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Thomas Petersen | Tilman Mayer

Ende des Aufruhrs

Thomas Petersen | Tilman Mayer

Ende des Aufruhrs

Wie die Deutschen
mit sich selbst
Frieden schlossen

Tectum Verlag

Thomas Petersen | Tilman Mayer

Ende des Aufruhrs

Wie die Deutschen mit sich selbst Frieden schlossen

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2017

E-Book 978-3-8288-6874-8

E-PDF 978-3-8288-6873-1

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Angaben sind im
Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

1.Die „verletzte Nation“

2.Deutschland – eine „civic culture“?

3.Die Deutschen und ihre Nationalsymbole

4.Der Wertewandel und die Bewältigung
der
Diktatur in den Familien

5.Das Ende der „Mauer in den Köpfen“

6.Ankunft im Westen

7.Die Zauberkraft der Freiheit

8.Gute Aussichten und große Gefahren

Anmerkungen

Literatur

Register

Über die Autoren

1.Die „verletzte Nation“

Im Sommer 2016 bekam das Institut für Demoskopie Allensbach Besuch von Hiroshi Tokinoya, emeritierter Professor für Medienwissenschaften an der Tokai-Universität in der Nähe von Tokio und ein langjähriger Freund des Hauses. Erstaunt berichtete er von seinen neu gewonnenen Eindrücken: Seit 15 Jahren sei er zum ersten Mal wieder in Deutschland, und das Land habe sich in dieser Zeit vollkommen verändert: Die Gesichter der Menschen sähen anders aus, viel gelöster, fröhlicher als noch vor eineinhalb Jahrzehnten. Deutschland, so schloss er aus seiner Beobachtung, müsse ein ungeheuer erfolgreiches, glückliches Land sein.

Diese Einschätzung mag aus der deutschen Binnensicht erstaunen. Tokinoya machte seine Beobachtungen in einem Land, das nach Auffassung vieler Bürger eine tiefe politische Krise durchgemacht hatte, dessen Bewohner angesichts der großen Zahl von Einwanderern, die im Vorjahr ins Land gekommen waren, erkennbar verunsichert waren und sich wie lange nicht mehr vor Verbrechen und Terroranschlägen fürchteten1 und in dem bei Landtagswahlen eine Protestpartei, die den Zustand des Landes in den schwärzesten Farben malt, bis zu 25 Prozent der Wählerstimmen erhielt. Das sollte ein glückliches und gelöstes Land sein?

Manchmal ist der Blick von außen schärfer als jener von Beobachtern, die die eigene Gesellschaft, der sie angehören, analysieren. Diese laufen oft Gefahr, die Veränderungen, die sich hier vollziehen, nicht wahrzunehmen, zumal sie meist nicht über Nacht stattfinden. Es ist ein wenig wie die Alltagserfahrung, dass einen jeden Tag im Spiegel dasselbe Gesicht anschaut – und man doch, nachdem man fünfzehn Jahre lang immer das Gleiche gesehen hat, erstaunt ist, wie sehr sich dieses Gesicht von dem unterscheidet, das auf fünfzehn Jahre alten Fotos zu sehen ist. Nach den Umfrageergebnissen des Instituts für Demoskopie Allensbach spricht tatsächlich einiges dafür, dass Tokinoyas Beobachtung zutrifft, dass also die Deutschen – abseits tagespolitisch bedingter Wellen der Aufregung, die es natürlich immer wieder gibt – in den letzten zwei Jahrzehnten ruhiger und selbstbewusster geworden sind. Von dieser Entwicklung handelt dieses Buch.

Selbst die intensive und emotional aufgeladene öffentliche Diskussion um die große Zahl von Flüchtlingen, die in den Jahren 2015 und Anfang 2016 nach Deutschland kamen, spricht eher für diese These als gegen sie. Man muss die Situation nur mit der Anfang der 1990er-Jahre vergleichen, als schon einmal binnen eines Jahres Hunderttausende Asylbewerber nach Deutschland kamen, damals vor allem aus den Balkanländern. Auf dem Höhepunkt der seinerzeit „Asylfrage“ genannten Entwicklung gab es durchaus Anzeichen dafür, dass sich eine krisenhafte, von Aggression dominierte Stimmung im Land ausbreitete. Im Herbst 1992 sagten 53 Prozent der Befragten einer Allensbacher Repräsentativumfrage, sie seien sehr darüber besorgt, dass einfach nichts getan werde gegen die Flut von Asylbewerbern. 72 Prozent gaben zu Protokoll, sie hätten zwar nichts gegen Ausländer, es gebe aber in Deutschland „einfach zu viele“. Immerhin 38 Prozent erklärten, dass sie sich an einer Unterschriftenaktion gegen ein Wohnheim für Asylanten beteiligen würden, wenn ein solcher Bau in ihrer Gemeinde geplant würde, und eine nicht ganz unbeträchtliche Minderheit von etwa einem Viertel der Deutschen zeigte sogar ein gewisses Verständnis für Gewalt gegenüber Ausländern.2 Und bei der regelmäßig zur Jahreswende gestellten Frage „Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ ließen im Dezember 1992 lediglich 37 Prozent der Befragten positive Erwartungen erkennen. Das war der niedrigste Wert seit der zweiten Ölkrise zur Jahreswende 1979/1980.3

Auch zur Jahreswende 2015/2016 zeigten sich die Deutschen angesichts der Einwanderungswelle sehr beunruhigt: Im Oktober 2015 sagten 53 Prozent der vom Allensbacher Institut befragten Personen, die Entwicklung der Flüchtlingssituation in Deutschland bereite ihnen große Sorgen.4 Das waren also exakt gleich viele wie 24 Jahre zuvor, doch von der Aggression, die aus den Antworten des Jahres 1992 sprach, war nur wenig zu spüren, und dies, obwohl die Zahl der Asylbewerber 2015 mehr als doppelt so groß war wie 1992. So nahm beispielsweise mit den Sorgen angesichts der großen Zahl der Einwanderer auch die Bereitschaft der Deutschen zu, diesen zu helfen. Während sich 1992 noch große Teile der Bevölkerung bereit zeigten, sich an Unterschriftenaktionen gegen Asylbewerberheime in ihrer Nachbarschaft zu beteiligten, sagten 2015 47 Prozent ausdrücklich, sie fänden es gut, wenn in ihrer Nachbarschaft Flüchtlinge aufgenommen würden. Und immerhin 31 Prozent sagten, sie würden sich an Unterschriftenaktionen beteiligen, die den Bau von Asylbewerberheimen in ihrer Region unterstützen.5 Was die Hoffnungen für das neue Jahr betrifft, so sanken die positiven Äußerungen zwar auch zur Jahreswende 2015/2016 gegenüber dem Vorjahr von 56 auf 41 Prozent und damit auf einen im langfristigen Vergleich sehr tiefen Wert,6 sie blieben damit jedoch immer noch auf einem höheren Niveau als 1992, und dies, obwohl die Flüchtlingssituation Ende 2015 objektiv erheblich problematischer war als in den 1990er-Jahren. Es soll an dieser Stelle weder die Besorgnis der Bevölkerung in den Jahren 2015 und 2016 kleingeredet werden, schon gar nicht die Ausschreitungen bei Protesten gegen Einwanderer oder gar die Anschläge auf Asylbewerberheime, die es in dieser Zeit durchaus gab. Doch das gesamtgesellschaftliche Klima war trotz alledem noch immer erstaunlich entspannt. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie es in Deutschland wohl ausgesehen hätte, wenn im Jahr 1992 nicht 430.000 Asylbewerber ins Land gekommen wären, sondern doppelt so viele.

Schaut man sich das politische Klima in der Bundesrepublik Deutschland in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts abseits der großen tagesaktuellen Themen an – und dies mag die Perspektive sein, aus der heraus Hiroshi Tokinoya seine Einschätzung abgegeben hat –, kann man sich des Eindrucks einer gewissen Schläfrigkeit nicht erwehren. In der Endphase des Bundestagswahlkampfs 2013, der immerhin ein spannendes Rennen zwischen den politischen Lagern versprach, legte das Institut für Demoskopie Allensbach seinen Befragten in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage eine Liste mit Themen vor und stellte dazu die Frage „Worüber haben Sie sich in letzter Zeit häufiger mal mit anderen unterhalten?“. Bei Fragen dieses Musters ist es stets wichtig, das Wetter mit in die Auswahl aufzunehmen (bzw. die Weihnachtsgeschenke, wenn die Umfrage zum Jahreswechsel stattfindet), denn damit erhält man einen guten Vergleichsmaßstab: Themen, die die Bevölkerung wirklich beschäftigen, erkennt man leicht daran, dass über sie mindestens ebenso häufig gesprochen wird wie über Sonne und Regen.

Als nun die Frage im Spätsommer 2013 den Befragten vorgelegt wurde, war die Bundestagswahl weit davon entfernt, dem Wetter als Gesprächsthema Konkurrenz zu machen: 78 Prozent gaben an, sich über die Witterung unterhalten zu haben. An zweiter Stelle, genannt von 64 Prozent, folgten Urlaub und Reisen, was verständlich ist angesichts des Umstandes, dass die Umfrage gegen Ende der Sommerferien stattfand. Auf Platz 3 und 4 folgten die ebenfalls als klassisch zu betrachtenden Gesprächsthemen Familie, Beziehung sowie Gesundheit. Dann erst, mit einem erheblichen Abstand zu den vorher aufgelisteten Punkten, folgte mit der Internet-Überwachung durch den amerikanischen Geheimdienst NSA das erste politische Thema – gerade einmal 46 Prozent hatten sich in den Wochen zuvor über diesen Gegenstand mit anderen unterhalten, obwohl er gleichzeitig sehr großen Raum in der Medienberichterstattung einnahm. Die näherrückende Bundestagswahl war sogar nur für 29 Prozent der Deutschen ein Gesprächsthema.7

Anders als oft angenommen, ist die Abwendung vieler Bürger von der Parteipolitik kein Kennzeichen für eine wachsende Resignation der Bevölkerung. Wie noch ausführlich zu betrachten sein wird, ist die Identifikation der Deutschen mit ihrem Staatswesen eher gewachsen als zurückgegangen. Und wie man leicht zeigen kann, ist es nicht Politikverdrossenheit, sondern in vielen Fällen eine Art satter Zufriedenheit, die dazu führt, dass viele Menschen sich weit weniger als früher über die Fragen der „großen Politik“ aufregen.8 Man kann das als problematisch betrachten: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sprach im Mai 2015 von einer „Wohlfühlstagnation“,9 die im Land herrsche, und im Bundestagswahlkampf 2013 tauchte in den Reihen der Anhänger der damaligen Oppositionsparteien der neue Begriff der „asymmetrischen Demobilisierung“ auf, mit dem unterstellt wurde, die Bundesregierung versuche die Bevölkerung mit einer Atmosphäre der behäbigen Zufriedenheit gleichsam einzuschläfern, damit die Gegner der Regierungsparteien der Wahl fernblieben.10

Gleich, wie man diese Entwicklung aus politikwissenschaftlicher oder staatsbürgerlicher Perspektive bewertet, es ist bemerkenswert, dass man sich in dieser Situation Sorgen um die Ruhe, nicht die Unruhe der Bevölkerung machte. Dabei soll hier nur am Rande auf die Skurrilität verwiesen werden, die darin liegt, dass es die deutsche öffentliche Diskussion fertigbringt, sich auch noch über eine Zufriedenheit signalisierende Ruhe aufzuregen – eine erstaunliche Fähigkeit, die mit der „Stern“-Titelgeschichte „Sitzen – die unterschätzte Gefahr“ charmant illustriert wird.11

Wichtiger als dieser Kalauer und die eigenartige Besorgtheit ist aber die Tatsache, dass ruhiges Selbstbewusstsein heute anscheinend als charakteristische Eigenschaft der deutschen Gesellschaft angesehen wird, denn dieses Bild der Deutschen ist, historisch betrachtet, äußerst ungewöhnlich. Auf den Gedanken, die Deutschen könnten innerlich zu ruhig sein, wäre man vermutlich jahrhundertelang nicht gekommen. Traditionell haftet ihnen ganz im Gegenteil im In- und Ausland der Ruf des Wankelmuts an. Schon lange bevor die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und der Nationalsozialismus, wie wir noch sehen werden, das Selbstbewusstsein der Deutschen auf Jahrzehnte erschütterten, beschrieben so unterschiedliche Beobachter wie Madame de Staël, Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche die eigenartigen Stimmungsschwankungen und die wiederkehrenden Selbstzweifel, die die Deutschen zu kennzeichnen schienen. Nietzsche fasste die Situation vielleicht am treffendsten zusammen mit seinem berühmten Bonmot, wonach es die Deutschen kennzeichne, dass bei ihnen die Frage „Was ist deutsch?“ niemals aussterbe.12

Der schottische Politikwissenschaftler Richard Rose hat einmal die These aufgestellt, dass ein verlorener großer Krieg eine Nation für viele Jahrzehnte präge.13 Er meinte, es dauere ein Jahrhundert, bis ein Volk eine vernichtende Niederlage mental überwunden habe. Wenn das stimmt, dann dürfte das gebrochene Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation seine Wurzeln in den Verwüstungen und Demütigungen während des 30jährigen Krieges (1618–1648) haben. Die Zersplitterung Deutschlands, seine Machtlosigkeit in den folgenden eineinhalb Jahrhunderten bis zur Auflösung des alten Kaiserreichs durch Napoleon waren Erfahrungen, die die Deutschen über Generationen prägten. Selbst das Bismarckreich, das den Menschen im 20. Jahrhundert rückblickend im Vergleich zu den Wirren der Weimarer Republik und der Katastrophe des Dritten Reiches als ein Hort der Stabilität erschien, war in vielerlei Hinsicht innerlich zerrissen und sich seiner selbst keineswegs immer sicher. Der kürzlich verstorbene Politikwissenschaftler und Zeithistoriker Hans-
Peter Schwarz zitiert in einem Aufsatz zu den Umständen der Reichsgründung den Publizisten August Ludwig von Rochau mit einer sarkastischen Bemerkung aus dem Jahr 1869:

„Die deutsche Vaterlandsliebe ist aus viel Dichtung und wenig Wahrheit zusammengesetzt. Es gibt keinen deutschen Nationalgeist im politischen Sinne des Wortes und mit der Richtung auf einen feststehenden politischen Zweck. Wir tragen die deutsche Einheit auf der Lippe und nicht im Herzen.“14

Dieses Zitat beschreibt eine Situation, die in auffallendem Kontrast zur Lage vor der deutschen Einheit im Jahr 1990 steht, von der man sagen kann, dass die Menschen zumindest in Westdeutschland, wahrscheinlich aber ebenso in der DDR sie zwei Jahrzehnte lang nicht auf den Lippen, wohl aber im Herzen getragen hatten.15 Doch vor allem zeigt es, warum das Kaiserreich von späteren Historikern mit gutem Grund als „ruheloses Reich“ bezeichnet wurde,16 nämlich nicht nur, weil es in seinen späteren Jahren, nach 1890, mit seiner Außenpolitik zu jener Unruhe in Europa wesentlich beitrug, die schließlich in den Ersten Weltkrieg mündete, sondern auch wegen eines Mangels an innerer Festigkeit.

Vor allem durch die französische intellektuelle Debatte zieht sich seit zwei Jahrhunderten das Befremden angesichts dieses in seinen schwankenden Emotionen unberechenbaren Nachbarn. Madame de Staël schrieb bereits 1813: „In einem Reich, das seit Jahrhunderten zersplittert ist und wo, fast immer durch fremden Einfluss bewogen, Deutsche gegen Deutsche kämpften, kann keine große Vaterlandsliebe existieren, und auch die Liebe zum Ruhm kann nicht sehr lebhaft sein in einem Land, wo es kein Zentrum, keine Hauptstadt, keine Gesellschaft gibt.“17 Über alle politischen und gesellschaftlichen Wechsel hinweg, in Zeiten der Freundschaft wie der Feindschaft, lässt sich dieses Befremden nachverfolgen. Im Jahr 1931 lieferte der Diplomat Pierre Viénot, der später zur Umgebung de Gaulles in dessen Londoner Exil gehören sollte, mit seinem Essay „Incertitudes Allemandes“ ein Stichwort, das sich bis heute gehalten hat.18

Die in der Literatur, von politischen Beobachtern und Philosophen immer wieder beschriebene Wankelmütigkeit der Deutschen ließ sich in den 1980er-Jahren tatsächlich auch mit den Mitteln der Sozialwissenschaften belegen. Im Jahr 1981 wurde in eine große internationale Umfrage, die „Internationale Wertestudie“, eine von dem Chicagoer Psychologen Norman Bradburn entwickelte Frage aufgenommen, bei der die Befragten mit emotionalen Situationen konfrontiert und gebeten wurden, anzugeben, ob sie selbst in letzter Zeit solche Gefühle erlebt hatten. Dazu wurden jeweils fünf positive und negative Gefühlssituationen beschrieben, beispielsweise „Ich war von etwas ganz begeistert, ganz besonderes interessiert daran“, „Ich hatte mal das Gefühl, alles läuft so, wie ich es mir wünsche“ oder „Ich habe mich sehr niedergeschlagen, sehr unglücklich gefühlt.“ Alle diese Aussagen zusammen bilden eine Skala des, wie Bradburn es nannte, „psychologischen Wohlbefindens“. Man kann auch sagen: eine Glücksskala. Es zeigte sich, dass die Deutschen nach eigenen Angaben mehr positive und auch mehr negative Gefühle erlebt hatten als alle anderen an der Untersuchung beteiligten Völker (Abbildung 1). Die Ergebnisse sind in ihrer grafischen Darstellung wie eine Illustration des schon von Goethe beschriebenen Prinzips „Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“.19

Abbildung 1

„Himmelhoch jauchzend “ Die Bradburn’sche Affect Balance Scale 1981

Frage:„Wir möchten einmal herausfinden, wie sich die Menschen heute so im Allgemeinen fühlen – wie ging es Ihnen in der letzten Zeit – zum Beispiel “ (Vorlesen von jeweils fünf positiven und negativen Gefühlssituationen)

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Quelle: Internationale Wertestudie 1981

Es gibt viele Hinweise darauf, dass von dieser Neigung zur Emotionalität auch heute noch einiges vorhanden ist. Als der Dortmunder Statistiker Walter Krämer vor einigen Jahren auszählte, wie oft in der Berichterstattung europäischer Zeitungen Stichworte wie „BSE“, „dioxinbelastet“ oder „asbestverseucht“ vorkamen, also Begriffe, die für zwar theoretisch gegebene, tatsächlich aber minimale und damit für die Zeitungsleser praktisch irrelevante Gefahren stehen, stellte er fest, dass unter den vier Zeitungen, die diese Worte am häufigsten verwendeten, drei deutsche waren.20 Es hat also schon seinen guten Grund, dass sich in der englischen Sprache der Begriff „German Angst“ eingebürgert hat.

Und doch hat sich seit dem Jahr 1981 etwas verändert, schleichend zwar, auf den ersten Blick kaum zu bemerken, aber doch charakteristisch: Im Januar 2015 wurde die Bradburn-Skala erneut in eine Repräsentativumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aufgenommen. Es zeigte sich, dass die Zahl der zu Protokoll gegebenen positiven Stimmungserlebnisse zu, die der negativen abgenommen hatte (Abbildung 2). Die Deutschen sind – jedenfalls gemessen an den Kriterien der Bradburn-Skala – heute ein glücklicheres, vor allem aber ein etwas weniger zwischen positiven und negativen Stimmungen hin- und her schwankendes Volk als vor drei Jahrzehnten.

Auch für das erwähnte gebrochene Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Nation gibt es klare Belege aus der Umfrageforschung. Im Jahr 1986 veröffentlichten Elisabeth Noelle-Neumann und Renate Köcher ein Buch mit dem Titel „Die verletzte Nation“, das im Wesentlichen auf den Ergebnissen der bereits erwähnten „Internationalen Wertestudie“ aus dem Jahr 1981 beruhte. Vor allem das Einleitungskapitel mit dem Titel „Nationalgefühl und Glück“ ist trotz seines fröhlich klingenden Titels durch einen seltsam düsteren, pessimistischen Grundton gekennzeichnet. Es lasse sich bei den Deutschen etwas erkennen, schrieb Elisabeth Noelle-Neumann, „das man oberflächlich eine neurotische Disposition nennen könnte, eine dünne Haut (…).“ Als Beispiel dafür, dass viele Deutsche sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen schienen, nannte sie die oft gereizte Stimmung im Familienkreis:

Abbildung 2

Bradburn-Skala: Vergleich 1981–2015: Die positiven Empfindungen haben zugenommen

Frage:„Wir möchten einmal herausfinden, wie sich die Menschen heute so im Allgemeinen fühlen – wie ging es Ihnen in der letzten Zeit – zum Beispiel “ (Vorlesen von jeweils fünf positiven und negativen Gefühlssituationen)

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Quelle: Internationale Wertestudie 1981, Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 11034

„Wie man sich zu Hause fühle, wurde in der internationalen Wertestudie gefragt. ‚Oft gereizt‘ – ‚manchmal gereizt‘ sagten 60 Prozent der Deutschen, weit entfernt vom europäischen Durchschnitt (45 Prozent) und auch noch über den Amerikanern (55 Prozent) (…). 72 Prozent der Amerikaner sagen, sie fühlten sich zu Hause oft glücklich. In der Mehrzahl der europäischen Länder sagen dies um 60 Prozent, aber in Deutschland nur 46 Prozent (…).“21

Im internationalen Vergleich zeigten die (West)Deutschen bemerkenswert wenig Stolz, sei es auf die eigene Arbeit – und damit letztlich auf eigene Leistungen –, sei es auf die eigene nationale Identität. Letzteres hatte sich bereits 1970 bei einer international vergleichenden Umfrage gezeigt. 37 Prozent der befragten Deutschen hatten damals gesagt, sie seien stolz darauf, Deutscher zu sein. Niederländer waren dagegen zu 54 Prozent stolz auf die eigene Nationalität gewesen, Italiener zu 62 Prozent, Franzosen zu 65, Belgier zu 70 und Luxemburger zu 81 Prozent.22 Wie abgesondert standen die Deutschen mit ihrem geringen Selbstbewusstsein unter den Europäern da, und es ist nicht gewagt anzunehmen, dass diese „Identitätskrise“ eine späte Folge des Missbrauchs des Nationalstolzes im Dritten Reich war, eine Reaktion auf die Verbrechen der Nationalsozialisten, Ausdruck von Schuld, Scham und Verunsicherung, die viele Deutsche im Rückblick empfanden.

Die Folgen dieser nationalen Identitätskrise sind in Deutschland auch heute noch zu spüren, und doch wirken die Umfrageergebnisse aus den 1970er- und 80er-Jahren, als stammten sie aus einer anderen Welt. Von der „neurotischen Disposition“, von der Elisabeth Noelle-Neumann sprach, ist drei Jahrzehnte später nicht mehr viel übrig geblieben.

Unsere These lautet, dass dies kein Zufall ist, sondern die Folge einer in der deutschen Geschichte einzigartigen Entwicklung. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten konnten die Deutschen in ihrer Mehrzahl sieben Jahrzehnte lang (in den neuen Bundesländern inzwischen immerhin zweieinhalb Jahrzehnte) in Frieden, Freiheit und in (relativer) politischer und sozialer Stabilität leben. Damit ist auch der größte Teil jener Zeitspanne, von der Richard Rose meinte, ein Volk benötige sie, um eine vernichtende Niederlage zu verkraften, verstrichen. Nach sieben Jahrzehnten in Frieden und Freiheit scheinen die Deutschen ihren Hang zum Wankelmut und das gebrochene Verhältnis zu ihrer eigenen nationalen Identität, das sie über lange Zeit prägte, langsam abzuwerfen. Es ist sicherlich zu früh, von einer psychologisch „geheilten Nation“ zu sprechen, doch es sieht so aus, als sei Deutschland auf dem Weg dorthin.

Wie die Deutschen in den letzten Jahrzehnten ihre Identitätskrise durchlitten haben und allmählich zu überwinden begannen, ist das Thema dieses Buches. Es bietet keine geschlossene Beweisführung. Kein Befund ist zwingend, kein Leser wird, wie am Ende eines sokratischen Gespräches, genötigt sein zu sagen: „Dem vorher Eingestandenen gemäß muss es sich so verhalten.“ Doch immerhin kann dieser Band eine Fülle von Indizien präsentieren, die dieses Ringen der Deutschen mit ihrer eigenen Geschichte und Identität illustrieren. Dabei ist unser Blickwinkel der der Demoskopie: Auf der Grundlage von Allensbacher Umfrageergebnissen aus den letzten sieben Jahrzehnten wird gezeigt, wie die Deutschen Stück für Stück Ruhe und Selbstbewusstsein zurückgewannen. Dieses Buch ist damit die Einladung zu einer Reise in die Zeitgeschichte und für viele Leser vermutlich auch eine Einladung zu einer Reise in die Geschichte des eigenen Denkens und Fühlens. Es ist eine Reise in eine oft überraschend fremde Welt.

2.Deutschland – eine „civic culture“?

Die allerersten Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach waren Befragungen von Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren im Auftrag der französischen Militärregierung, die sich Sorgen machte, ob man mit der damals jungen Generation, die in Diktatur und Krieg aufgewachsen war, eine freiheitliche Gesellschaft würde aufbauen können. Welches Weltbild, welche politischen Einstellungen, welche Lebenseinstellung hatten diese Jugendlichen? Fragen, die man zuverlässig nur mit der damals noch ganz neuen Methode der Repräsentativumfrage beantworten konnte. Am 8. Mai 1947 begann das Allensbacher Institut mit den ersten Probeinterviews. Es war die Geburtsstunde der deutschen Meinungsforschung.23

Die Ergebnisse dieser Jugendumfragen lassen eine niedergedrückte, resignierte Stimmung erkennen. Auf die Frage „Glauben Sie, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre ein neuer Krieg ausbrechen wird?“ antworteten 62 Prozent mit „Ja“.24 „Glauben Sie, dass man in fünf Jahren in Deutschland wieder Schuhe oder Kleidungsstücke im Laden frei kaufen kann?“ Einer Mehrheit von 72 Prozent erschien diese Vorstellung im Oktober 1947 utopisch.25 Es war nur folgerichtig, dass 38 Prozent die Frage „Möchten Sie gern aus Deutschland jetzt oder später auswandern?“ mit „Ja“ beantworteten.26 In politischen Fragen zeigten die Jugendlichen eine desinteressierte Haltung. Auf die Frage „Interessieren Sie sich für die jetzigen politischen Parteien?“ antworteten 72 Prozent mit „Nein“.27 Von der Politik erwarteten sie nichts und wollten nichts mehr von ihr wissen. Es deutete sich bereits die Haltung an, die der Soziologe Helmut Schelsky zehn Jahre später mit dem Stichwort der „skeptischen Generation“ beschreiben sollte: Eine Generation, die vor allem durch „Entpolitisierung und Entideologisierung“ gekennzeichnet sei.28

Die vielleicht auffälligste Folge von zwölf Jahren Gewaltherrschaft und Terror war aber das grundsätzliche Misstrauen gegenüber anderen Menschen, das aus den Umfrageergebnissen sprach. „Glauben Sie, dass man den meisten Menschen vertrauen kann?“ lautete eine vom amerikanischen Gallup-Institut übernommene Frage. 69 Prozent der Jugendlichen antworteten mit „Nein“, nur 16 Prozent bejahten sie.29 In den Jahrzehnten danach stieg der Anteil derer, die meinten, man könne den meisten Menschen vertrauen, langsam, aber beharrlich an. Im Januar 1987 überstieg er mit 42 Prozent erstmals die 40Prozent-Schwelle und erreichte damit ein Niveau, das sich seitdem gehalten hat.30

Dieses Muster sollte sich später, nach der deutschen Einheit im Jahr 1990, wiederholen: In der DDR meinten unmittelbar nach dem Fall der Mauer 23 Prozent der Bürger, man könne den meisten Menschen vertrauen,31 und auch hier steigt der Wert – abgesehen von tagespolitisch bedingten Schwankungen – seitdem langsam an.32 Diese Befunde stehen in einem auffallenden Widerspruch zu der weit verbreiteten Annahme, in der DDR habe es so viel menschliche Wärme gegeben. Vielleicht, meinte Elisabeth Noelle-Neumann einmal, sei das eine Verwechslung mit dem Gefühl der Geborgenheit, das in einer Diktatur dadurch entsteht, dass man in Abwesenheit von Pressefreiheit stets widerspruchsfreie Bestätigung erhält – sofern man sich nicht gegen das Regime stellt.33 Die Befunde, wonach in der Diktatur trotz aller Bemühungen der Herrscher, den Eindruck allgemeiner Übereinstimmung zu erzeugen, ein Klima des Misstrauens entsteht, sind jedenfalls eindeutig – und angesichts der politikwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte auch nicht gerade überraschend. Bereits Aristoteles wies darauf hin, dass Tyrannen ihre Macht unter anderem darauf stützen, dass sie unter den Bürgern ihres Landes Misstrauen säen.34

Es ist nur folgerichtig, dass die Menschen in Westdeutschland nach dem Krieg, desillusioniert und misstrauisch, wie sie waren, nur wenig Hoffnung in die neu gegründete Bundesrepublik setzten. Und so war die junge Republik in den ersten zwei Jahrzehnten ihrer Existenz auch alles andere als gefestigt. Zwar stimmten die Bürger mit überwältigenden Mehrheiten bei Wahlen für demokratische Parteien, doch von einer tiefen inneren Akzeptanz demokratischer Prinzipien war die Gesellschaft noch weit entfernt.

Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer berühmten Untersuchung der amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba aus dem Jahr 1959. Sie stützten sich – damals noch sehr ungewöhnlich – auf vergleichende Umfragen zur Demokratieverankerung in fünf verschiedenen Ländern: den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Italien, Mexiko und Westdeutschland.35 Um die Perspektive zu verstehen, aus der heraus die deutsche Gesellschaft in Almonds und Verbas Studie analysiert wurde, muss man sich vor Augen halten, mit welcher Unsicherheit und Skepsis die Menschen und mit ihnen auch Wissenschaftler und die politisch Verantwortlichen in den westlichen Ländern in jener Zeit auf Westdeutschland blickten – immerhin lagen die Verbrechen des Dritten Reiches nur wenige Jahre zurück.

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