Über Nadja Spiegelman

Nadja Spiegelman, geboren 1987, wuchs in New York City auf und lebt heute in Paris und Brooklyn. Sie ist die Tochter des berühmten Cartoonisten und Pulitzer-Preisträgers Art Spiegelman und der Kunstredakteurin des New Yorker, Françoise Mouly.

Sabine Kray, geboren 1984, lebt in Berlin und arbeitet als Autorin und Übersetzerin.

Informationen zum Buch

Nadja Spiegelman erzählt mehr als ihre eigene Geschichte. Sie zeichnet die Lebenswege dreier Frauen nach, deren Schicksale kaum enger miteinander verknüpft sein könnten. Ein eindrucksvolles Debüt über die blinden Flecken in Familien, über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerung und über die Kraft des Erzählens.

Als Kind glaubt Nadja Spiegelman, ihre Mutter sei eine Fee. Ein besonderer Zauber umgibt Françoise Mouly, die erfolgreiche Kunstredakteurin des New Yorker. Erst Jahre später, als Nadja allmählich zur Frau wird, bricht dieser Zauber. Immer häufiger trifft sie die plötzliche Wut der Mutter, ihre Zurückweisung, ihre Verschlossenheit. Nadja ahnt, dass sich in Françoises Ausbrüchen deren eigene Familiengeschichte widerspiegelt, und sie beginnt, der Vergangenheit nachzuspüren. In langen Gesprächen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter stößt sie auf unsagbaren Schmerz und widerstreitende Erinnerungen, aber auch auf die Möglichkeit, im Erzählen einen versöhnlichen Blick auf die Vergangenheit zu finden. Ein poetisches, zutiefst ehrliches Buch, das offenlegt, warum uns die, die wir am meisten lieben, häufig am stärksten verletzen.

»Nadja Spiegelman hat ein leidenschaftliches, eindringliches, spannendes Buch über ihre Mutter, ihre Großmutter und sich selbst geschrieben. Ich bin stolz, eine kleine Rolle in dieser komplexen Liebesgeschichte zu spielen, die sich über drei Generationen von Frauen erstreckt.« Siri Hustvedt

Wie einst ihr Vater Art Spiegelman in seinem berühmten Comic Maus spürt auch Nadja Spiegelman in ihrem Buch den Lebensgeschichten nach, die ihrer eigenen vorausgehen. In einzigartigen Bildern erzählt sie die Geschichte dreier Frauen, deren Schicksale kaum enger miteinander verknüpft sein könnten. Ein zutiefst aufrichtiges Buch über die blinden Flecken in Familien, über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerung und über die Kraft des Erzählens.

»Poetisch, messerscharf und von allgemeiner Gültigkeit.« San Francisco Chronicle

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Nadja Spiegelman

Was nie geschehen ist

Aus dem Amerikanischen von Sabine Kray

Inhaltsübersicht

Über Nadja Spiegelman

Informationen zum Buch

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Kapitel eins

Kapitel zwei

Kapitel drei

Kapitel vier

Kapitel fünf

Kapitel sechs

Kapitel sieben

Kapitel acht

Kapitel neun

Kapitel zehn

Kapitel elf

Kapitel zwölf

Epilog

Danksagung

Impressum

Für meine Großmutter
und
meine Mutter

La mémoire ne nous servirait à rien
si elle fût rigoureusement fidèle.

Paul Valéry

Kapitel eins

Als Kind war ich überzeugt, meine Mutter sei eine Fee. Keine Fee mit durchscheinenden Flügeln und einem Zauberstab, sondern eine, die einen Pelz aus dem Secondhandladen und Tinte an den Fingern hatte. Es gab nichts, was sie nicht konnte. An den Wochenenden legte sie eine Schutzbrille an, packte eine Stichsäge und gestaltete ihre Schlafzimmerschränke neu. Sie schloss einen Schlauch an die Armatur in ihrem Badezimmer an, um mein Planschbecken auf dem Dach mit Wasser zu befüllen. Sie half mir, ein Modell des Regenwaldes zu bauen, und schnitzte mit ihrem Schablonenmesser sogar makellose kleine Paradiesvögel dafür.

»Maman«, fragte ich sie, als ich vier Jahre alt war, »wann werde ich eine Fee sein, so wie du?«

»Wenn du sechzehn wirst«, antwortete sie. Also beobachtete ich sie weiter und wartete.

Einmal, mitten in einem Gewitter auf einer Schnellstraße in Brasilien, fuhr meine Mutter plötzlich rechts ran. Ein verlassener, dunkler Strand lag vor uns. Enthusiastisch signalisierte sie meinem Bruder und mir auszusteigen. Wir krabbelten vom Rücksitz, wo wir es uns gemütlich gemacht hatten, und sprangen hinaus in den elektrisierten Regen. Wir folgten ihr, während mein Vater am Straßenrand stand und ihren Namen rief, doch seine Stimme war im tosenden Sturm kaum auszumachen. Wir zogen uns bis auf die Unterhose aus, dann reichte meine Mutter uns ihre Hand, eine für jedes Kind, und wir rannten direkt ins Wasser hinein. Die See packte uns, nur um uns sofort auf den Sand zurückzuwerfen. Wir kreischten vor Lachen. Wir rannten zurück. Aus dem Himmel brach ein Blitz und fiel ins Wasser. Die Wellen überragten meine Mutter um eine ganze Körperlänge.

Mein Vater, der noch immer beim Auto stand, war blass. Furcht und Ärger klangen aus seiner ruhigen Stimme. »Mein Gott, Françoise«, sagte er und schüttelte den Kopf. Nun waren wir zu spät, wie üblich. Meine Mutter lenkte den Wagen zurück auf die Schnellstraße und raste auf den tiefschwarzen Horizont zu. Obwohl wir in zwei Unfälle verwickelt gewesen waren, war mir lange nicht bewusst, dass meine Mutter eine leichtsinnige Fahrerin war; erst mit über zwanzig machten Freunde mich darauf aufmerksam. Jene Eigenschaften meiner Mutter, die sich ihrer Wahrnehmung entzogen, konnte auch ich nicht sehen. Von oben bis unten mit Sand und Salz bedeckt, schliefen wir auf dem Rücksitz ein, die Münder weit geöffnet, während unsere Haare sich beim Trocknen in wilde Locken kringelten.

Meine Mutter missachtete die meisten Gefahren. Sie tat sie als amerikanische Konstrukte ab, erfunden von jenen verhuschten Frauen, die auch ihr Gemüse wuschen. Sie war einfach sicher, dass nichts schiefgehen würde. »Also, dass man bei Gewitter nicht schwimmen soll, habe ich nun wirklich noch nie gehört«, sagte sie, als ich die Geschichte Jahre später erwähnte. Ihre Stimme kippte ein wenig, sie wurde abweisend. Sie mochte es nicht, wenn man über sie lachte.

Es gab auch noch andere Urlaube – wie etwa den, in dem meine Mutter uns, genervt von den anderen Müttern, aus der Ferienanlage entführte. Während die anderen sich beschwerten, dass es auf dem Frühstücksbuffet keinen Apfelsaft gab, ließ sie mich auf Feldwegen unseren Leihwagen fahren. Es war ein Jeep mit Gangschaltung, und meine Füße reichten kaum bis zu den Pedalen. Dann war da noch der Urlaub, in dem sie kein einziges Hotel im Voraus gebucht hatte. Stattdessen fuhr sie die Küste von Costa Rica entlang und kaufte alle seltsamen Früchte, die am Straßenrand feilgeboten wurden. Mein Vater begleitete uns nur selten. Einmal nahm meine Mutter im Wald eine Handvoll Erde, steckte sich ein wenig davon in den Mund und tat dann dasselbe bei uns. Sie erklärte, das stärke unser Immunsystem. Als Kinder waren wir häufig krank, danach sehr selten. Mein Bruder und ich lernten, dass einen stets die Angst in Gefahr brachte. Uns würde nichts zustoßen – diese Gewissheit unserer Mutter begleitete uns auf Schritt und Tritt, sie umgab uns wie ein Kraftfeld.

»Weißt du, wann ich mich endlich von meiner Mutter befreit gefühlt habe?«, fragte mich meine Mutter. Mehr als einmal hat sie diese Geschichte erzählt, sie war mehr eine Allegorie als eine Anekdote.

Ich war ein Baby. Sechs Monate alt. Sie hatte mich mit nach Frankreich genommen, um mich der Familie vorzustellen. Das waren die goldenen Jahre, an die ich mich niemals erinnern werde. Jene Jahre, in denen sie mich niemals ablegte. Sie trug einen weiten Mantel, darunter ein Tragetuch. Darin lag ich. Wir teilten einen Körper. Nachts wachte sie auf, bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, um zu schreien, und fütterte mich.

Doch als sie an jenem Abend das Haus ihrer Freunde betrat, sagte man ihr, sie solle mich während des Abendessens einfach im Schlafzimmer der Gastgeber lassen. Zögerlich befolgte sie den Rat. Als das Essen serviert und die zweite Runde Wein eingeschenkt wurde, fing ich an zu schreien. Meine Mutter sprang auf.

»Lass sie«, sagte die französische Freundin. »Der Lärm stört uns nicht.« Meine Mutter ging auf die Tür zu.

»Sie wird niemals lernen, mit dem Schreien aufzuhören, wenn du sie jedes Mal auf den Arm nimmst«, sagte die Freundin und schlug dabei jenen autoritären Ton an, den die Franzosen oft anschlagen, wenn sie jemandem einen weisen Rat geben: Du wirst dir eine Erkältung holen, wenn du mit nassen Haaren nach draußen gehst; Brot hat mehr Kalorien, wenn es nicht ganz durch ist; du wirst niemals einschlafen können, wenn du abends noch Ingwertee trinkst.

Meine Mutter zögerte, dann setzte sie sich wieder. Meine Schreie wurden lauter.

»Sie wird sich müde schreien«, erklärte eine andere Freundin. Doch meine Mutter hatte den Tisch bereits wieder verlassen, um mich auf den Arm zu nehmen. Während sie mich beruhigte, mich wiegte und eng an ihren Körper drückte, hörte sie Gesprächsfetzen aus dem anderen Zimmer, ein Chor der Missbilligung. »Nun, das Baby … Als mein Kind … Sie muss einfach … Es wird sie bloß ermuntern …«

So wäre das also, dachte meine Mutter, als ich mich, so an ihren Körper geschmiegt, langsam beruhigte. So wäre das also, wenn ich sie hier großziehen würde. Alles würde sich wiederholen.

Sie dachte an die hohen Decken ihres Lofts in Manhattan. Sie dachte an die Straßen, an das Gedränge von Chinatown, in dem wir unsichtbar waren, sie und ich. Und da begriff sie, dass sie frei war.

»Mir wurde klar, dass ich eine neue Definition von Mutterschaft entwickeln konnte«, sagte sie nun. »In Amerika war ich so weit weg von all dem. Ich hatte keinen Plan, keine Regeln. Also entwarf ich meinen eigenen Plan. Bis ins Detail. Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat. Alles, was ich wusste, war, dass es anders sein würde.«

Jetzt, also jetzt, da ich ihre Vergangenheit kannte, sah ich beides. Ich sah, was meine Mutter alles getan hatte, um sich von ihrer eigenen Mutter zu unterscheiden. Und ich sah auch, wie die so lang verschwiegene Vergangenheit uns lenkte. Sie glich einer unsichtbaren Strömung im Ozean, sie definierte unseren Abstand, unsere Nähe zueinander, und sie verlief in einer solchen Tiefe, wir merkten kaum, dass nicht wir selbst den Kurs bestimmten.

Meine Mutter war achtzehn, als sie Paris verließ und nach New York floh. Schon immer hat meine Familie in jener Loftetage in SoHo gelebt, in die meine Mutter 1974, ihrem ersten Jahr in Amerika, einzog. Ich versuchte mir den Ort so vorzustellen, wie ich ihn von alten Fotos kannte. Damals war es ein Durcheinander, voller Möbel, die sie von der Straße heraufgeholt hatte. Bücherregale und andere improvisierte Konstruktionen dienten als Raumtrenner. Kurz nach meiner Geburt baute meine Mutter echte Wände, Türen und Treppen. Die Zwischengeschosse erreichte man über Leitern, doch es gab auch Strickleitern, die ins Nichts führten, und Trapeze, die mit großer Sorgfalt an den tragenden Balken befestigt waren – so sah er aus, der Grundriss meiner Kindheit.

Zweimal im Jahr besuchten wir alle zusammen ihre Familie in Frankreich. Die geschiedenen Eltern, ihre zwei Schwestern und einen Cousin. Mehr Familie hatte ich nicht. Insgesamt neun Menschen, mich selbst eingeschlossen. Auf der Seite meines Vaters gab es niemanden mehr.

Meine Großmutter verbat es sich, Grand-mère genannt zu werden, also nannten wir sie Josée, wie jeder andere auch (mal buchstabierte sie ihren Namen mit einem e am Ende, mal ohne, und wenn sie ihn aussprach, klang es wie Joe-Zay). Josée lebte auf einem Hausboot, das am Stadtrand von Paris festgemacht war, dort, wo die Seine einen Bogen macht und die nordwestliche Stadtgrenze erreicht. Sie hatte einen ehemaligen Frachtkahn gekauft und daraus ein luxuriöses Hausboot gemacht, das sie in ihrem eigenen, absolut einzigartigen Stil gestaltet hatte. Cremefarbene Teppiche, japanische Schiebetüren, in der Mitte ein Whirlpool – direkt unter einem achteckigen Oberlicht, das sich wie eine Blüte dem Himmel zuwandte. Ein Tisch erhob sich per Knopfdruck aus dem Boden. Gäste wurden angehalten, ihre Schuhe an der Tür auszuziehen oder Plastiküberzüge darüberzustülpen, falls sie sie anbehalten wollten.

Dieses Hausboot und mehrere andere, die sie zuvor renoviert und verkauft hatte, wurden in Magazinen vorgestellt. Ein ganzer Stapel dieser Magazine lag unter dem hängenden, rot lackierten Kamin. Die Wände des Gäste-WCs waren mit Bildern von ihren Reisen gepflastert: im Sari auf einem Elefanten, mit schwarz bemaltem Gesicht und in Leopardenfelle gehüllt, in Lederhosen und nichts weiter (zusammen mit einer Bescheinigung, dass »die Inhaberin dieses Dokumentes beim Mardi Gras im Jahr 1998 ihre Titten gezeigt hat«). Lange nachdem meine Großmutter eine schöne Frau gewesen war, war sie immer noch schön. Sie benahm und kleidete sich auf eine Art, die keinen Zweifel daran ließ. Sie umrandete ihre Augen mit blauem Eyeliner. Nie stellte sie mir Fragen über mein Leben.

Es gab immer einen Augenblick des Atemanhaltens, während meine Großmutter uns unsere Plätze am Tisch zuwies, ihre Entscheidungen waren so wohlüberlegt und zielgerichtet wie die der Queen. Diejenigen, die in ihrer Nähe saßen, standen hoch in ihrer Gunst, diejenigen, die weiter weg saßen, taten es nicht. Liebe war ein Nullsummenspiel. Weil meine Mutter selten kam, saß sie oft in ihrer Nähe. Ihre Schwestern, die am anderen Ende des Tisches Platz genommen hatten, gaben sich Mühe, sie nicht böse anzustarren.

Schon früh war mir klar, dass meine Tanten im Dunstkreis ihrer Eltern gefangen waren, wie Motten, die mit verkohlten Flügeln um eine Kerze kreisen. Warum ich das erkannte, wusste ich nicht. Sie waren Erwachsene und doch nicht erwachsen. Wenn sie ihrer Mutter Rede und Antwort standen, änderten sie ihre Tonlage auf die gleiche Art und Weise, wie ich es gegenüber meiner eigenen tat.

Andrée, die sechs Jahre jünger war als meine Mutter, war mir am nächsten. Sie hatte Motorradunfälle, bei denen sie sich die Knie brach, sie lebte in den übelsten Gegenden von Paris, und sie hatte wilde Liebesaffären. Sylvie, die anderthalb Jahre älter war als meine Mutter, sprang ständig auf, um Teller aufzutragen und abzuräumen, wobei sie sich laut seufzend als Märtyrerin der Familie aufspielte. Doch wenn sie mit den Kindern sprach – mit ihrem Sohn (unserem einzigen Cousin), mit meinem Bruder oder mir –, dann konnte sie auch lachen, und zwar laut, glucksend, wiehernd und unbefangen wie ein Kind.

Während dieser Besuche hielt ich mich an meine Mutter. Tief in mir wusste ich, dass ihre Familie gefährlich war, und sie hatte uns beigebracht, auf der Hut zu sein, genau wie beim Überqueren der Canal Street oder wenn es um Fastfood ging. Sie behandelte ihre Schwestern mit der gleichen höflichen Reserviertheit, die sie Frauen zuteilwerden ließ, denen sie nicht vertraute. Ihren Eltern gegenüber war sie ebenso überschwänglich freundlich und respektvoll, wie sie es gegenüber den Eltern anderer gewesen wäre. Ich verhielt mich genauso. In Paris war meine Stimme eine Oktave höher. Ich sagte kaum mehr als merci, oui, merci, s’il te plaît, c’est délicieux, merci und stellte mich auf die Zehenspitzen, um eine nicht enden wollende Reihe von Wangen zu küssen.

Als ich klein war, beobachtete ich, wie meine Mutter vor jeder Begegnung mit ihrer Familie Haltung annahm, sich vorbereitete – ich sah den strengen Blick, mit dem sie sich im Spiegel musterte, und den Lippenstift, den sie wie eine Rüstung auftrug. Der Großteil der Unterhaltungen am Tisch wurde in einer Sprache geführt, die ich nicht verstand, es gab einen Code, der mir unbekannt war, aber ich spürte, dass das Geplänkel voller Spitzen war, jedes Kompliment einen vergifteten Kern hatte. Ich hörte auch die Kommentare, die mich betrafen – die finsteren Bemerkungen zum Pony, den ich mir gerade erst hatte schneiden lassen. Ich bemerkte das wissende Nicken, das immer wieder die Runde machte, die Art, wie sie sich alle einig darüber waren, dass ein zweites Stück Kuchen das Allerletzte war, was ich brauchte. Ich fürchtete diese Abendessen, aber ich liebte die Fahrten im Taxi, zurück nach Hause. Dort, auf dem Rücksitz, fühlte ich mich plötzlich sicher und geborgen im Schoß meiner vierköpfigen Familie, die nun, da sie auf ihre ursprüngliche Größe zurückgeschrumpft war, besonders harmonisch wirkte.

Meine Mutter war ganz außer sich vor Erleichterung. »Das Beste, was ich je getan habe, war, dafür zu sorgen, dass sich zwischen denen und mir ein ganzer Ozean befindet«, sagte sie an diesen Abenden oft.

»Ich habe solches Glück, dass ich all dem entkommen bin«, sagte sie bei anderen Gelegenheiten. »Ich hätte das schlicht nicht überlebt. Kannst du dir das vorstellen, also kannst du dir vorstellen, wie mein Leben dort ausgesehen hätte?« Aber ich konnte es mir nicht vorstellen. Obwohl die Vergangenheit ständig präsent war, konnte ich sie nicht lesen. Sie war in den Narben, die ich als kleines Kind mit dem Finger abfuhr, in den seltsamen Dingen, die meine Mutter in Rage brachten. Sie fand sich sogar in meinem Körper, als eine Wunde, eine Furcht, für die mir weder ein Name noch eine Erklärung einfallen wollte. Die Vergangenheit unterwanderte alles, sie war das Fundament, auf dem wir beide standen. Und dennoch, ebenso wie ihr französischer Akzent, der auch nach vierzig Jahren in Amerika noch zu hören war, entzog sich die Vergangenheit meiner Wahrnehmung, weil sie einfach zu präsent war.

Konnte meine Mutter denn überhaupt jemals ein Mädchen gewesen sein? Ich wusste, was es bedeutete, ein Kind zu sein, dass Gefühle einen einfach umhauen konnten mit ihrer Intensität und dass die Erwachsenen das nie zu verstehen schienen. Über die Kindheit meiner Mutter hingegen wusste ich fast nichts. Die meisten ihrer Narben stammten von Unfällen. Die vier- oder fünfmal gebrochene Nase. Die Stelle, wo ein scharfkantiger Metallzaun sich einmal komplett durch ihren Arm gebohrt hatte. Eine Wunde am Kopf, die sie sich an einer Kante im Flur der Familienwohnung zugezogen hatte. (»Ich wusste gar nicht, dass du ein rotes Kissen hast«, sagte ihre Großmutter Mina, als sie sie anschließend in ihrem Zimmer fand.) Das waren die lustigen Geschichten. Aber es gab noch andere Narben, an ihren Handgelenken, an verborgenen, weichen Stellen, Narben, die sie im Inneren ihres Körpers trug – über die sprach sie nie, und ich fragte nie nach ihnen.

»Nach der Scheidung kam mein Vater manchmal in mein Zimmer und …«, sagte meine Mutter einmal, dann fing sie sich. »Davon erzähle ich dir, wenn du älter bist.« Als ich ihr von den Schnitten an den Armen der Freundin, mit der ich zu Schulzeiten zusammen war, erzählte, sagte sie: »Weißt du, als ich in dem Alter war …« Und dann, nach einem raschen Seufzer: »Davon erzähle ich dir, wenn du älter bist.« Ganz selten rutschte ihr etwas heraus, manchmal vergaß sie aber auch einen Augenblick lang, dass ich zuhörte. Ihr Vater war oft nackt durch den Flur geschlendert und hatte die jungen Haushälterinnen damit schrecklich in Verlegenheit gebracht. Einmal, an Weihnachten, hatte er ihr, rein prophylaktisch, den Blinddarm entfernt. Wenn ich sie aber ganz direkt nach ihrer Kindheit fragte, dann erzählte sie mir bloß die lustigen Geschichten, die unkomplizierten: die Geschichte zum Beispiel, als sie und ihre Schwester das Bett kaputt gemacht und das Missgeschick dann auf ihre dicke Großmutter geschoben hatten, oder die Geschichte, als meine Mutter Sylvie das Haar abgeschnitten hatte, während diese schlief. Ich sah bloß die ausgefransten Ränder der Löcher in den Geschichten, spürte lediglich die Nachbeben der Explosionen. »Davon erzähle ich dir, wenn du älter bist«, sagte sie jedes Mal, wenn ich versuchte, mehr aus ihr herauszukriegen, denn sie wusste, dass nur eine von uns ein Mädchen sein konnte. Und nur eine von uns eine Frau.

Als Kind erfand ich meine eigenen Zauber-Rituale. Ich drehte meine Puppen dreimal im Kreis, spuckte auf Teddybären, legte Draht unter mein Kissen und lebte in Angst vor einer verblichenen pinken Feenpuppe, von der ich glaubte, dass sie nicht nur mein Schicksal, sondern auch das der anderen Spielsachen bestimmte. Die echte Welt wurde von einer leuchtenden zweiten Welt überlagert, die aus Gesten und Symbolen bestand. Viel länger als alle meine Freunde glaubte ich an ein magisches Reich. Ich wollte nicht erwachsen werden. Meine Klamotten waren mir egal. Das, was sich da am anderen Ende der Kindheit befand – ein Körper, der sich unangenehm bemerkbar zu machen begann, die wachsende Wut meiner Mutter –, das alles schien mir nicht sehr erstrebenswert. Ich wollte mich dieser Welt und all ihrer Bedrohlichkeit entziehen, wollte mich hineinfallen lassen in diese andere, die leuchtende Welt.

Ich glaubte viele Dinge, ohne sie je zu hinterfragen. Ich glaubte, dass meine Mutter meine Gedanken lesen konnte, es aber bewusst nicht tat, und dass es sich bei den winzigen roten Insekten, die im Kunstrasen auf unserem Dach lebten und so gemein auf der Haut brannten, um böse Omen handelte. Ich besaß die Fähigkeit, den Unterhaltungen von Menschen zu lauschen, denen ich in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet war. Glasklar schwebten ihre trivialen Aussagen durch mein Bewusstsein, während ich mir morgens die Haare kämmte – Ich habe dir doch gesagt, dass es ganz hinten ist. Eine aufrecht stehende Plastikflasche, die mir auf dem Gehweg begegnete, leuchtete symbolträchtig, als handelte es sich um eine verschlüsselte Botschaft, deren Inhalt ich irgendwie erahnen konnte. Ich weigerte mich, die wahllose Unordnung dieser Welt zu akzeptieren. Es fehlte eine Geschichte, ein Sinn in all dem Chaos. Diesen Sinn holte ich mir durch die Magie.

Am Morgen meines sechzehnten Geburtstags starrte ich, von tiefster Enttäuschung erfüllt, in den Spiegel gegenüber vom Esstisch. Mir war nicht wirklich bewusst gewesen, dass ich noch immer darauf gehofft hatte, eine Fee zu werden, aber so war es. Meine Mutter betrat den Raum in jenem ausgeblichenen rosa Nachthemd, das schon ihrer Großmutter gehört hatte, und für einen Augenblick sah ich sie mit anderen Augen, so wie man Menschen, die man sein Leben lang kennt, eigentlich nicht sehen kann. Sie hatte violette Augenringe, ihre olivfarbene Haut wurde langsam dünn, weich und faltig, und ihr Haaransatz war schon seit Jahren grau. Und dennoch wusste ich, ja ich war mir noch immer sicher, dass sie eine Fee war. Ich wusste es, weil die richtigen Worte von ihr mich unverwundbar machen konnten. Ich wusste es, weil jeder einzelne erste Kuss meines Lebens nach drei Sekunden von ihrem Anruf unterbrochen wurde. Ich erkannte es an der Art, wie sie mich an diesem Morgen nur kurz ansah und mich dann fragte, ob ich fliegen könne.

Als ich sechs und mein Bruder anderthalb Jahre alt waren, wurde meine Mutter Art-Direktorin beim New Yorker. Es war der erste Job, für den sie sich schick anziehen musste. Von da an stellte sie Babysitterinnen für uns ein, ehrgeizige junge Frauen, die Französisch sprachen und nach kurzer Zeit wieder fortgingen. An ihre Namen kann ich mich heute kaum noch erinnern. Meine Mutter stand jeden Morgen um zwanzig nach sechs auf, um uns zur Schule zu fahren. Sie raste den Franklin D. Roosevelt Drive entlang, bis sie die Dreiundzwanzigste Straße erreichte. Dann brachte sie den Wagen zurück nach SoHo, bevor sie in ihr Büro ging, das hoch oben über dem Times Square lag. Zum Abendessen war sie stets zu Hause, selbst wenn das bedeutete, dass die Babysitterin kochen musste oder wir erst lange nach Sonnenuntergang aßen.

Wenn ich krank war oder schulfrei hatte, nahm meine Mutter mich mit zur Arbeit. Ich saß auf der Couch in ihrem großen Büro und sah zu, wie die Künstler mit Coverentwürfen hereinkamen. Sie bearbeitete die Bilder mit ihrem roten Stift, kletterte auf einen Stuhl – ihre Haltung war immer perfekt, trotz ihrer kurzen Röcke und der hohen Schuhe – und pinnte die Entwürfe an die Wand. Sie gab Andrucke in Auftrag, rannte runter in die Druckerei, überprüfte die Farbtöne und brachte den Korrektoren (die alles erschreckend genau und jedes Bild wörtlich nahmen) bei, dass Hasen durchaus pink sein konnten, solange Ostern war. Manchmal gab sie mir eine Schere, und ich bastelte extravagante Schneeflocken aus ihrem Schmierpapier, wobei ich versuchte, ihre niemals nachlassende Geschäftigkeit zu imitieren. Meine Werke verteilte ich auf der ganzen Etage, rannte von Büro zu Büro und zweifelte nie an der Dankbarkeit der Beschenkten. Wenn ich mit meiner Mutter zusammen war, fühlte ich mich unverwundbar.

Wenn meine Mutter uns aber morgens in die Schule brachte, dann lag eine andere Energie in der Luft. Frustriert schlug sie auf das Lenkrad, und ihre französischen Stoßseufzer, ihre Arghs und Pffs hingen in der Luft wie die Soundeffekte eines Comics, so dicht, dass für eigentliche Sprache kein Platz mehr blieb. Und trotzdem bestand sie darauf, uns zu fahren. Sie wollte nicht, dass wir allein zur Schule gingen, wie sie selbst es als Kind hatte tun müssen. Nachdem ich ihre ganze Geschichte erfahren hatte, erschien es mir regelrecht seltsam, dass sie sich allein diesen Teil ihrer Kindheit zu hassen gestattete.

Ich versuchte, sie mir als Jugendliche vorzustellen, aber ich sah sie immer nur so, wie ich sie kannte. Nie hatte ich auch nur ein einziges Foto von ihr gesehen, auf dem sie zwischen acht und achtzehn gewesen wäre. Soweit ich wusste, waren auch nie welche gemacht worden. Sie hatte mir erzählt, dass sie als Kind Kaffee getrunken hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie diesen Kaffee zubereitet hatte, im grauen Licht eines Pariser Morgen, leise und gewissenhaft, während der Rest der Familie noch schlief. Auf der Suche nach einer Verbindung zu dem unbekannten Kind, das meine Mutter für mich war, bettelte ich jahrelang darum, auch Kaffee trinken zu dürfen.

Außerhalb unserer Wohnung war der Name meiner Mutter fast immer an den meines Vaters geknüpft. »Auch sie selbst ist eine beeindruckende Frau«, hieß es in den Zeitungsartikeln. Maus, der Comic meines Vaters, in dem er die Erfahrungen seiner Eltern in Auschwitz und weiteren Konzentrationslagern verarbeitet hatte, gewann den Pulitzer Preis, als ich fünf war. Im Licht dieses Preises erschien er der Welt überlebensgroß, so groß, dass sogar er selbst hin und wieder damit zu kämpfen hatte. Bei uns zu Hause war jedoch meine Mutter diejenige, die den längeren Schatten warf.

»Françoise kümmert sich um das echte Leben, ich kümmere mich um alles andere«, sagte mein Vater oft im Scherz. Und obwohl es stimmte, dass meine Mutter sich um die Finanzen kümmerte, obwohl sie klempnerte, zimmerte und unsere Ausbildung und unsere Ferien organisierte, während mein Vater manchmal wochenlang in seinem Atelier verschwand, sah ich sie immer zusammenzucken, wenn er das sagte. Sie fasste es nicht als Kompliment auf.

»Meine Freundinnen und ich sprechen oft darüber, wie sehr wir dich hassen«, sagte eine Freundin meiner Mutter einmal zu ihr. »Du bist Französin, du hast den besten Job in New York, du hast einen erfolgreichen Mann geheiratet, du bist schön, du bist dünn, du hast zwei wunderbare Kinder. Es ist einfach nicht fair. Du bist perfekt.«

Meine Mutter war nicht perfekt. Meine Mutter war heftig. Dinge geschahen nicht, weil sie möglich waren, sie geschahen, weil sie entschieden hatte, dass sie geschehen würden. Einmal gelang es ihr, eine Couch durch einen Türrahmen zu quetschen, der mehrere Zentimeter zu schmal war, indem sie all ihre Kraft aufwendete und unentwegt wiederholte: »Rein mit dir, Couch!« Aber wer schon einmal ein Märchen gelesen hat, weiß, dass Zauberformeln immer ihren Preis haben. Die Magie speiste sich aus verborgenen Quellen. Mein Bruder bezeichnete ihre Willensanstrengungen als »Feuerball-Strategie«. Sie war in der Lage, das gesamte Universum in Flammen aufgehen zu lassen, aber der Brennstoff war sie selbst. Irgendwo in ihr drin war verbrannte Erde.

Eines Nachmittags, ich war acht, packte meine Mutter mich grob an den Handgelenken, als ich von der Küche zurück in mein Zimmer schlenderte. Sie war fuchsteufelswild. Verblüfft starrte ich sie an.

»Du kannst nicht nackt herumlaufen, wenn die Klempner hier sind!«, sagte sie. Die Badezimmertür war noch geöffnet, und die Männer, die da arbeiteten, konnten uns hören, obwohl sie natürlich kein Französisch sprachen. Als Kind war ich oft nackt. Noch nie war ich dafür zurechtgewiesen worden. Jetzt überkam mich eine glühende Scham. »Es gehört sich nicht!«, sagte sie, und in ihren Augen konnte ich lesen, wie schockiert sie war, dass ich das bis zu diesem Tag noch nicht verstanden hatte. Ich verstand es in jenem Moment. Alles.

Der Körper einer Frau war eine Privatsache. Mein Körper war eine Privatsache. Mein Körper war der Körper einer Frau. Meine Mutter war eine Frau. Meine Mutter war eine Privatsache. Es gab Gefahren. Es gab Geheimnisse. Es gab etwas, das es zu schützen galt.

Ich hatte geglaubt, dass meine Scham mir diese Erinnerung so tief eingebrannt hatte. Dass nur ich mich immer noch daran erinnern konnte. Aber als ich zwanzig Jahre später davon anfing, nickte meine Mutter wissend. Mir wurde ganz anders. Es gab so wenige Erinnerungen, die wir tatsächlich teilten.

»Ja, da waren diese großen Kerle im Haus. Sie waren Fremde, und du …«, sagte sie. »In dem Moment wurde mir klar, dass etwas nicht stimmte. Was dir fehlte, war … Schamgefühl.« Wieder brannte die Scham in mir.

Meine Mutter war ein extrem privater Mensch. Sie tratschte nicht, und nie hätte sie ein Geheimnis verraten. Es fiel ihr auch schwer, anderen Menschen solche Verfehlungen zu verzeihen. Sie wühlte nicht in meinen Schubladen, las nie mein Tagebuch. Und ich kam nie auf den Gedanken, dass sie so etwas tun könnte. Niemals fragte sie meine Freunde aus, sie versuchte nicht einmal, ihre Namen zu behalten. Ihr Ton war herablassend, wenn sie von amerikanischen Müttern sprach, die sich mit ihren Kindern gemeinmachten. Zwischen uns gab es klare Grenzen: die Eltern auf den Vordersitzen, die Kinder hinten. Sie schöpfte ihre Kraft aus diesen Grenzen. Ich hingegen versuchte, sie einzureißen. Ich erzählte ihr zu viel von mir, von meinen Schwärmereien oder meinen lächerlichen Streitereien mit Freunden. Ich erzählte ihr all die Dinge, nach denen sie mich nie gefragt hätte.

Im Gegenzug erwartete sie aber, dass ich auch ihre Privatsphäre respektierte, das wusste ich. Doch je älter ich wurde, umso schwieriger wurde das. Wenn sie nicht zu Hause war, verbrachte ich ganze Stunden in ihrem begehbaren Kleiderschrank, berührte ihre Kleider und wühlte in ihren Kisten. Ich fand ihr altes Diaphragma, die Liebesbriefe meines Vaters, ihre Dessous. Schuld empfand ich bloß darüber, wie schuldig ich mich fühlte. Erst als ich die Papiere auf ihrem Schreibtisch durchgegangen war, ewig alte Briefe, hörte ich auf, denn die Fragen, die sie aufwarfen, die ich aber niemals laut hätte stellen dürfen, hielten mich wach.

Als ich in die Pubertät kam und mein Körper sich veränderte, entwickelte sich eine gefährliche Spannung zwischen uns. Meine Mutter warf morgens mit Inlineskates nach mir und bestand darauf, dass ich den Weg zur Schule allein bewältigte. Ich sollte mich bewegen, während sie meinen Bruder und seine Freunde mit dem Auto hinbrachte. Unter der Woche hütete ich mich davor, auf der Couch zu sitzen, wenn sie abends nach Hause kam. Ich kramte meine Bücher und Comics zusammen und ging in mein Zimmer. Intuitiv wusste ich, dass es sie wütend machte, mich still dasitzen zu sehen, ich wusste es auf jene Art, auf die man Dinge weiß, die kaum mit Worten zu greifen sind. Ich lauschte auf ihr »Bonsoir!«, das sie wie einen Warnschuss von der Tür aus abgab. Es war nur eine Frage von Sekunden, bevor die Wände meines Zimmers unter dem Klang meines Namens erzittern würden. »NAADJAAAAAAAAA!!!« Zwei kehlige Laute der Verärgerung. Obwohl ich darauf vorbereitet war, zuckte ich jedes Mal zusammen. Mein Herz raste. »Kannst du mir wenigstens dabei helfen, den Tisch zu decken?«, sagte sie, wenn ich im Türrahmen der Küche auftauchte, Tränen der Erschöpfung in ihren Augen. Und wenn der Tisch bereits gedeckt, das Abendessen bereits vorbereitet war, dann entzündete sich ihre Wut an einer Socke, die ich im Bad hatte liegen lassen, Schuhen im Flur oder an irgendetwas anderem, was ich getan oder nicht getan hatte. Manchmal streifte ich durch die Wohnung, bevor sie nach Hause kam, versuchte zu erraten, woran sie sich reiben würde, und korrigierte den Fehler. Doch die Muster waren offensichtlich tief verankert, unausweichlich. Ich spürte, dass es nicht die Socke oder das Paar Schuhe war, nicht das Haus, sondern mein Körper, der sich weigerte, ihren Erwartungen zu entsprechen.

Fernsehen war bei uns verboten (unser Gerät spielte nur VHS-Kassetten), also flüchtete ich mich in Bücher. Ich las in der Badewanne, im Auto, im Gehen auf der Straße, in einer Ecke, wenn meine Eltern eine Dinnerparty veranstalteten. Meistens las ich Bücher über ganz normale Mädchen in ganz normalen Welten, die plötzlich entdeckten, dass sie über magische Fähigkeiten verfügten. Es gab ein Buch, das ich immer wieder las und auf dem obersten Regalbrett versteckte. Don’t hurt Laurie! war ein schmales pinkfarbenes Buch mit übergroßer Schrift. Es handelte von einem Mädchen, das misshandelt wird. Die Wut ihrer Mutter war rasend und unvorhersehbar. Den Schwestern im Krankenhaus erklärte sie, Laurie sei die Treppe heruntergefallen. Ich wusste, dass meine Mutter mir niemals wehtun würde. Jeden Abend gab sie mir einen Kuss und lobte die Geschichten, die ich schrieb. Und trotzdem erkannte ich etwas Vertrautes in Lauries Mutter, nämlich die Ausbrüche, die das Haus zum Wanken brachten und ebenso schnell vorüber waren, wie sie gekommen waren. Und ich beneidete Laurie. Ich beneidete sie um die blauen Flecken und die verbundenen Handgelenke. Ich beneidete sie, weil sie eindeutige Beweise dafür hatte, dass tatsächlich etwas geschehen war.

In meiner Jugend drohte die Realität meiner Mutter meine eigene auszulöschen. Hier und da gab es mal einen Abend ohne jeden Vorfall, doch schon am nächsten rief sie mich in die Küche. Bebend vor Wut, warf sie mir dann vor, eine zweite Milchtüte geöffnet zu haben. Dass die erste verdorben gewesen war, tat nichts zur Sache. Auch, dass ich es gar nicht gewesen war, zählte nicht. Wenn meine Mutter wütend war, dann fraß die Wut sie auf. Ihre graugrünen Augen wurden schwarz und toxisch. »Entschuldige dich einfach«, sagte sie dann. Und doch war ich nicht in der Lage, mich für Dinge zu entschuldigen, die ich nicht getan hatte, auch wenn es sich bloß um Kleinigkeiten handelte. Ich konnte nicht zugeben, alle Löffel weggeworfen, die Papiere verlegt oder den Senf versteckt zu haben. Mir war klar, dass ich mich vollkommen verlieren würde, wenn ich nachgab. Lieber ging ich in mein Zimmer und heulte, so laut ich konnte, in der Hoffnung, dass sie die Intensität meines Schmerzes begreifen würde. Ich hoffte, sie würde verstehen, dass mir Unrecht geschehen, ja dass ich unschuldig war. Aber mein Zimmer, das ehemalige Arbeitszimmer meines Vaters, war schallisoliert, und meine Mutter, die sich auf der anderen Seite des Lofts befand, konnte mich nicht hören.

Schon kurze Zeit später war es, als hätten diese Auseinandersetzungen nie stattgefunden. »Du übertreibst, Nadja«, sagte sie dann eine Woche später. »Wie hätte ich dich denn bitte die Treppe rauf-schubsen sollen?« Verunsichert fragte ich mich dann, ob sie vielleicht recht hatte. In den Tagebüchern, die ich hin und wieder führte, entwickelte ich einen Code – ein großes, fett umrandetes R auf jeder Seite, auf der ich solche Auseinandersetzungen beschrieb. Eine Erinnerung daran, dass diese Ereignisse tatsächlich REAL waren. Oft war es dennoch einfacher, einen Schleier über die Vergangenheit zu legen.

Die meisten Familien erzählen sich ihre Geschichten immer wieder, sie schaffen Legenden, um einander näherzukommen: jener Tag, an dem sie das Spielbrett umgeschmissen hat, der Tag, an dem er dem Hund die Haare geschnitten hat. Wir taten das nicht. Anstelle von Anekdoten hatten wir ganze Kapitel. Meine Mutter dampfte ganze Landstriche unserer gemeinsamen Vergangenheit ein und verwandelte sie in ein scharfes Werkzeug, mit dem sie die Gegenwart sezierte. Das Schwelgen in Erinnerungen führte zu erbitterten Streitereien. Erinnerungen, die denen meiner Mutter widersprachen, wurden in ihre Einzelteile zerlegt. Dieser oder jener Babysitter hatte während des Sommers nicht für uns gearbeitet. Wir waren seit 1999 nicht mehr in diese Hütte gefahren. Ich spürte, wie ich mich an meiner Version der Realität festzuhalten begann, als ob ein essenzieller Teil meiner selbst sonst verschwinden würde. Doch wenn Beweise auftauchten – eine Quittung von einem Restaurant, eine Landkarte, ein Tagebucheintrag –, dann wechselte meine Mutter einfach das Thema. Wie viele Pärchen konnten meine Mutter und mein Vater keine einzige Geschichte über ihre gemeinsame Vergangenheit erzählen, ohne sich darüber zu streiten, an welcher Straßenecke sie dabei gestanden hatten. Einmal, während eines Abendessens mit den Schriftstellern Siri Hustvedt und Paul Auster, bei dem alle ganz besonders betrunken waren, versuchte Siri einen solchen Streit zu schlichten, indem sie eine eigene Anekdote zum Besten gab.

»Eines Morgens, wir waren auf dem Land, sahen meine Tochter und ich durchs Fenster einen Vogel – einen majestätischen Fischreiher. Paul schlief noch, und ich hielt sie im Arm, während wir schweigend den Vogel beobachteten«, sagte Siri. »Später hörte ich Paul diese Geschichte bei einer Party erzählen – bloß, dass dieses Mal er selbst derjenige war, der den Fischreiher gesehen hatte. Er hatte Sophie im Arm gehalten. Ich war überhaupt nicht dabei gewesen! Denn natürlich hatten wir ihm davon erzählt.«

»Ich war wirklich überzeugt, ihn selbst gesehen zu haben«, sagte Paul mit einem rauen Lachen und wischte mit dem Zigarillo in seiner Hand durch die Luft.

Mit ernstem Blick beugte Siri sich nach vorn. »Und das glaube ich ihm«, sagte sie. »Im Grunde ist es auch egal, denn wichtig ist nur, dass der Reiher gesehen wurde.«

Ich nahm mir noch etwas von dem mittlerweile lauwarmen Essen, das der chinesische Lieferdienst gebracht hatte, dabei war ich eigentlich nicht mehr hungrig. Außer mir aß nur noch meine Mutter. Sie aß nie, und wenn sie es tat, dann schlang sie wie ein Wolf. Ich steckte das Essen in meinen Mund, ohne es zu schmecken. Der Reiher wurde gesehen. Was für eine herrliche Art, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen.

»Mein Gedächtnis ist so schlecht«, sagte meine Mutter damals. Sie klang angetrunken, was mich überraschte. Sie trank jeden Abend Wein, aber sie war selten betrunken. »Alle meine Erinnerungen …«, fuhr sie verdrossen fort, »alle meine Erinnerungen beinhalten meine Kinder, selbst jene, die sich auf die Jahre vor ihnen beziehen.«

»Also hat dein Leben vor dreiundzwanzig Jahren angefangen«, sagte Paul. So alt war ich zu diesem Zeitpunkt.

»Ich denke schon«, sagte meine Mutter.

»Aber das ist doch sehr schön«, sagte Siri.

»Ist es das?«, fragte meine Mutter. »Es fühlt sich ein bisschen traurig an.«

Ich glaube trotzdem nicht, dass meine Mutter meinte, dass ihre Erinnerungen erst mit meiner Geburt einsetzten. Ich glaube, sie meinte genau das, was sie sagte: dass wir in all ihren Erinnerungen eine Rolle spielten, obwohl das unmöglich war. Die Geschichten waren ein Ausdruck ihrer Macht. Die Vergangenheit formte die Gegenwart, doch ebenso konnte die Gegenwart die Vergangenheit verändern.

Unsere Beziehung veränderte sich abrupt, als ich wegzog, um die Uni zu besuchen. Es war, als hätte meine Mutter ihr Leben damit verbracht, mich zu formen. Jetzt trat sie plötzlich einen Schritt zurück, ganz so, als wäre ich nun fertig und dabei vollkommen nach ihrem Geschmack. Die Abwesenheit der Wut machte mir ebenso viel Angst, wie die Wut selbst es getan hatte. Ich fühlte mich ganz und gar nicht fertig. In dem Jahr, als ich das Haus verließ, nahm meine Mutter einen weiteren Vollzeitjob an. Sie gründete einen eigenen Kinderbuchverlag, dessen Geschäftsräume sich im Erdgeschoss unseres Hauses befanden. Sie wusste, dass auch mein Bruder das Haus verlassen würde – vier Jahre, das war nicht mehr lange hin –, und sie tat alles, damit sich ihr Leben ohne uns nicht leer anfühlen würde. Ich erlebte meine Freiheit als einen Sturz ins Bodenlose. Zwei Jahre gingen ins Land, bevor ich aufhörte, in meinem viel zu leisen Studentenzimmer plötzlich aufzuspringen, weil ich mir wieder einmal eingebildet hatte, sie hätte meinen Namen gebrüllt.

In meinem zweiten Jahr an der Uni zog ich aus dem Studentenwohnheim aus und suchte mir eine unmöblierte Wohnung. Das Semester hatte noch nicht angefangen, und die anderen fuhren mit ihren Kindern im Geländewagen zu Ikea. Panisch rief ich meine Mutter an.

»Was mache ich? Ich weiß nicht einmal, womit ich anfangen soll!«, sagte ich.

»Du kriegst das schon hin, Nadja«, sagte sie. Sie war beschäftigt, sie hatte Deadlines, sie hatte gerade einen Künstler in ihrem Büro sitzen. »Es ist nicht so schwierig. So viel brauchst du gar nicht.«

»Aber wo werde ich heute Abend schlafen? Wie kauft man überhaupt eine Matratze?«, fragte ich.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Leih dir eine Luftmatratze. Schlaf ein paar Nächte auf dem Boden. Ich muss jetzt auflegen.« Am Ende stand ich bei einer Freundin vor der Tür, hysterisch und in Krokodilstränen aufgelöst. Am nächsten Wochenende kam meine Mutter vorbei. Sie war unterwegs aufs Land. Auf das Dach ihres Wagens hatte sie ein Schlafsofa gebunden. Innerhalb von zwei Stunden hatte sie meine Wohnung komplett eingerichtet.

Während andere zynische Witze darüber machten, dass sie ihren Müttern ähnlich werden könnten, wünschte ich mir nichts sehnlicher. Es war mir unbegreiflich, wie es ihr gelungen war, sich selbst zu finden.

An einem Wintertag, kurz vor meinem letzten Semester an der Uni aßen meine Mutter und ich in einem Sushi-Restaurant in Paris. Mein bevorstehender Abschluss machte mich nervös, ich war unsicher, was ich als Nächstes tun, wer ich sein würde. Meine Mutter begegnete allen meinen Sorgen mit einer unerschütterlichen Zuversicht. In diesem Moment wollte ich aber nichts anderes als Mitgefühl.

»Ist ja klar, dass du das nicht verstehst«, sagte ich resigniert. »Du hast schließlich schon immer gewusst, wer du bist.«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. Und dann erzählte sie mir von einer anderen Zeit, einer Zeit vor meiner Zeit. Ich kramte nach meiner Digitalkamera, weil ich hoffte, mit der Videofunktion ihre Stimme aufzeichnen zu können. Kein Wort wollte ich mir entgehen lassen.

»Ich glaube«, sagte ich einige Wochen später, nicht ganz sicher, wie ich das Thema anschneiden sollte, »dass ich gern über dich schreiben würde. Also darüber, wie du erwachsen geworden bist.«

»Das schmeichelt mir, aber … bist du dir sicher?« In ihrem Blick lag eine Trauer, die ich nicht ganz einordnen konnte. Sie wich meinem Blick aus. Ich sagte, ich sei bereit. Ich wollte, dass sie das glaubte. Ich wollte nicht länger beschützt werden.

Meine Mutter ließ sich nicht sofort darauf ein. Sie dachte sorgfältig darüber nach. Und nachdem sie sich einmal entschieden hatte, hielt sie nichts zurück. Die Mauern zwischen uns fielen mit einem einzigen plötzlichen Ruck in sich zusammen. Sie gewährte mir Einlass. Es gab nichts, was ich nicht hätte fragen können. Sie antwortete mit einer tiefgreifenden Ehrlichkeit, die selbst in der Welt der eigenen Gedanken selten vorkommt. Sie schaffte Platz für mich in ihrem vollgepackten Leben. Wir redeten an unserem Küchentisch, in ihrem Büro im Erdgeschoss, auf dem Sofa. Wir redeten, bis das Licht des frühen Morgens durch das Dachfenster strömte und die Autos auf der Canal Street wieder zu hupen begannen. Wir fuhren gemeinsam weg, nur wir beide, in eine Hütte auf dem Land, und redeten tagelang. Ich machte meinen Abschluss, ich zog wieder bei meinen Eltern ein, ich zog wieder aus, ich nahm meinen ersten Job an und dann den zweiten. Jahrelang redeten wir.

Am Anfang fühlte meine Mutter mir ziemlich auf den Zahn. »Du weißt schon, dass das, was wir hier machen, große Ähnlichkeit mit Maus hat. Also mit dem, was dein Vater gemacht hat, als er seinen Vater interviewt hat.«

»Natürlich«, antwortete ich. Ich war überrascht, dass sie geglaubt hatte, mir könnte das entgangen sein. »Natürlich hat es damit zu tun. Ich möchte schreiben, und das kann ich erst, wenn ich mich mit dem auseinandersetze, was er getan hat. Ich tue etwas Ähnliches, aber gleichzeitig ist es auch etwas ganz Anderes. Außerdem tue ich, glaube ich, genau das, was er nie tun konnte.« Die Mutter meines Vaters hatte sich das Leben genommen, als er zwanzig gewesen war. Sein Vater hatte ihre Tagebücher verbrannt.

»Das war der Moment«, sagte meine Mutter mir später, »in dem ich wusste, dass ich dir vertrauen konnte. Ich vertraute deiner Einschätzung, dass du bereit warst.«

Zunächst verwendete ich meinen Laptop für die Aufnahme, sah die Welle auf dem Bildschirm hoch- und runterschnellen, während sie sprach. Dann kamen neue Technologien, und ich begann, mein iPhone zu benutzen. Ich mochte mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen. Viele der Geschichten waren so heftig, dass ich noch beim Aufwachen am nächsten Tag ganz desorientiert war, anstelle unserer Unterhaltung nur diffuses Schwarz in meinem Kopf.

Meine Mutter und ich sprachen miteinander Französisch, eine Sprache, die mir mit ihr so selbstverständlich vorkam, dass ich meinen Sprachwechsel nur bemerkte, wenn ich in Anwesenheit meiner Freunde mit ihr telefonierte. Als ich drei war, hatte sie mich dazu bewegen wollen, mit den Kindern auf dem Spielplatz im Jardin du Luxembourg zu spielen. »Mais maman«, hatte ich geantwortet und mich unter ihrem langen Mantel versteckt, »je ne parle pas français!« Ich brauchte Jahre, um zu begreifen, dass auch andere diese private Sprache, die ich mit meiner Mutter sprach, verstehen konnten. Doch obwohl ich Französisch sprach, hatte ich nie gelernt, es korrekt zu schreiben. Also transkribierte ich unsere Interviews auf Englisch. Ich übersetzte, noch während ich tippte. Die Worte meiner Mutter schwappten in ihrer Sprache durch meinen Kopf, nur um dann in meiner eigenen aus meinen Fingern wieder hervorzutreten. Ihre Erinnerungen wurden meine eigenen. Eines Abends erzählte sie mir, dass es niemanden gab, mit dem sie so reden konnte wie mit mir. Nicht mit meinem Vater. Nicht mit ihren Freunden. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie jeden Moment ihres Lebens mit einer bloßen Geste der Hand heraufbeschwören. Manchmal hatte ich das Gefühl, ihre Vergangenheit so genau zu kennen, dass ich ihre Gedanken lesen konnte.

»Aber du«, sagte sie, »du bist mir so nah. So nah, wie du mir als Baby warst. Ich mache mir keine Sorgen … ich kann mir keine Sorgen darüber machen, was du von mir denkst. Du bist ein Teil von mir.«

Für sie lösten diese Geschichten die Grenzen zwischen uns auf, ließen uns miteinander verschmelzen. Ich war das Kind, das sie nie losgelassen hatte, dessen Schreie sie gehört, bevor es auch nur den Mund geöffnet hatte. Für mich hingegen schafften diese Geschichten jene Distanz, die ich brauchte, um sie als eigenständige Person zu erkennen. »Das erzähle ich dir, wenn du älter bist«, hatte sie immer gesagt. Nun war ich alt genug. Es würde noch lange dauern, bis ich die Trauer in ihrem Blick begreifen sollte, die ich gesehen hatte, als ich sie zum ersten Mal gefragt hatte, ob ich ihre Geschichte aufschreiben dürfe.

Kapitel zwei

Als Kind war meine Mutter ein Junge. Ihr Vater brachte sie zu seinem Friseur, der ihre Haare genauso kurz schnitt wie seine. Ihre Mutter kleidete sie ganz in Blau – Polo-Shirts und kurze Hosen. Meistens machte das Françoise nichts aus. Sie war schlank und athletisch, sie kletterte über Zäune und sprang von Klettergerüsten.