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Brigitte Teufl-Heimhilcher

Liebe, Macht und rote Rosen





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Titel-Seite

Brigitte Teufl-Heimhilcher

Liebe, Macht

und

rote Rosen

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2014

bei Brigitte Teufl-Heimhilcher

www.teufl-heimhilcher.at

© 2014 Brigitte Teufl-Heimhilcher

Publishing Rights © 2014 Brigitte Teufl-Heimhilcher

E-Book-Erstellung & Cover-Gestaltung: mach-mir-ein-ebook.de

ISBN-13: 978-3-9503478-4-5

Alle Rechte vorbehalten.

Über die Autorin

Brigitte Teufl-Heimhilcher, geb. 1955, ist verheiratet und arbeitet als Immobilien-Fachfrau in Wien. Darüber hinaus schreibt sie Romane, in denen sie sich auf unterhaltsame Weise mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzt.

Vorwort der Autorin

Vorwort der Autorin

Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, ist ebenso fiktiv wie das Land, in dem sie spielt: Euroreich.

Euroreich liegt im Herzen Europas, ist Mitglied der EU, hat den Euro längst eingeführt und ist eine demokratische Republik.

Dennoch essen die Menschen des Landes gerne Kaisersemmeln, Kaiserschmarren, Kaiserfleisch, und wenn sie das Gulasch aus einem ganz besonderen Stück Fleisch machen, dann nennen sie es Kaisergulasch.

Beamte, die auf der Karriereleiter schon gut vorangekommen sind, freuen sich über den Titel „Hofrat“, wie Titel in Euroreich überhaupt eine große Rolle spielen, weshalb Anreden wie „Servus, Herr Präsident“ durchaus zum Alltag gehören, selbst wenn der Angesprochene Präsident eines Taubenzüchtervereins sein sollte.

Die Probleme des Landes sind die gleichen wie anderswo auch, wenn man auch gemeinhin der Meinung ist, der Euroreicher sei ein wenig gemütlicher, vielleicht auch bequemer als der gemeine Europäer.

Politisch betrachtet gibt es zwar eine Vielzahl von Parteien, dennoch bilden zumeist die Konservativen (schwarz) und die Sozialdemokraten (rot) die Regierung. Diese sogenannte große Koalition ist ebenso erwünscht wie angefeindet, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass der typische Euroreicher sich dann am wohlsten fühlt, wenn er jammern kann. Erstaunlicherweise verzichten dennoch viele Euroreicher darauf, zur Wahl zu gehen. Politologen sehen den Grund darin, dass die Politiker des Landes nicht besonders angesehen sind, weil allgemein vermutet wird, sie würden ihre eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellen.

Das bedeutet umgekehrt jedoch nicht, dass man nicht selbst gerne zu dieser nahen Umgebung gehören möchte oder sich nicht mit dem einen oder anderen Politiker fotografieren ließe, wenn es sich denn so ergäbe. Ganz im Gegenteil!

Bei Wahlveranstaltungen wird Politikern aller Couleur kräftig zugejubelt, um am nächsten Tag deren Abgehobenheit zu beklagen.

Alles in allem scheint Euroreich also – von lokalen Eigenheiten abgesehen - mit vielen anderen Ländern durchaus vergleichbar.

Die Beerdigung

Als Sybille schlaftrunken die Jalousien hochzog, war es draußen dunkel und nebelig. Ihre Tochter Kerstin wollte auch nicht aus den Federn. Das konnte sie ja verstehen, aber dass sie dann auch noch das Bad stundenlang blockierte, zerrte schon ziemlich an ihren Nerven, und als sie beim Frühstück mit einem ihrer Igitt-igitt-Blicke sagte: „Wie siehst du denn heute aus?“, schien das Maß voll.

Wie immer zählte Sybille erst heimlich bis zehn, ehe sie, schon etwas weniger gereizt, antwortete: „Lass mich raten: schwarz und traurig? Genauso fühle ich mich, heute ist doch das Begräbnis von Doktor Winter.“

„Okay, aber du bist seine Kabinettschefin, nicht seine Witwe“, antwortete Kerstin gelangweilt, trank ihren Orangensaft, schnappte sich einen Apfel und ging.

„Du sollst doch …“, den Rest konnte sie sich sparen, die Tür war bereits hinter Kerstin ins Schloss gefallen.

Lustlos aß sie ein paar Löffel von ihrem Müsli, verstaute die restlichen Lebensmittel wieder im Eiskasten und betrachtete sich im Vorzimmerspiegel. Vielleicht war die schwarze Bluse zusammen mit dem schwarzen Kostüm und ihrem schwarzen Haar doch etwas zu viel. Seufzend ging sie zurück ins Schlafzimmer.

Weiß? Rosa? Ach, hier war noch diese silbergraue Schleifenbluse. Die hatte sie schon eine Ewigkeit nicht getragen, aber zusammen mit der Blutsteinkette und den dazu passenden Ohrgehängen sah sie gar nicht so übel aus. Noch ein wenig Lippenstift, dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Vater.

Sie konnte zwar nicht verstehen, warum er sich diese Tortur freiwillig antat, aber er behauptete, als alter Parteifreund wäre es seine Pflicht, an den Trauerfeierlichkeiten teilzunehmen. Sie vermutete eher, dass er Langeweile hatte, jetzt, wo die Golfsaison endgültig vorbei zu sein schien.

Obwohl sie fünf Minuten vor der Zeit da war, stand er schon vor dem Haus. Gut sah er aus, mit seinem schwarzen Mantel und dem schlohweißen Haar.

Er bedeutete ihr einzuparken, doch sie öffnete nur das Fenster: „Komm, steig ein, mit deinem Schlitten bekommen wir doch nie einen Parkplatz.“

„Irrtum Kind, mit meinem Schlitten brauchen wir keinen Parkplatz.“

Dieser Logik konnte sie zwar nicht folgen, aber sie wollte nicht schon jetzt mit ihm diskutieren. Also sagte sie nur: „Okay, aber ich fahre.“

„Meinetwegen.“

Sie parkte seufzend ein und nahm in seinem großen, alten Mercedes Platz. Schön war er ja, mit seinen weinroten Ledersitzen und den Rosenholzeinlagen auf dem Armaturenbrett, aber verdammt unpraktisch.

Während sie den Wagen vorsichtig durch den dichten Morgenverkehr lenkte, fragte er: „Wie geht’s meiner Enkelin?“

„Im Moment vermutlich gar nicht gut, sie hat heute Literatur-Test und bestimmt zu wenig gelernt.“

„Das arme Kind, muss sich mit toten Dichtern herumschlagen, wo es doch so viel Spannenderes gibt.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dass du mir gegenüber jemals auch nur halb so viel Bedauern ausgedrückt hättest.“

„Du warst sowieso immer eine Streberin. Deswegen hast du heute so wenig Verständnis für deine Tochter. Kerstin ist halt mehr der praktische Typ.“

Da sie sich bereits dem Friedhof näherten, enthielt sie sich einer Antwort, obwohl es sie schon längere Zeit wurmte, dass ihr Vater, wie auch ihr Exmann, immer die Verständnisvollen spielten und es ihr überließen, sich um den nervigen Alltag zu kümmern.

„Hier gleich rechts“, dirigierte er sie eben auf den Parkplatz der Ehrengäste.

„Ich weiß nicht, ich bin doch kein Ehrengast.“

„Ich schon“, antwortete er mit Würde und kletterte aus dem Auto. Der Parkwächter grüßte respektvoll und steckte eine Nummer hinter die Windschutzscheibe.

„Na bitte, geht doch“, lächelte er und reichte ihr seinen Arm.

Die Trauerfeier für Doktor Winter zog sich endlos dahin.

Auf dem Sarg stand ein Gesteck aus roten Rosen, davor der Kranz der Witwe, ebenfalls aus roten Rosen, flankiert von einer Vielzahl anderer Kränze mit schwarzen, roten und goldenen Schleifen.

Mein Gott, die arme Frau, dachte Sybille mit einem Blick auf die Mutter des Toten, die von ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn flankiert wurde. Daneben saß die Witwe, Linda Winter. Eine schlanke Schönheit, vielleicht Anfang vierzig, mit blondem Haar. Kerzengerade saß sie da, mit breitkrempigem Hut und Sonnenbrille. Sie kannte sie von einigen Veranstaltungen, hatte aber nie mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln mir ihr getauscht.

Als letzter Redner trat nun der Kanzler, Elmar Reifenstein, an das Rednerpult.

„Wir alle sind zutiefst erschüttert vom Unfalltod unseres Sozialministers. Mit Richard Winter verliert nicht nur eine Frau ihren Mann, eine Mutter ihren Sohn, unser Land verliert einen überaus beliebten Politiker, einen aufrechten Demokraten - wir alle verlieren einen Freund.“

Schleimer, dachte Sybille. Die beiden hatten sich nie gemocht. Sie erinnerte sich noch allzu gut an die Auseinandersetzung, die sie erst vor wenigen Tagen gehabt hatten; von Freundschaft war da wenig zu spüren gewesen.

Nun ja, im Angesicht des Todes sah manches anders aus, dennoch nahm sie dem Kanzler seine Trauer nicht ab.

„… couragiert beteiligte er sich an kontroversen Debatten, setzte Akzente, kämpfte für seine Überzeugung und verlor dabei nie das eine große Ziel aus den Augen …“

Papperlapapp. Einen engstirnigen Technokraten hatte er ihn genannt.

Nachdem der Kanzler seine Rede beendet hatte, spielte das Orchester das Largo aus Händels Oper Xerxes, ein ihr unbekannter Kammersänger sang das Ave Maria, dann, endlich, setzte sich der Trauerzug in Bewegung.

Es war schon ein Uhr vorbei, als Sybille den Festsaal des Hotels betrat, in dem ein Imbiss auf die Trauergäste wartete.

Dankbar nahm sie ein Glas Bier entgegen und bediente sich am Buffet. Am Morgen hatte ihr das bevorstehende Begräbnis den Magen zugeschnürt, doch nun war sie hungrig. Sie nahm kalten Braten, ein faschiertes Laibchen, etwas Salat und setzte noch ein gefülltes Ei obendrauf, ehe sie sich nach einem freien Platz umsah. Am anderen Ende des Saales stand ihr Vater mit dem Kanzler an einem der Stehtischchen und winkte sie zu sich. Sie zog es vor die beiden zu übersehen und nahm an einem der Tische Platz, an dem Mitarbeiter aus dem Ministerium saßen.

Winters Sekretärin, Frau Schmidt, die selbst vor einer Tasse Kaffee saß, warf einen schrägen Blick auf ihren Teller.

„Halten Sie mich nicht für gefühllos“, beantwortete Sybille die unausgesprochene Frage, „aber ich habe kaum gefrühstückt und einen Riesenhunger.“

„Das Leben geht weiter“, meinte ein Hofrat jovial, der ebenfalls vor einem vollen Teller saß und genussvoll in ein resches Kaisersemmerl biss.

„Ich kann immer noch nicht verstehen, wie das passieren konnte“, klagte Frau Schmidt. „Er war doch so ein vorsichtiger Fahrer.“

„Übervorsichtig, einfach ungeübt“, kommentierte Ludwig, Winters Chauffeur. „Ich mache mir die größten Vorwürfe, dass ich noch nicht zurück war, als er losfuhr. Dabei war ohnehin alles für die Katz gewesen.“

Ungeübt oder nicht, jedenfalls war Sybille immer noch völlig unklar, warum er auf einer schnurgeraden Landstraße gegen einen Baum gefahren war. Der Wagen hatte sich überschlagen, war über eine Böschung gestürzt, Genickbruch. Aus, Ende.

Der Amtsarzt hatte versichert, dass er sofort tot gewesen war.

Winter war vielleicht kein besonders talentierter Politiker gewesen, kein charismatischer Redner, aber er war ehrlich bemüht gewesen, die ihm übertragene Verantwortung zum Nutzen der Mehrheit einzusetzen. Mehr konnte der Mensch doch nicht machen, dachte sie, während sie den anderen mit einem Ohr zuhörte. Sie hätte jetzt gern ein Glas Wein getrunken, aber das musste bis zum Abend warten. Das Gespräch am Tisch drehte sich im Kreis, und während sie überlegte, ob sie heute noch ins Amt fahren sollte, kam der Kanzler auf sie zu.

„Hallo Bille, schön dich zu sehen, wenn auch der Anlass ein trauriger ist. Könnte ich dich kurz unter vier Augen sprechen?“ Er sandte sein charmantes Lächeln über den Tisch, sagte: „Sie entschuldigen uns“, und ging davon. Ihr blieb nichts anders übrig, als ihm zu folgen.

Bille hatte immer nur er sie genannt, früher.

Er steuerte auf den Rauchersalon zu, doch als er sah, dass sich dort auch andere Gäste aufhielten, änderte er seinen Weg und ging in die Bar, die um diese Tageszeit leer war.

Galant wartete er, bis sie Platz genommen hatte.

„Was möchtest du trinken?“

„Eine Melange, bitte.“

Er bestellte die Melange und einen Mokka für sich, dann wandte er sich ihr lächelnd zu.

„Tragisch, die Sache mit Winter, sehr tragisch. Dennoch müssen wir an die Zukunft denken.“

Er machte eine kunstvolle Pause und zündete sich, unter Missachtung des Rauchverbotes, eine Zigarette an, ehe er weitersprach.

„Ich kann mir vorstellen, dass dich das alles sehr belastet, schließlich hast du eng mit Winter zusammengearbeitet. Dennoch muss ich dich noch heute fragen: Kannst du Winters Ressort weiterführen?“

„Übergangsweise? Ja sicher, kein Problem.“

Er schüttelte den Kopf, der Kellner brachte den bestellten Kaffee und stellte kommentarlos einen Aschenbecher vor ihn hin.

„Ich will keine Übergangslösung, ich meine als Ministerin.“

„Du willst mich zur Ministerin machen? Ist dir eigentlich klar, dass ich gar nicht bei der Partei bin?“

Er lächelte: „Ich weiß. Sehr bedauerlich, lässt sich aber nachholen. Ich lasse dir heute noch eine Beitrittserklärung übermitteln. Bille, du warst Winters rechte Hand, bist in alle aktuellen Projekte eingearbeitet, kennst die Probleme, die handelnden Personen – wir brauchen dich jetzt.“

Mein Gott, wie pathetisch.

„Wir, die Partei, oder wir, der Kanzler von Gottes Gnaden?“

„Immer noch die gleiche Spötterin“, konstatierte er mit einem kleinen Lächeln.

Sie hatte sich schon gefragt, wer ihr neuer Chef werden würde, dass man das Amt ihr antragen könnte, daran hatte sie nicht im Traum gedacht. Dabei war es nicht ganz unlogisch - der Gedanke gefiel ihr.

„Wie lange habe ich Zeit darüber nachzudenken?“

Er lächelte sein charmantes Lausbubenlächeln und sagte schmeichelnd: „Bille, was gibt es denn da zu überlegen? Wir zwei werden denen jetzt zeigen, wo der Bartel den Most holt. Wir waren immer schon ein gutes Team, das weißt du doch!“

Oh ja, sie waren ein gutes Team gewesen – in jeder Beziehung. Aber daran würde sie jetzt besser nicht denken, sonst knallte sie ihm vielleicht doch noch den Aschenbecher an den Kopf. Stattdessen fragte sie: „Wie lange also?“

„Sagen wir bis morgen früh? Wie du dir sicher vorstellen kannst, haben wir nicht viel Zeit. Die Oppositionsparteien werden ebenso versuchen das entstandene Machtvakuum auszunutzen wie die Sozialdemokraten, unser heiß geliebter Koalitionspartner.“

„Kann man es ihnen verdenken?“

„Nun, was hatte Elmar so Wichtiges mit dir zu besprechen?“, fragte ihr Vater, als sie wieder im Auto saßen.

Ein kurzer Seitenblick genügte ihr. „Sag jetzt nicht, er hat es dir nicht erzählt.“

„Natürlich hat er es mir erzählt - Frau Minister.“

Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er hatte sein Leben lang für die Partei gearbeitet und einige sehr wichtige Ämter bekleidet, aber Minister zu sein, hätte er, wie sie nur zu gut wusste, stets als Höhepunkt seiner Karriere betrachtet.

„1991 war ich als Gesundheitsminister vorgesehen gewesen, aber dann haben wir die Wahlen verloren und sind in Opposition gegangen.“

„Ich weiß. Einen kettenrauchenden Gesundheitsminister hielt ich damals schon für eine klassische Fehlbesetzung. Apropos, warst du schon bei Doktor Stiller?“

Er knurrte Unverständliches.

„Also nicht. Papa, wie oft …“

„Ja, ja, ich geh’ ja hin. Sag mir lieber: Hast du Elmar schon zugesagt?“

„Natürlich nicht.“

„Wie lange willst du ihn hinhalten?“

„Ich will ihn nicht hinhalten, ich will darüber nachdenken.“

In der Zwischenzeit waren sie vor seinem Haus angekommen. Er bedeutete ihr, den Wagen einfach stehen zu lassen.

„Da gibt es doch nichts zu überlegen“, sagte er ungeduldig. „Natürlich machst du das!“

„Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind das Vorschläge, die wie Befehle klingen.“

Er lachte: „Ich weiß, darin kommst du ganz nach mir. Deshalb wirst du auch annehmen.“ Dann drückte er ihr einen Kuss auf die Wange und stieg aus.

Die Aussicht, ganz nach ihrem Vater zu kommen, beflügelte sie nicht gerade. Nicht dass sie ihn nicht mochte, aber … nun ja, sie waren eben selten einer Meinung.

Auf dem Heimweg erledigte sie gleich den Einkauf für die nächsten Tage. Während sie den Einkaufswagen durch die Gänge schob, überlegte sie, wie viel Zeit ihr für derartige Alltäglichkeiten noch bliebe, wenn sie erst einmal Ministerin wäre. Wie viel Zeit hätte sie dann noch für Kerstin, für ihre Freunde? Kerstin war in einem schwierigen Alter.

Anderseits war es eine Chance, die sich ihr vermutlich nur einmal im Leben bot.

In weniger als 17 Stunden musste sie sich entschieden haben. Zur Feier des Tages beschloss sie, Hühnerschnitzel und Gurkensalat zu machen. Kerstins Lieblingsspeise. Bei anderen Speisen zickte sie neuerdings herum – wegen der Kalorien. Bei Schnitzel oder Süßigkeiten vergaß sie diese zumeist.

„Wie cool ist das denn? Hühnerschnitzel, Gurkensalat und Kerzen? Ich hab’ doch nicht Geburtstag“, rief Kerstin, als Sybille ins Esszimmer kam.

„Du tust ja, als ob wir üblicherweise im Stehen Dosenfutter in uns hineinschaufeln würden“, entgegnete Sybille und schenkte sich endlich ein Glas Weißwein ein.

„Stimmt, zu Spaghetti reicht es meistens dann doch noch. Montags mit Pesto, dienstags aglio olio, mittwochs mit Tomatensugo aus dem Glas …“

„Das ist eine Unterstellung“, unterbrach Sybille lachend.

„Allerdings könnte es sein, dass ich in nächster Zeit noch weniger Zeit zum Einkaufen und Kochen habe …“

„Opa ist doch der totale Checker! Du wirst also Ministerin? Echt phatt!“

Sybille, die gerade den ersten Bissen in den Mund stecken wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. „Wie bitte? Opa hat mit dir darüber gesprochen?“

„Er hat nur gesagt: Wenn unser Kanzler g’scheit ist, nimmt er Sybille.“

Jetzt brauchte sie einen Schluck Wein. Dass ihr Vater hinter ihrem Rücken über eine Möglichkeit spekuliert hatte, die sie selber niemals in Betracht gezogen hätte, musste sie erst einmal hinunterspülen.

„Und wie fändest du das?“, fragte sie, während sie noch etwas Salat nahm.

„Na eh cool! Oder glaubst du, dass die blöde Berghammer mir noch einmal einen Fünfer gibt, wenn du Ministerin bist?“

Frau Professor Berghammer schien in der Tat nicht gut auf ihre Tochter zu sprechen zu sein, Sybille vermutete allerdings, dass Kerstin an diesem Umstand nicht ganz unschuldig war.

Wie auch immer, Kerstin hatte Recht, eine Menge Leute würden in Zukunft ganz anders mit ihnen umgehen. Als ihr Vater damals Generalsekretär wurde und regelmäßig im Fernsehen zu sehen war, war sie in der Schule kurzfristig so etwas wie ein Star gewesen. Später, auf der Uni, hatte das allerdings kaum jemanden gekümmert.

Gegen ihre Überzeugung antwortete sie: „Ich glaube nicht, dass mein Amt, so ich es denn annehme, etwas mit deinen Schulnoten zu tun hat.“

„Mama“, prustete Kerstin, „das musst du noch üben. Man merkt einfach immer, wenn du lügst. Apropos, weißt du eigentlich, woran man erkennt, dass ein Politiker lügt?“

Kauend schüttelte Sybille den Kopf.

„Daran, dass er den Mund aufmacht.“ Kerstin nahm einen Schluck Limonade: „Den hab’ ich von Papa.“

„Das war ja klar. Dein Vater hatte schon immer ein gestörtes Verhältnis zur Politik. Ich werde euch beweisen, dass es auch anders geht! Aber eines sage ich dir: Wenn ich es mache, dann werden wir genauso leben, wie wir immer gelebt haben, keine Privilegien, schon gar nicht in der Schule.“

„Das wär’ aber urdoof, da müsst’ ich ja genau so viel strebern wie bisher.“

„Lernen würde schon genügen – apropos, wie war dein Literatur-Test?“

Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, Sybille legte das Buch, in dem sie ohnehin kaum gelesen hatte, zur Seite, warf noch ein frisches Scheit hinein, sah zu, wie es Feuer fing und neu aufflammte. Dann griff sie nach ihrem Glas, aber es war leer – Zeit zu Bett zu gehen. Morgen war ein spannender Tag, vermutlich würden in nächster Zeit alle Tage spannend werden.

Sie hatte ihren Job als Kabinettschefin geliebt, weil sie eine Menge Einfluss nehmen konnte, ohne im Rampenlicht zu stehen.

Manchmal allerdings hatte sie gewünscht, selbst das Ruder in der Hand zu haben. Winter schien ihr oft zu zögerlich, zu wenig entschlossen.

Sie kannte die Herausforderungen, die vor ihr lagen, nur zu gut; zu allererst musste die Pensionsreform angegangen werden. Es war einfach unverantwortlich, noch länger zuzuwarten. Sie hatte nie verstanden, warum Winter das immer hintangestellt hatte. Es gab im Moment im Sozialressort einfach nichts Wichtigeres, auch wenn der Koalitionspartner sich wieder einmal zierte - es stand doch im Regierungsübereinkommen!

Natürlich war es auch wichtig, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, aber dafür konnte der Wirtschaftsminister deutlich mehr tun und dieser übertriebene Konsumentenschutz, für den Winter sich so stark gemacht hatte, mein Gott, das grenzte doch ohnehin schon an Entmündigung.

Sie lächelte bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn sie Derartiges öffentlich sagen würde. Kerstin hatte wohl recht. Auch wenn sie versuchen würde, so wenig wie möglich an ihrem bisherigen Leben zu ändern, würde manches anders werden. Kurz überlegte sie, ob der Preis vielleicht doch zu hoch war, aber in Wahrheit hatte sie sich längst entschieden.

Während sie ins Bad ging und mechanisch ihre Abendtoilette absolvierte, fiel ihr ein, wie sehr sie sich in ihrer Jugend dagegen gewehrt hatte, auch nur in einem Atemzug mit den Konservativen genannt zu werden. Damals, als sie aus Protest gegen ihren Vater zu den Grünen gegangen war, waren Berufspolitiker für sie das Allerletzte gewesen.

Richterin wollte sie werden, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Mein Gott, war sie naiv gewesen!

Dennoch hatte es ihr anfangs Spaß gemacht, aber nach dem Wechsel in die Bestandsabteilung ging ihr der tägliche Streit um eingeklagte Mietzinse, falsche Abrechnungen und uneinsichtige Nachbarn bald auf den Geist, und als ihr dann der Posten im Justizministerium angeboten wurde, hatte sie nicht lange gezögert.

Nach der letzten Wahl kam dann der überraschende Wechsel ihres Chefs ins Sozialministerium. Ein Konservativer an der Spitze des Sozialministeriums, das war vielleicht ein Wirbel gewesen! Die Gewerkschaft hatte schon zum Streik aufgerufen, bevor Winter überhaupt noch Piep sagen konnte.

Nicht weniger überraschend, aber von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, war ihre Berufung zu seiner Kabinettschefin gewesen.

Bis dahin hatte sie es vermieden, mit ihrem Vater über Politik zu reden, aber seither hatte sie sein Wissen um interne Abläufe und sein Gespür für die möglichen Reaktionen des politischen Gegners zu schätzen gelernt. Nicht dass sie seine Positionen allzu oft teilte, aber sein Insiderwissen war einfach nicht zu verachten, sie könnte auch in Zukunft davon profitieren.

Apropos, sie musste dafür sorgen, dass er endlich zu diesem Internisten ging. Die Sache mit seinem Husten war einfach nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.

Zwei Konservative

Zwei Konservative

In der Nacht hatte Sybille geträumt, dass sie vor einer riesigen Menschenmenge stand, die Leute hatten ihr zugejubelt, sie hatte gewinkt, war lächelnd ans Mikrofon getreten und hatte keinen Ton herausgebracht. Schweißgebadet und mit klopfendem Herzen war sie aufgewacht.

Ein ganz logischer Traum, dachte sie jetzt, auf dem Weg ins Kanzleramt, ich habe einfach Angst. Stinknormale Angst.

Aber das war nur ein Grund mehr, das Amt anzunehmen.

Sie hatte Elmar schon telefonisch über ihre prinzipielle Zusage informiert, und während sie sich im Schritttempo der Innenstadt näherte, überlegte sie, wie es sich anfühlen würde, in Zukunft wieder enger mit ihm zusammenzuarbeiten - schließlich waren sie sich einmal sehr nahe gestanden. Aber das war lange her.

Jetzt ging es vorerst darum, ihm ihre Standpunkte klarzumachen. Sie wollte das Amt – aber nicht um jeden Preis.

In der Zwischenzeit war sie vor dem Kanzleramt angekommen. Sie parkte ihren Wagen in der gegenüberliegenden Garage und dachte amüsiert: Ich muss Elmar fragen, wann er eigentlich zu den Konservativen gewechselt war. Als Siebzehnjährige waren sie gemeinsam zu den Grünen gegangen, aus Protest gegen das Establishment - heute waren sie ein Teil davon.

Doch für derartige Gespräche blieb zunächst keine Zeit, denn als sie sein Büro betrat, war auch Vizekanzlerin Moser anwesend, und als die sich verabschiedete, wartete bereits der Generalsekretär, später kam auch noch der Klubobmann dazu.

Als sie drei Stunden später das Kanzleramt verließ, hatte sie immer noch kein privates Wort mit Elmar gewechselt; dafür waren sie zum Abendessen verabredet.

Auf dem Weg ins Ministerium gestand sie sich ein, dass sie noch nicht einmal Gelegenheit gehabt hatte, ihre Bedingungen an den Mann zu bringen, dennoch war es jetzt beschlossene Sache: Der Parteivorstand würde noch heute ihre Bestellung absegnen. Einen Gegenkandidaten gäbe es nicht, hatte Elmar erklärt. Sie bezweifelte, dass sich niemand für das Amt interessierte, konnte aber auch nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen, dass für ihn sonst niemand in Frage kam.

Sie hatte ja auch nur sagen wollen, dass sie das Amt zwar annehmen, aber weiterhin für ihre Überzeugungen einstehen würde. Wahrscheinlich war es ohnehin besser, es einfach zu tun, als lange darüber zu schwätzen.

Da bis zum Zusammentreten des Parteivorstandes am späten Nachmittag alles noch streng geheim bleiben musste, fuhr sie ins Ministerium, setzte sich an ihren alten Schreibtisch und überlegte, wie sie die Stunden bis zur Veröffentlichung am besten nutzen konnte.

Sie blätterte die Zeitungen durch und stieß im Tagblatt auf folgenden Artikel:

Der Tod des Sozialministers gibt Rätsel auf

Wie bereits mehrfach berichtet, ist Sozialminister Dr. Gerhard Winter vergangene Woche mit seinem Dienstwagen tödlich verunglückt. Das feierliche Begräbnis fand gestern am Zentralfriedhof statt (Bericht Seite 10/11).

Immer noch ein Rätsel bleibt indes, wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Der Minister war auf trockener, gerade Straße mit einer Geschwindigkeit von knapp 100 km/h gegen einen Baum geprallt.

Warum er von der Straße abgekommen war, konnte auch durch die angeordnete Untersuchung des Wracks nicht geklärt werden. Die Untersuchung des Leichnams hat ebenfalls keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden ergeben.

Dafür wurde in der Zwischenzeit bekannt, dass der Chauffeur des Ministers zur fraglichen Zeit eine von Doktor Winter persönlich angeordnete Botenfahrt erledigte, die allerdings gänzlich ohne Ergebnis geblieben war, da die abzuholenden Unterlagen nicht auffindbar waren.

V.R.

V.R., Viktor Raab, der Chefredakteur des Tagblatts. Sie hätte ihn für klüger gehalten. Was hätten die Untersuchungen denn ergeben sollen? Das klang ja, als vermutete er einen Mordanschlag. So ein Quatsch. Wer sollte denn Winter nach dem Leben trachten?

Sie legte die Zeitung zur Seite, bearbeitete einige Mails und überlegte dabei, wen sie in ihrem Team haben wollte.

Es gab da einen jungen Mann im Ministerium, der ihr schon einige Male sehr positiv aufgefallen war, den wollte sie ebenso dabei haben wie Doris, ihre Assistentin. Doch sie musste mit Fingerspitzengefühl vorgehen, denn eines hatte sie gelernt: Nichts konnte einen Minister eher zum Straucheln bringen als missliebige Beamte! Schließlich konnte jeder einzelne davon ausgehen, dass er noch hier sitzen würde, wenn sie längst wieder abgegangen war.

Trotzdem würde sie keinesfalls Frau Schmidt, Winters Sekretärin, übernehmen. Dieses stets säuerliche Gesicht und dieses affige Getue um nichts und wieder nichts würde sie sich nicht antun. Aber wohin mit ihr? Sie konnte sie ja schlecht in den Schreibpool stecken.

Als sie kurz vor zwanzig Uhr das Restaurant betrat, hatte sie einen Bärenhunger. Anscheinend war die Sitzung des Parteivorstandes doch nicht ganz so glatt verlaufen, denn der Kanzler hatte den ursprünglichen Termin schon zweimal verschoben. Wenigstens hatte sie Zeit gehabt, auf einen Sprung daheim vorbeizufahren.

Da er noch nicht da war, bestellte sie ein Glas Prosecco und bat den Kellner um ein Stück Weißbrot.

Elmar kam etwa zwanzig Minuten später, im Eilschritt.

„Entschuldige, meine Liebe. Unsere verehrten Parteifreunde haben wieder kein Ende gefunden.“

„Dann war meine Bestellung also doch kein Spaziergang?“

„Einige haben bemängelt, dass du kein Parteimitglied bist, beziehungsweise warst, und unser hochverehrter Wirtschaftsminister hat sich auch noch bemüßigt gefühlt darauf hinzuweisen, dass du seinerzeit bei den Grünen mitgearbeitet hast.“

„Du doch auch“, warf sie lachend ein.

Er winkte ab. „Vergiss es, der will sich doch nur seiner eigenen Wichtigkeit versichern. Jedenfalls geben wir morgen eine entsprechende Mitteilung an die Presse. Frau Minister, auf ihr Wohl!“

Er hob das Glas, das der Kellner in der Zwischenzeit unaufgefordert vor ihn hingestellt hatte, und prostete ihr zu, dann vertieften sie sich in die Speisekarte.

Sie entschied sich für Jakobsmuscheln auf Pilztartar und Seeteufel mit Rucola-Spinat und Kartoffelchips.

Später sagte sie: „Irgendwie kommt mir das alles noch ziemlich unwirklich vor. Warum wolltest du unbedingt mich?“

„Ach weißt du, da oben, im Kanzleramt, da ist die Luft ziemlich dünn – und ich wollte jemanden haben, dem ich vertrauen kann. Einen Freund.“

Konnte es sein, dass er in der Zwischenzeit gelernt hatte, was es hieß, Freunde zu haben – schließlich war das alles lange her? Sie lächelte ihm zu und fragte nach dem Befinden seiner Frau.

„Ich fürchte, Marietta geht’s im Moment ziemlich bescheiden. Die Zwillinge sind seit Anfang Oktober in London, um Jura zu studieren.“

„Das ist doch fantastisch! Ich wollte, Kerstin wäre schon so weit.“

Der Kellner brachte die Vorspeisen und schenkte einen frischen, jungen Weißwein dazu ein. Nachdem sie den Wein verkostet hatten, fuhr er fort: „Ich finde es auch gut, aber du weißt ja, Marietta ist eine so pflichtbewusste Mutter.“

„Hat sie die beiden damit in die Flucht geschlagen?“

Er grinste: „Da könnte was dran sein. Also, meinetwegen sind sie sicher nicht ausgerückt, wir haben uns ohnehin kaum gesehen.“

Das sind eben die Schattenseiten, dachte sie, während der Kellner die leeren Teller abservierte. Sie würde von Anfang an darauf achten, dass Kerstin nicht zu kurz kam. Trotzdem war sie froh, dass die sich in letzter Zeit wieder besser mit ihrem Erzeuger verstand - und Opa war schließlich auch noch da.

„Ich bin wirklich sehr froh, dich jetzt in meinem Team zu haben“, unterbrach Elmar ihre Gedanken. „Der Präsident war übrigens ausnahmsweise einmal zufrieden mit meiner Wahl.“

„Er kennt mich doch kaum.“

„Glaubst du“, lachte er. „Ich nehme an, dass die offizielle Angelobung gleich am Montag stattfinden wird. Danach kannst du Winters Reich in Besitz nehmen. Du wirst sicher die ein oder andere Änderung vornehmen wollen – dabei hast du freie Hand.“

Sie blickte versonnen in ihr Wasserglas, ehe sie antwortete:

„Du meinst in den Räumen? Ich weiß nicht, es ging ja alles so schnell – und seit dem Unfall scheint mir überhaupt alles so unwirklich. Erst der Schock über seinen Tod. Wir waren noch gemeinsam Mittagessen – zwei Stunden später – aus und vorbei. Die Tage danach waren angefüllt mit Hektik und Betroffenheit. Gestern dann dein unerwartetes Angebot …“

Der Kellner brachte die Hauptspeisen. Elmar hatte Heilbutt bestellt.

„Seit wann isst du Fisch?“

„Seit ich Fleisch abends nicht mehr so gut vertrage. Hans-Georg meint, ich hätte einen nervösen Magen. Politikerschicksal. Kannst du dich noch an Hans-Georg erinnern?“

Sie nickte und spülte den Seeteufel mit einem Schluck Weißwein hinunter, ehe sie antwortete: „Hans-Georg der Schöne, wie könnte ich ihn vergessen?“

„Dann hast du ihn lange nicht gesehen“, lachte Elmar. „Er trägt jetzt Glatze, einen Schnurrbart und neuerdings etwas Bauch. Seine Wirkung auf Frauen dürfte allerdings ungebrochen sein, Marietta ist heute mit ihm in der Oper.“

„Ich dachte, Hans-Georg sei verheiratet?“

„Nicht mehr. Aber um noch mal auf dein Kabinett zu sprechen zu kommen …“