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für Beatrice

Thomas C. Breuer, 1952 in Eisenach geboren, lebt als freier Schriftsteller in Rottweil und den Abteilen von DB und SBB. Seit 1977 auch als Kabarettist unterwegs auf Kleinkunstbühnen in Deutschland, der Schweiz und Nordamerika. Über 3.000 Auftritte, 31 Bücher, regelmäßige Rundfunkarbeit für WDR, SWR und Schweizer Radio SRF. Preisträger 2014 des Internationalen Radio-Kabarettpreises Salzburger Stier.

Thomas C. Breuer

Bahnfahring

Bahnfahring

Dieses Buch soll sich keinesfalls einreihen in den Chor der Bahnverächter. Die Bahn, und ich kann mir lebhaft vorstellen, was die meisten nun wieder denken, die Bahn – und ich für meinen Teil habe dieses Gegreine gründlich satt, dieses penetrante, ja: obsessive Gejammer und Genöle – die Bahn hat mich zu einem besseren Menschen gemacht, ach: erzogen, wenn nicht therapiert. Yessiree, die Bahn! Ich bin deutlich gelassener als früher, bald schon zermürbungsresistent. Überhaupt sind wir Deutsche viel relaxter geworden, und der Gewinn der Weltballfußmeisterschaft 2014 ist wirklich nicht der einzige Grund dafür.

Wer bei den Verwirrspielen der Fahrplangestaltung nicht eine stoische Gelassenheit an den Tag legt, hat schon verloren. Das Stehen auf freier Stecke verschafft kontemplative Momente – andere gehen dafür für teuer Geld ins Kloster. Abtei und Abteil, diese beiden Begriffe trennt nicht zufällig nur ein einziger Buchstabe. Ein zusätzliches Stündchen in einem Mischwald bei Minden optimiert den Blick für die Natur: War da nicht eben ein Füchslein im Gebüsch? Oder eine Sesamratte? Auch die Technik kommt nicht zu kurz. Endlich Zeit um herauszufinden, wie man den Bahn-Navigator im Internet bedient. Notfalls kann man den Dreijährigen zwei Sitzreihen weiter konsultieren. Der Zug ist notiert mit „plus 60 Minuten“? Ob das stimmt? Vielleicht weiß WikiLeaks mehr. Ein zweistündiger Stoppover in Koblenz? Erkunde die Umgebung des Bahnhofs. Gönne dir einen Cappuccino im Eiscafé Brustolon. Knüpfe Freundschaften mit anderen Gestrandeten. Verzögerungen im Betriebsablauf stärken das Gemeinschaftsgefühl, da herrscht Adventsstimmung das ganze Jahr über. Immer häufiger kommt es zu Wohlfühlverspätungen und man will gar nicht mehr weg. Ich kenne ein älteres Ehepaar, das nach einem mehrstündigen Zwangsaufenthalt in Ibbenbüren bloß nach Hause gefahren ist, um seine Siebensachen zu packen.

Bleibe gelassen und du wirst nichts verpassen. Bahnfahring ist eine stete Unterweisung in Demut. Der aktuelle Bahnchef sei dein Guru, der Weg sei das Ziel. Wer sich über Verspätungen aufregt, hat nicht begriffen, worum es geht: Um Besinnung. Besinnlichkeit. Besinnungslosigkeit. Zeit als Geschenk – quality time!

Wer Distanz zu technischen Unzulänglichkeiten wie nicht schließenden Türen gewinnt, kann sich öffnen. Reduziere deine nichtigen Bedürfnisse – Klimaanlage, Heißgetränke – und du vermeidest Enttäuschungen. Die Bahn vertritt konsequent einen ganzheitlichen Ansatz. Nicht nur die Seele wird versorgt, auch der Körper: Der Zug verkehrt in umgekehrter Reihenfolge? Ein kostenloses Angebot zu sportlicher Betätigung. Also das Gepäck gerafft und im Slalom ans andere Ende des Bahnsteigs geeilt. Das fördert die Rechts-Links-Koordination und hält fit, vor allem, wenn die Änderung zwei Minuten vor Einfahrt des Zuges bekannt gegeben wird – also immer. Für Gepäckstücke sind die Waggons sowieso nicht gedacht: Was bedeutet das für den erfahrenen Reisenden? Ballast abwerfen. Der Weg ist der Weg. Making by doing.

Die Bahn beweist häufig Menschlichkeit. In der Reihe vor mir sitzt ein Fahrgast mit ungültigem Ticket im Erste-Klasse-Abteil im ICE – also weder für die Klasse noch für den Zug als solchen. Der Kundenbetreuer schaut mich an, nachdem er den Mann unbehelligt hat weiterreisen lassen und fragt mich: „Fühlen Sie sich jetzt benachteiligt? Ich schüttele den Kopf. „Hier ist die Kunst des Wegguckens gefordert“, meint er und erklärt mir, dass sich der Aufwand nicht lohnen würde mit Bahnpolizei und der zu erwartenden Verspätung bzw. dass man vielleicht von Hanau bis Fulda diskutieren müsste, wo der Mann, vermutlich ein Perser, eh aussteigen muss. Der Kundenbetreuer hat lässig mal eben fünfzig Karmapunkte einsacken können, und der Verwaltungsaufwand entfällt.

Die Bahn überrascht derzeit mit einer innovativen Wellness-Offensive, denn Bahnkunden leiden häufig unter verzögerten Verspätungsphobien, denen gezielt entgegengesteuert werden soll. Ein Teil des Personals befindet sich gerade im Ausland zur Umschulung, aber präzise ab irgendwann einmal bald werden die Schaffner in ayurvedischer Seidenhandschuhmassage ausgebildet sein, die auf Anfrage im Ganzkörperabrieb eingesetzt werden kann. Auf der gesamten Eifelstrecke Trier – Köln verkehrt z.B. ein sog. Hamam, also ein türkisches Dampfbad, wo Reisende die typischen Anwendungen wie Seife-Bürsten-Massagen genießen können, man muss sich das vorstellen wie in einer Waschstraße, nur ohne Auto. Nach und nach wird vollkommen neues Rollmaterial zum Einsatz gelangen, wobei man auf das aggressive Verkehrsrot RAL 3020 zugunsten von anthroposophischen, also abgemilderten Tönen verzichten will. Man bemüht sich also um eine möglichst artgerechte Haltung des Kunden und legt Wert auf Authentizität. Die Waggons der neuen Generation wurden streng nach feng-shui-Gesichtspunkten angefertigt, die Achsen z.B. ausschließlich mit Aromaöl eingeschmiert. Obendrein werden die Abteile alle drei Stunden über die Klimaanlage mit einem Elixier aus Pfingstrosenwurzel und Maulbeerbaumrinde durchgespült.

Die Bahn stellt mich wieder ins Gleis. Was anderswo großspurig als Downsizing verkauft wird, praktiziert die Bahn längst. Das Essen im Bordbistro will nicht kommen? Das ist slow-food im wahrsten Sinne des Wortes. Außerdem bist du fett genug. Die Bahn ist nicht nur für Wellnesser geeignet, sondern geradezu ideal zum Auspendeln. Wenn jetzt noch die unbequemen ICE-Sessel durch Lotussitze ersetzt werden und man dem Dalai Lama die Standardansagen überlässt, dürften sich meine Chakren kaum mehr einkriegen, und mildester Stimmung kann ich in meinem Tagebuch einen Satz der chinesischen Geschwindigkeitsphilosophin Tai Ming zitieren : „Die Bahn kann mir keinen Unmut bereiten / Ich hänge mein Herz nicht an Abfahrtszeiten.“

Das Godotbähnchen

Hätte ein besonderer Tag werden sollen, ein Meilenstein in der glorreichen Verkehrsgeschichte dieses tapferen, kleinen Bundeslandes, der 25. September 2008. Endlich ist es soweit, der Tag ist da, ich bin da. Glücklicherweise ist niemand Offizielles aus Mainz da. Die haben wohl irgendwie Lunte gerochen, die Jubiläumsfahrt mit Minister Hering im historischen Triebwagen ist rechtzeitig abgeblasen worden, wie immer wissen die mehr als wir. In Indien gehen mobile Wahrsager durch die Züge. Die würden in Deutschland schon bei den exakten Ankunftszeiten durchdrehen, und bei der Hunsrückbahn an der Frage, ob überhaupt je was verkehrt. Das Wort „verkehrt“ bietet ja mehrere Interpretationsmöglichkeiten.

Als Minister Hering noch Bürgermeister von Hachenburg im Westerwald war, habe ich einmal eine historische Fahrt in seinem Auto erlebt, als er mich nach einem Auftritt am nächsten Morgen, sonntags um halb acht, so heroisch wie selbstlos nach Koblenz hinunter zum Bahnhof fuhr. Für Emmelshausen gilt heute: Der Zug ist nicht da. Nicht einmal der neue, den sie sich zum hundertjährigen Jubiläum der Hunsrückbahn geleistet haben. Ursache war nicht etwa eine Antriebsschwäche des Schienenfahrzeugs, sondern ein geradezu augenblicklicher Verschleiß der Radreifen. Umständlich hatte man eigens einen Schienenschleifzug organisieren müssen – Schleifzüge sind rar und kosten entsprechend. Die Radreifen ließen sich davon ohnehin nicht beeindrucken. Zehn Millionen Euro hat die DB Netz in neue Gleise für eine 16 Kilometer lange Strecke gesteckt – das ist nun der Dank. Nicht einmal das Schmieren der Radreifen hat etwas gebracht, einer der seltenen Fälle übrigens, bei dem Schmieren keine Wunder bewirkt hat.

Sie haben mich vor Monaten zur Eröffnungsveranstaltung gebucht, jetzt haben sie mich im sicheren Wissen, dass nichts Weltbewegendes passieren wird, anreisen lassen, sozusagen als 1-Personen-Eingreiftruppe, möglicherweise als De-Eskalations-Spezialist, ja, Gruppentherapeut. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich es hinauf nach Emmelshausen geschafft habe, wahrscheinlich mit dem Bus von Koblenz. Mit einem großen Bahnhof kann das Viereinhalbtausend-Seelen-Städtchen leider nicht aufwarten, wobei die Veranstaltung im kleinen Bahnhof stattfinden soll. Gut, ehrlich gesagt ist er sogar eher klein und wird schon lange für Kleinkunst genutzt, also immerhin sinnvoll.

Die örtlichen Honoratioren sind stoisch entschlossen, den Abend zu vollstrecken, ihre Mienen bewegen sich zwischen finsterer Gelassenheit und fatalistischer Fröhlichkeit. Wahrscheinlich haben sie den bereits kaltgestellten Sekt im Vorfeld weggepütgert, vielleicht bei der halbfeierlichen Enthüllung der Bronzeskulptur namens „Knochenflicker Pies“. Der Knochenflicker war der Vorläufer des Chiropraktikers. Ein Anlass also ohne Anlass. Ab und zu splinzt einer von ihnen verstohlen nach draußen, in der vagen Hoffnung, dass der Zug wider Erwarten doch noch eintrifft. Dabei wissen längst alle Beteiligten Bescheid, seit Wochen schon. Aber die Deutsche Bahn gibt ja ihre Verspätungen ebenfalls stets häppchenweise durch. Hier trifft sie allerdings keine Schuld. Ausnahmsweise. Das haben andere versemmelt. Oder veremmelt? Mit und gleichzeitig ohne Pauken und Trompeten.

Knapp eine Hundertschaft Zuschauer hat sich eingefunden. Ich habe die Texte eigens für diesen Abend zusammengestellt, teils völlig neu geschrieben, teils alte überarbeitet, und das für so einen Hennenschiss. Aufwand und Ergebnis stehen in keinem Verhältnis zueinander, was natürlich auch seinen Reiz hat, denn seien wir gerecht: So etwas passiert selten. Wie oft habe ich schon für absolut unaufwändige „Events“ oder „Galas“ das Drei- bis Vierfache kassiert, die mich – von der durch sie verursachten schlechten Laune einmal abgesehen – kaum ein Arschbackenrunzeln gekostet haben.

Manchmal saufen offizielle Anlässe sang- und klanglos ab. Ein Redakteur der Rhein-Neckar-Zeitung hat mir erzählt, man habe ihn einmal gebeten, bei der Preisverleihung eines Gourmetmagazins die Laudatio zu halten. Der Chefkoch, der den Preis bekommen sollte, musste kurzfristig absagen: Lebensmittelvergiftung. Bei der Einweihung des nigel-nagel-neuen Polizeipräsidiums in Heidelberg Ende der 90er-Jahre stellte man fest, dass die nigel-nagel-neue Tiefgarage für Mannschaftswagen unbefahrbar war, weil: zu niedrig.

Emmelshausen am 2. August 1908: Die Eröffnungsfahrt verläuft ohne Beanstandung, die preußischen Lokomotiven vom Typ T26 versehen klaglos ihren Dienst. Die Strecke in den Hunsrück hinauf zu hämmern, das macht man nicht eben mit links: Der Rauenbergtunnel fordert ein Menschenleben, und 1906 wird ein Arbeiter während der Bopparder Orgelbornkirmes bei einer Meinungsverschiedenheit in einer Wirtschaft erschossen. Ein Feldrutsch bei Leiningen schließlich kostet dreizehn Arbeiter das Leben, Gaffer lösen noch dazu einen weiteren Erdrutsch aus, bei dem fünf von ihnen sterben. Die Gegenwart ist zumindest unblutig, dafür unbefriedigend. Emmelshausen am 25. September 2008: Wie eine Cannes-Premiere ohne den Film oder eine Taufe ohne Säugling oder eine Buchvorstellung ohne Buch – wobei: Das wiederum habe ich schon öfter erlebt: Einmal kamen die Bücher tatsächlich gar nicht, beim zweiten Mal eine Stunde vor Showtime – via IC-Kurier – und beim dritten Mal brachte sie ein von Eis und Schnee entnervter Drucker zur Halbzeitpause.

Soviel zur Erhabenheit des Kulturbetriebs. Dumm allerdings, dass die lokalen Tourismusheinis gerade angefangen hatten, die Verlängerung der Bahntrasse von Emmelshausen nach Simmern, ihrer Schienen längst beraubt, als Radwanderweg zu vermarkten. Der Schienenersatzverkehr – vulgo Bus – von Boppard auf die Höhe transportiert leider keine Fahrräder. Die Hunsrückbahn hat schon manche Krise und sicher auch manchen Knallkopf überlebt. So schrieb die Bopparder Zeitung am 3. Januar 1910: „Die Zustände auf der Hunsrückbahn sind derart, dass wohl der ganze Verkehr eingestellt werden muss ...“

Sicher werden die sich verschärfende Energiekrise und der drohende Verkehrskollaps zum Wohl des Schienenbetriebs beitragen, bei weiter steigenden Benzinpreisen bleibt die Verlängerung bis Leiningen oder darüber hinaus keine Utopie. In Großbritannien werden wegen der Wohnungsnot in den Städten – die Immobilienpreise sind innerhalb von zehn Jahren um 55 % gestiegen – in den nächsten Jahren mehr als 1.000 Kilometer Gleise wieder in Betrieb genommen. Umso mehr müssen sich dann die Angebote an die Bedürfnisse der heutigen Zeit anpassen, sogar bei der Hunsrückbahn. Um in Zukunft bestehen zu können, darf sich der neue Betreiber Rhenus Veniro Innovationen nicht verschließen. (Wer denkt sich eigentlich solche Namen aus? Rhenus Veniro – das klingt, als müsse man es in der Apotheke kaufen.) Mag der Unterhalt der Bahn bis auf Weiteres geregelt sein – was fehlt, ist die Unterhaltung. Da böten sich Themenwaggons an, die z. B. dem Orientexpress nachempfunden wurden oder Serviceleistungen wie etwa in den Kenyan Railways von Ruiru nach Nairobi: Dort findet der Fahrgast im Wagen 3 einen Prediger, der jeden Morgen eine Art Gottesdienst abhält mit Gebeten, Gesängen und Table-Dance. Also das, was man heute „Spirit-Rail“ nennen könnte. Vielleicht liegt das Geheimnis in der Entschleunigung, denn bis zur Stilllegung war die Fahrt eher ein Quickie. In den Anfangstagen brauchte man für die Reise von Simmern nach Boppard noch 2 1/2 Stunden.

Hartmut Mehdorn – schön, dass der Name noch einmal auftauchen darf – hatte bereits ein Grußwort formulieren lassen: „Der neuen Hunsrückbahn wünsche ich allzeit gute Fahrt!“ Wann das allerdings genau sein soll: „Allzeit“, vermag aktuell niemand zu sagen. Keine 123 Tage nach der offiziellen Einweihung, am 4. Mai 2011 um 5:23 Uhr, wird der Bahnbetrieb endlich wieder aufgenommen, allerdings eingeschränkt. Bereits im darauffolgenden Dezember erhält einer der drei Triebwagen eine uneingeschränkte Zulassung vom Eisenbahn-Bundesamt.

Beim Passieren des Bahnhofs Boppard schaue ich seither reflexartig, ob das weiß-blaue, gelbbetürte Godotbähnchen am Gleis wartet. Die offizielle feierliche Eröffnung allerdings gestaltete sich als ein Ereignis von großer Ausgebliebenheit. Nach Emmelshausen haben sie mich nie wieder eingeladen. Nicht mal ein kaltes Buffet haben sie springen lassen, dabei ist gerade in Eisenbahnerkreisen der Hunsrück als Feinschmeckerregion bekannt, nicht zuletzt durch einen kulinarischen Tempel in Gestalt der Firma Sander Gourmet in Wiebelsheim, die, das durften geneigte Leser der Zeitung Bahn-Mobil entnehmen, jene Plumpsackmenus herstellt für die Kombidämpfer in den Speisewagen der Bahn-AG, das Prinzip heißt Cook & Chill, wahrscheinlich, weil einem dabei einiges gefrieren kann. Die produzieren außerdem nicht nur für Essen auf Rädern, sondern auch die leckeren Sägespänefilets für Ikea und beliefern sogar Hotels der höchsten Kategorie.

Anders als die Moselbahn sollte die Hunsrückbahn friedlichen Zwecken dienen. Erstere wurde als Kanonenbahn gegen die Franzosen eingerichtet, wobei nie ganz klar war, ob man damit die Kanonen selbst oder das Kanonenfutter in Gestalt von Soldaten transportieren wollte. Ich habe bei der Recherche das Buch „100 Jahre Hunsrückbahn“ aufmerksam studiert und fühlte mich dabei an meine Schulbücher in den 60er-Jahren erinnert – in denen klaffte zwischen 1933 und 1945 ebenfalls eine große Lücke. Schon wenn man das Kapitelverzeichnis durchschaut, fällt dies auf: 1917 Unfall. Sprung auf 1938: Das neue Bahnhofsrestaurant in Boppard, was einem nicht zwingend als Erstes in den Sinn kommt, wenn man an dieses Jahr denkt, und schon sind wir im Schuljahr 1944/45. Die Nazis werden nur mal am Rande erwähnt. Dafür ist mir vorne bei den Grußworten ein anderer Begriff begegnet, den ich so noch nie gehört habe: „Liebe Eisenbahnfreundinnen ...“ War sie nicht immer eine Männerdomäne, die Eisenbahn, eines ihrer letzten Rückzugsgebiete? Selten, dass in den Sendungen des großen Hagen von Ortloff einmal eine Frau auftauchte.

Bei der Bahn ist vieles ein wenig heikel geworden in den letzten Jahren. Der jeweilige Bundesverkehrsminister kommt häufig aus dem autofixierten Bayern. Gelegentlich erwecken sie den Eindruck, dass die Blutbahnen zum Gehirn unrentable Nebenstrecken sind. Bei der Bahn walten Minutendiebe, Stundendiebe, im vorliegenden Hunsrückfall sogar Tagediebe, ja, diese klassische Betätigung erfährt hier eine absolut moderne Auslegung. Ein Verspätungsbonussystem, das wär’s: Frequent-Loser-Meilen. Vielleicht gibt es in der Bahnzentrale irgendwo einen Minutensammler, der Minuten hortet bzw. auf dem freien Markt weiter verscherbelt an Leute, die chronisch klamm sind an Zeit. Was genau macht der Pofalla eigentlich bei der Bahn AG? Die originellste Verspätungsbegründung lautet natürlich: „Auf Grund einer Verzögerung im Betriebsablauf ...“ Natürlich auf Grund einer Verzögerung – was denn sonst?

Diebstahl im Minutentakt. Was könnte ich mit all den Stunden anfangen, welche die Bahn mir jährlich klaut, gerade jetzt, wo mir die Zeit knapp wird. Der letzte Monat war besonders ergiebig, meine persönliche Verspätungsbestleitung von 2007 wurde noch übertroffen. Über die Urkunde des Bundespräsidenten habe ich mich natürlich ganz arg gefreut, die hängt jetzt neben der von den Bundesjugendspielen 1966. Das war natürlich ein Scherz, ich habe nie eine Urkunde bei den Bundesjugendspielen bekommen. Was glauben Sie denn, warum ich Künstler werden musste? Reine Kompensation. Und was habe ich mir dafür eingehandelt? Eine bahntraumatische Belastungsstörung.

Was mir 2008 entgangen ist, da oben im Hunsrück? Eher nichts, ich hatte die Reise schon vorsorglich zu Beginn der Nuller Jahre unternommen und darüber notiert: „Das Hunsrückbähnlein benötigt für die paar Meilen von Boppard nach Emmelshausen stolze 20 Minuten. Obwohl sie sich an der legendären Darjeeling-Bahn zu orientieren scheint, haben wir es keineswegs mit einem Pampaexpress zu tun: Hier finden sich voll ausgerüstete Kids mit Gameboys und iPods, gerade wie anderswo. Eigentlich sollten sie die Linie serienmäßig mit Wlan-Anschlüssen ausstatten, das würde die Jugend in Scharen in die Bahn locken. Was macht die Bahn stattdessen? Deklariert die Route zur Nostalgiestrecke. Konsequenterweise hätten sie dann den Bahnhof Boppard mit Thonetstühlen bestücken müssen. Das Bähnlein besteht aus einer Diesellok und zwei reichlich unromantischen Waggons, und was das Tempo angeht, so unterschreiten sie sicher die Werte der Zahnradbahn, die 1908 hier verkehrte.

Selbst auf diesen doch eher beschaulichen 15 Meilen das Mühltal hinan bringt die Bahn eine Verspätung von fünf Minuten zuwege. Das Schienennetz ist marode, weswegen die Deutsche Bahn, so habe ich der Presse entnehmen dürfen, immer mehr sog. Langsamfahrstellen einführen muss, die der Bahnler „La“ nennt. Boppard nach Emmelshausen: Lalalalalalalalalaa. Das ganze Land ist eine Langsamfahrstelle. Die Fahrt selbst ist eher profan. Was habe ich erwartet? Dass Edgar Reitz die Karten kontrolliert? Also bitte, der Mann ist über 70. Gut, wer Oregon mag, sollte sich das mal gönnen: Wald, Wald, Wald, minus die Rodungsflächen. Millionen von Zecken, die nur darauf warten, sich auf einen neuen Wirt zu schwingen. Die Romantik findet ihr jähes Ende, wenn der Zug die Autobahn überquert. So viel zum Thema Abgeschiedenheit. Buchholz bietet als Haltepunkt einen knallroten Kubus, der auch nicht eben nostalgisch anmutet. Übersehen wird ihn der Lokführer sicher nicht.

Bereits im Dezember 2011 erhielt der neue Streckenbetreiber eine uneingeschränkte Zulassung für einen der drei Triebwagen. Zwei mussten noch zum Knochenflicker, aber ab Januar 2012 ging’s richtig los. Nur mich haben sie halt nicht dabei haben wollen.