Pullo­ver, schwarzen Socken und schwarzem Rock... ein Fleisch­kloß... Was soll das, wer ist das? Die alte Hausmeisterin oder irgendeine Putzfrau?... Nach den Augen, den beinahe senkrechten Brauen...nach der mädchenhaften Frisur mit dem krausen, schulterlangen Haar und der schwarzen Schleife hinten... Ein runder Katzenkopf, ein fülliges viereckiges Gesicht. „Kumm doch yyne, Bubi...8 sagt es mit Margrits Stimme... Als er sie trotz dieser an Halluzination grenzenden Überraschung umarmen will, ruhig, auf keinen Fall zu hastig, weicht sie schnell aus und bleibt dicht an der Wand stehen. Weshalb? Er wird sie doch nicht anfallen... Er spürt, wie ein ungutes Gefühl in ihm aufsteigt bis hin zu den Lippen wie immer, wenn er das „verinnerlichte Innen seines Zuhause“ wittert. Er stellt ihr D. vor: Eine unacht­same mechanische Bewegung der Hände, als könnte sich Margrit die Finger verbrennen... einen Augenblick lang war er zum Zerreißen gespannt, wie seine Schwester die eroti­sche Partnerin ihres Bruders empfangen wird...Wahrschein­lich ist es bei Männern nicht anders, die sich am Liebhaber ihrer Schwester stören, wenn sie überrascht werden von einer auf den ersten Blick fremden, exotischen Erscheinung des eigenen langweiligen Geschlechts... Er stellt die Tüten auf den Boden aus künstlichem Linoleum, D. die Handta­sche auf den Tisch neben der Kommode, auf der ein Gasko­cher steht... wahrscheinlich will sie rasch eine familiäre Atmosphäre schaffen. Margrit, eigentlich Gritli, steht vor dem Zimmereingang und zeigt von dort auf den Kleiderstän­der hinter der Tür. Der rechenförmige Ständer biegt sich unter der Last abgetragener Kleider... Jacken, Schürzen, Faltenröcke... er findet kaum einen freien Haken für D.s Pelzmantel und seinen Kapuzenmantel. Dann macht Gritli eine einladende Geste.

Ein großes Zimmer: Ein ovales Sofa, von einer Decke verhüllt, die bis zum Boden reicht, ein Regal mit Büchern und eingerollten Notenblättern im Licht der Deckenlampe, das sich im Fenster widerspiegelt. An der Wand: Ein Klavier und ein runder Tisch mit Stühlen. Auf beiden Seiten Bilder und der Tür gegenüber ein weit offen stehendes Fenster. Er will sofort dorthin, will hinausschauen, doch der Anstand verbietet es. Margrit steht in der Mitte des Zimmers. „Sitze sy ab9.“ Eine hohe Stimme, als gehöre sie nicht diesem gewichtigen Leib an, diesem Katzengesicht... Hätte sie nicht den ihm lieben Dialekt gesprochen, er wäre nicht... D., ohne Mantel schmächtig und mager, setzt sich auf einen Stuhl in der Mitte des Zimmers... „Bisch ùff em Bahnhof gsii10?“ fragt er. Gritli dreht ihre plumpen Schultern zur Seite und sagt nichts. Er wendet sich an D.: „Gäll, der Zùùg hèt nit Verspeetig ghaa?11 D., als hätte sie plötzlich etwas verstan­den, schweigt. Eine Anspielung... Frauen müssen manchmal lügen, um nicht der Unaufrichtigkeit bezichtigt zu werden... Hastig nimmt sie die Sachen aus der Tüte: Bücher, Tischtü­cher, Platten, Gedeck, und stapelt sie auf dem Tisch, gleich­zeitig erklärt sie... Margrit legt eins nach dem andern unachtsam auf das Sofa oder das Klavier... der Spieldose lauscht sie wie einem Stück Holz... das Tischtuch lässt sie in seiner ganzen Buschigkeit zaghaft auf dem Tischrand liegen. Eine Leinwand auf der Staffelei, ein gerade begonne­nes Stillleben: Blumen in einer Vase... „Ych haa graad gmoolt, wo du vòm Hotel aaglytte hèsch.12 Zum ersten Mal lächelt sie verhalten, die porzellanenen Zähne werden sichtbar, die, wie es scheint, die echte Margrit zum Vorschein kommen lassen. „Wie isch s Zimmer im ‘Cecil’?“... „Guet.“... „Wänn er Thee?“ „Muesch nit13... Willst du Tee?“ übersetzt er D. aus Höflichkeit. So oder so, verflucht, er ist nicht um Gritlis willen hier, diesem Familienmonster, sondern wegen Basel. „Bitte schön“, sagt D., die sich noch ans Deutsch gewöhnt ist... und lächelt eines dieser Lächeln, das die Zähne freigibt, die an und für sich schon genug sagen. Als Gritli zum Kocher geht, erhebt er sich mit einem Ruck und steht schon am Fenster. „Schau!“ Tief unten gähnt die Grube einer aufgerissenen Tramstrecke. Sein Sehvermögen bereitet ihm Schwierigkeiten, Entfernung und Nähe sind vertauscht. Er zieht den Vorhang... dabei berührt er mit der Schläfe D.s Wangen, was für einen Augenblick wie ein Labsal wirkt. In der frühen Dämmerung zeichnet sich das Durcheinander der eisernen Spaghetti ab, die einzeln verlaufen und zusam­men­fließen, hin und her, braun und weiß. Man sieht sogar die Front des gläsernen SBB-Schuppens. Dem Fenster gegenüber, auf dem Scheitel des von Häusern verbauten Abhangs ragt ein breites Gebäude aus Stahl und Glas wie eine überdimensionierte Registrierkasse in die Höhe. Ihr gegenüber leuchten die anämischen, bleichrosa Lettern AG FARBSTOFF CHEMIE BASEL...

Gritli hantiert hinter dem Kocher mit den Knöpfen... mit Tassen, Tellern, Teebeuteln und Teelöffeln. Sie nimmt eins ums andere mit einer solchen Unsicherheit und geistigen Abwesenheit in die Hände, als müssten ihr die Gegenstände von selbst in die Hände gleiten oder als spüre sie eine Abneigung vor diesen harten und weichen Formen. Gleich wird ihr etwas zu Boden fallen, zum Beispiel die Zuckerdose, wenn sich diese nicht in einer hohen Etage ihres Bewusstseins an ihre Hand klammern wird oder Gritlis Muskeln nicht anfangen werden, sich zu regen. Vielleicht ist das eine Eigenschaft der ganzen Familie... alles eilig herunterschlingen, voller Ungeduld verbessern, sich rasch neuen Eindrücken zuwenden, verfrühte Entschlüsse fassen, verkrampfte Grimassen... Das rührt nicht her von der Launenhaftigkeit ungeduldiger Touristen des Lebens, vielmehr von einem tiefgründigen seelischen Zwang. Der Mensch will beispielsweise immer aufs Neue seine Schönheit und Wirklichkeit spüren... Hegemonien, Mysterien und Konventionen sterben in einem fort aus. so ist die Dynamik des Lebens, Narziss mag sein Äußeres nicht in stehendem Wasser betrachten, sondern in fließendem... In geistiger Abwesenheit verbrennt sich Gritli den Daumen, sie schüttelt ihn, steckt ihn in den Mund, saugt. Wenn er ihr jetzt zu Hilfe eilte, würde sie vor Wut aufschreien und ihn mit großen Augen anstarren. Mit Ausnahme des Jahres 52 in Kellerberg hat er bei ihr nie eine Deformation zu etwas mehr Menschlichem erreicht. Er beobachtet, wie ihr die Haarstränen über die Augen fallen, betrachtet ihre Wangen, den Hals. Die Nase: Klein wie die eines Säuglings, der kräftigen Lippen wegen sogar noch unscheinbarer, das herzförmige Kinn, das betont aus dem sackförmigen Doppelkinn herausragt.... die athletischen, plumpen Schultern... „Daasch Lindeblietethee14“, sagt sie. Da sind natürlich weder Blätter noch Blüten wie einst, als er ihn selbst von den Bäumen pflückte, sondern ein Säcklein mit gemahlenen Bröseln und einem kleinen Reklamekarton an einer Schnur. Er nimmt ihr den Krug aus den Händen und füllt die erste Tasse, dann die zweite... die dritte? „Ych dringg kai Thee15“, sagt sie und schüttelt den Kopf.„Waart, äs fäält no Zùgger.“ „Schò guet16“, sagt er mit gespielter Heiterkeit. In der Zuckerdose sind die Kristalle vom Kaffee zu braunen Klumpen verklebt... ekelhaft, wohin soll er sie nur schütten? Hinter der Tür erblickt er das Badezimmer, die Wanne, das Bidet und die Pfannen, die verschmutzt im Miniaturtrog des Waschbeckens lagern.