Über Manfred Flügge

Manfred Flügge, geb. 1946, studierte Romanistik und Geschichte in Münster und Lille. Von 1976 bis 1988 war er Dozent an der Freien Universität Berlin. Heute lebt er als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Veröffentlichungen (Auswahl): »Gesprungene Liebe. Die wahre Geschichte von ›Jules und Jim‹« (1993); »Meine Sehnsucht ist das Leben. Eine Geschichte aus dem deutschen Widerstand« (1996); »Figaros Schicksal. Das Leben des Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais« (2001); »Heinrich Schliemanns Weg nach Troia. Die Geschichte eines Mythomanen« (2001). Zuletzt erschienen im Aufbau Verlag die beiden viel beachteten Biographien »Die vier Leben der Marta Feuchtwanger« (2008) und »Stéphane Hessel – ein glücklicher Rebell«. 2015 erschien sein neues Buch »Das Jahrhundert der Manns«. 2014 erhielt er den »Literaturpreis Hommage à la France der Stiftung Brigitte Schubert-Oustry«. Im November 2014 erhielt er in Cognac den Prix Jean Monnet du Dialogue Européen.

Informationen zum Buch

Zeitroman und Schicksalspanorama

Der »Anschluss« Österreichs durch die Nazis im März 1938 und ihr Einmarsch in Wien waren ein traumatischer Wendepunkt in der europäischen Geschichte. Anschaulich und detailreich erzählt Manfred Flügge vom tragischen Irrtum Kurt Schuschniggs und dem Versagen der Weltöffentlichkeit. In einem Wechsel von historischer Darstellung und beispielhaften Lebenserzählungen von Akteuren und Opfern, unter ihnen Sigmund Freud, Egon Friedell, Robert Musil, Franz Werfel und viele andere, entsteht ein Zeitroman, der zum vielfältigen Schicksalspanorama wird.

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Manfred Flügge

Stadt ohne Seele

Wien 1938

Für Daniel und Viviane

»Werden wir auch einmal böse zueinander sein?«

»Nein, mein Kind«, sagte die Mutter, »bei uns gibt es das nicht.«

Felix Salten, Bambi, 1923

Inhaltsübersicht

Über Manfred Flügge

Informationen zum Buch

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1 Anschluss, Ausschluss, Abschluss

2 Wien bleibt

3 Ohne Juden

4 Die veruntreute Republik

5 Roman der Seele

6 In Freuds Welt

7 Der Mann Freud und der Mythos Moses

8 Hitlers Wien-Lüge

9 Winterspiele

10 Verhängnisvolle Frühlingsnacht

11 Land ohne Namen

12 Ohne Gnade

13 Ehrenhäftling Schuschnigg

14 Wiener Requiem

15 Deutsche Verwandlung

16 Amputierte Lebensläufe

17 Transit

18 Freud geht fort

19 Epilog in London

20 Gedächtnisspuren

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Dank

Impressum

1
Anschluss, Ausschluss, Abschluss

Sigmund Freud verließ Wien am Samstag, dem 4. Juni 1938. Das goldene Wiener Herz hatte jeden Glanz verloren, als der Vater der modernen Seelenkunde den Weg ins Exil antrat. Der begeisterte Sammler antiker Kleinplastiken reiste im Orient-Express, der Paris mit Istanbul verband. Ganz nach Fahrplan war der »König der Züge« mit seinen marineblau und golden verzierten Abteilen um 15.35 Uhr aus dem Wiener Westbahnhof gerollt. Nach einer zwölfstündigen Fahrt über Linz, Salzburg und München überquerte der Zug in tiefster Nacht die Rheinbrücke zwischen Kehl und Straßburg.

Im Pariser Ostbahnhof fanden sich an diesem Pfingstsonntag zahlreiche Journalisten ein. Begrüßt wurde die kleine Gruppe, zu der Freuds Frau Martha, die Tochter Anna, eine Ärztin, ein Hausmädchen und ein Hund gehörten, vom amerikanischen Botschafter William Bullitt und von Marie Bonaparte. Den Sonntag verbrachten die Wiener auf dem Anwesen der Prinzessin im Vorort Saint-Cloud. Nach dem Abendessen bestiegen sie im Nordbahnhof den Zug nach London. Flüchtlinge, Emigranten, Heimatlose, das waren sie jetzt, ein häufiges Schicksal in diesen Tagen. Ihre Ausreise geschah unter günstigen Bedingungen verglichen mit dem Schicksal fast aller 150 000 Landsleute, die sich in andere Länder retten mussten.

Der »Anschluss« seiner Heimat Österreich an das Deutsche Reich schloss Freud aus und damit alles, wofür er stand. Immerhin landete er nicht im Ungewissen. Als Freud das von seinem Sohn Ernst und englischen Helfern gefundene Haus am Rande eines Londoner Parks erblickte, soll er ausgerufen haben: »Heil Hitler!«, eine Kostprobe des grimmen Humors, zu dem der fast 82-Jährige immer noch fähig war.

* * *

Adolf Hitler erreichte Wien am späten Nachmittag des 14. März 1938. Von Linz kommend, hatte er in St. Pölten zu Mittag gegessen. Dort erhielt er einen Anruf des Wiener Kardinals Theodor Innitzer. Er hieß Hitler in Österreich willkommen und versprach, bei dessen Einzug in Wien die Kirchenglocken läuten zu lassen. Von Schloss Schönbrunn her fuhr Hitlers Autokolonne zur Innenstadt auf demselben Weg, den einst Kaiser Franz Joseph nahm, wenn er sich zur Hofburg begab. Der junge Hitler, der nahe der Mariahilfer Straße wohnte, mag den alten Kaiser damals gesehen haben.1

Um halb sechs hielt Hitlers Mercedes vor dem Hotel Imperial, Kärntner Ring 16, im I. Bezirk gelegen. Der markante Palast, zwischen 1862 und 1865 im Stil der italienischen Neorenaissance errichtet, war eines der architektonischen Schmuckstücke entlang der Ringstraße, die Hitler in seinen Wiener Jugendjahren begeistert hatten. Illustre Besucher wie Thomas Mann oder Luigi Pirandello waren in diesem Hotel zu Gast gewesen. Dessen jüdischer Besitzer Samuel Schallinger wurde im März 1938 enteignet und vier Jahre später im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet.

Etwas oberhalb des Hotels, im Gärtnerhaus vom Schlosspark Belvedere, wurde seit zwei Tagen der letzte österreichische Kanzler Kurt Schuschnigg gefangen gehalten. Dass er bald in ein Land seiner Wahl ausreisen dürfe, war eine Propagandalüge der NS-Presse. Sieben Jahre Haft standen ihm bevor.

Das Nobelhotel diente eine Nacht und einen Tag als Quartier des Führers. Schon am frühen Abend des 15. März, nach einer Rede auf dem Heldenplatz und einer Parade auf der Ringstraße, flog er nach München und von dort am nächsten Tag zurück nach Berlin. Damit endete eine Schicksalswoche für Österreich und, wie sich bald zeigen sollte, für ganz Europa.

* * *

Sigmund Freud war oft und gern nach Berchtesgaden gekommen, zum ersten Mal im Sommer 1899. Auf dem Gelände des Gutshofs Riemerlehen wurde ein vierstöckiges Haus mit hölzernen Balkons gemietet. Bei diesem Aufenthalt vollendete Freud Die Traumdeutung. Das grundlegende Werk der Psychoanalyse erschien noch im selben Jahr, allerdings auf 1900 datiert, um den Beginn einer neuen Epoche zu markieren. Bei ihrem letzten Aufenthalt im Sommer 1929 mietete die Familie das Haus Schneewinkellehen nahe beim Königssee. Sigmund Freud arbeitete an seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur, empfing Kollegen wie Ernest Jones oder Sándor Ferenczi. Am längsten von allen Bekannten blieb Prinzessin Marie Bonaparte.2

Adolf Hitler hielt sich seit 1925 regelmäßig in Berchtesgaden auf, auch im Sommer 1929. Sobald er über Macht und Mittel verfügte, ließ er den Obersalzberg zum residenzartigen Hauptquartier ausbauen. Er genoss den wunderbaren Blick auf Gipfel und Täler; den Gang in höhere Gefilde vermied er freilich, denn bei jedem Aufstieg musste er mit Schwindelgefühlen kämpfen.3

Als Hitler im Februar 1938 eine folgenreiche Unterredung mit Kanzler Schuschnigg in Berchtesgaden führte, empörte sich Freud in einem Brief an seinen Sohn Ernst: »Denk’ Dir nur auf unserem herrlichen Obersalzberg, wo Du mit soviel Glück Herrenpilze gesucht hast«.4

* * *

Der Wiener Dichter und Dramatiker Anton Wildgans (1881 bis 1932), zweimal Direktor des Burgtheaters, hatte im Jahr 1929 eine Rede zum 10. Jahrestag der Österreichischen Republik in Stockholm halten wollen. Krankheit verhinderte seine Reise in die schwedische Hauptstadt. Am Neujahrstag 1930 hielt er seinen Vortrag im Rundfunk.5

Wildgans legte ein stolzes Bekenntnis zu Österreich und zur Republik ab. Er bejahte die Eigenständigkeit und Lebensfähigkeit des Landes, an der so viele gezweifelt hatten. Dem untergegangenen Vielvölkerstaat wurde viel Positives nachgerühmt. Wildgans, der 1914 noch der Kriegseuphorie erlegen war, demonstrierte ein republikanisch-österreichisches Selbstbewusstsein, wie es im politischen Leben des Landes nur selten vorkam. Er plädierte für das »neue Österreich«, das ein widersprüchliches historisches Erbe übernommen habe. Besonders betonte er die Rolle von Wien, der ersten und eigentlichen Weltstadt innerhalb der deutschsprachigen Lande, denn hier sei Weltpolitik gemacht und Weltkultur geschaffen worden.6

Wildgans rechtfertigte den Stolz und das historische Bewusstsein der Österreicher, mehr noch, er verklärte den »österreichischen Menschen«. Dieser habe sich stets in die Gefühlswelten anderer Völker hineindenken müssen und sei so zum idealen Psychologen geworden.7 Hingegen sei er gar kein »Tat- und Herrenmensch«. Der Preis dafür sei eine gewisse Rückständigkeit und Nachlässigkeit, doch habe sein Land etwas anderes bewahrt: »das menschliche Herz und die menschliche Seele«.8 Wildgans schloss mit der Hoffnung, dass Österreich weiterhin ein »mit allen Gotteswundern der Schönheit begnadetes und von freundlichen Menschen bewohntes Land« sein möge.

Mit nur 51 Jahren starb Anton Wildgans im Jahr 1932, und so musste er den Niedergang der Republik und die feindliche Übernahme des Landes durch den deutschen Nachbarn nicht miterleben. Sein Sohn, der Klarinettist und Komponist Friedrich Wildgans, gehörte nach 1938 einer Widerstandsgruppe an und büßte dafür mit einer längeren Haftstrafe.

* * *

Der Anschluss, zwischen dem 11. und dem 15. März 1938 vollzogen, ist nicht einfach eine peinliche und ungern erinnerte Episode der österreichischen Geschichte; er bietet ein universelles Lehrstück von bleibendem Wert. Dabei ging es nicht nur um die Unterwerfung des Landes Österreich durch die deutschen Nationalsozialisten, sondern auch um Österreichs eigenen Weg in die Barbarei. Der Einmarsch von außen korrespondierte mit einem Aufmarsch im Innern. Wenn es auch vermutlich keine politische Mehrheit für den Anschluss gegeben hat, so gab es doch im Lande gesellschaftliche und politische Kräfte und einzelne Politiker, die diesen Weg verfolgt und gefördert haben oder ihn willig mitgegangen sind.

In Deutschland hatte es 1933 einige Monate gedauert, ehe durch Terror, Verbote und Einschüchterung die Macht vollständig in den Händen der NSDAP lag und alle staatlichen Instanzen gefügig gemacht wurden. Maßnahmen zur Diskriminierung und allmählichen Verdrängung der Juden aus der öffentlichen Sphäre, zu ihrer fortschreitenden Entrechtung, Beraubung, Vertreibung wurden über einen längeren Zeitraum eingeführt. In Wien geschah all das innerhalb weniger Tage, und der Terror setzte gleichsam über Nacht ein. Das plötzliche Hereinbrechen einer schrankenlosen Gewaltherrschaft macht die Besonderheit der Wiener Märzereignisse aus.

* * *

Die politischen und militärischen Ereignisse, die zur Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich führten, wurden und werden mit dem Begriff Anschluss bezeichnet, der eine Verharmlosung und eine scheinbare Legalisierung impliziert.9 Es war eine Annexion, deren formale Legalität so fragwürdig war wie Hitlers Ernennung zum deutschen Reichskanzler am 30. Januar 1933. In den offiziellen Verlautbarungen der Nazis wurde der Begriff »Anschluss« vermieden, im mündlichen Gebrauch war er allgegenwärtig. Hitler sprach in seiner Rede am Heldenplatz vom »Eintritt« seiner Heimat in das Deutsche Reich. Im sogenannten Hoßbach-Protokoll vom November 1937, das Hitlers Kriegspläne festhielt, war von einem »Angriff« auf Österreich die Rede.10 In dem von der österreichischen Bundesregierung und von der deutschen Reichsregierung beschlossenen Gesetz vom 13. März 1938, dem entscheidenden Dokument dieses Vorgangs, wurde von »Wiedervereinigung« gesprochen, was historisch absurd war. Die von der massiven NS-Propaganda aufgebauschten Jubelbilder erzeugten den (bis heute nachwirkenden) Eindruck, dass dieses Ereignis von der Bevölkerung einhellig begrüßt wurde, was keineswegs der Fall war.

Im Sinne einer sprachlichen Vereinfachung wird der eingebürgerte Begriff »Anschluss« auch hier verwendet, analog zum Begriff »Reichskristallnacht« für die Pogrome im November 1938, der mit dem Ereignis selbst in die Welt kam und einem ebenso zynischen Gebrauch entsprang. Überdies findet man das deutsche Wort »Anschluss« auch in englischen und französischen Darstellungen der österreichischen Ereignisse vom März 1938, es dient also zur Identifizierung und enthält keine Bewertung.

* * *

Bei der Auseinandersetzung um die Staats- und Regierungsform Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg flossen drei Krisenthemen ineinander.

1. Die Identitätsfrage: War Österreich nach dem Ende der Monarchie und der Niederlage im Ersten Weltkrieg sowie seiner territorialen Beschneidung ein eigenständiges und in sich ruhendes Gebilde mit definierten Grenzen, oder war es Teil eines größeren Ganzen (»Deutsches Reich«), von dem es Geschichte (die Schlacht von Königgrätz 1866) und politischer Wille der Siegermächte des Weltkriegs (die Friedensverträge von 1919) vorerst ausgeschlossen hatten?

2. Die Verfassungsfrage: War dieses neue Österreich eine Republik oder eine Monarchie im Wartestand oder ein Gebilde ganz eigener Art? Die infolge der Niederlage entstandene Republik war nach bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen 1934 durch den sogenannten Ständestaat abgelöst worden, in dem Parteien und Parlament ausgeschaltet waren. Einzige politische Organisation war die Vaterländische Front. Der Ständestaat wurde von seinen Führern als autoritärer Staat eigener Prägung verstanden, von seinen Gegnern jedoch als eine Variante des Faschismus.

3. Die »Judenfrage«: Welchen Status haben Juden im Lande Österreich? Früher und intensiver als in Deutschland hatte sich mit Unterstützung der katholischen Kirche ein aggressiver Antisemitismus in Österreich entwickelt, lange vor 1914. Die Verfassung von 1920, aber auch die des Ständestaates vom 1. Mai 1934 garantierte den Juden gleiche Rechte und Pflichten.

Alle drei Fragen wurden im März 1938 »beantwortet«: Österreich wurde Teil von Großdeutschland und verlor jede Eigenständigkeit, bis sogar der Name des Landes verschwand. Die »Ostmark«, in sieben Reichsgaue aufgeteilt, wurde nach den Regeln der deutschen Diktatur und zumeist von reichsdeutschem Personal verwaltet, wirtschaftlich und militärisch ausgebeutet. Der Anschluss bedeutete einen entscheidenden Schritt bei der Radikalisierung des NS-Regimes insgesamt; den Juden wurde jedes Menschen- und Bürgerrecht abgesprochen, sie waren gleichsam über Nacht schrankenloser Willkür und äußerster Brutalität ausgesetzt. Die rasche Wendung der Ereignisse, die aufgeheizte allgemeine Stimmung sowie die schnelle Festnahme aller Regimegegner und unliebsamen Personen ließen der Opposition keine Chance. Widerstand gab es zunächst nur in vereinzelten heroisch-hoffnungslosen Taten, erst nach einer gewissen Frist konnte an organisierte Gegenaktionen gedacht werden, Vorboten einer politischen und moralischen Erneuerung. Die wahre Natur des Nationalsozialismus in seiner Doppelgestalt von organisiertem Jubel und hemmungsloser Barbarei zeigte sich in so kurzer Zeit und so drastisch wie nirgends sonst bis dahin. Wahn, Blendung, historische Fiktionen sowie die Grenzen von Kritik und Aufklärung gehören zu den zentralen Aspekten dieser grausam lehrreichen Epoche.

* * *

Der Anschluss lässt sich erzählen als die Geschichte eines Augenblicks. Eine obszöne Geschichte, fast wie in Arthur Schnitzlers Theaterstück Reigen, mit einem Vorher und einem Nachher. Und hernach zählt das Vorher nicht mehr, die vielen Worte des Vorspiels waren nur Lug und Trug, auch Selbstbetrug, um von dem eigentlichen Ziel abzulenken.

Der Tag, auf den es ankommt, ist der 11. März 1938. Irgendwann im Laufe des Nachmittags jenes Freitags fiel eine Entscheidung: Der amtierende Kanzler gab den Kampf um Österreichs Unabhängigkeit auf. Die Dynamik, die er am 9. März in Gang gesetzt hatte, als er beschloss, eine Entscheidung durch Entscheid herbeizuführen, nämlich durch ein Referendum über den Fortbestand eines unabhängigen Staates Österreich, hatte dessen Untergang beschleunigt. Das Volk hatte sich in den Jahren zuvor entmündigen lassen, nun konnte es die drohende Entwicklung nicht mehr stoppen. Die Nazis mobilisierten ihrerseits das Volk in Gestalt begeisterter Massen, um den Anschein jubelnder Zustimmung zu erzeugen. Der Anschluss wurde nicht ohne Mitwirkung von Österreichern vollzogen, doch er geschah, weil die deutschen Machthaber ihn aus ökonomischen und militärstrategischen Gründen wollten.

* * *

Im Buch über das Schicksal seiner Familie in Wien zwischen 1842 und 1942 schildert der britische Autor George Clare, aus Wien 1938 geflüchtet als Georg Klaar, eine kuriose Episode. Seit der Anschluss vollzogen war, mussten jüdische Familien jederzeit mit Überfällen nicht nur auf der Straße, sondern auch in den eigenen Wohnungen rechnen. Voller Sorge eilte Georg zur Wohnung seiner Freundin Lisl, die ihn angerufen hatte, weil »Besucher« bei ihnen aufgetaucht waren. Und in der Tat bot die Wohnung den Anblick eines wüsten Chaos, als wäre sie geplündert worden. Die Besucher waren bewaffnete finster dreinblickende Männer gewesen, deren Uniformen eher an Faschingskostüme erinnerten. Sie hatten Bargeld und Familiensilber geraubt und sich alkoholische Getränke genehmigt. Bei ihrem Abzug hinterließen sie eine inhaltlich und orthographisch suspekte Notiz: »Nachdem die SA diese Wohnung durchsucht hat, sollen die Eigetümer nicht mehr belästigt werden. Das deutsche Folk kennt keine Rachegefühle. Sig Heil!«11

Die Anschluss-Woche war keine Zeit für fragwürdige Späße, obwohl die politischen Vorgänge Züge einer Groteske hatten, die ins Dramatisch-Blutige umkippte. Der Vollzug selbst stand am Ende einer jahrelangen Auseinandersetzung, die in eine Schmierenkomödie voller Pannen mündete, in der pausenlose Telefonate zwischen Wien und Berlin eine große Rolle spielten. Der 11. März 1938 war eine Klippe des Schicksals für eine Republik, für eine Kultur, für eine unvergleichliche Stadt.

2
Wien bleibt

Es ist eine große Vermessenheit,
Städte beschreiben zu wollen.

Joseph Roth

»Mittlerweile schattet der Abend über die Stadt, nimmt Häusern und Türmen ihre scharfen Konturen, zündet farblos grelle Lichtreklamen an und löst jeden eigenwilligen Stil in der monotonen, unpersönlich gleichgeschalteten Häuserfassade einer Allerwelts-Büro- und Geschäftsfront. Alles Individuelle ist aus den Gesichtern der Menschen gelöscht, alles Wienerische – zumindest im Herzen der Stadt – aus den Straßen und Plätzen. – Es ist wieder einmal eine Stunde gekommen, die alles untertauchen läßt in nivellierendem, nichts als zukunftsdurstigem Vergessen […] Jede Großstadt wird in solchen Momenten gefährlich. […] Darum sind Prag, München, Wien in Wendestunden besonders bedenklich; vor allem auch Wien. Weil dort die Gegensätze im Moment der Umwertung und Entfesselung des Denkens nicht nur die Menschen anspringen, die nebeneinander und aneinander vorübergehen, sondern jeden einzelnen in der Seele zerreißen […] Dann wacht der Todfeind aller Kollektiven und Psychosen, der Schelm, wieder auf, holt das oft bewährte Schelmenzwinkern des sich selbst ironisierenden Witzes hervor und schlägt vergnügt die tollsten Kapriolen. So ist sie eben: – die alte Heimatstadt des unsterblichen Armen Augustin! Sie kann ja nicht wirklich weinen; aber wenn sie lacht – dann bisweilen in Tränen.«

Sehr poetisch kommt diese düstere Vision einer Metropole in einer historischen »Wendestunde« daher, breit ausgemalt, etwas konturlos wie eine Passage in einer Sinfonie von Bruckner, aber in der Wirkung eindringlich wie diese. Es war einer der Hauptakteure im Anschlussdrama, Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, der diesen Blick aus dem Fenster seines Amtszimmers festgehalten hat, am Abend seines Rücktritts und seiner politischen Niederlage.1

* * *

Wenn eine Stadt zu oft beschrieben, besungen, geschmäht und verklärt wird, weiß man bald nicht mehr, wie sie in Wirklichkeit ist. Vielleicht ist diese Wirklichkeit auch unfassbar, weil zu facettenreich und widersprüchlich. Oder sie verschmilzt in einer Synthese von Klischee und Realität. »Wien ist die Stadt der funktionierenden Legenden«, meinte Friedrich Torberg in einem »Traktat über das Wiener Kaffeehaus«; hier gehe die dichterische oder journalistische Erfindung oft der Wirklichkeit voraus und schaffe erst die Phänomene, die Besucher und Einheimische zu finden glauben.2

Über Wien nach 1900 kann man verschiedene Diskurse pflegen:

• das volkstümliche, gemütliche Wien mit Prater, Walzer, Mehlspeisen, Heurigem und süßen Mädels;

• das Wien der Moderne, der künstlerischen Avantgarde und als Begleitmusik dazu der literarische Feuilletonismus, die Kabaretts, das Kaffeehausleben;

• das Wien der Wissenschaft (besonders in Medizin und Physik nahm die Stadt eine Spitzenstellung ein) sowie der Philosophie (etwa im Wiener Kreis);

• das Wien des Antisemitismus und des Völkerhasses, angefacht auch von der katholischen Kirche, die eine klerikale Diktatur anstrebte;

• das Wien der Juden, der bürgerlich integrierten Juden wie der Bettler und Hausierer aus Osteuropa. In dieser sehr katholischen Stadt lebten mehr Juden als in anderen europäischen Metropolen, insgesamt 90 Prozent aller österreichischen Juden.

Über all diesen Wien-Impressionen schwebte die Musik, die Operette, die Klassik, die Neutöner, denn die Welthauptstadt der Musik war Wien um und nach 1900 gewiss, darin das Paris des 19. Jahrhunderts ablösend.

Seine Metamorphosen hatte dieses kulturelle und politische Zentrum gut überstanden: Nach 1806, als das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sich auflöste und die Habsburger Kaiser nicht mehr die Herren über ganz Mitteleuropa waren, sondern nur noch über weite Teile von Südosteuropa; nach der Revolution von 1848, als der kurze Völkerfrühling gerade in Wien sein blutiges Ende fand; nach der industriellen Revolution und auch nach der kriegerischen Auflösung des Gegensatzes Preußen – Österreich in der Schlacht von Königgrätz im Jahr 1866.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte Wien eine lange Phase der politischen Stabilität, gleichbedeutend mit der Herrschaft von Kaiser Franz Joseph, die 1848 begonnen hatte. Zugleich vollzog sich ein rasanter gesellschaftlicher Wandel in Städtebau, Industrie, Kunst, Lebenswelt und Bevölkerungsstruktur. Der innere Bezirk wurde zu einer prachtvollen Residenzstadt umgestaltet. Der alte Stadtwall wurde ersetzt durch eine breit ausladende Avenue, die sich wie ein Ring um die historische Altstadt legte. Entlang dieser Ringstraße wurden repräsentative öffentliche Bauten errichtet, Staatsoper, Rathaus, Burgtheater, aber auch Hotels und Privatpaläste der reichen Familien. Immer neue Randgebiete der Stadt wurden baulich erschlossen und alsbald eingemeindet.

Das geistige Leben blühte auf. Künstlerische Kreativität in der Malerei, in der Musik, in der Oper und im Theater, ein Boheme- und Kaffeehausleben fast wie in Paris, Modernismus in Kunst und Architektur standen neben glorreicher Tradition, feiner Lebenskultur mit Mode und Luxusindustrie. Die Stadt erzeugte einen Dunst von Leichtigkeit, Lebensfreude, Charme und Erotik, bot an der Oberfläche das Bild einer Welt, ganz »in Traum gehüllt«, doch die politische Atmosphäre war von Hass vergiftet, vom Nationenhass und vor allem vom Antisemitismus.3

Wien war das Herz einer selbstbewussten Doppelmonarchie, zu der Teile von Osteuropa und dem Balkan sowie von Norditalien gehörten. An inneren Widersprüchen und zentrifugalen Kräften fehlte es nicht, doch wurden sie von Kaiser, Regierung und Bürokratie in prekärem Gleichgewicht gehalten. Der Nationalismus, der in Deutschland auf die Befreiung von der napoleonischen Besatzung folgte und zu einer treibenden Kraft im Drängen auf eine politische Einheit wurde, besaß im Habsburgerreich eine gefährliche Sprengkraft und musste eingedämmt werden. Deutschland musste seine Einheit finden, das Habsburgerreich musste sie bewahren. Das Verhältnis zu Deutschland wurde in dem kurzen Krieg von 1866 geklärt: Zwei getrennte Reiche bestanden fortan nebeneinander. 1913 konnten die Herrschaftsjubiläen von Franz Joseph (65 Jahre) und Wilhelm II. (25 Jahre) begangen werden.

Voneinander gelöst hatten sich die beiden Staatsgebilde aber nicht. Es war gerade ihre unverbrüchliche Allianz, die zur fatalen Verstrickung im Krisenjahr 1914 und zum parallelen Untergang beider Kaiserreiche am Ende des Ersten Weltkriegs führte. Auch damit war das gemeinsame Schicksal der getrennten Reiche nicht beendet, wie sich im Drama um den Anschluss zeigen sollte. Das Reich war untergegangen, hier wie dort, doch die Reichsidee hatte dort wie hier überlebt. So wie beide Staatsgebilde vor 1914 die Verwandlung in eine wahrhaft konstitutionelle Monarchie versäumt hatten, vermochten sie nach 1918 keine lebensfähigen Republiken aufzubauen. Die Gestalt Hitler symbolisiert das gemeinsame historische Scheitern beider Länder zwischen 1918 und 1945.

* * *

Noch stärker als das Land Österreich musste die Stadt Wien nach 1918 eine neue Rolle finden. Sie hatte viele ihrer Funktionen verloren und zugleich eine verstärkte Zuwanderung erlebt. Von den etwa sieben Millionen Einwohnern des Landes lebten zwei Millionen in der Hauptstadt. Das neue Wien war der »Wasserkopf einer hungernden Republik«.4

Nach 1919 konnte Wien weder zurück in seine Vergangenheit, noch hatte es Spielraum, eine neue Zukunft zu erfinden. Es träumte davon, Plattform der Vermittlung zu sein, was ja vielleicht seine Mission gewesen wäre, doch im autoritären Europa nach 1930 schien das bunte Wiener Leben nur noch ein Relikt zu sein, das den neuen gefährlichen Entwicklungen im Wege stand. Damit es fiel, musste man Wien seine Seele rauben. Dafür sollten die führenden Politiker selbst sorgen: Das System, das sie schufen, konnte nicht die Kräfte mobilisieren, die das Land verteidigt und geschützt hätten. Schon 1934 war die »neue Besonderheit Wiens« ausgelöscht und damit die Macht dieser Gemeinde gebrochen worden, urteilte Elias Canetti.5

* * *

Paris und Wien, das ist ein lohnender Vergleich. Beide Städte wurden nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zur großartigen Kulisse mit einheitlichem Stil ausgebaut, was zunächst kritisiert und später weltweit bewundert wurde. Wie Paris war Wien nicht nur funktionale Hauptstadt eines Landes und politisches Zentrum eines Regimes, sondern eine geistige, moralische und ästhetische Welt für sich, ein geistiger Kosmos mit großer Ausstrahlung.

Im politischen Raum kam eine Sonderbeziehung Wien – Paris nicht zustande, weil Frankreich gegenüber Österreich keine konstruktive Politik entwickelte und starr auf Erfüllung der Friedensverträge von 1919 bestand. Wenn es eine Person gab, welche die vergebenen Chancen verkörperte, dann war es die Journalistin und Salonière Berta Zuckerkandl. Die Tochter des Zeitungskönigs Moritz Szeps, des Gründers des liberalen Neuen Wiener Tageblatts, war eine einflussreiche Persönlichkeit. Ihr Vater war ein Vertrauter des Kronprinzen Rudolf gewesen. Berta erbte seine vielfältigen Beziehungen und machte ihren Salon zu einem Ort der Begegnung von Politikern, Diplomaten und Künstlern. »Auf meinem Diwan wird Österreich lebendig«, pflegte sie zu sagen.6 Wien war für sie vor allem ein Zentrum des modernen Denkens mit den Philosophen des Wiener Kreises und der fortschrittlichen Wissenschaft, wie sie auch ihr Mann verkörpert hatte, der liberale Mediziner Emil Zuckerkandl, der als Anatom zunächst in Graz und später in Wien wirkte, aber schon 1910 starb.

Sie war eine Dame mit Stil und sehr schönen Augen; ihre schriftlichen Erinnerungen sind von angenehmer Leichtigkeit, mit knappen, aber treffenden Porträtskizzen. Ihre Schwester hatte einen Bruder des späteren französischen Premierministers Georges Clemenceau geheiratet. In ihrem Salon waren viele bedeutende Franzosen zu Gast, etwa Auguste Rodin, als dieser 1902 Wien besuchte.

Während des Ersten Weltkriegs lebte Berta Zuckerkandl einige Zeit in der Schweiz und versuchte auf neutralem Boden, geheime diplomatische Kontakte mit Frankreich zu knüpfen, nachdem die politische Führung in Wien begriffen hatte, dass man den Krieg verlieren würde. Der Vorstoß zu einem Separatabkommen wurde von Paris nicht ernsthaft ausgelotet und zugleich durch einen deutschen Vertreter torpediert, den Diplomaten, Museumsexperten, Kunstsammler und Dandy Harry Graf Kessler.7

Eine letzte Blüte des freien Österreichs erlebte man im Jahr 1937 in Paris. Bei der dortigen Weltausstellung bedeckte eine riesige österreichische Landkarte die Front des Pavillons mit Werbung für Reisen in das Alpenland und seine Hauptstadt. Der Jausenzauber zog viele Leute an, sie genossen Wiener Kaffee und Gebäck, serviert von jungen Wienerinnen.8

Auch in den dramatischen Jahren nach 1930 pflegte Berta Zuckerkandl ihre Paris-Kontakte weiter. 13 Tage nach dem Anschluss führte ihr Weg über die Schweiz ins Pariser Exil, da sie als prominente Jüdin höchst gefährdet war. An der Seine engagierte sich die alte Dame in Kreisen der Exilösterreicher, die sie auch finanziell unterstützte. Als die Wehrmacht 1940 Frankreich besetzte, wich sie nach Algerien aus, kehrte aber bald nach der Befreiung von Paris dorthin zurück.9

* * *

Die Französische Republik wurde in Wien zwischen 1933 und 1938 von dem Schriftsteller Gabriel Puaux vertreten, Bruder des damals erfolgreichen Autors René Puaux. Der Botschafter residierte in einem großen frei stehenden Palais am Schwarzenbergplatz unterhalb des Belvedere-Parks. Gabriel Puaux liebte die Österreicher, weil sie keltischen Einschlag hätten (wie die Franzosen), und er hasste Deutschland, »den disziplinierten und regsamen Germanismus des großen verpreußten Reiches«; er sprach auch vom deutschen Menschenfresser und vom kleinen Österreich.10 In den fünf Jahren seiner Amtszeit wechselte das Außenamt in Paris ständig Leitung und Linie. Puaux kritisierte durchaus den Friedensvertrag von Saint-Germain. Er war überzeugt, dass Österreich die Hilfe der anderen Mächte im Rahmen des Völkerbundes brauchte, um den Anschluss zu verhindern.11 Puaux war ein Freund und Bewunderer von Kanzler Dollfuß. An dem kleinen Herrn mochte er das gewinnende Lächeln und die entspannte Vornehmheit, er fand ihn lebhaft, ironisch, heiter, großzügig, sah ihn als politischen Realisten und als Kämpfer.12

Am 19. Juni 1934 durchquerte der französische Außenminister Louis Barthou auf dem Weg nach Belgrad und Bukarest Österreich im Orient-Express. Um gegenüber diesen Regierungen – hartnäckigen Feinden Österreichs – den Eindruck eines offiziellen Treffens zu vermeiden, stieg Dollfuß am Westbahnhof zu und am Ostbahnhof wieder aus. Auf der kurzen Zugfahrt gab es nur eine informelle Unterredung. Am Ende des guten Gesprächs sagte Barthou: Auf Wiedersehen. Aber beide sollten noch in diesem Jahr 1934 ermordet werden.13

Louis Barthou fiel 1934 in Marseille einem Attentat zum Opfer, das dem König von Jugoslawien galt, den er empfangen hatte. Sein Nachfolger im Außenamt, Pierre Laval, hatte die fixe Idee, man müsse Deutschland einhegen, ohne ihm das Gefühl zu geben, es würde eingekreist. Er bastelte an einem Bündnis von Frankreich, Österreich und Italien, wenn möglich unter Einbeziehung von England.14 Am 14. April 1935 wurde tatsächlich ein Abkommen aller vier Länder zur Verteidigung von Österreichs Unabhängigkeit in Stresa am Lago Maggiore geschlossen, weshalb man von der Stresa-Front sprach. Sie war auch eine Reaktion auf die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland.15

Noch im selben Jahr bahnte sich die Annäherung zwischen Deutschland und Italien an. Mussolini hatte einen engen Vertrauten nach Berlin entsandt, Giuseppe Renzetti, und den beim Führer unbeliebten Botschafter Vittorio Cerruti abberufen. Hitler seinerseits schickte den deutschen Journalisten Sven von Müller zum Duce, der von dort das Zugeständnis mitbrachte, »dass Österreich als zweites deutsches Land nicht auf die Dauer eine Politik gegen das Reich führen kann und zu einer verständnisvollen Zusammenarbeit mit Berlin kommen muss«16.

Als 1936 in Frankreich eine Regierung unter dem Sozialisten Léon Blum an die Macht kam, wurde die österreichfreundliche Politik abgeschwächt, denn für die französische Linke galt der von Dollfuß etablierte Ständestaat als Form des Faschismus. Vergeblich versuchte Puaux dem neuen Regierungschef in Paris zu vermitteln, dass Österreich kein totalitärer Staat sei. Puaux glaubte an Österreich, er förderte Kulturabkommen zwischen beiden Ländern und lud immer wieder prominente französische Künstler und Autoren nach Wien ein.17

* * *

Wien blieb Wien, und so lebten sie dort ihr Leben in »Übermut und Leichtigkeit«18, mit Konzerten, Opern, Theater, Kabarett und Kino, Liebesaffären und Treffen in den Cafés, die immer noch Stätten der Freiheit waren. In Medizin, Biologie, Psychologie und Psychiatrie, in Mathematik, Logik, Kunst betrieb Wien weiter Gedankenarbeit. Das Theater erlebte eine großartige Zeit, in der man sich auf die eigenen Klassiker des 19. Jahrhunderts besann. Die sozialdemokratische Verwaltung der Hauptstadt führte eine fortschrittliche Sozialpolitik ein, besteuerte die Vermögenden und baute moderne Wohnblöcke als Teil einer gesellschaftlichen Utopie. Für die Gegner der Republik war das »rote Wien«, in dem die Sozialdemokraten nicht nur den Bürgermeister, sondern bis 1934 auch alle Stadträte stellten, eine Herausforderung.

In Wien überwog das Ästhetische noch in den Gedanken, Ideen und im kritischen Geist der Wiener Moderne. Die Seele und die Formen standen im Vordergrund, nicht das Politische (wie in Berlin) oder das Lebensreformerische (wie in München). Wien war eine unpolitische Stadt.19 Lebenskultur, Formbewusstsein, Genießertum schienen alles zu dämpfen. Unglück war nur ein Mangel an Stil, Pessimismus eine Schlamperei. Wien hatte 1919 den Adel verboten, aber seine Noblesse behalten. Es war immer noch ein Juwel aus einer verlorenen Krone.

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Vom 18. bis 31. August 1925 fand im Wiener Konzerthaus der 14. Zionistenkongress statt, an dem 261 Delegierte aus aller Welt teilnahmen. Der frisch in Wien eingetroffene englische Journalist George Eric Rowe Gedye wollte über dieses Ereignis berichten. Das Erste, was er sah, waren lärmende junge Männer, welche die Gäste beschimpften und mit Steinen bewarfen. Einen Augenblick fragte sich der Engländer, ob es sich um einen Studentenulk handelte, aber dann wurde ihm klar: Sie meinten es ernst. Auch ihn trafen einige Steinwürfe, als er sich dem Tagungsort näherte, dabei war er doch nur Beobachter.20 Die Kongressteilnehmer ließen sich nicht aus der Ruhe bringen, die Angriffe bestätigten ihre Forderung nach einem eigenen Judenstaat. Die Untaten der völkischen Studenten erschütterten den englischen Beobachter ebenso wie die herzlosen, grinsenden Zuschauer. Seine englische Heimatredaktion schenkte dem Bericht keinen Glauben.

Gedye, Jahrgang 1890, hatte seinem Land im Ersten Weltkrieg als Soldat und als Geheimagent gedient. Von Köln aus hatte er 1922 die Besetzung des Ruhrgebiets verfolgt und scharfe Anklagen gegen Frankreich gerichtet. 1925 wechselte er nach Wien und pflegte von dort Verbindungen nach Budapest und Prag. Er hatte Zauber und Gemütlichkeit mit einer Prise südlicher Anmut erwartet. Schon bald wurde ihm bewusst, dass Wien der Schauplatz eines politischen Dramas war, das sich von Jahr zu Jahr verschlimmern sollte. Er wurde zum Augenzeugen und zum Chronisten der Selbstzerstörung der jungen Republik bis zu ihrer Übernahme durch Nazideutschland. Sein eigenes Land sah der Journalist durchaus kritisch, immer wieder äußerte er sich gegen die englische Europapolitik. Ab 1929 berichtete er für die New York Times aus Österreich und Südosteuropa.

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Wien und Walzer sind untrennbar miteinander verbunden. Das dachte auch der französische Komponist Maurice Ravel, als ihn Sergej Pawlowitsch Djagilew, Chef der in Paris sehr erfolgreichen Russischen Tanzkompanie, um eine Ballettmusik zum Thema Wien bat. Der Auftrag von 1906 wurde erst zwischen Dezember 1919 und April 1920 ausgeführt. Inzwischen war einiges geschehen. »In der wehmütigen Heiterkeit der Walzer trauert Europa seiner verlorenen Lebensfreude, der fröhlichen Jugend vor dem Krieg, die reich an Illusionen war, und den umgestürzten Mythen eines sanften, lieben Glücks nach.« Diese Atmosphäre, wie sie Claudio Magris beschrieben hat, galt auch für den Ausgangspunkt von Ravels Phantasie.21

Für sein Stück La Valse. Poème chorégraphique hatte sich der französische Komponist ein kaiserliches Schloss um das Jahr 1855 vorgestellt, in noch unbeschwerten Habsburger Zeiten. Aus einem Nebel tauchen tanzende Paare auf, bis sich ein großer Saal mit einer Masse wirbelnder Menschen füllt, plötzlich angestrahlt von gleißendem Kronleuchter-Licht. Doch dann kippt der sentimentale Musikstrudel ins Finstere und Brutale, als öffne sich ein Abgrund im Parkett, bis zuletzt apokalyptischer Donner ertönt.

Dieser teuflische Walzer sei ein Meisterwerk, jedoch kein Ballett, befand Serge Diaghilev (wie er sich in Paris schrieb), sondern eher das musikalische Gemälde eines Balletts. Über dem Missklang zerbrach eine Künstlerfreundschaft. Ravel schrieb zunächst eine Fassung für zwei Klaviere und arbeitete erst später eine Orchesterfassung aus. In der Tat: Es war ein Ballett zweiten Grades, Echo einer vergangenen Epoche und zugleich Vorspiel von Katastrophen und Untergängen.22

Die Fassung für zwei Klaviere wurde in Wien uraufgeführt, und zwar am 23. Oktober 1920 im Kleinen Konzerthaussaal, gespielt vom Komponisten selber und von Alfredo Casella. Am 12. Dezember 1920 wurde die Klavierfassung in Paris vorgetragen, und erst am 23. Mai 1929 konnte man an der Pariser Oper eine getanzte Version erleben, eingerichtet von Ida Rubinstein.23

1929 führte eine Konzertreise Maurice Ravel erneut nach Wien. Dieses Mal kam er in Kontakt mit dem Pianisten und Lehrer am Wiener Konservatorium Paul Wittgenstein, der im Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte. Der reiche Erbe hatte an mehrere Komponisten Aufträge vergeben, und so schrieben Richard Strauss, Sergej Prokofjew und Benjamin Britten Konzertstücke für die linke Hand. Ravel schuf eine brillante Rhapsodie in G-Dur mit einem einzigen Satz und vielen Kadenzen. Das Stück hebt an in brodelnder, unheilschwangerer Düsternis und bleibt meist in den tiefen Lagen, eben weil es für die linke Hand gesetzt war. Der Klavierpart geht im Orchesterklang auf und färbt diesen, führt keinen Dialog.

Die Uraufführung des Concerto pour la main gauche fand am 5. Januar 1932 im Großen Musikvereinssaal in Wien statt. Es spielten die Wiener Symphoniker. Ravel war allerdings sehr unglücklich, ja wütend. Paul Wittgenstein, ein eigenwilliger und streitsüchtiger Mann, hatte von sich aus Änderungen an der Komposition vorgenommen, viele Schnörkel und Auszierungen eingefügt, und da er sich auf fünf Jahre die Exklusivrechte gesichert hatte, konnte die von Ravel gewollte Version erst 1937 in Paris aufgeführt werden – es war das Todesjahr des Komponisten. Im Jahr darauf »starb« Wien, und Wittgenstein musste sich ins amerikanische Exil retten. Interpreten sind nur Sklaven, hatte der wütende Komponist ausgerufen. Alle Künstler aber sind ihrer Zeit unterworfen, auch wenn sie diese zu durchschauen meinen.24

La Valse war nicht nur eine Beschwörung einer verlorenen Vergangenheit: Es war eine böse Zukunftsmusik. Als das Stück komponiert wurde, handelte man in Saint-Germain den Friedensvertrag mit Österreich aus, dessen Vertreter in einem Naturkundemuseum empfangen wurden – im Saal der ausgestorbenen Arten. Das mag die französischen Diplomaten sehr amüsiert haben; sehr weitsichtig war es nicht. Versäumt wurde, sich auf Österreich zu stützen, um es gegen Deutschland in Stellung zu bringen.

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Ohne Juden

 … niemand kennt die Juden, niemand versteht sie.

Felix Salten, 1925

Am Nachmittag des 10. März 1925 verübte der 21-jährige Zahntechniker Otto Rothstock ein Revolverattentat auf den Schriftsteller und Redakteur Hugo Bettauer, der vierzehn Tage nach dem Anschlag an den Folgen der sechs Schüsse starb. Tatort war das Redaktionsbüro von Bettauers Wochenschrift. Probleme des Lebens im Haus Lange Gasse 5–7. Der verhaftete Schütze behauptete, er habe ein Fanal gegen die Sittenlosigkeit Bettauers setzen wollen. Er stand den österreichischen Nationalsozialisten nahe und wurde von einem Anwalt dieser Partei vertreten. Rothstocks Verbrechen wurde in rechten Kreisen gefeiert, der Mörder wurde nie verurteilt, sondern als geistig unzurechnungsfähig eingestuft, kam nach 18 Monaten in der Psychiatrie wieder frei und lebte noch lange und unbehelligt in Deutschland, wo er sich nach 1945 im Kampf gegen den Schund in Literatur und Presse hervortat.

Hugo Bettauer, erfolgreicher Verfasser zahlreicher Fortsetzungsromane und Herausgeber auflagenstarker Skandalzeitschriften, Autor von Sexual-Aufklärungsfibeln, Conférencier in Kabaretts, war schon lange ein Hassobjekt der völkischen Rechten, der er als »Schänder unseres Volkes« galt.1 1872 in Baden bei Wien geboren, führte er ein abenteuerliches Leben mit mehreren Ehen und Liebschaften, längeren Aufenthalten in New York, München und Berlin. In Amerika hatte er gelernt, packende Inhalte direkt und wirksam für die Presse aufzubereiten. Skandal war bei ihm Nebeneffekt, die kritisch-aufklärerische Absicht kann man ihm nicht absprechen, aber ebenso wenig das Erfolgsstreben. Mit 18 Jahren war er vom Judentum zum Protestantismus konvertiert. Zu seinen Mitschülern gehörte Karl Kraus, der ihn persönlich nicht mochte, aber verteidigte, als er zur Zielscheibe politischer Attacken geworden war.

Bettauers Roman Die freudlose Gasse wurde zur Vorlage für einen Klassiker des deutschen Stummfilms. Großen Erfolg hatte auch Die Stadt ohne Juden, 1922 erschienen und 1924 verfilmt (mit Hans Moser). Dieser »Roman von Übermorgen« führte vor Augen, was passieren würde, sollte der Slogan Hinaus mit den Juden! in die Tat umgesetzt werden.2

Im Buch lässt der christlichsoziale Kanzler Dr. Karl Schwerdtfeger die »Ausweisung aller Nichtarier aus Österreich« per Gesetz verfügen. Man sei den Juden nicht gewachsen, sagt er zur Begründung, dank ihrer Agilität und Zähigkeit, ihrem Geschäftssinn und ihrer Energie seien sie den »Ariern« überlegen; so hätten sie die geistige, wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft errungen. Ein zionistischer Vertreter begrüßt das Gesetz, das eine halbe Million Menschen betreffe. Er redet aber von der Aufnahme der vertriebenen Juden in anderen Ländern, nicht von einer eigenen Heimstatt. Die Ausweisung aller Juden und Judenstämmlinge (definiert durch Rassengesetze) erfolge »human«, für Alte und Kranke werde ein Lazarettzug zur Verfügung gestellt. Jeder Versuch einer Rückkehr werde mit der Todesstrafe geahndet.

Die Masse der Wiener Bevölkerung ist begeistert und in Feierlaune. Als die negativen Folgen des Fortzugs der Juden spürbar werden (Inflation, Währungsverfall, Versorgungskrise, Wirtschafts- und Tourismusboykott durch andere Länder), schlägt die Stimmung allmählich um. Frauen und süße Mädel sind unzufrieden, weil sie nicht mehr von jüdischen Liebhabern verwöhnt werden, die Luxusindustrie leidet besonders, auf den Theater- und Operettenbühnen der »lustigen und leichtsinnigen Stadt« ist nichts mehr los. Wien ohne Juden wirkt wie ein »internationales Dummheitsmuseum«.

Eine Liebesgeschichte wird zur Kernhandlung: Leo Strakosch, als Zeichner und Radierer erfolgreich, verlobt mit Lotte Spineder, deren Eltern der künftige jüdische Schwiegersohn durchaus genehm war, emigriert nach Paris, wo er künstlerischen Erfolg hat. Ein Jahr später kehrt er heimlich zurück, verkleidet als Franzose und mit falschen Papieren ausgestattet, quartiert sich bei Lottes Eltern ein und begründet ganz allein eine Widerstandsgruppe, die sich »Die wahren Christen« nennt. Mit Plakaten und Artikeln in der Arbeiterzeitung stachelt er das allgemeine Unbehagen an. So wird die öffentliche Stimmung gewendet, schließlich werden Neuwahlen erzwungen, nach denen das Gesetz zu Fall kommt. Die Juden kehren zurück, und Leo kann seine Lotte heiraten. Erst eine Manipulation, von Leo selbst als »jüdische Frechheit« bezeichnet, macht dem Spuk ein Ende.

Alle antisemitischen Klischees werden hier illustriert, alle Züge der deutschnational-völkischen Politik lächerlich gemacht, alle Varianten jüdischer Lebensweisen vorgeführt, vom Schnorrer bis zum Künstler, vom Spekulanten bis zum Familienvater. Auch ein Motiv wie Sexualneid wird ins Spiel gebracht. Bettauer selbst hat sein Werk »ein ganz amüsantes Romänchen« genannt.3

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Man kann das Buch als mehr oder weniger gelungenen Spaß mit politischem Hintersinn betrachten, doch die Völkischen (»Hakenkreuzler«), die darin vorkommen, mangels Sündenbock allerdings überflüssig werden, hatten keinen Humor, bei diesem Thema schon gar nicht. Im Nachhinein wirkt der Roman von 1922 schrecklich prophetisch.4 »Die Wirklichkeit hat ihre Mühe, diesem Erzähler nachzukommen«, schrieb Alfred Polgar, als das Buch erschien.5

Modell für Bettauer war der christlichsoziale Abgeordnete Leopold Kunschak, der 1919 ein »Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Nation« vorgeschlagen hatte. Die Juden sollten den Status einer anerkannten Minderheit bekommen mit starker Einschränkung ihrer Bürgerrechte, ihrer Anzahl im Land und ihrer Berufswahl. Der Entwurf wurde nie in den Nationalrat eingebracht, denn Kunschaks Parteiobmann Prälat Ignaz Seipel war zwar inhaltlich einverstanden, wollte aber einen »günstigeren« Zeitpunkt abwarten.6

1936 schrieb Kunschak, es sei an der Zeit, »in der Judenfrage mit der Vogel-Strauß-Politik zu Ende zu kommen und sie einer Lösung auf dem Boden der Vernunft und des Rechtes zuzuführen, ehe die Lösung dem Bereich hemmungsloser Brutalität überantwortet ist«. Als diese Zeit der brutalen »Lösung« gekommen war, fand sich Kunschak in der Opposition und schließlich im Konzentrationslager wieder, weil er sich dem Anschluss widersetzte.7

Bettauer brauchte nichts zu erfinden, sondern nur zu zitieren, denn antijüdische Redensarten und Slogans waren weit verbreitet. Er selbst sagte, er habe sich bemüht, seinen Roman vorurteilslos zu schreiben. Die Stadt ohne Juden war ein Bestseller, auch in Übersetzungen. Bis 1926 wurde eine Viertelmillion Exemplare abgesetzt. Ein preußischer Nachahmer verfasste das Buch Berlin ohne Juden. Einige jüdische Kritiker fanden den Roman naiv, andere übermütig. Der NS-Ideologe Alfred Rosenberg sah darin ein Musterbeispiel jüdischer Zersetzungstätigkeit.8

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Ein literarischer Vorläufer von Bettauer, der deutsche Dichter und Erzähler Otto Julius Bierbaum, schickte die problematische Hauptfigur seines Romans Prinz Kuckuck auf eine »Höllenfahrt« durch Milieus von der Universität über die Kunst bis zur Po