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Wirtschaft
neu
denken

Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie

Herausgegeben von

Till van Treeck
Janina Urban

Inhalt

Einleitung

Till van Treeck und Janina Urban

Der erstarrte Blick

Eine erkenntnistheoretische Kritik der Standardlehrbücher der Volkswirtschaftslehre

Rezensierte Bücher: Mankiw/Taylor und Samuelson/Nordhaus

Silja Graupe

Welches Menschenbild für die ökonomische Bildung?

Nicht-egoistisches Verhalten und soziale Vergleiche in der Haushaltstheorie

Rezensierte Bücher: Frank/Cartwright, Mankiw/Taylor und Samuelson/Nordhaus

Till van Treeck

Dichotomien, Inkonsistenz, merkwürdige Antiquiertheit

Mainstream-Mikro-Lehrbücher: Das Beispiel sozialer Institutionen

Rezensierte Bücher: Pindyck/Rubinfeld, Schumann/Meyer/Ströbele und Varian

Wolfram Elsner

Die Rolle des Gleichgewichtskonzepts in der mikroökonomischen Ausbildung

Rezensierte Bücher: Pindyck/Rubinfeld, Schumann/Meyer/Ströbele und Varian

Claudius Gräbner

Die Rolle des Optimierungskonzepts in den Standardlehrwerken der Mikroökonomik

Rezensierte Bücher: Pindyck/Rubinfeld, Schumann/Meyer/Ströbele und Varian

Torsten Heinrich

Mathematisch rationalisierte Ideologieproduktion statt Marktanalyse

Zur Kritik der Denkform der neoklassischen (Lehrbuch-)Mikroökonomik

Rezensiertes Buch: Pindyck/Rubinfeld

Frank Beckenbach

Das Ordnungsverständnis in wirtschaftspolitischen und theoriegeschichtlichen Lehrbüchern

Rezensierte Bücher: Blankart, Vahlens Kompendium und van Suntum

Roland Fritz und Nils Goldschmidt

Ein philosophischer Blick auf die Grundlagen internationaler Ökonomie

Rezensiertes Buch: Krugman/Obstfeld/Melitz

Jakob Kapeller

Volkswirtschaftslehre als Indoktrination und die (Nicht-)Auswirkungen der Finanzkrise

Rezensiertes Buch: Mankiw/Taylor

Helge Peukert

Der „große Zwiespalt“ zwischen Effizienz und Gerechtigkeit: Realität oder Ideologie?

Rezensierte Bücher: Mankiw/Taylor und Samuelson/Nordhaus

Till van Treeck

Die Wirkung eines Mindestlohns in Ökonomie-Lehrbüchern

Rezensierte Bücher: Franz und Cahuc/Carcillo/Zylberberg

Camille Logeay

Die Rolle von Gender in der Wirtschaft

Rezensierte Bücher: Samuelson/Nordhaus

Alyssa Schneebaum

Das weitgehende Verschwinden Marx’scher Ökonomie aus den Standardlehrbüchern der Volkswirtschaftslehre

Rezensierte Bücher: Mankiw/Taylor und Samuelson/Nordhaus

Johannes Jäger

Neoklassisches Paradigma in Standardlehrbüchern

Die fehlende Fundierung der Nachfrage nach Kapital und Arbeit und der Einkommensverteilung

Rezensierte Bücher: Blanchard/Illing, Felderer/Homburg, Mankiw und Samuelson/Nordhaus

Hansjörg Herr

Wie der Kredit wirklich in die Welt kommt

… und was die Standardlehrwerke der Volkswirtschaftslehre alles falsch machen

Rezensierte Bücher: Mankiw/Taylor und Krugman/Wells

Fabian Lindner

Fortgeschrittene Makroökonomie-Lehrbücher mit Tunnelblick

Über die Enge der DSGE-Modellwelt

Rezensierte Bücher: Walsh und Wickens

Sebastian Dullien

Bastard-Keynesianismus in einer „doktrinenbezogenen Darstellung des Stoffes“

Rezensiertes Buch: Felderer/Homburg

Eckhard Hein

Verkehrte Welt in Sachen Fiskalpolitik?

Offener Mainstream und dogmatische „Heterodoxie“ in Standardlehrbüchern der Volkswirtschaftslehre

Rezensierte Bücher: Blanchard/Illing, Blankart, Mankiw/Taylor, Samuelson/Nordhaus und van Suntum

Achim Truger

Hohepriester der Freihandelssekte

Internationaler Handel und Globalisierung in Standardlehrbüchern der Volkswirtschaftslehre

Rezensierte Bücher: Krugman/Obstfeld/Melitz, Mankiw/Taylor und Samuelson/Nordhaus

Achim Truger

Wechselkurstheorie in drei Standardlehrbüchern der Volkswirtschaftslehre

Rezensierte Bücher: Krugman/Obstfeld/Melitz, Blanchard/Illing und Mankiw/Taylor

Jan Priewe

Kurzbiografien

Impressum

Einleitung

Till van Treeck und Janina Urban

Im November 2011 verließen Dutzende Studierende der Harvard Universität die Einführungsvorlesung des dort lehrenden Professors N. Gregory Mankiw aus Protest gegen die aus ihrer Sicht politisch gefärbte Darstellung ökonomischer Zusammenhänge durch den Dozenten. Die Studierenden kritisierten, dass Mankiws Lehre in Harvard von einer inakzeptablen weltanschaulichen Einseitigkeit geprägt sei, welche die große ökonomische Ungleichheit der heutigen Gesellschaft mit befördere. Für besondere Schlagzeilen sorgte dieser Studierendenprotest nicht nur wegen der herausgehobenen Stellung der Harvard Universität im internationalen Wissenschaftsbetrieb, sondern auch weil Gregory Mankiw Autor eines Einführungslehrbuchs ist, dessen enormer Einfluss auf die universitäre Ausbildung in der Volkswirtschaftslehre (VWL) längst globales Ausmaß erreicht hat. Für besonders kritikwürdig hielten die Studierenden auch, dass alternative wirtschaftswissenschaftliche Ansätze in der Lehre praktisch nicht vorkommen (Harvard Political Review 2011).

Die im vorliegenden Sammelband vereinten Rezensionen zeigen, dass die Kritik der Harvard-Studierenden in großen Teilen durchaus berechtigt ist, und zwar nicht nur im konkreten Fall des Lehrbuchs von Gregory Mankiw, sondern ebenfalls in Bezug auf eine Vielzahl einflussreicher Standardlehrwerke der Volkswirtschaftslehre.

Im deutlichen Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften wie der Soziologie oder der Politikwissenschaft ist die volkswirtschaftliche Hochschulausbildung heutzutage von einer starken paradigmatischen Vereinheitlichung der Lehrinhalte geprägt. In vielen Lehrbüchern geht es nicht darum, konkurrierende Paradigmen mit unterschiedlichen Perspektiven auf wirtschaftliche Zusammenhänge zu würdigen, sondern den Leserinnen und Lesern wird suggeriert, es gebe eine einheitliche ökonomische Denkweise, eine allgemein gültige ökonomische Methode, die auf alle wirtschaftswissenschaftlichen – und prinzipiell alle sozialwissenschaftlichen – Themenbereiche gleichermaßen angewendet werden kann und sollte.

Der Mangel an Pluralismus in vielen VWL-Lehrbüchern ist dabei nicht durch die Notwendigkeit der didaktischen Verkürzung zu erklären. In den Rezensionen dieses Sammelbandes wird deutlich, dass in den Lehrbüchern grundlegende Debatten der Disziplin verschwiegen werden, mathematisch und wissenschaftstheoretisch kritikwürdige Analysen als unumstößliche Wahrheiten dargestellt werden und ideengeschichtlich relevante sowie aktuelle theoretische Kontroversen allenfalls am Rande Erwähnung finden. Obwohl viele Lehrbuchautor_innen betonen, dass die Ökonomik nur beschreibe und normative Urteile von der Politik zu fällen seien, äußern sie sich häufig politisch parteiisch, zum Beispiel wenn es um Themen wie Freihandel, Umverteilung oder die Ausrichtung der Steuer- und Finanzpolitik geht.

Spätestens mit den Finanz- und Wirtschaftskrisen des vergangenen Jahrzehnts ist jedoch vielerorts die Einsicht gewachsen, dass die Aufgabe volkswirtschaftlicher Lehrbücher nicht darin bestehen kann, die Denkmuster der neoklassischen Grundmodelle zu reproduzieren und daraus einfache marktliberale Politikempfehlungen abzuleiten. Gerade die aktuellen wirtschaftlichen Herausforderungen – von der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/8 und der Eurokrise seit 2010 über die steigende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen bis zur wachsenden Umweltzerstörung – erfordern neues ökonomisches Denken sowie theoretischen und methodischen Pluralismus.

Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes versuchen daher, nicht nur blinde Flecken der Lehrbuchökonomie offenzulegen, sondern auch Hinweise auf alte und neue Ansätze jenseits der aktuellen Standardlehrinhalte zu geben. Wir hoffen, dass der Sammelband damit eine wertvolle Ergänzung für die rasant wachsende Zahl an Studierenden darstellt, die sich mehr theoretischen Pluralismus und mehr methodische wie weltanschauliche Offenheit in der volkswirtschaftlichen Lehre wünschen.

Zur besonderen Rolle von Lehrbüchern in der Volkswirtschaftslehre

Kein anderes Medium steht in der Wissenschaft stärker für den Anspruch gesicherten Wissens als das Lehrbuch. Doch wie sollte eine Disziplin wie die Volkswirtschaftslehre mit der Tatsache umgehen, dass wirtschaftliche Zusammenhänge seit jeher komplex, kontrovers und konfliktreich sind und daher jeder Versuch der Kanonisierung von Wissen in hohem Maße umstritten sein dürfte? Erstaunlicherweise lassen sich bei volkswirtschaftlichen Lehrbüchern starke Vereinheitlichungstendenzen feststellen, welche erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzten. Der berühmte Ausspruch des US-amerikanischen Ökonomie-Nobelpreisträgers und Lehrbuchautors Paul A. Samuelson, „Es ist mir egal, wer die Gesetze einer Nation schreibt – solange ich ihre Volkswirtschaftslehrbücher schreiben kann!“, gilt daher bis heute als symptomatisch für den gewachsenen gesellschaftlichen Einfluss von Ökonom_innen und ihren wissenschaftlichen Konzepten.

Tatsächlich spielte das von Samuelson verfasste, 1948 erstmals erschienene Lehrbuch „Economics“ eine entscheidende Rolle für die weltweite Kanonisierung der volkswirtschaftlichen Lehre. Es wurde in insgesamt 19 Auflagen millionenfach verkauft und in 41 Sprachen übersetzt (Skousen 1997, S. 137). Die verschiedenen Auflagen von Samuelsons „Economics“ zeigen dabei deutlich die Tendenz zur Vereinheitlichung an: In der vierten Auflage von 1958 wird ein Stammbaum des ökonomischen Denkens im 20. Jahrhundert dargestellt, der sich in die zwei Richtungen aufspaltet, „Marxistisch-Leninistischer Sozialismus“ und „Neo-klassische Synthese nach Marshall und Keynes“. Nach einer stärkeren Differenzierung in Auflagen aus den 1970er Jahren, in denen Ausführungen zur libertären Chicago-Schule, zur Makroökonomik der rationalen Erwartungen, zum Institutionalismus, zur Neuen Linken und den Radicals vorkommen, fasst Samuelson 1992 die meisten Denkrichtungen unter „Moderne Mainstream Ökonomik“ zusammen und dünnt seine Darstellungen anderer Paradigmen zunehmend aus (Skousen 1997, S. 146–148).

Angespornt vom überwältigenden kommerziellen Erfolg von Samuelsons „Economics“, beginnen die großen US-amerikanischen Verlage frühzeitig, nach „dem neuen Samuelson“ zu suchen. Im Jahr 1995 zieht N. Gregory Mankiw, damals 37-jähriger Professor an der Harvard Universität, das glückliche Los: Er soll für sein Projekt eines neuen Standard-Lehrbuchs vom Harcourt Brace Verlag einen Vorschuss von 1,4 Millionen US-Dollar erhalten haben (Nasar 1995). In der Tat wird Mankiws Buch zum neuen internationalen Bestseller und erfährt vielfach Lob für die lockere und verständliche Sprache, mit der es Ökonomie erklärt (etwa The Economist 1997). Allerdings erweckt er in seinem Buch unter anderem mit seinen „zehn volkswirtschaftlichen Regeln“ und anhand von trivialisierenden, realweltlichen Beispielen noch deutlicher als Samuelson den Anschein, dass es eine einzige Art und Weise gebe, wie Ökonom_innen denken. Wie mehrere Rezensionen im vorliegenden Band zeigen, kommt Mankiws Darstellung der Volkswirtschaftslehre praktisch ohne Bezüge auf konkurrierende Paradigmen aus. Die Diskrepanz zwischen seinem wissenschaftlichen Anspruch (die VWL geht „leidenschaftslos“ wie eine Naturwissenschaft zu Werke, vgl. Mankiw 2016, S. 22) und seiner offensichtlichen politischen Mission („Je gerechter der Kuchen verteilt wird, umso kleiner wird er. Dies ist die einzige Lektion zur Einkommensverteilung, der fast jeder zustimmt.“, vgl. Mankiw 2016, S. 574, auch S. 4) wirkt dabei bisweilen geradezu komisch.

Überlegenheit der Ökonom_innen?

Viele Ökonom_innen sind überzeugt, dass ihre Disziplin die wissenschaftlichste unter den Sozialwissenschaften ist, und sehen hierin zugleich ihren gesteigerten politischen Gestaltungsanspruch legitimiert. Wie Marion Fourcade, Etienne Ollion und Yann Algan in ihrem viel beachteten Aufsatz zur „Superiority of Economists“ zeigen, zeichnen sich US-amerikanische Ökonom_innen im Vergleich zu anderen Sozialwissenschaftler_innen durch ein erhöhtes Selbstbewusstsein, eine starke disziplinäre Abgrenzung, stark hierarchisch geprägte Strukturen im Wissenschaftssystem, einen hohen Männeranteil, hohe individuelle Einkommen sowie privilegierte Kontakte in die Politik und in die Finanzbranche aus (Fourcade et al. 2015, S. 89 ff.).

Ein weiterer Bestandteil der deklarierten Überlegenheit der Ökonomik besteht in der zunehmenden Anwendung neoklassischer Standardkonzepte auf alle Lebensbereiche (Fourcade et al. 2015, S. 94–95), von Gesundheit über Familie und Umwelt bis zur Bildung. Als problematisch an diesem „ökonomischem Imperialismus“ (Lazear 2000) können sowohl die begrenzte wissenschaftstheoretische und gesellschaftliche Reflexion dieser Entwicklung von Seiten der Ökonom_innen als auch die sukzessive Zurückdrängung anderer sozialwissenschaftlicher Analysen in Bezug auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Themenkomplexe betrachtet werden.

Zugleich muss stark bezweifelt werden, dass die Wirtschaftswissenschaften dem von vielen ihrer Vertreter_innen formulierten quasi-naturwissenschaftlichen Anspruch gerecht werden. Wie eine Befragung US-amerikanischer Ökonom_innen durch Jonathan Haidt und Anthony Randazzo zeigt, lassen sich die Aussagen von Ökonom_innen zu empirischen Fragestellungen (zum Beispiel: Hat das aktuelle Niveau der Einkommensungleichheit in den USA einen negativen Effekt auf das Wirtschaftswachstum?) auf Basis ihrer Zustimmung zu moralischen Werturteilen in Bezug auf nicht-ökonomische Fragen (zum Beispiel: Mitgefühl mit Menschen, die leiden, ist der wichtigste moralische Wert) prognostizieren (Randazzo/Haidt 2015). Etwas mehr Bescheidenheit, gerade bei dem Versuch, wirtschafts- und sozialpolitische Fragestellungen auf Lehrbuchniveau zu bewerten, täte den Ökonom_innen vor diesem Hintergrund sicherlich gut.

Eine aktuelle Studie von Christian Grimm, Jakob Kapeller und Stephan Pühringer deutet darauf hin, dass Ökonom_innen im deutschsprachigen Raum vor allem in wirtschaftsliberalen Institutionen und Initiativen Einfluss auf die Politik nehmen (Grimm et al. 2017). Als besonders eklatantes Beispiel für eine scheinbar wissenschaftlich objektive, tatsächlich aber eindeutig weltanschaulich motivierte gesellschaftliche Einflussnahme deutscher Ökonom_innen ist in diesem Zusammenhang der „Hamburger Appell“ zu nennen, der im Jahr 2005 vom späteren Gründer der Alternative für Deutschland (AfD) Bernd Lucke maßgeblich mitinitiiert und von rund 250 deutschen Wirtschaftswissenschaftler_innen, darunter viele in Politik und Medien einflussreiche Professor_innen, unterzeichnet wurde. Der Hamburger Appell beginnt mit den folgenden Zeilen:

„Die wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland wird verstärkt von Vorstellungen geprägt, die einen erschreckenden Mangel an ökonomischem Sachverstand erkennen lassen. Dies ist um so besorgniserregender, als Deutschland sich in einer tiefen, strukturellen Krise befindet, die drastische und schmerzhafte Reformen verlangt. Gerade in Vorwahlkampfzeiten scheint die Bereitschaft gering, diese Tatsache den Bürgern mit der gebotenen Deutlichkeit vor Augen zu führen.“ (Funke u.a. 2005, S. 1)

In den darauf folgenden Ausführungen wird dreierlei sehr deutlich: erstens ein problematisches Wissenschaftsverständnis der Unterzeichner_innen, da stark normativ geprägte Urteile als scheinbar objektive wissenschaftliche Gewissheiten dargestellt werden; zweitens das Unterschlagen von wissenschaftlichen Kontroversen innerhalb der Wirtschaftswissenschaften zugunsten einer sehr einseitigen Interpretation der vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz; drittens eine geradezu martialische Rhetorik in Bezug auf die geforderten einschneidenden sozial- und wirtschaftspolitischen Reformen. Neben einigen radikalen Ansichten was etwa die Notwendigkeit von Lohnsenkungen betrifft („Die unangenehme Wahrheit besteht deshalb darin, dass eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage nur durch niedrigere Entlohnung der ohnehin schon Geringverdienenden […] möglich sein wird.“) oder die Wirksamkeit von Fiskalpolitik („Jede Ausdehnung der Staatsverschuldung schwächt die Binnenkonjunktur.“), wird der „Ruf nach verbesserter Mittelausstattung im Bildungswesen“ mit Verweis auf eine bestimmte Auslegung bürgerlicher Werte zurückgewiesen: „Dabei wird oft übersehen, dass große Fortschritte allein durch vermehrten Ansporn zu Fleiß, Wissbegier und strenger Leistungsorientierung erzielt werden könnten.“ (Funke u.a. 2005, S. 2)

Man kann nur hoffen, dass die Unterzeichner_innen des Hamburger Appells in ihren Lehrveranstaltungen wissenschaftliche Kontroversen stärker würdigen und den normativen Charakter ihrer Überlegungen transparenter machen.

Die Pluralismus-Forderungen

Neben den Harvard-Studierenden äußerte die internationale Studierendeninitiative ISIPE (International Students Initiative for Pluralism in Economics) mit mittlerweile über 100 Gruppen in 35 Ländern im Jahr 2014 Kritik an der Einseitigkeit der ökonomischen Lehre an den Universitäten. Ihre Forderungen lauten im Einzelnen (ISIPE 2014):

Theoretischer Pluralismus. Neben neoklassischer Ökonomik sollen auch evolutorische, feministische, institutionelle, Komplexitäts-, keynesianische, Marx’sche, ökologische, österreichische und Verhaltens-Ökonomik gelehrt werden.

Methodischer Pluralismus. Methoden quantitativer und qualitativer Forschung sollen in der Lehre Berücksichtigung finden.

Interdisziplinarität. Methoden und Inhalte aus anderen Disziplinen wie der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Psychologie oder der Biologie sollen stärkere Berücksichtigung finden.

Das deutschsprachige Netzwerk Plurale Ökonomik e.V. fügt diesen Forderungen noch Selbstreflexion und historische Fundierung als Voraussetzungen für ein pluralistisches Ökonomik-Studium hinzu (Netzwerk Plurale Ökonomik 2016).

Eine Umfrage unter Mitgliedern des Vereins für Socialpolitik, der größten deutschsprachigen Ökonomenvereinigung, zeigt, dass immerhin über 45 Prozent der teilnehmenden Ökonom_innen der VWL eine Legitimationskrise attestieren und sich offen gegenüber den Forderungen des internationalen Studierenden-Aufrufes zeigen (57 Prozent). Erstaunlicherweise scheint diese Haltung aber bei jüngeren Ökonom_innen schwächer ausgeprägt zu sein als bei älteren (Fricke 2017). Gleichzeitig setzt sich die Mainstreamorientierung in Forschung und Lehre offenbar fort. So zeigen Grimm et al., dass VWL-Professor_innen im deutschsprachigen Raum mit ihrer Forschung zu 76 Prozent dem Mainstream, immerhin zu knapp 17 Prozent dem pluralistisch-distanzierten Mainstream („Colanders Edge“, vgl. Colander et al. 2004), aber nur zu 3 Prozent der Heterodoxie (Sonstige: 4 Prozent) zugeordnet werden können. Eine Studie von Frank Beckenbach, Maria Daskalakis und David Hofmann bestätigt, dass Pluralismus in der Lehre selten praktiziert wird und wiederum jüngere Dozent_innen ein noch geringeres Bewusstsein für die Existenz konkurrierender ökonomischer Paradigmen aufweisen als ältere (Beckenbach et al. 2016).

Klar ist aber, dass die Pluralismus-Forderungen aus der akademischen sowie aus der wissenschafts- und bildungspolitischen Debatte mittlerweile nicht mehr wegzudenken sind und bis auf weiteres nicht verschwinden werden. Längst werden sie von verschiedensten Forschungs-, Bildungs- und Politikberatungseinrichtungen im In- und Ausland aufgegriffen und gefördert.

Lehrbücher in anderen Sozialwissenschaften

Dass eine paradigmatische und methodische Vielfalt in den Sozialwissenschaften möglich ist und zum Selbstverständnis der meisten Disziplinen dazugehört, offenbart ein Blick in die gängigen Lehrbücher der Soziologie und Politikwissenschaft, wie beispielsweise „Soziologische Theorie“ von Richard Münch (Münch 2004a,b,c) oder „The Globalization of World Politics: An Introduction to International Relations“ von John Baylis, Steve Smith und Patricia Owens (Baylis et al. 2013). Richard Münch beginnt seine drei Bände mit einer dogmengeschichtlichen Darstellung der europäischen Denktraditionen. In den darauf folgenden Bänden stellt er rund zehn aktuelle sozialwissenschaftliche Theorieansätze vor, wie die Strukturtheorie, die Rational-Wahl-Theorie oder die Konflikttheorie mit den jeweils als zentral erachteten Denker_innen (vgl. Münch 2004a,b,c). Baylis et al. (2013) führen in unterschiedliche Paradigmen wie den Realismus, Liberalismus, Marxismus oder Konstruktivismus sowie Weiterentwicklungen und thematische Spezialisierungen ein. Auch in methodisch orientierten Lehrwerken der Sozialwissenschaft, zum Beispiel „Methoden der empirischen Sozialforschung“ von Rainer Schnell, Paul Hill und Elke Esser (Schnell et al. 2011), wird neben der historischen Entwicklung des Fachs ebenfalls seine wissenschaftstheoretische Fundierung reflektiert.

Lehrbücher mit vergleichbar pluralistischem Konzept bei ähnlichem Verbreitungsgrad existieren in der Ökonomik kaum. Im deutschsprachigen Raum haben sich in den letzten Jahren allerdings einige alternative Lehrbücher hervorgetan, wie zum Beispiel die paradigmenorientierten Einführungen in die Ökonomik von Johannes Jäger und Elisabeth Springler (2012), Michael Heine und Hansjörg Herr (2012, in der 4. Auflage) oder Wolfram Elsner, Torsten Heinrich und Henning Schwardt (2015).

Auswahl der in diesem Sammelband rezensierten Bücher

Die Auswahl der rezensierten Bücher im vorliegenden Band basiert zum einen auf der Auflagenzahl allgemein bekannter Lehrwerke sowie zum anderen auf einer Umfrage der Online-Lern- und Karriereplattform wiwi-online. de, in der 189 Professor_innen die aus ihrer Sicht wichtigsten Lehrwerke der VWL angegeben haben (wiwi-online.de 2015). Neben den bereits erwähnten Büchern von Paul. A. Samuelson (in späteren Auflagen gemeinsam mit William D. Nordhaus) und N. Gregory Mankiw (in späteren Auflagen gemeinsam mit Mark P. Taylor) sind im mikroökonomischen Bereich die Werke der US-amerikanischen Autoren Robert S. Pindyck und Daniel L. Rubinfeld (Microeconomics/Mikroökonomie) und Hal R. Varian (Intermediate Microeconomics/Grundzüge der Mikroökonomik) weit verbreitet. Im Bereich der Makroökonomik gelten die Bücher der US-amerikanischen Ökonomen Paul Krugman, Maurice Obstfeld und Marc Melitz (International Economics/Internationale Wirtschaft) sowie des französischen Ökonomen Olivier Blanchard (Macroeconomics/Makroökonomie, in der deutschen Übersetzung gemeinsam mit dem deutschen Ökonomen Gerhard Illing) als Klassiker. Etwas weniger, allerdings ebenfalls weit verbreitet sind die deutschsprachigen Lehrbücher von Jochen Schumann, Ulrich Meyer und Wolfgang Ströbele (Grundzüge der mikroökonomischen Theorie), von Bernhard Felderer und Stefan Homburg (Makroökonomik und Neue Makroökonomik), von Ulrich van Suntum (Die unsichtbare Hand) und von Charles Blankart (Öffentliche Finanzen in der Demokratie) sowie der Sammelband „Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik“. Standardwerke zu spezifischen Themengebieten sind für die Verhaltensökonomik das Lehrbuch von Robert H. Frank (Microeconomics and Behaviour, in der europäischen Auflage gemeinsam mit Edward Cartwright), für die Arbeitsmarktökonomik die Lehrbücher von Wolfgang Franz (Arbeitsmarktökonomik) und den Autoren Pierre Cahuc, Stéphane Carcillo und André Zylberberg (Labor Economics) sowie für die fortgeschrittene Makroökonomik die Lehrbücher von Michael Wickens (Macroeconomic Theory) und von Carl Walsh (Monetary Theory and Policy).

Die Rezensentinnen und Rezensenten sind in erster Linie Ökonom_innen aus dem deutschsprachigen Raum, die sich für Pluralismus in der Lehre stark machen. Sie haben die Standardlehrwerke mit bestimmten thematischen Schwerpunktsetzungen rezensiert.

Die Idee für diesen Sammelband ist im Rahmen eines Dialogforums des Themenbereichs „Neues ökonomisches Denken“ des Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) entstanden. Wir danken dem FGW für die finanzielle Unterstützung dieses Bandes. Alle Rezensionen und der gesamte Band stehen unter einer Creative-Commons-Lizenz: CC BY-ND 3.0 DE.

Literatur

Baylis, J./Smith, S./Owens, P. (2013): The Globalization of World Politics – An Introduction to International Relations, 6. Auflage, Oxford: Oxford University Press.

Colander, D./Holt, R./Rosser, B. (2004): The Changing Face of Mainstream Economics. In: Review of Political Economy, 16, Nr. 4, S. 485–499.

Beckenbach, F./Daskalakis, M./Hofmann, D. (2016): Zur Pluralität der volkswirtschaftlichen Lehre in Deutschland – Eine empirische Untersuchung des Lehrangebotes und der Einstellung der Lehrenden, Marburg: Metropolis.

Elsner, W./Heinrich, T./Schwardt, H. (2015): The Microeconomics of Complex Economies. Evolutionary, Institutional, Neoclassical, and Complexitry Perspectives, Oxford: Elsevier.

Fourcade, M./Ollion, E./Algan, Y. (2015): The Superiority of Economists. In: Journal of Economic Perspectives 29, Nr. 1, S. 89–114.

Fricke, T. (2017): Altes Einheitsdenken oder neue Vielfalt? Eine systematische Auswertung der großen Umfragen unter Deutschlands Wirtschaftswissenschaftler_innen, Düsseldorf: FGW-Studien.

Funke, M./Lucke, B./Straubhaar, T. (2005): Hamburger Appell, Hamburg: Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut, http://www.hwwi.org/uploads/tx_wilpubdb/Hamburger_Appell.pdf (Zugriff: 20. Sept. 2016).

Grimm, C./Kapeller, J./Pühringer, S. (2017): Zum Profil der deutschsprachigen Volkswirtschaftslehre – Paradigmatische Ausrichtung und politische Orientierung deutschsprachiger Ökonom_innen, Düsseldorf: FGW-Studien.

Harvard Political Review (2011): An Open Letter to Greg Mankiw, 02.11.2011, http://harvardpolitics.com/harvard/an-open-letter-to-gregmankiw/ (Zugriff: 13. Juli 2016).

Heine, M./Herr, H. (2012): Volkswirtschaftslehre. Paradigmenorientierte Einführung in die Mikro und Makroökonomie, 4. Auflage, München: Oldenbourg.

ISIPE (2014): Open Letter of the International Students Initiative for Pluralism in Economics, http://www.isipe.net/open-letter/ (Zugriff: 22. Juli 2016).

Jäger, J./Springler E. (2012): Ökonomie der internationalen Entwicklung: Eine kritische Einführung in die Volkswirtschaftslehre, Wien: Mandelbaum.

Lazear, E.P. (2000): Economic Imperialism. In: The Quarterly Journal of Economics 115, Nr. 1, S. 99–146.

Mankiw, N.G./Taylor, M.P. (2016): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 6. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

Münch, R. (2004a): Soziologische Theorie. Band 1: Grundlegung durch die Klassiker, Frankfurt: Campus.

Münch, R. (2004b): Soziologische Theorie. Band 2: Handlungstheorie, Frankfurt: Campus.

Münch, R. (2004c): Soziologische Theorie. Band 3: Gesellschaftstheorie, Frankfurt: Campus.

Nasar, Sylvia (1995): A hard Act to Follow? Here Goes, New York Times 14.03.1995, http://www.nytimes.com/1995/03/14/business/a-hard-act-to-follow-here-goes.html?pagewanted=all (Zugriff: 14. Juli 2016).

Netzwerk Plurale Ökonomik (2016): Netzwerk-Plurale-Ökonomik-Flyer, zu bestellen unter info@plurale-oekonomik.de.

Randazzo, A./Haidt, J. (2015): Are Economists Influenced by Their Moral Worldviews? Evidence from the Moral Foundations of Economists Questionnaire, http://ssrn.com/abstract=2700889 oder http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2700889 (Zugriff: 20. Sept. 2016).

Schnell, R./Hill, P.B/Esser, E. (2011): Methoden der empirischen Sozialforschung, 9. Auflage, München: Oldenbourg.

Skousen, M. (1997): The Perseverance of Paul Samuelson’s Economics. In: Journal of Economic Perspectives 11, Nr. 2, S. 137–152.

The Economist (1997): Play it Again, Samuelson, http://www.economist.com/node/154859 (Zugriff: 14. Juli 2016).

Wiwi-online.de (2015): Top 20 der VWL, http://www.wiwi-online.de/start.php?a_title=325 (Zugriff: 27. Juli 2016).

Der erstarrte Blick

Eine erkenntnistheoretische Kritik der Standardlehrbücher der Volkswirtschaftslehre

Silja Graupe

Rezensierte Bücher:

Mankiw, N.G. (2001): Principles of Economics, 2. Auflage, Boston: Cengage Learning, 493 Seiten. Im Folgenden zitiert als GM.

Mankiw, N.G./Taylor, M. (2008): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1013 Seiten. Im Folgenden zitiert als MTa.

Mankiw, N.G./Taylor, M. (2012): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 5. Auflage, Stuttgart: Schäffer-Poeschel, 1133 Seiten. Im Folgenden zitiert als MTb.

Samuelson, P. (1955): Volkswirtschaftslehre, 2. Auflage, Köln: Bund-Verlag, 809 Seiten. Im Folgenden zitiert als PS.

Samuelson, P./Nordhaus, W.D. (2009): Economics, 19. Auflage, New York: McGraw-Hill, 715 Seiten. Im Folgenden zitiert als SNa.

Samuelson, P./Nordhaus, W.D. (2010): Volkswirtschaftslehre, 4. Auflage, München: mi-Wirtschaftsbuch, FinanzBuch Verlag, 1104 Seiten. Im Folgenden zitiert als SNb.

Hinführung

Spätestens seit dem Ausbruch der anhaltenden Wirtschafts-, Währungs-, Finanz- und Schuldenkrisen in den Jahren 2008 und 2009 mehren sich weltweit die Zweifel von Studierenden an der Volkswirtschaftslehre (VWL): Diese sei in extremem Maße einseitig, weltfremd und indoktriniere zudem (vgl. etwa ISIPE 2014). Die Kritik richtet sich gegen ein weltweites Phänomen. Denn in den letzten Jahrzehnten ist die Volkswirtschaftslehre an Hochschulen (und zunehmend auch an Schulen) in einem Maße standardisiert worden, das für die Sozialwissenschaften einmalig ist. Von Südafrika bis Norwegen, von Japan bis Kanada: Überall ähneln sich Form und Inhalt der ökonomischen Lehre. Die ökonomische Bildung gleicht global in zunehmendem Maße einer geistigen Monokultur (vgl. Graupe 2013, 2015).

Bei der Etablierung und Verbreitung dieser Monokultur spielen ökonomische Lehrbücher eine zentrale Rolle. In über vierzig Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft, bestimmen ihre Autor_innen und Verlage, was Studierende rund um die Welt unter „Ökonomie“ verstehen lernen. Sie sorgen dafür, dass „die Struktur wirtschaftswissenschaftlicher Abschlüsse nahezu identisch an allen […] Universitäten“ ist, wie etwa Untersuchungen für Großbritannien und die USA zeigen (Wigstrom 2010, S. 1).1

Besonders bedeutsam sind dabei zwei Werke: „Economics“ von Paul A. Samuelson (seit 1985 gemeinsam herausgegeben mit William D. Nordhaus) und „Principles of Economics“ von N. Gregory Mankiw. Samuelsons Lehrbuch, 1948 zum ersten Mal erschienen, gilt als das Standardwerk, an dem sich alle anderen heutigen Lehrbücher orientieren. Insbesondere die Mikroökonomik lässt sich als Gebiet ansehen, „auf dem der Sieg der frühen Pädagogik von Samuelson nahezu vollständig ist und in dem sich die Überzeugungen der Ökonomen am wenigsten gewandelt haben“ (Skousen 1997, S. 138). Mankiws „Principles of Economics“ hat sich in den letzten Jahren zum internationalen Bestseller entwickelt. Auch und gerade an deutschen Universitäten nimmt dieses Lehrbuch des ehemaligen Wirtschaftsberaters von George W. Bush eine zentrale Stellung ein.

Im Folgenden werde ich skizzieren, wie diese beiden Lehrbücher die Wahrnehmungs- und Erkenntnisweise von Menschen einseitig prägen und hierfür ein stark verkürztes Wissenschaftsverständnis vermitteln. Dabei wird deutlich, dass dies nicht allein ein Problem des akademischen Elfenbeinturms ist. Im Gegenteil hat es praktische Wirkungen. Denn wie wir die Welt wahrnehmen lernen, bestimmt auch darüber, welche Handlungsoptionen wir in unserem Alltag und als Staatsbürger erkennen und ausüben können.

Eine Neudefinition der Wirtschaftswissenschaften

Sowohl dem Lehrbuch von Samuelson/Nordhaus als auch dem von Mankiw liegen eine ganz bestimmte Definition von Wirtschaftswissenschaft zugrunde. Diese schließt die multiperspektivische Betrachtung wirtschaftlicher Phänomene von vornherein aus. Samuelson schreibt in der 2. Ausgabe seines Lehrbuchs von 1955:

„Es gibt weder eine Wirtschaftstheorie für Republikaner noch eine für Demokraten, noch eine für Arbeitnehmer oder für Arbeitgeber. Hinsichtlich der grundlegenden Preis- und Beschäftigungszusammenhänge bestehen denn auch unter den Nationalökonomen heutzutage keine nennenswerten Meinungsverschiedenheiten mehr.“ (PS, S. 6)

Mankiw beschreibt dies ähnlich: Zwar seien „gewisse Meinungsverschiedenheiten unter Ökonomen unvermeidlich. Doch sollte man das Ausmaß der Uneinigkeit nicht überbetonen. In vielen Fällen haben Ökonomen einen einmütigen Standpunkt.“ (MTb, S. 40) Doch lässt sich von einer solchen Einmütigkeit tatsächlich mit Berechtigung sprechen? Mankiws rhetorische Beeinflussung besteht hier darin, die Wirtschaftswissenschaft nicht mehr über ihren Gegenstandsbereich (die Wirtschaft) zu definieren, um diesen dann aus unterschiedlichen oder gar widerstreitenden Perspektiven zu analysieren. Samuelson/Nordhaus und Mankiw identifizieren die Wirtschaftswissenschaft vielmehr stillschweigend mit einer einzigen Perspektive, von der aus sich alles in der Welt auf ökonomische Weise in den Blick nehmen lassen soll. Wirtschaftswissenschaft zu betreiben, bedeutet in ihrem Sinne nicht, sich mit wirtschaftlichen Belangen aus Sicht verschiedener ökonomischer Schulen (der Neoklassik, des Keynesianismus, der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, des Marxismus etc.) zu beschäftigen, sondern sich von vornherein vornehmlich auf den Standpunkt einer dieser Schulen – vornehmlich der neoklassischen, gemischt mit keynesianischen Einflüssen – zu stellen und diesen als einzig wissenschaftlichen zu definieren.

Dies hat zumindest zweierlei Konsequenzen. Erstens: Da auf diese Weise fast alle ökonomischen Schulen beziehungsweise Strömungen per Definition als unwissenschaftlich gelten, scheint man ihnen in Lehrbüchern keinen Platz einräumen zu müssen. Zwar existieren unterschiedliche theoretische Ansichten über aktuelle Fragen der Wirtschaft, die dem von Samuelson/Nordhaus und Mankiw beschworenen „einmütigen Standpunkt“ fundamental entgegenstehen. Doch werden sie außerhalb der Grenzen des Wissenschaftlichen angesiedelt. So spricht Samuelson 1955 etwa im Hinblick auf Marx ausdrücklich von „einem schwarzen Schaf, das sich jenseits des Pferchs der klassischen Tradition stellte“ (PS, S. 12). Marx mag sich noch so offensichtlich mit Fragen der Wirtschaft beschäftigen, nach der Logik heutiger Lehrbücher zählt er nicht als Ökonom, eben weil er einen alternativen Standpunkt und damit eine andere Perspektive auf die Wirtschaft einnimmt. 2010 wird Marx bei Samuelson/Nordhaus noch nicht einmal mehr erwähnt, genauso ist es bei Mankiw.

Zweitens entgrenzt das spezifische Wissenschaftsverständnis der ökonomischen Lehrbücher den Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaft nahezu vollständig. Vereinfacht gesagt wirkt die Wirtschaftswissenschaft wie eine Brille, die im Laufe des Studiums allmählich die Wahrnehmungsfähigkeit von Studierenden beschränkt: Ist sie erst einmal fest vor deren geistigem Auge verankert, so müssen Studierende alles durch sie hindurch wahrnehmen. Ebenso wie durch die sprichwörtliche rosarote Brille alles rosarot wirkt, so erscheinen in den Lehrbüchern alles menschliche Handeln und alle gesellschaftlichen Bereiche auf spezifisch ökonomische Weise.2 Mankiw bringt dies in seinen „Vorbemerkungen für den Lehrenden“ unmissverständlich zum Ausdruck (MTa, S. VII):

„Volkswirte haben eine einzigartige Art und Weise die Welt zu betrachten, die man weitgehend in ein oder zwei Semestern erlernen kann. Mit dem vorliegenden Buch geht es mir darum, die volkswirtschaftliche Denkweise auf das größtmögliche Publikum zu übertragen und die Leser davon zu überzeugen, dass damit sehr Vieles aus der sie umgebenden Welt aufgehellt werden kann.“3

Samuelson und Nordhaus beschreiben den gleichen Sachverhalt folgendermaßen:

„Häufig erscheint uns die Ökonomie als eine endlose Abfolge immer neuer Rätsel, Probleme und Dilemmata. Doch es gibt, wie erfahrene Dozenten mittlerweile wissen, einige wenige Konzepte, die jedem wirtschaftlichen Geschehen zugrunde liegen. […] Wir haben daher beschlossen, uns auf die Kernthesen der Volkswirtschaftslehre zu konzentrieren – auf jene dauerhaften Wahrheiten, die im neuen Jahrhundert dieselbe Bedeutung haben werden wie im alten.“ (SNb, S. 10, Hervorhebung im Original)

Ökonomische Konzepte lassen sich wie „Werkzeuge des Denkens“ begreifen; sie geben unserer Wahrnehmung Richtung und Gestalt. Sie entscheiden darüber, was wir als wichtig und unwichtig erachten, oftmals bevor wir uns vor spezifische ökonomische Aufgaben gestellt sehen. Samuelson und Nordhaus postulieren, dass diese Werkzeuge des Denkens selbst einen Anspruch auf Wahrheit haben. Wer lernt, allein im Marktmodell zu denken, der wird in allen sozialen Beziehungen einen Markt erblicken. Nicht um die Darstellung objektiver Fakten geht es hier, sondern um die Beschränkung unserer Wahrnehmungsfähigkeit auf wenige, vermeintlich unveränderliche „Kernthesen“ (ebd.), die zur Lösung aller Probleme genutzt werden sollen.

„Die Beispiele und Anwendungen haben sich gewandelt, um sicherzustellen, dass es [Samuelsons Lehrbuch, Anm. der Autorin] in den Augen der Leser stets relevant und nützlich blieb. Der Kern der Theorie ist aber stets der gleiche geblieben.“ (Smith 2001, S. 6)

Ob Steuern, Mindestlöhne und Wohlfahrt (vgl. Mankiw 2001) oder Klimawandel und Emissionshandel (vgl. Samuelson/Nordhaus 2009): Sie alle dienen lediglich als reine Anwendungsbereiche einer im Vorhinein feststehenden ökonomischen Perspektive. Nicht aber sind sie dazu angelegt, die Grenzen dieser Perspektive zu erforschen oder Perspektivenwechsel angesichts konkreter Herausforderungen unserer Zeit vorzunehmen. Auf diese Weise fördern Samuelson/Nordhaus und Mankiw eine Standardisierung ökonomischer Erkenntnisfähigkeit, wie sie etwa auch der „Council for Economic Education“ in den Vereinigten Staaten fordert und an Schulen und Hochschulen gleichermaßen durchsetzt (vgl. etwa Siegfried et al. 2010).

Ökonomie als paradigmatische Lehrbuchwissenschaft

Weder Samuelson und Nordhaus noch Mankiw legen diese Standardisierung allerdings explizit offen, insbesondere nicht gegenüber den Studierenden. Im Gegenteil verwischt gerade Mankiw die Grenze zwischen realem Gegenstandsbereich einerseits und wissenschaftlicher Perspektive auf diesen Bereich oftmals bis zur Unkenntlichkeit. Die erkenntnistheoretisch wesentlichen Unterschiede zwischen Erkenntnisobjekt einerseits und Erkenntnisweise andererseits – zwischen wirtschaftlicher Wirklichkeit und Interpretation dieser Wirklichkeit – übergeht er. So erwähnt er zwar in seinen „Vorbemerkungen für den Lehrenden“ explizit, dass seine „zehn volkswirtschaftlichen Regeln“ das „Weltbild der Ökonomen“ darstellen, welches wiederum das erkenntnistheoretische „Fundament für den Großteil der volkswirtschaftlichen Analysen bilden“ soll (vgl. MTa, S. VIII). Doch gegenüber den Studierenden verschweigt er diese wesentliche Klarstellung. Allenfalls spricht er vage von „Leitvorstellungen“. Sodann präsentiert er diese aber so, als ob es sich um Abbilder realer Vorgänge handele. So lautet etwa seine „Regel Nr. 1“: „Alle Menschen stehen vor abzuwägenden Entscheidungen.“ (MTb, S. 4) Dass es sich hierbei um eine wissenschaftliche Hypothese über menschliches Verhalten handelt, erwähnt er ebenso wenig, wie er die Frage nach deren empirischer Überprüfbarkeit behandelt (siehe den Beitrag von Till van Treeck zum Menschenbild in diesem Band). Durch geschickt gewählte Beispiele4 leitet er das Denken dergestalt an, dass die Aufmerksamkeit auf einen hypothetischen Einzelfall gelenkt wird. Von diesem aus werden Studierende implizit verleitet, auf eine allgemeingültige Beschreibung von Wirklichkeit zu schließen.

Problematisch ist, dass Studierende nicht ermuntert werden, diesen Schluss zu reflektieren. Allgemeiner gesagt werden die Anweisungen der Lehrbücher, die das Denken zurichten und die Perspektive der Studierenden auf einen einzigen Standpunkt einzufrieren drohen, innerhalb dieser Lehrbücher selbst kaum konkret beschrieben. Thomas Kuhn, einer der bedeutendsten Wissenschaftstheoretiker des letzten Jahrhunderts, kennzeichnet dieses Phänomen wie folgt: Wissenschaften, die sich über eine einzige „wahre“ Weltsicht identifizieren, führen Studierende nicht in die genauen Definitionen ihrer Konzepte und Theorien ein; deren Inhalt und Bedeutung wird vielmehr allein „durch Beobachtung und Teilnahme an der Anwendung dieser Begriffe bei Problemlösungen“ vermittelt (Kuhn 1976, S. 61).

„Wissenschaftler […] lernen Begriffe, Gesetze und Theorien niemals in abstracto und an sich. Vielmehr begegnet man diesen geistigen Werkzeugen von Anfang an innerhalb eines historisch und pädagogisch vorgegebenen Komplexes, der sie mit ihren Anwendungen und durch diese darbietet.“ (ebd., S. 60)

Was Kuhn am Beispiel der modernen Naturwissenschaften Mitte des letzten Jahrhunderts beschreibt, lässt sich heute auf die ökonomischen Lehrbücher übertragen: Kaum eine Studierende wird nach der Lektüre von Samuelson/Nordhaus oder Mankiw genau sagen können, wie sie „den Markt“ denkt, welche „Denkwerkzeuge“ sie hierfür in Gebrauch nimmt und mit welcher Begründung sie dies tut. Gleichwohl wird sie dazu verleitet, durch immerwährende Wiederholungen, die die gleiche Art der Problemlösung in variierbarer Komplexität erfordern, stets im Preis-Mengen-Diagramm zu denken und Gleichgewichtsmengen und -preise zu bestimmen, unabhängig davon, um welche Aufgabenstellung es sich konkret handelt. Ob Fragen zu Eiscreme, Weizen, Öl, Benzin, Miete, Lohn, Stahl, Aluminium, Bildung, Boden oder Kapital – stets geben die Lehrbücher vor, sie mit Hilfe dieses Diagramms lösen zu können.5 Was hingegen niemals in Frage steht, ist die Existenz der zugrunde liegenden funktionalen Zusammenhänge selbst. Ob „Angebotskurve“, „Nachfragekurve“, „Gleichgewichtspreis“: Studierende lernen, mit diesen „Denkwerkzeugen“ über alles in der Welt nachzusinnen, ohne sie selbst zu reflektieren und das dahinter liegende System von Denkregeln und Voraussetzungen in Frage stellen zu können.

Nochmals mit Kuhn gesprochen handelt es sich bei der ökonomischen Lehrbuchwissenschaft damit um eine paradigmatische Wissenschaft, die die Regeln ihrer eigenen Erkenntnisweise nicht offenlegt und sie gerade deswegen unter der Schwelle der bewussten Wahrnehmung als einzig mögliche zu verabsolutieren und zu zementieren droht.

Die Kennzeichen paradigmatischer ökonomischer Lehrbücher

Anhand von vier Punkten lässt sich der paradigmatische Zug der ökonomischen Lehrbücher näher charakterisieren:

Erstens sind Lehrbücher wie die von Samuelson/Nordhaus und Mankiw von einer nahezu vollkommenen Geschichtsvergessenheit geprägt. Ein kurzer Blick in die ideengeschichtlichen und historischen Ursprünge etwa des Preis-Mengen-Diagramms genügt, um zu verstehen, dass es auf einer hochgradig abstrakten, bewusst weltfremden, da an der reinen Mathematik orientierten Theorie – eben der neoklassischen – basiert, die zumal zur Zeit ihrer Entstehung im ausgehenden 19. Jahrhundert stark umstritten war (vgl. etwa Mirowski 1989). Doch an keiner Stelle finden sich bei Samuelson/Nordhaus oder Mankiw Hinweise auf Primärquellen oder die entsprechende Fachliteratur. Wenn diese Autoren überhaupt von Geschichte reden, dann nur in dem Sinne, wie es Kuhn allgemein beschreibt, in Form gelegentlicher Hinweise auf die „großen Helden eines früheren Zeitalters“ (Kuhn 1976, S. 149):

„Teils durch Auslese und teils durch Verzerrung werden die Wissenschaftler früherer Zeitalter ausdrücklich so dargestellt, als hätten sie an der gleichen Reihe fixierter Probleme und in Übereinstimmung mit der gleichen Reihe fixierter Kanons gearbeitet.“

Auf diese Weise wird keine Geschichte des ökonomischen Denkens vermittelt, die Studierende ermuntern könnte, die Art und Weise, wie die Lehrbücher ihr Denken zu formen versuchen, aus historischer Perspektive in den Blick zu bekommen – geschweige denn die Vielfalt möglicher anderer Perspektiven.

Zweitens leiten die ökonomischen Lehrbücher nicht dazu an, sich mit konkreten Phänomenen der Wirtschaft so auseinanderzusetzen, dass die vermittelten Erkenntnisweisen an ihnen überprüft werden könnten. Wie bereits erwähnt, konstruieren die Lehrbuchautoren zumeist lediglich Fallbeispiele, die das Gesagte plausibel erscheinen lassen, aber letztlich reine Gedankenexperimente darstellen. Selten hingegen versetzen sie die Studierenden in die Lage, solche Experimente tatsächlich an empirischem Datenmaterial zu überprüfen. Auch befähigen sie Studierende nicht, eigene widersprechende Erfahrungen als Ausgangspunkt für ein kritisches Hinterfragen fruchtbar zu machen. Vielmehr wird ihr kritischer Alltagsverstand systematisch geringgeschätzt. So vermitteln Samuelson und Nordhaus im Abschnitt über den „Marktmechanismus“ den Eindruck, die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft müssten jedem untrainierten Geist als „überraschend“, „erstaunlich“ oder gar als „Wunder“ erscheinen, denn die Funktionsweise des Marktes sei ein „enormes Durcheinander“ (vgl. SNb, S. 56).

Drittens vertreten Samuelson/Nordhaus und Mankiw ein hochgradig abstraktes Wissenschaftsverständnis, ohne dessen inhärente Problematik offenzulegen. Bei Mankiw heißt es (MTb, S. 23–24):

„Ökonomen bemühen sich, ihr Gebiet mit wissenschaftlicher Objektivität zu behandeln. Sie betreiben die Erforschung der Volkswirtschaft in ziemlich derselben Weise, wie ein Physiker die Materie und ein Biologe das Leben untersucht: Sie entwerfen Theorien, sammeln Daten und versuchen dann aufgrund der Daten, ihre Theorien zu bestätigen oder zu verwerfen. […] Das Wesentliche einer Wissenschaft ist jedoch die wissenschaftliche Methode – die leidenschaftslose Entwicklung und Überprüfung von Theorien darüber, wie die Welt funktioniert.“

Tatsächlich erhebt die neoklassische Theorie den Anspruch, eine Wirtschaftswissenschaft nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften zu sein. Wie diese erklärt sie die reine Mathematik zu ihrem Vorbild: Es geht ihr gerade nicht um eine immer genauere Beobachtung der Natur, sondern darum, ihre Theorien zunächst in einem Reich rein abstrakten Denkens – eben der reinen Mathematik – zu entwerfen, bevor sie diese in Bezug zur Wirklichkeit setzt. Erkenntnis soll hier a priorisch, das heißt, unabhängig von aller menschlichen Erfahrung konstruiert werden. Ob Nutzenmaximierung, Marktgleichgewicht oder Preismechanismus: Ihnen allen liegt der Versuch zugrunde, abstrakte Formeln der Physik auf die soziale Welt zu übertragen. Mit konkreten Beobachtungen wirtschaftlicher Phänomene hat ihre Entwicklung hingegen nichts zu tun. Aber diesen wichtigen Punkt verschweigen die ökonomischen Lehrbücher. Warum „Diagramme und Kurven […] als Werkzeuge für den Ökonomen genauso wichtig wie Hammer und Säge für den Zimmermann“ sein sollen (vgl. SNb, S. 45), darüber sagen die Lehrbuchautoren nichts. Studierende sollen sich diese abstrakten Werkzeuge aneignen und auf diese Weise „leidenschaftslos“ werden, ohne über deren hohen Abstraktionsgrad etwas zu erfahren oder ihn gar begründen zu lernen.

Viertens lernen Studierende nur einen geringen Ausschnitt wissenschaftlicher Praktik. Bei Mankiw heißt es zwar (MTb, S. 25):

„Die Kunst des wissenschaftlichen Denkens – ob in Physik, Biologie oder Nationalökonomie – besteht darin zu entscheiden, welche Annahmen man trifft.“