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Paul Heyse

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Paul Heyse

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-962811-04-4

null-papier.de/527

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Bio­gra­phi­sches

Le­ben

Werk

An­drea Del­fin

1

2

3

4

Am Ti­be­ru­fer

An­fang und Ende

Bar­ba­ros­sa

Bea­tri­ce

Das Bild der Mut­ter

Das Glück von Ro­then­burg

Das Mäd­chen von Trep­pi

Der Kin­der Sün­de, der Vä­ter Fluch

Der Kreis­rich­ter

Der letz­te Zen­taur

Der Wein­hü­ter

Die Blin­den

Ers­tes Ka­pi­tel.

Zwei­tes Ka­pi­tel.

Drit­tes Ka­pi­tel.

Vier­tes Ka­pi­tel.

Fünf­tes Ka­pi­tel.

Sechs­tes Ka­pi­tel.

Die Ein­sa­men

Die klei­ne Mama

Die Pfad­fin­de­rin

Die Wit­we von Pisa

Ein Ring

Er­ken­ne dich selbst

Im Gra­fen­schloss

In der Geis­ter­stun­de und an­de­re Spuk­ge­schich­ten

Wid­mung

In der Geis­ter­stun­de

Mar­tin der Stre­ber

Das Haus »Zum un­gläu­bi­gen Tho­mas«

Kleo­pa­tra

L’Ar­rab­bia­ta

Ma­ria Fran­cis­ca

Ma­ri­en­kind

Ma­ri­on

Neue Mora­li­sche No­vel­len

Wid­mung

Jo­rin­de

Ge­treu bis in den Tod

Die Kai­se­rin von Spi­net­ta

Das See­weib

Die Frau Mar­che­sa

No­vel­len in Ver­sen

Die Braut von Cy­pern.

Die Brü­der.

Kö­nig und Ma­gier.

Mar­ghe­ri­ta Spo­le­ti­na.

Uri­ca.

Die Fu­rie.

Rafa­el.

Mi­che­lan­ge­lo Buo­narot­ti.

Die Hoch­zeits­rei­se an den Wal­chen­see.

No­vel­len vom Gar­da­see

Wid­mung

Ge­fan­ge­ne Sing­vö­gel

Die Macht der Stun­de

San Vi­gi­lio

Ent­sa­gen­de Lie­be

Eine ve­ne­zia­ni­sche Nacht

An­ti­qua­ri­sche Brie­fe

Spiel­manns­le­gen­de

Trou­ba­dour-No­vel­len

Wid­mung

Der lah­me En­gel

Die Ra­che der Vi­ze­grä­fin

Die Dich­te­rin von Car­cas­son­ne

Der Mönch von Mon­tau­don

Ehre über Al­les

Der ver­kauf­te Ge­sang

Un­heil­bar

Un­ver­ge­ss­ba­re Wor­te

In­dex

Dan­ke

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Biographisches

Paul Jo­hann Lud­wig von Hey­se (15.03.1830–02.04.1914) war ein deut­scher Schrift­stel­ler, Dra­ma­ti­ker und Über­set­zer. Ne­ben vie­len Ge­dich­ten schuf er rund 180 No­vel­len, acht Ro­ma­ne und 68 Dra­men. Hey­se ist be­kannt für die „Brei­te sei­ner Pro­duk­ti­on“. Der ein­fluss­rei­che Münch­ner „Dichter­fürst“ un­ter­hielt zahl­rei­che – nicht nur li­te­ra­ri­sche – Freund­schaf­ten und war auch als Gast­ge­ber über die Gren­zen sei­ner Münch­ner Hei­mat hin­aus be­rühmt.

1890 glaub­te Theo­dor Fon­ta­ne, dass Hey­se sei­ner Ära den Na­men „ge­ben wür­de und ein Hey­se­sches Zeit­al­ter“ dem Goe­thes fol­gen wür­de. Als ers­ter deut­scher Bel­le­tris­ti­k­au­tor er­hielt Hey­se 1910 den No­bel­preis für Li­te­ra­tur.

Leben

Hey­se wird am 15. März 1830 in Ber­lin ge­bo­ren. Sein Va­ter Karl Wil­helm Lud­wig Hey­se ist Pro­fes­sor für Klas­si­sche Phi­lo­lo­gie und All­ge­mei­ne Sprach­wis­sen­schaft. Die Mut­ter Ju­lie Hey­se stammt aus ei­ner wohl­ha­ben­den und kunst­lie­ben­den Fa­mi­lie. Im El­tern­haus trifft sich die kul­tu­rel­le Spit­ze der Stadt. Er be­sucht das Fried­rich-Wil­helm-Gym­na­si­um. Sein Abi­tur er­zielt er mit Best­no­ten.

1846 lernt er sei­nen spä­te­ren Men­tor, den 15 Jah­re äl­te­ren Dich­ter Ema­nu­el Gei­bel ken­nen, der da­mals große Po­pu­la­ri­tät ge­nießt. Zwi­schen den bei­den Schrift­stel­lern ent­wi­ckelt sich eine le­bens­lan­ge Freund­schaft. Über Gei­bel lernt Hey­se auch sei­ne spä­te­re Ehe­frau ken­nen.

Nach dem Abi­tur be­ginnt Paul Hey­se 1847 in Ber­lin mit dem Stu­di­um der Klas­si­schen Phi­lo­lo­gie. 1848 wer­den ers­te Ge­dich­te von ihm ver­öf­fent­licht. Er kommt in Kon­takt mit Ja­cob Burck­hardt, Adolph Men­zel, Theo­dor Fon­ta­ne und Theo­dor Storm.

Nach zwei Jah­ren Stu­di­um in Ber­lin wech­selt er im April 1849 nach Bonn, um an der dor­ti­gen Uni­ver­si­tät Kunst­ge­schich­te und Ro­ma­nis­tik zu stu­die­ren. 1850 ent­schei­det er sich end­gül­tig, Dich­ter zu wer­den. We­gen ei­ner Lie­bes­af­fä­re mit der Frau ei­nes sei­ner Pro­fes­so­ren muss Hey­se aber nach Ber­lin zu­rück­keh­ren. Im sel­ben Jahr er­scheint sein De­büt „Der Jung­brun­nen“, das er aber an­onym ver­öf­fent­licht.

Sein ers­ter Ro­man „Ma­ri­on“ wird 1852 aus­ge­zeich­net. Eben­falls 1852 über­setzt er erst­ma­lig Tex­te von Gei­bel für ein Lie­der­buch ins Spa­ni­sche. Zeit sei­nes Le­bens soll er auch als her­vor­ra­gen­der Über­set­zer (be­son­ders für Ita­lisch) zu Ruhm ge­lan­gen.

Nach ei­ner Pro­mo­ti­on 1852 un­ter­nimmt Hey­se ers­te Rei­sen nach Ita­li­en, dem Land, dem er für im­mer ver­bun­den blei­ben wird – nicht zu­letzt auch in sei­nen Wer­ken.

Un­ter dem Ein­fluss der ita­lie­ni­schen Land­schaft ver­fasst er Wer­ke, die ihn als Schrift­stel­ler be­rühmt ma­chen sol­len, u.a. die Tra­gö­die „Fran­ces­ca von Ri­mi­ni“, sei­nen be­rühm­tes­ten Ro­man, „L’Ar­rab­bia­ta“ (1853) und sei­ne „Lie­der aus Sor­rent“ (1852/53).

Hey­se ist ein „Wie­de­rent­de­cker Ita­li­ens“. Er nennt Ita­li­en und Deutsch­land sei­ne bei­den Her­kunfts­län­der. Er ver­schafft der neue­ren, ita­lie­ni­schen Li­te­ra­tur – nicht zu­letzt durch sei­ne kon­ge­nia­len Über­set­zun­gen – Ge­hör und trägt mit sei­nen Ver­öf­fent­li­chun­gen und sei­ner Mit­ar­beit an ver­schie­dens­ten Antho­lo­gi­en viel zum Aus­tausch bei­der Kul­tu­ren bei.

Durch Ver­mitt­lung sei­nes Freun­des Gei­bel wird der baye­ri­sche Kö­nig Ma­xi­mi­li­an II. auf Hey­se auf­merk­sam. Ma­xi­mi­li­an heu­ert ihn für eine staat­li­che Lei­b­ren­te als eine Art li­te­ra­ri­schen Be­ra­ter, Über­set­zer, Rei­se­be­glei­ter und Vor­le­ser an. Es folgt 1854 der Um­zug nach Mün­chen. Im jun­gen Al­ter von 24 hat es Hey­se so schon zu be­acht­li­chen Er­folg ge­bracht.

Sei­ne Frau Mar­ga­re­tha, ge­bo­re­ne Kug­ler, schenkt Hey­se vier Kin­der. Das Erst­ge­bo­re­ne, Franz, kommt 1855 zur Welt. Am 30. Sep­tem­ber 1862 stirbt Mar­ga­re­tha an ei­ner Lun­gen­krank­heit. Hey­se hei­ra­tet 1867 er­neut.

1868 über­wirft sich Hey­se mit Kö­nig Ma­xi­mi­li­an und ver­zich­tet dar­auf­hin auf sei­ne jähr­li­che Ren­te. Hey­se ist ein Mann der Mit­te, ein li­be­ral ge­sinn­ter An­hän­ger Bis­marcks. Wie vie­le sei­ner Schrift­stel­ler­kol­le­gen setzt er große Hoff­nun­gen auf die Reichs­grün­dung. In Kai­ser Wil­helm II. sieht Hey­se eine Ge­fahr für das Land. Und trotz sei­ner Be­wun­de­rung für Bis­marck teilt er des­sen ne­ga­ti­ve An­sich­ten über die auf­kom­men­de So­zi­al­de­mo­kra­tie in Deutsch­land nicht.

Hey­se ist zu sei­ner Zeit ein li­te­ra­ri­scher Fix­stern in Deutsch­land. In Mün­chen gilt er nicht nur als schrift­stel­le­ri­sches Vor­bild und ein­fluss­rei­cher Kunst­ken­ner, son­dern auch als be­lieb­ter Gast­ge­ber. Er en­ga­giert sich für die recht­li­chen und so­zia­len Be­lan­ge sei­nes Be­rufs­stan­des und ist als Mä­zen tä­tig. Hey­se bie­tet zahl­rei­chen zeit­ge­nös­si­schen Au­to­ren Hil­fe und Freund­schaft an. Im­mer wie­der er­mu­tigt er zum Bei­spiel den schwä­bi­schen Dich­ter Her­mann Kurz und be­ar­bei­tet nach sei­nem Tod des­sen Ge­samt­aus­ga­be.

Vie­le jün­ge­re Schrift­stel­ler kön­nen ihm den Re­spekt vor sei­nem fa­cet­ten­rei­chen Werk nicht ver­weh­ren: „Vi­el­leicht nur noch Mau­passant gab mir tech­nisch und sti­lis­tisch so viel Vor­bild­li­ches wie Paul Hey­se“, schreibt zum Bei­spiel Lud­wig Gang­ho­fer. Vie­le, erst nach sei­nem Tode ak­ti­ve Au­to­ren des noch jun­gen 20. Jahr­hun­derts, von Tho­mas Mann bis Isol­de Kurz, ge­hö­ren zu sei­nen Le­sern.

Im Jah­re 1856 ist Hey­se maß­geb­lich an der Grün­dung des Dich­ter­ver­ban­des „Die Kro­ko­di­le“ be­tei­ligt. Das Ziel ist die Schaf­fung ei­nes li­te­ra­ri­schen Sa­lons, um sich auch mit jün­ge­ren Dich­tern und Au­to­ren aus­zut­au­schen. Im Ve­rein, der sich wie eine Ge­heim­lo­ge ge­riert, wer­den Vor­trä­ge und Dis­kus­sio­nen fei­er­lich ze­le­briert. Zu den be­kann­te­ren Mit­glie­dern zäh­len ne­ben Gei­bel und Hey­se die Kul­tur­his­to­ri­ker Wil­helm Hein­rich Riehl, Fe­lix Dahn, Wil­helm Hertz, Her­mann Lingg, Franz von Ko­bell, Fried­rich Bo­dens­tedt, der Kom­po­nist Ro­bert von Horn­stein und der Rei­se­schrift­stel­ler und Kunst­mä­zen Adolf Fried­rich von Schack.

Im Jah­re 1900 ver­öf­fent­licht Hey­se sei­ne Ju­gen­derin­ne­run­gen. Er wird Ehren­vor­sit­zen­der des Deut­schen Goe­the-Ver­ban­des und Ehren­mit­glied der Deut­schen Schil­ler-Stif­tung. Zu sei­nem 70. Ge­burts­tag er­schei­nen Son­der­aus­ga­ben, Al­ben und zahl­rei­che Pub­li­ka­tio­nen.

Die Stadt Mün­chen er­nennt Hey­se 1910 an­läss­lich sei­nes 80. Ge­burts­ta­ges zum Ehren­bür­ger der Stadt. Er wird ge­adelt, nutzt den Ti­tel aber nie. Am 10. De­zem­ber er­hält Hey­se den No­bel­preis für Li­te­ra­tur.

Hey­se, der letz­te große Er­zäh­ler des 19. Jahr­hun­derts, stirbt am 2. April 1914, we­ni­ge Mo­na­te vor Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs.

Werk

Hey­se wird ei­ner der be­rühm­tes­ten Dich­ter sei­ner Zeit. Al­lein vom Ge­dicht „Im Wal­de“ sind 32 ver­ton­te Ver­sio­nen be­kannt. Hey­ses Ge­dich­te kön­nen sich in den Au­gen sei­ner Dich­ter­kol­le­gen mit den hoch­ge­schätz­ten Bal­la­den ei­nes Fon­ta­ne mes­sen.

Die ins­ge­samt 177 No­vel­len sind als wich­tigs­ter Teil des Ge­samt­wer­kes an­zu­se­hen, ob­wohl Hey­se sie als Ne­ben­pro­dukt sei­nes Schaf­fens be­trach­tet. „An­drea Del­fin“ oder „Die Sticke­rin von Tre­vi­so“ ge­hö­ren ne­ben den No­vel­len Storms zu den Bes­ten in die­sem Gen­re. Die Qua­li­tät der No­vel­len ist je­doch sehr un­ein­heit­lich, was Hey­se selbst in sei­ner Au­to­bio­gra­fie „Ju­gen­derin­ne­run­gen und Be­kennt­nis­se“ ein­ge­steht.

Die Ge­schich­ten wer­den von Hey­se nach sorg­fäl­ti­ger Pla­nung auf einen Schlag nie­der­ge­schrie­ben, im Druck­pro­zess wer­den dann nur flüch­ti­ge Feh­ler kor­ri­giert und ei­ni­ge Wör­ter durch pas­sen­de­re er­setzt.

Sein Werk ist un­po­li­tisch; er ver­tritt einen künst­le­ri­schen Idea­lis­mus: Die Kunst soll „ver­gol­den und ver­edeln“ und die Ge­gen­wart „im Licht der Ewig­keit“ dar­stel­len. Sei­ne Hel­den sind of „schö­ne See­len“, vor­bild­li­che, künst­le­risch sen­si­ble, jun­ge Men­schen und selbst­lo­se He­ro­i­nen. Und meist müs­sen die­se dann an der Här­te der Rea­li­tät ver­zwei­feln und schei­tern. Die No­vel­le „An­drea Del­fin“ be­schäf­tigt sich mit dem The­ma des „ge­rech­ten Rä­chers“, der durch sei­ne Ta­ten nur neue Un­ge­rech­tig­keit schafft.

In­ter­na­tio­nal be­kannt wird Hey­se durch sei­nen ers­ten Ro­man „Kin­der der Welt“ (1873). Er zeich­net dar­in die Fi­gur des Fran­ze­li­us, ei­nes So­zia­lis­ten, der eine bür­ger­li­che Kar­rie­re für sei­ne uto­pi­schen Idea­le auf­gibt. Das sechs­bän­di­ge Früh­werk er­regt ers­tes, großes Auf­se­hen und in­spi­riert be­son­ders jun­ge Le­ser. Seit den 1860er Jah­ren ist Hey­se ei­ner der be­lieb­tes­ten und meist­ge­le­se­nen deut­schen Au­to­ren. Für bür­ger­li­che Krei­se gilt er als ein schrift­stel­le­ri­sches Ide­al, mit­hin als le­gi­ti­mer Nach­fah­re Goe­thes.

Aber um die Jahr­hun­dert­wen­de hat Hey­se den Ze­nit sei­nes Ruh­mes über­schrit­ten. Die jün­ge­re Schrift­steller­ge­ne­ra­ti­on ver­wei­gert ihm zu­se­hends die Aner­ken­nung. Rin­gel­natz, der ihn per­sön­lich trifft, ver­spot­tet ihn. Im Sim­pli­cis­si­mus er­scheint er als Ka­ri­ka­tur. Den Au­to­ren der Ber­li­ner Na­tu­ra­lis­ten um Ger­hart Haupt­mann gilt er zu­se­hends als Epi­go­ne ohne ei­ge­ne Krea­ti­vi­tät; sie be­zeich­nen sei­ne Spra­che als „geis­te­s­arm“, sei­ne Fi­gu­ren als „flach und reiz­los“. Frag­lich ist, ob die­se Kri­tik nicht mehr dem Neid als der künst­le­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung ge­schul­det ist.

In Ber­lin, Mün­chen und Leip­zig wer­den Stra­ßen nach Hey­se be­nannt. Nach dem Ers­ten Welt­krieg, der Au­tor ist schon längst tot, wer­den er und sein Werk zur Ziel­schei­be auf­kom­men­der an­ti­li­be­ra­ler und an­ti­jü­di­scher Ten­den­zen. Er wird ver­leug­net, ge­rät in Ver­ges­sen­heit. Heu­te, mehr als hun­dert Jah­re nach sei­nem Tod, ist trotz sei­nes Er­fol­ges zu Leb­zei­ten sei­ne Be­deu­tung hin­ter der ei­nes Fon­ta­nes, Storms oder Kel­lers zu­rück­ge­blie­ben. Es gilt, ihn neu (wie­der) zu ent­de­cken.

Andrea Delfin

1

In je­ner Gas­se Ve­ne­digs, die den freund­li­chen Na­men Bel­la Cor­te­sia trägt, stand um die Mit­te des vo­ri­gen Jahr­hun­derts ein ein­fa­ches, ein­stö­cki­ges Bür­ger­haus, über des­sen nied­ri­gem Por­tal, von zwei ge­wun­de­nen höl­zer­nen Säu­len und ba­rockem Ge­sims ein­ge­rahmt, ein Ma­don­nen­bild in der Ni­sche thron­te und ein ewi­ges Lämp­chen be­schei­den hin­ter ro­tem Glas her­vor­schim­mer­te. Trat man in den un­te­ren Flur, so stand man am Fuße ei­ner brei­ten, stei­len Trep­pe, die ohne Win­dung zu den obe­ren Zim­mern hin­auf­führ­te. Auch hier brann­te Tag und Nacht eine Lam­pe, die an blan­ken Kett­chen von der De­cke her­ab­hing, da in das In­ne­re nur Ta­ges­licht ein­drang, wenn ein­mal die Haus­tür ge­öff­net wur­de. Aber trotz die­ser ewi­gen Däm­me­rung war die Trep­pe der Lieb­lings­auf­ent­halt von Frau Gio­van­na Da­nie­li, der Be­sit­ze­rin des Hau­ses, die seit dem Tode ih­res Man­nes mit ih­rer ein­zi­gen Toch­ter Ma­ri­et­ta das er­erb­te Häu­schen be­wohn­te und ei­ni­ge über­flüs­si­ge Zim­mer an ru­hi­ge Leu­te ver­mie­te­te. Sie be­haup­te­te, die Trä­nen, die sie um ih­ren lie­ben Mann ge­weint, hät­ten ihre Au­gen zu sehr ge­schwächt, um das Son­nen­licht noch zu ver­tra­gen. Die Nach­barn aber sag­ten ihr nach, dass sie nur dar­um von Mor­gen bis Abend auf dem obe­ren Trep­pen­ab­satz ihr We­sen trei­be, um mit je­dem, der aus- und ein­gin­ge, an­zu­bin­den und ihn nicht vor­über­zu­las­sen, ehe er ih­rer Neu­gier und Ge­sprä­chig­keit den Zoll ent­rich­tet habe. Um die Zeit, wo wir sie ken­nen ler­nen, konn­te die­ser Grund sie schwer­lich be­we­gen, den har­ten Sitz auf der Trep­pen­stu­fe ei­nem be­que­men Ses­sel vor­zu­zie­hen. Es war im Au­gust des Jah­res 1762. Schon seit ei­nem hal­b­en Jahr stan­den die Zim­mer, die sie ver­mie­te­te, leer, und mit ih­ren Nach­barn ver­kehr­te sie we­nig. Dazu ging es schon auf die Nacht, und ein Be­such um die­se Zeit war ganz un­ge­wöhn­lich. Den­noch saß die klei­ne Frau be­harr­lich auf ih­rem Pos­ten und sah nach­denk­lich in den lee­ren Flur hin­ab. Sie hat­te ihr Kind zu Bett ge­schickt und ein paar Kür­bis­se ne­ben sich ge­legt, um sie noch vor Schla­fen­ge­hen aus­zu­ker­nen. Aber al­ler­lei Ge­dan­ken und Be­trach­tun­gen wa­ren ihr da­zwi­schen ge­kom­men. Ihre Hän­de ruh­ten im Schoß, ihr Kopf lehn­te am Ge­län­der, es war nicht das ers­te Mal, dass sie in die­ser Stel­lung ein­ge­schla­fen war.

Sie war auch heu­te nahe dar­an, als drei lang­sa­me, aber nach­drück­li­che Schlä­ge an die Haus­tür sie plötz­lich auf­schreck­ten. »Mi­se­ri­cor­dia!«,1 sag­te die Frau, in­dem sie auf­stand, aber un­be­weg­li­che ste­hen blieb, »was ist das? Hab’ ich ge­träumt? Kann er es wirk­lich sein?«

Sie horch­te. Die Schlä­ge mit dem Klop­fer wie­der­hol­ten sich. »Nein«, sag­te sie, »Orso ist es nicht. Das klang an­ders. Auch die Sbir­ren2 sind es nicht. Lass se­hen, was der Him­mel schickt.« – Da­mit stieg sie schwer­fäl­lig hin­un­ter und frag­te durch die Tür, wer Ein­lass be­geh­re.

Eine Stim­me ant­wor­te­te, es ste­he ein Frem­der drau­ßen, der hier eine Woh­nung su­che. Das Haus sei ihm gut emp­foh­len; er hof­fe, lan­ge zu blei­ben und die Wir­tin wohl zu­frie­den zu stel­len. Das al­les wur­de höf­lich und in gu­tem Ve­ne­zia­nisch vor­ge­tra­gen, so dass Frau Gio­van­na, trotz der spä­ten Zeit, sich nicht be­dach­te, die Tür zu öff­nen. Der An­blick ih­res Gas­tes recht­fer­tig­te ihr Ver­trau­en. Er trug, so­viel sie in der Däm­me­rung se­hen konn­te, die an­stän­di­ge schwar­ze Klei­dung des nie­de­ren Bür­ger­stan­des, einen le­der­nen Man­tel­sack un­ter dem Arm, den Hut be­schei­den in der Hand. Nur sein Ge­sicht be­frem­de­te die Frau. Es war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dun­kel­braun, die Stirn fal­ten­los, die Au­gen feu­rig, da­ge­gen der Aus­druck des Mun­des und die Art zu spre­chen müde und über­lebt, und das kurz ge­scho­re­ne Haar in selt­sa­mem Ge­gen­satz zu den noch ju­gend­li­chen Zü­gen völ­lig er­graut.

»Gute Frau«, sag­te er, »ich habe Euch schon im Schla­fe ge­stört, und so­gar viel­leicht ver­ge­bens. Denn, um es gleich zu sa­gen, wenn Ihr kein Zim­mer habt, das auf einen Kanal hin­aus­geht, bin ich nicht Euer Mie­ter. Ich kom­me von Bre­s­cia, mein Arzt hat mir die feuch­te Luft Ve­ne­digs emp­foh­len für mei­ne schwa­che Brust; ich soll überm Was­ser woh­nen.«

»Nun Gott sei Dank!«, sag­te die Wit­we, »so kommt doch ein­mal ei­ner, der un­se­rem Kanal Ehre an­tut. Ich hat­te einen Spa­nier vo­ri­gen Som­mer, der aus­zog, weil er sag­te, das Was­ser habe einen Ge­ruch, als wä­ren Rat­ten und Me­lo­nen dar­in ge­kocht wor­den! Und Euch ist es emp­foh­len wor­den? Wir sa­gen wohl hier in Ve­ne­dig:


Was­ser vom Kanal.
Ku­riert ra­di­kal.

Aber es hat einen ei­ge­nen Sinn, Herr, einen bö­sen Sinn, wenn man be­denkt, wie man­ches Mal auf Be­fehl der Obe­ren eine Gon­del mit Drei­en auf die La­gu­nen hin­aus­fuhr und mit Zwei­en wie­der­kam. Da­von nichts mehr, Herr – Gott be­hüt’ uns alle! Aber habt Ihr Eu­ren Pass in Ord­nung? Ich könnt’ Euch sonst nicht auf­neh­men.«

»Ich hab’ ihn schon drei Mal prä­sen­tiert, gute Frau, in Me­stre, bei der Wacht­gon­del drau­ßen und am Traghet­to. Mein Name ist An­drea Del­fin, mein Stand rechts­kun­di­ger Schrei­ber bei den No­ta­ren, als wel­cher ich in Bre­s­cia fun­giert habe. Ich bin ein ru­hi­ger Mensch und habe nie mit der Po­li­zei gern zu schaf­fen ge­habt.«

»Um so bes­ser«, sag­te die Frau, in­dem sie jetzt ih­rem Gas­te vor­an die Trep­pe wie­der hin­auf­stieg. »Bes­ser be­wahrt als be­klagt, ein Aug’ auf die Kat­ze, das an­de­re auf die Pfan­ne, und es ist nütz­li­cher, Furcht zu ha­ben als Scha­den. O, über die Zei­ten, in de­nen wir le­ben, Herr An­drea! Man soll nicht drü­ber nach­den­ken. Den­ken ver­kürzt das Le­ben, aber Kum­mer schließt das Herz auf. Da seht, und sie öff­ne­te ein großes Zim­mer, ist es nicht hübsch hier, nicht wohn­lich? Dort das Bett, mit mei­nen ei­ge­nen Hän­den hab’ ich’s ge­näht, als ich jung war, aber am Mor­gen kennt man nicht den Tag. Und da ist das Fens­ter nach dem Kanal, der nicht breit ist, wie Ihr seht, aber de­sto tiefer, und das an­de­re Fens­ter dort nach der klei­nen Gas­se, das Ihr zu­hal­ten müsst, denn die Fle­der­mäu­se wer­den im­mer dreis­ter. Seht da überm Kanal, fast mit der Hand ab­zu­rei­chen, der Palast der Grä­fin Ami­dei, die blond ist wie das Gold und durch eben­so viel Hän­de geht. Aber hier steh’ ich und schwat­ze, und Ihr habt noch we­der Licht noch Was­ser und wer­det hung­rig sein.«

Der Frem­de hat­te gleich beim Ein­tre­ten das Zim­mer mit ra­schem Blick ge­mus­tert, war von Fens­ter zu Fens­ter ge­gan­gen und warf jetzt sei­nen Man­tel­sack auf einen Ses­sel. »Es ist al­les in der bes­ten Ord­nung«, sag­te er. »Über den Preis wer­den wir uns wohl ei­ni­gen. Bringt mir nur einen Bis­sen und, wenn Ihr ihn habt, einen Trop­fen Wein. Dann will ich schla­fen.«

Es war et­was selt­sam Ge­bie­te­ri­sches in sei­ner Ge­bär­de, so mil­de der Ton sei­ner Wor­te klang. Ei­lig ge­horch­te die Frau und ließ ihn auf kur­ze Zeit al­lein. Nun trat er so­fort wie­der ans Fens­ter, bog sich hin­aus und sah den sehr en­gen Kanal hin­ab, der durch kein Zit­tern sei­ner schwar­zen Flut ver­riet, dass er teil­ha­be an dem Le­ben des großen Mee­res, dem Wel­len­schlag der al­ten Adria. Der Palast ge­gen­über stieg in schwe­rer Mas­se vor ihm auf, alle Fens­ter wa­ren dun­kel, da die Vor­der­sei­te nicht dem Kanal zu­ge­kehrt war; nur eine schma­le Tür öff­ne­te sich un­ten, dicht über dem Was­ser­spie­gel, und eine schwar­ze Gon­del lag an­ge­ket­tet vor der Schwel­le.

Das al­les schi­en den Wün­schen des neu­en An­kömm­lings durch­aus zu ent­spre­chen, nicht min­der auch, dass man ihm durch das an­de­re Fens­ter, das nach der Sack­gas­se ging, nicht ins Zim­mer se­hen konn­te. Denn drü­ben lief eine fens­ter­lo­se Wand ohne an­de­re Un­ter­bre­chung als ei­ni­ge Vor­sprün­ge, Ris­se und Kel­ler­lö­cher hin, und nur den Kat­zen, Mar­dern und Nacht­vö­geln konn­te die­ser düs­te­re Win­kel an­ge­nehm und wohn­lich er­schei­nen.

Ein Licht­strahl aus dem Flur drang ins Ge­mach, die Tür öff­ne­te sich, und mit der Ker­ze in der Hand trat die klei­ne Wit­we wie­der ein, hin­ter ihr die Toch­ter, die in der Eile noch ein­mal hat­te auf­ste­hen müs­sen, um beim Empfang des Gas­tes zu hel­fen. Die Ge­stalt des Mäd­chens war fast noch klei­ner als die der Mut­ter, er­schi­en aber doch durch die höchs­te Zier­lich­keit und kaum ge­reif­te Schlank­heit al­ler For­men grö­ßer und wie auf den Fuß­spit­zen schwe­bend, wäh­rend man auch im Ge­sicht die­sel­be Ähn­lich­keit und den­sel­ben Un­ter­schied, der auf Rech­nung der Jah­re kam, auf den ers­ten Blick er­kann­te. Nur der Aus­druck in bei­den Ge­sich­tern schi­en nie­mals ein­an­der ähn­lich wer­den zu kön­nen. Es war zwi­schen den dich­ten Brau­en der Frau Gio­van­na ein Zug von Span­nung und kum­mer­vol­lem Har­ren, der auch mit den Er­fah­run­gen des Al­ters auf Ma­ri­et­tas kla­rer Stirn nie dau­ernd eine Stät­te fin­den konn­te. Die­se Au­gen muss­ten im­mer la­chen, die­ser Mund im­mer ein we­nig ge­öff­net sein, um je­den Scherz un­ver­züg­lich hin­aus­zu­las­sen. Es war un­end­lich drol­lig zu se­hen, wie jetzt in die­sem Ge­sicht­chen Ver­schla­gen­heit, Über­ra­schung, Neu­gier und Mut­wil­le mit­ein­an­der kämpf­ten. Sie bog beim Ein­tre­ten den Kopf, des­sen lose Flech­ten mit ei­nem schma­len Tuch um­wun­den wa­ren, seit­wärts, um den neu­en Haus­ge­nos­sen zu se­hen. Auch sei­ne erns­te Mie­ne und sein grau­es Haar stimm­ten ihre Mun­ter­keit nicht her­ab. Mut­ter, flüs­ter­te sie, in­dem sie einen großen Tel­ler mit Schin­ken, Brot und fri­schen Fei­gen und eine halb vol­le Fla­sche Wein auf den Tisch stell­te, er hat ein ku­rio­ses Ge­sicht, wie ein neu­es Haus im Win­ter, wenn der Schnee aufs Dach ge­fal­len ist.

»Schweig, du schlim­me Hexe!«, sag­te die Mut­ter rasch. »Wei­ße Haa­re sind falsche Zeu­gen. Er ist krank, musst du wis­sen, und du soll­test Re­spekt ha­ben, denn Krank­hei­ten kom­men zu Pfer­de und ge­hen zu Fuß, und Gott be­hü­te dich und mich, denn die Kran­ken es­sen we­nig, aber die Krank­heit frisst al­les. Hole nur ein we­nig Was­ser, so­viel wir noch ha­ben. Mor­gen müs­sen wir früh auf und neu­es kau­fen. Sieh, er sitzt da, als ob er schlie­fe. Er ist müde von der Rei­se, und du bist müde vom Still­sit­zen. So ist die Welt ver­schie­den.«

Wäh­rend die­ser halb­lau­ten Re­den hat­te der Frem­de am Fens­ter ge­ses­sen und den Kopf in die Hand ge­stützt. Auch als er jetzt auf­sah, schi­en er die Ge­gen­wart des zier­li­chen Mäd­chens, das ihm eine Ver­beu­gung mach­te, kaum zu be­mer­ken.

»Kommt und esst et­was, Herr An­drea«, sag­te die Wit­we. »Wer nicht zu Nacht isst, hun­gert im Traum. Seht, die Fei­gen sind frisch, und der Schin­ken zart, und dies ist Zy­per­wein, wie ihn der Doge nicht bes­ser trinkt. Sein Kel­ler­meis­ter hat ihn uns selbst ver­kauft, eine alte Be­kannt­schaft noch von mei­nem Mann her. Ihr seid ge­reist, Herr. Ist er Euch nicht ein­mal be­geg­net, mein Orso, Orso Da­nie­li?«

»Gute Frau«, sag­te der Frem­de, in­dem er ei­ni­ge Trop­fen Wein ins Glas goss und eine der Fei­gen auf­brach, »ich bin nie über Bre­s­cia hin­aus­ge­kom­men und ken­ne kei­nen die­ses Na­mens.«

Ma­ri­et­ta ver­ließ das Zim­mer, und man hör­te sie, wäh­rend sie die Trep­pe hin­un­ter­flog, ein Lied­chen mit hel­ler Stim­me vor sich hin sin­gen.

»Hört Ihr das Kind?«, frag­te Frau Gio­van­na. »Man hiel­te sie nicht für mei­ne Toch­ter, ob­wohl auch eine schwar­ze Hen­ne ein wei­ßes Ei legt. Im­mer sin­gen und sprin­gen, als wä­ren wir hier nicht in Ve­ne­dig, wo es gut ist, dass die Fi­sche stumm sind, weil sie sonst re­den wür­den, was ei­nem das Haar sträub­te. Aber so war ihr Va­ter auch, Orso Da­nie­li, der ers­te Ar­bei­ter auf Mu­ra­no, wo sie die bun­ten Glä­ser ma­chen, wie nir­gend auf der Welt. Ein fröh­lich Herz macht rote Wan­gen, das war sein Spruch. Und dar­um sag­te er ei­nes Ta­ges zu mir, ›Gio­van­ni­na‹, sag­te er, ›ich hal­t’ es hier nicht aus, die Luft schnürt mir die Keh­le zu, ges­tern erst ist wie­der ei­ner er­dros­selt und mit dem Fuß an den Gal­gen ge­henkt wor­den, weil er freie Re­den ge­führt hat ge­gen die In­qui­si­to­ren.3 und den Rat der Zehn4 Man weiß, wo man ge­bo­ren wird, aber nicht, wo man stirbt, und man­cher denkt auf dem Pfer­de zu sit­zen und sitzt auf der Erde. Also, Gio­van­ni­na‹, sag­te er, ›ich will nach Frank­reich, Kunst bringt Gunst, und der Hel­ler läuft dem Bat­zen nach. Mei­ne Sa­che ver­ste­he ich, und wenn ich’s drau­ßen zu was ge­bracht habe, kommst du nach mit un­se­rem Kind.‹ – Das war da­mals acht Jah­re alt, Herr An­drea. Es lach­te, als es der Va­ter zu­letzt küss­te; da lach­te er auch. Ich aber wein­te, da muss­te er wohl mit­wei­nen, ob­wohl er ganz lus­tig weg­fuhr in der Gon­del, ich hör­t’ ihn noch pfei­fen, als er schon um die Ecke war. So ging es ein Jahr. Und was ge­sch­ah? Die Si­gno­ria ließ nach ihm fra­gen; es dür­fe kei­ner von Mu­ra­no sein Ge­werk ins Aus­land tra­gen, da­mit sie es dort ihm nicht ab­sä­hen; ich soll­t’ ihm schrei­ben, dass er wie­der­käme, bei To­dess­tra­fe. Über den Brief lach­te er; aber den Her­ren vom Tri­bu­nal war’s nicht spaß­haft. Ei­nes Mor­gens, da wir noch zu Bett wa­ren, wur­de ich ab­ge­holt, das Kind mit mir, und hin­auf­ge­schleppt un­ter die Blei­dä­cher, und muss­te ihm wie­der schrei­ben, wo ich wäre, ich und un­ser Kind, und dass ich da blei­ben wür­de, bis er sel­ber mich ab­for­der­te in Ve­ne­dig. Nicht lan­ge, so hat­te ich sei­ne Ant­wort, das La­chen sei ihm ver­gan­gen, er wan­de­re dem Brief auf den Fer­sen nach. Nun, ich hoff­te täg­lich, dass er es wahr­ma­chen wer­de. Aber Wo­chen und Mon­de ver­gin­gen, und mir ward im­mer we­her ums Herz und krän­ker im Haupt, denn da dro­ben ist die Höl­le, Herr An­drea, nur dass ich das Kind hat­te, das nichts von dem Jam­mer be­griff, au­ßer dass es schlecht aß und über Tag heiß hat­te; aber den­noch sang es, um mich lus­tig zu ma­chen, dass mich’s vollends an­griff, die Trä­nen zu ver­hal­ten. Erst im drit­ten Mo­nat wur­den wir her­aus­ge­holt, es hieß, der Glas­blä­ser Orso Da­nie­li sei in Mai­land am Fie­ber ge­stor­ben, und wir könn­ten nach Hau­se ge­hen. Ich habe es auch von an­de­ren ge­hört – aber wer das glaubt, kennt die Si­gno­ria nicht. Ge­stor­ben? Stirbt man auch, wenn man Frau und Kind un­ter den Blei­dä­chern sit­zen hat und sie her­aus­ho­len soll?«

»Und was meint Ihr, dass aus Eu­rem Mann ge­wor­den sei?«, frag­te der Frem­de.

Sie sah mit ei­nem Blick ihm ins Ge­sicht, der ihn dar­an ge­mahn­te, dass die arme Frau lan­ge Wo­chen un­ter den Blei­dä­chern ge­lebt hat­te. »Es ist nicht rich­tig«, sag­te sie. »Man­cher lebt und kommt doch nicht wie­der, und man­cher ist tot und kommt doch wie­der. Aber da­von wol­len wir schwei­gen. Ja, wenn ich es Euch sag­te, wer steht mir da­für, dass Ihr nicht hin­geht und es vor dem Tri­bu­nal aus­plau­dert? Ihr seht aus wie ein Galan­tuo­mo; aber wer ist noch recht­schaf­fen heut­zu­ta­ge? Von tau­send ei­ner, von hun­dert kei­ner. Nichts für un­gut, Herr An­drea, aber Ihr wisst wohl, wie es in Ve­ne­dig heißt:


Mit Lug und Lis­ten kommt man aus,
Mit List und Lü­gen hält man haus.«

Es ent­stand eine Pau­se. Der Frem­de hat­te längst den Tel­ler weg­ge­scho­ben und der Wit­we ge­spannt zu­ge­hört.

»Ich ver­den­ke es Euch nicht«, sag­te er, »dass Ihr mir Eure Ge­heim­nis­se nicht an­ver­trau­en wollt. Sie ge­hen mich auch nichts an, und zu hel­fen wüsst’ ich Euch oh­ne­dies nicht. Aber wie kommt es, Frau, dass Ihr die­ses Tri­bu­nal, un­ter dem Ihr so viel ge­lit­ten, den­noch Euch ge­fal­len las­set, Ihr und al­les Volk in Ve­ne­dig? Denn ich weiß zwar we­nig, wie es hier aus­sieht – ich habe mich nie in po­li­ti­sche Fra­gen ver­tieft – aber so viel habe ich doch ge­hört, dass erst im vo­ri­gen Jahr hier ein Tu­mult war, um das heim­li­che Tri­bu­nal ab­zu­schaf­fen, dass ei­ner vom Adel selbst da­ge­gen auf­trat und der Gro­ße Rat eine Kom­mis­si­on wähl­te, die Sa­che zu be­den­ken, und al­les in Be­we­gung ge­riet für und wi­der. Ich hör­te da­von so­gar in mei­ner Schreib­stu­be zu Bre­s­cia. Und als end­lich al­les beim al­ten blieb und die Macht des heim­li­chen Ge­richts fes­ter ge­grün­det stand als je, warum zün­de­te da das Volk Freu­den­feu­er an auf den Plät­zen und ver­höhn­te die vom Adel, die ge­gen das Tri­bu­nal ge­stimmt hat­ten und nun sei­ne Ra­che fürch­ten muss­ten? Wa­rum war nie­mand, der es hin­der­te, dass die In­qui­si­to­ren ih­ren küh­nen Feind nach Ve­ro­na ver­bann­ten? Und wer weiß, ob sie ihn dort am Le­ben las­sen, oder ob die Dol­che schon ge­schlif­fen sind, die ihn für im­mer stumm ma­chen sol­len? Ich – wie ge­sagt – weiß nur we­nig hier­von; ich ken­ne auch je­nen Mann nicht, und es ist mir al­les sehr gleich­gül­tig, was hier ge­schieht, denn ich bin krank und wer­de es in die­ser bun­ten Welt oh­ne­hin nicht mehr lan­ge trei­ben. Aber es wun­dert mich doch, die­ses wan­kel­mü­ti­ge Volk zu se­hen, das heu­te die­se drei Män­ner sei­ne Ty­ran­nen nennt und mor­gen frohlockt, wenn die un­ter­ge­hen, wel­che der Ty­ran­nei ein Ende ma­chen woll­ten.«

»Wie Ihr da re­det, Herr!«, sag­te die Wit­we und schüt­tel­te den Kopf. »Ihr habt ihn nie ge­se­hen, den Herrn Avo­ga­do­re An­ge­lo Quer­ini, den sie ver­bannt ha­ben, weil er der heim­li­chen Jus­tiz den Krieg er­klär­te? Nun wohl, Herr, aber ich habe ihn ge­se­hen und die an­de­ren ar­men Leu­te, und sie sa­gen alle, er sei ein recht­schaf­fe­ner Herr und ein großer Ge­lehr­ter, der Tag und Nacht die al­ten Ge­schich­ten von Ve­ne­dig stu­diert hat und die Ge­set­ze kennt, wie der Fuchs den Tau­ben­schlag. Aber wer ihn über die Stra­ße ge­hen oder im Bro­glio mit sei­nen Freun­den ste­hen sah, so an die Säu­le ge­lehnt und die Au­gen halb zu­ge­drückt, der wuss­te, dass er ein No­bi­le war von der Fe­der am Hut bis zu den Schuh­schnal­len, und was er ge­gen das Tri­bu­nal re­de­te und han­del­te, war nicht fürs Volk, son­dern für die großen Her­ren. Den Scha­fen aber ist es gleich, Herr Del­fin, ob sie ge­schlach­tet oder vom Wolf ge­fres­sen wer­den, und


Rauft sich der Ha­bicht mit dem Weih,
Ist das Feld für die Hüh­ner frei.

Seht, Lie­ber, dar­um war die Scha­den­freu­de groß, als das Tri­bu­nal in al­len Rech­ten be­stä­tigt wur­de und nach wie vor nie­man­dem Re­chen­schaft schul­den soll­te als am Jüngs­ten Tage dem Herr­gott und alle Tage dem Ge­wis­sen. Im Kanal Or­fa­no, von Hun­der­ten, die dort ihr letz­tes Ave ge­be­tet ha­ben, lie­gen zehn von den klei­nen Leu­ten ne­ben neun­zig von den großen Her­ren. Aber setzt den Fall, es wür­den ad­li­ge Ver­bre­cher und bür­ger­li­che vom Gro­ßen Rat öf­fent­lich ge­rich­tet und hin­ge­rich­tet – Mi­se­ri­cor­dia! wir hät­ten acht­hun­dert Hen­ker an­statt drei, und der große Dieb häng­te den klei­nen auf.«

Er schi­en et­was er­wi­dern zu wol­len, aber mit ei­nem kur­z­en Auf­la­chen, das die Wir­tin für Zu­stim­mung nahm, hat­te es sein Be­wen­den. In­dem trat Ma­ri­et­ta wie­der her­ein, ein Ge­fäß mit Was­ser tra­gend und ein Räu­cher­pfänn­chen, auf dem ein schar­frie­chen­des Kraut glimm­te und ihr sei­nen Dampf ins Ge­sicht trieb, dass sie mit Hus­ten, Schel­ten und Au­gen­rei­ben die drol­ligs­ten Ge­bär­den mach­te. Sie trug das Räu­cher­werk mit klei­nen Schrit­ten dicht an den vier Wän­den her­um, die mit ei­ner Un­zahl Flie­gen und Mücken be­deckt wa­ren.

»Mar­schiert da weg, ihr Ge­sin­del«, sag­te sie, »ihr Blut­sau­ger, schlim­mer als Ad­vo­ka­ten und Dok­to­ren! Hät­tet ihr auch Lust, Fei­gen zu Nacht zu es­sen und Zy­per zu na­schen? Da könn­tet ihr wohl la­chen und her­nach zum Dank dem Herrn da, wenn er schläft, das Ge­sicht zer­ste­chen, ihr Meu­chel­mör­der! War­tet, ich will euch was ein­ge­ben, das euch ohne Abendes­sen in Schlaf brin­gen soll.«

»Musst du im­mer schwat­zen, du gott­lo­se Krea­tur?«, sag­te die Mut­ter, die al­len Be­we­gun­gen ih­res Lieb­lings mit strah­len­den Bli­cken folg­te. »Weißt du nicht, dass ein Fass, das klingt, leer ist, und wer viel spricht, we­nig sagt?«

»Mut­ter«, sag­te das Mäd­chen la­chend, »ich muss den Mücken ein Schlaf­lied sin­gen, und seht, wie es hilft! Da fal­len sie schon von der Wand. Gute Nacht, ihr Ta­ge­die­be, ihr schlech­ten Ge­sel­len, die ihr kei­ne Mie­te be­zahlt und doch in alle Töp­fe guckt. Wir spre­chen uns mor­gen wie­der, wenn ihr heu­te nicht ge­nug be­kom­men habt.«

Sie schwenk­te das er­lö­schen­de Kraut noch ein­mal wie be­schwö­rend überm Haup­te und schüt­te­te die Asche in den Kanal, dann ver­beug­te sie sich rasch ge­gen den Frem­den und lief wie der Wind hin­aus.

»Ist es nicht eine Hexe, ein häss­li­ches, un­er­zo­ge­nes Ge­schöpf?«, sag­te Frau Gio­van­na, in­dem sie auf­stand und sich eben­falls zum Ge­hen an­schick­te. »Und doch ge­fällt je­der Äf­fin ihr Äff­chen. Und üb­ri­gens, so klein sie ist und nichts­nut­zig, so an­stel­lig ist sie auch, und es heißt auch von ihr:


Bis die Gro­ße sich nur bückt,
Hat die Klei­ne schon das Kraut ge­pflückt.

Wenn ich das Kind nicht hät­te, Herr An­drea! Aber Ihr wollt schla­fen, und ich ste­he noch hier und brod­le wie die Sup­pe überm Feu­er. Schlaft wohl und will­kom­men in Ve­ne­dig!«

Er er­wi­der­te ih­ren Gruß tro­cken und schi­en es nicht zu be­mer­ken, dass sie of­fen­bar noch ein lo­ben­des Wort über ihre Toch­ter von ihm er­war­te­te. Als er end­lich al­lein war, saß er noch eine Wei­le am Tisch, und sein Ge­sicht wur­de im­mer düs­te­rer und schmerz­li­cher. Das Licht brann­te mit lan­gem Docht, die Flie­gen, die Ma­ri­et­tas He­xen­küns­ten ent­gan­gen wa­ren, be­la­ger­ten in schwar­zen Klum­pen die über­rei­fen Fei­gen, drau­ßen in dem Sack­gäss­chen flo­gen die Fle­der­mäu­se ans Fens­ter und stie­ßen ge­gen das Git­ter – der ein­sa­me Frem­de schi­en für al­les um ihn her er­stor­ben, und nur die Au­gen leb­ten an ihm.

Erst als es elf schlug vom Turm ei­ner na­hen Kir­che, rich­te­te er sich me­cha­nisch auf und sah um sich. An der De­cke sei­nes nied­ri­gen Zim­mers zog in grau­en Strei­fen der schar­fe Dunst des Räu­cher­krau­tes hin und der Dampf der Ker­ze ge­sell­te sich zu der Wol­ke dro­ben. An­drea öff­ne­te das Fens­ter nach dem Kanal, um die Luft zu rei­ni­gen. Da sah er ge­gen­über Licht in ei­nem durch einen wei­ßen Vor­hang nur halb ge­schlos­se­nen Fens­ter und konn­te durch die Lücke deut­lich ein Mäd­chen be­ob­ach­ten, wel­ches am Tisch vor ei­ner Schüs­sel saß und die Res­te ei­ner großen Pas­te­te has­tig ver­zehr­te, mit den Fin­gern die Bis­sen zum Mun­de füh­rend und dazu dann und wann aus ei­nem Kris­tall­fläsch­chen trin­kend. Das Ge­sicht hat­te einen leicht­sin­ni­gen, aber eben nicht her­aus­for­dern­den Aus­druck, nicht mehr in ers­ter Ju­gend. In der nach­läs­si­gen Klei­dung und dem halb­auf­ge­lös­ten Haar lag et­was Stu­dier­tes und Be­wuss­tes, was doch nicht un­ge­fäl­lig war. Sie muss­te längst be­merkt ha­ben, dass das Zim­mer ge­gen­über einen neu­en Be­woh­ner auf­ge­nom­men hat­te; aber ob­wohl sie den­sel­ben jetzt am Fens­ter sah, fuhr sie ru­hig im Schmau­sen fort, und nur wenn sie trank, schwenk­te sie das Fläsch­chen erst vor sich her, als wol­le sie einen Mit­trin­ker be­grü­ßen. Da­rauf stell­te sie die lee­re Schüs­sel bei­sei­te, rück­te den Tisch mit der Lam­pe so ge­gen die Wand, dass al­les Licht auf einen brei­ten Spie­gel im Hin­ter­grun­de fiel, und be­gann nun einen Hau­fen Mas­ken­an­zü­ge, der auf ei­nem Arm­ses­sel bunt über­ein­an­der lag, der Rei­he nach vor dem Spie­gel an­zu­pro­bie­ren, so dass der Frem­de ge­gen­über, dem sie den Rücken da­bei zu­dreh­te, de­sto deut­li­cher ihr Ab­bild se­hen muss­te. Sie schi­en sich nicht we­nig in ih­ren Ver­klei­dun­gen zu ge­fal­len. We­nigs­tens nick­te sie ih­rem Bil­de aufs freund­lichs­te zu, lach­te sich an, dass Zäh­ne und Lip­pen schim­mer­ten, run­zel­te die Brau­en, um eine tra­gi­sche oder schmach­ten­de Mie­ne zu ma­chen, und sah da­bei heim­lich seit­wärts nach dem Beo­b­ach­ter drü­ben, den sie eben­falls durch den Spie­gel im Auge be­hielt. Als die dunkle Ge­stalt un­be­weg­lich blieb und die er­hoff­ten Zei­chen des Bei­falls auf sich war­ten lie­ßen, wur­de sie un­ge­hal­ten und be­rei­te­te einen Haupt­schlag vor. Sie band sich einen großen ro­ten Tur­ban um die Schlä­fen, aus dem an blit­zen­der Agraf­fe eine Rei­her­fe­der her­vor­sah. Das Rot stand al­ler­dings nicht übel zu ih­rer gel­ben Ge­sichts­far­be, und sie mach­te sich selbst eine tie­fe Ver­beu­gung der Aner­ken­nung. Als es aber drü­ben auch jetzt noch still blieb, riss ihr die Ge­duld, und sie trat, den Tur­ban noch auf dem Kopf, has­tig an das Fens­ter, des­sen Vor­hang sie ganz zu­rück­schob.

»Gu­ten Tag, Monsù«, sag­te sie freund­lich. »Ihr seid mein Nach­bar ge­wor­den, wie ich sehe. Hof­fent­lich spielt Ihr nicht die Flö­te wie Euer Vor­gän­ger, der mich die hal­be Nacht nicht schla­fen ließ.«

»Schö­ne Nach­ba­rin«, sag­te der Frem­de, »ich wer­de Euch mit kei­ner Art von Mu­sik läs­tig fal­len. Ich bin ein kran­ker Mensch, dem es lieb ist, wenn man ihm selbst sei­nen Schlaf nicht stört.«

»So!«, er­wi­der­te das Mäd­chen mit ge­dehn­tem Ton. »Krank seid Ihr? Aber seid Ihr auch reich?«

»Nein! Wa­rum fragt Ihr?«

»Weil es ja schreck­lich ist, krank und arm zu­gleich zu sein. Wer seid Ihr denn ei­gent­lich?«

»An­drea Del­fin ist mein Name. Ich bin Ge­richts­schrei­ber ge­we­sen in Bre­s­cia und su­che hier einen stil­le­ren Dienst bei ei­nem No­tar.«

Die Ant­wort schi­en ihre Er­war­tun­gen von der neu­en Be­kannt­schaft vollends her­ab­zu­stim­men. Sie spiel­te nach­denk­lich mit ei­ner gol­de­nen Ket­te, die sie um den Hals trug.

»Und wer seid Ihr, schö­ne Nach­ba­rin?«, frag­te An­drea mit ei­nem zärt­li­chen Ton, der dem ei­ser­nen Aus­druck sei­nes Ge­sich­tes völ­lig wi­der­sprach. »Euer hol­des Bild so nahe zu ha­ben, wird mir ein Trost sein in mei­nen Lei­den.«

Sie fühl­te sich of­fen­bar be­frie­digt, dass er in den Ton ein­lenk­te, den sie zu er­war­ten be­rech­tigt war.

»Für Euch«, sag­te sie, »bin ich die Prin­zes­sin Sme­ral­di­na, die Euch er­laubt, von fern nach ih­rer Gunst zu schmach­ten. Wenn Ihr mich die­sen Tur­ban auf­set­zen seht, so sei es Euch ein Zei­chen, dass ich ge­neigt bin, mit Euch zu plau­dern. Denn ich lang­wei­le mich mehr, als bei mei­ner Ju­gend und mei­nen Rei­zen zu er­tra­gen ist. Ihr müsst wis­sen, fuhr sie fort, in­dem sie plötz­lich aus der Rol­le fiel, dass mei­ne Herr­schaft, die Grä­fin, durch­aus nicht er­laubt, dass ich auch nur die kleins­te Lieb­schaft habe, ob­wohl sie selbst ihre Lieb­ha­ber öf­ter wech­selt als ihre Hem­den. Sie sagt, dass sie ihre Ver­trau­te und Kam­mer­jung­fer stets aus dem Dienst ge­jagt habe, so­bald sie zwei­en Her­ren habe die­nen wol­len, ihr und dem klei­nen Gott mit den Flü­geln. Un­ter die­sem Vor­ur­teil muss ich nun seuf­zen, und fän­d’ ich nicht sonst hier mei­ne Rech­nung, und wohn­te nicht zu­wei­len drü­ben in Eu­rem Zim­mer ein ar­ti­ger Frem­der, der sich ein we­nig in mich ver­liebt …«

»Wer ist jetzt ge­ra­de der Lieb­ha­ber dei­ner Her­rin?«, un­ter­brach sie An­drea tro­cken. »Emp­fängt sie den ho­hen Adel Ve­ne­digs? Ge­hen die frem­den Ge­sand­ten bei ihr aus und ein?«

»Sie kom­men meist in der Mas­ke«, er­wi­der­te Sme­ral­di­na. »Aber das weiß ich wohl, dass der jun­ge Grit­ti ihr der Liebs­te ist, mehr als je­mals ein an­de­rer, so­lan­ge ich in ih­rem Diens­te bin; ja mehr als der ös­ter­rei­chi­sche Ge­sand­te, der ihr so den Hof macht, dass es zum La­chen ist. Kennt Ihr mei­ne Grä­fin auch? Sie ist schön.«

»Ich bin fremd hier, Kind. Ich ken­ne sie nicht.«

»Wisst«, sag­te das Mäd­chen mit ei­nem schlau­en Ge­sicht, »sie schminkt sich stark, ob­wohl sie noch nicht drei­ßig ist. Wenn Ihr sie ein­mal se­hen wollt, nichts leich­ter. Man legt ein Brett von Eu­rem Fens­ter in mei­nes. Ihr steigt her­über, und ich füh­re Euch an einen Ort, wo Ihr sie ganz ver­stoh­len be­trach­ten könnt. Was tut man nicht ei­nem Nach­bar zu­lie­be! – Aber jetzt gute Nacht. Ich wer­de ge­ru­fen.«

»Gute Nacht, Sme­ral­di­na!«

Sie schloss das Fens­ter. »Arm – und krank«, sag­te sie für sich, in­dem sie den Vor­hang dicht zu­sam­men­zog. »Je nun, für die Lan­ge­wei­le im­mer noch gut ge­nug.«

Auch er hat­te das Fens­ter ge­schlos­sen und durch­maß nun sein Zim­mer mit lang­sa­men Schrit­ten. »Es ist gut«, sag­te er, »es kommt mir ge­le­gen. Im schlimms­ten Fal­le kann ich auch da­von Vor­teil zie­hen.«

Sei­ne Mie­ne zeig­te, dass er an al­les eher dach­te als an Lie­bes­aben­teu­er.

Nun pack­te er sei­nen Man­tel­sack aus, der nur we­nig Wä­sche und ein paar Ge­bet­bü­cher ent­hielt, und leg­te al­les in einen Schrank an der Wand. Ei­nes der Bü­cher fiel zu Bo­den, und die Stein­plat­te gab einen hoh­len Ton. So­fort lösch­te er das Licht, ver­rie­gel­te die Tür und fing an, in der Däm­me­rung, die durch den fer­nen Schein von Sme­ral­di­nas Lämp­chen ent­stand, den Bo­den ge­nau­er zu un­ter­su­chen. Nach ei­ni­ger Ar­beit ge­lang es ihm, die Stein­plat­te, die sau­ber, aber ohne Mör­tel ein­ge­fügt war, her­aus­zu­he­ben, und er ent­deck­te dar­un­ter ein ziem­lich ge­räu­mi­ges Loch, hand­hoch und einen Schuh breit im Ge­viert. Rasch warf er sein Ober­kleid ab und band sich einen schwe­ren Gür­tel mit meh­re­ren Ta­schen ab, den er um den Leib trug. Er hat­te ihn schon in das Loch ge­legt, als er plötz­lich in­ne­hielt.

»Nein«, sag­te er, »es könn­te eine Fal­le sein. Es ist nicht das ers­te Mal, dass die Po­li­zei in Miet­woh­nun­gen der­glei­chen Ver­ste­cke an­ge­legt hat, um her­nach bei Haus­su­chun­gen zu wis­sen, wo sie an­zu­klop­fen hat. Dies ist zu lo­ckend ein­ge­rich­tet, um ihm trau­en zu kön­nen.«

Er senk­te die Stein­plat­te wie­der ein und such­te nach ei­nem si­che­re­ren Be­häl­ter für sei­ne Ge­heim­nis­se. Das Fens­ter nach der Sack­gas­se war mit ei­nem Git­ter ver­se­hen, des­sen Stä­be einen Arm durch­grei­fen lie­ßen. Er öff­ne­te es, fass­te hin­durch und tas­te­te an der Au­ßen­wand her­um. Er fand dicht un­ter dem Sims ein klei­nes Loch in der Mau­er, das schon ein­mal Fle­der­mäu­se be­wohnt zu ha­ben schie­nen. Von un­ten aus konn­te es nicht be­merkt wer­den, und oben sprang das Ge­sims dar­über vor. Geräusch­los er­wei­ter­te er mit sei­nem Dolch die Öff­nung, in­dem er Mör­tel und Stei­ne her­aus­brach, und war bald so weit ge­die­hen, dass er den brei­ten Gür­tel be­quem dar­in un­ter­brin­gen konn­te. Als er fer­tig war, stand ihm der kal­te Schweiß auf der Stirn. Er fühl­te noch ein­mal nach, ob auch nir­gend ein Stück Rie­men oder eine Schnal­le her­vor­ste­he, und schloss dann das Fens­ter. Eine Stun­de spä­ter lag er in Klei­dern auf dem Bett und schlief. Die Mücken summ­ten über sei­ner Stirn, die Nacht­vö­gel drau­ßen um­schwirr­ten neu­gie­rig das Loch, worin sein Schatz ver­bor­gen war. Die Lip­pen des Schlä­fers aber wa­ren zu fest ge­schlos­sen, um selbst im Traum ein Wort von sei­nen Ge­heim­nis­sen zu ver­ra­ten.

In der­sel­ben Nacht saß in Ve­ro­na ein Mann bei sei­ner ein­sa­men Lam­pe und ent­fal­te­te, nach­dem er Fens­ter­lä­den und Tür sorg­fäl­tig ver­schlos­sen hat­te, einen Brief, der ihm heu­te in der Däm­me­rung, als er in der Nähe des Am­phi­thea­ters sich er­ging, von ei­nem bet­teln­den Ka­pu­zi­ner heim­lich zu­ge­steckt wor­den war. Der Brief trug kei­ne Auf­schrift. Aber auf die Fra­ge, wo­her der Über­brin­ger wis­se, dass er das Schrei­ben in die rich­ti­gen Hän­de gebe, hat­te der Mönch geant­wor­tet: »Je­des Kind in Ve­ro­na kennt den ed­len An­ge­lo Quer­ini wie sei­nen Va­ter.« Da­rauf war der Bote ge­gan­gen. Der Ver­bann­te aber, des­sen Haft durch die Ach­tung, die ihm in das Un­glück folg­te, ge­lo­ckert wor­den war, hat­te den Brief trotz der Spä­her, die ihn be­ob­ach­te­ten, un­be­merkt in sei­ne Woh­nung ge­bracht und las jetzt, wäh­rend der Schritt der Wa­che drau­ßen am Hau­se dro­hend durch die Stil­le er­klang, fol­gen­de Zei­len:

An An­ge­lo Quer­ini.

Ich kann nicht hof­fen, dass Ihr Euch der flüch­ti­gen Stun­de er­in­nert, in der ich Euch per­sön­lich be­geg­net bin. Vie­le Jah­re lie­gen zwi­schen da­mals und heu­te. Ich war mit mei­nen Ge­schwis­tern in der länd­li­chen Stil­le un­se­rer Gü­ter in Fri­aul auf­ge­wach­sen; erst als ich bei­de El­tern ver­lo­ren hat­te, trenn­te ich mich von mei­ner Schwes­ter und dem jün­ge­ren Bru­der. Schon nach we­ni­gen Ta­gen hat­te mich der ver­füh­re­ri­sche Stru­del Ve­ne­digs ver­schlun­gen.

Da wur­de ich ei­nes Ta­ges im Palast Mo­ro­si­ni Euch vor­ge­stellt. Noch füh­le ich den Blick, mit dem Ihr uns jun­ge Leu­te mus­ter­tet, einen nach dem an­de­ren. Euer Auge sag­te: »und das ist das Ge­schlecht, auf des­sen Schul­tern die Zu­kunft Ve­ne­digs ru­hen soll?« – Man nann­te Euch mei­nen Na­men. Un­ver­merkt lenk­tet Ihr das Ge­spräch mit mir auf die große Ver­gan­gen­heit des Staa­tes, dem mei­ne Ah­nen ihre Diens­te ge­wid­met hat­ten. Von der Ge­gen­wart und den Diens­ten, die ich ihm schul­dig blieb, schwiegt Ihr scho­nend.

Seit je­nem Ge­spräch las ich Tag und Nacht in ei­nem Buch, das ich frü­her nie ei­nes Blickes ge­wür­digt hat­te, in der Ge­schich­te mei­nes Va­ter­lan­des. Die Frucht die­ses Stu­di­ums war, dass ich, von Grau­en und Ab­scheu ge­trie­ben, die Stadt für im­mer ver­ließ, die einst Län­der und Mee­re be­herrscht hat­te und nun die Skla­vin ei­ner kläg­li­chen Ty­ran­nis war, nach au­ßen so ohn­mäch­tig, wie un­se­lig und ge­walt­tä­tig nach in­nen.

Ich kehr­te zu mei­nen Ge­schwis­tern zu­rück. Es ge­lang mir, mei­nen Bru­der zu war­nen, ihm die Fäul­nis des Le­bens auf­zu­de­cken, das von fern sich so glei­ßend an­sah. Aber ich dach­te nicht, dass al­les, was ich tat, um ihn und uns zu ret­ten, uns nur um so ge­wis­ser ver­der­ben soll­te.

Ihr kennt die Ei­fer­sucht, mit der die Macht­ha­ber in der Mut­ter­stadt den Adel der Ter­raf­er­ma von je­her be­trach­tet ha­ben. Hat­te man doch in Zei­ten, wo der Re­pu­blik zu die­nen eine Ehre war, nie auf­ge­hört, ein Los­rei­ßen des Fest­lan­des zu fürch­ten. Jetzt, wo ver­schul­de­te und un­ver­meid­li­che Übel eine Än­de­rung der Welt­stel­lung Ve­ne­digs her­bei­ge­führt hat­ten, wur­de jene Furcht die Quel­le der un­er­hör­tes­ten Rän­ke und Fre­vel­ta­ten.

Lasst mich von den Schick­sa­len schwei­gen, die ich in der Nach­bar­schaft mei­ner Pro­vinz mit an­sah, von den aus­ge­such­ten Mit­teln, durch die man die Selbst­stän­dig­keit und Un­ab­hän­gig­keit des Adels von Fri­aul zu bre­chen such­te, von dem Heer der Bra­vi, wel­ches man ge­gen Wi­der­spens­ti­ge schick­te und durch eine Un­zahl von Am­nes­tie­de­kre­ten selbst von der Stra­fe ih­rer ei­ge­nen Ge­wis­sen ent­band. Wie man den Zwist in die Fa­mi­li­en zu tra­gen, Freund­schaf­ten zu ver­gif­ten, Ver­rat und Hin­ter­list im Schoß der engs­ten Bluts­ge­nos­sen­schaft zu er­kau­fen streb­te, das al­les ist Euch län­ger be­kannt als mir.

Und nicht lan­ge soll­te mich das An­den­ken, das ich durch mei­ne lo­cke­ren Sit­ten in Ve­ne­dig zu­rück­ge­las­sen hat­te, vor dem Ver­dacht schüt­zen, dass auch ich ei­nes Ta­ges ge­fähr­lich wer­den könn­te. Als ich für mei­ne Schwes­ter um die Er­laub­nis nach­such­te, die Hand ei­nes vor­neh­men deut­schen Herrn an­zu­neh­men, wur­de die Ein­wil­li­gung der Re­gie­rung rund­weg ver­wei­gert. Man wähn­te mich und mei­nen Bru­der im Ein­ver­ständ­nis mit der kai­ser­li­chen Po­li­tik und be­schloss, uns bü­ßen zu las­sen.

Eine Be­schwer­de der Pro­vinz ge­gen ih­ren Gou­ver­neur, die ich samt dem Bru­der mit un­ter­zeich­ne­te, lie­fer­te der In­qui­si­ti­on den An­lass, das Netz über uns zu wer­fen.

Mein Bru­der wur­de nach Ve­ne­dig ge­ru­fen, sich zu ver­ant­wor­ten. Als er kam, wur­de er un­ter die Blei­dä­cher ge­führt, und vie­le Wo­chen lang such­te man bald durch Dro­hun­gen, bald durch ver­lo­cken­de Aner­bie­tun­gen ihn zu Ge­ständ­nis­sen zu be­we­gen. Je­nen einen Schritt brauch­te er nicht zu be­schö­ni­gen; er war ge­setz­lich. An­de­res hat­te er nicht zu ge­ste­hen, da wir nichts ge­gen den Staat un­ter­nom­men hat­ten. So muss­te man ihn end­lich ent­las­sen. Aber man dach­te nicht dar­an, ihn zu be­gna­di­gen.

Ich selbst hat­te ihn schrift­lich ge­be­ten, nicht so­gleich ab­zu­rei­sen, um nicht neu­en Ver­dacht zu er­we­cken. Wir woll­ten ihn lie­ber ei­ni­ge Mo­na­te län­ger ent­beh­ren. Als er end­lich kam, soll­ten wir ihn nach we­ni­gen Ta­gen für im­mer miss­en. Er er­lag ei­nem lang­sam wir­ken­den Gift, das man ihm in ei­nem der glän­zen­den Häu­ser, die er be­such­te, un­ter die Spei­sen ge­mischt hat­te.

Noch war der Stein über sei­nem Gra­be nicht auf­ge­rich­tet, als der Gou­ver­neur der Pro­vinz mei­ner Schwes­ter sei­ne Hand an­trug. Sie wies sie mit Ent­rüs­tung zu­rück; in ih­rem Schmerz ent­fuh­ren ihr Wor­te, die ih­ren Nach­hall im Saal des In­qui­si­ti­ons­tri­bu­nals fin­den soll­ten.

Eine neue An­stren­gung des Adels von Fri­aul, die Lage des Lan­des zu bes­sern, wur­de be­ra­ten. Ich hielt mich von den ge­hei­men An­stal­ten fern, da ich von ih­rer Frucht­lo­sig­keit über­zeugt war. Aber das böse Ge­wis­sen der Her­ren der Re­pu­blik deu­te­te auf mich, als den am här­tes­ten Ge­trof­fe­nen, der einen Bru­der zu rä­chen hat­te. Ein Hau­fen ge­dun­ge­ner Bra­vi über­fiel nachts un­se­re ein­sa­me Vil­la in den Ber­gen. Ich hat­te nur mei­ne Die­ner zur Ver­tei­di­gung. Als die Elen­den uns wohl­ge­rüs­tet und ent­schlos­sen fan­den, uns nicht leich­ten Kaufs zu er­ge­ben, zün­de­ten sie das Haus an vier Ecken an. Ich mach­te mit mei­nen Leu­ten einen ver­zwei­fel­ten Aus­fall, die Schwes­ter, die selbst eine Pis­to­le trug, in un­se­rer Mit­te. Da streck­te mich ein Schlag ge­gen die Stirn be­sin­nungs­los zu Bo­den.

Erst am Mor­gen wach­te ich auf. Die Stät­te war ein men­schen­lee­rer Trüm­mer­hau­fen, mei­ne Schwes­ter in den Flam­men um­ge­kom­men, mei­ne bra­ven Die­ner teils er­schla­gen, teils in das bren­nen­de Haus zu­rück­ge­trie­ben.

Vie­le Stun­den lag ich so ne­ben dem rau­chen­den Schutt und starr­te in das lee­re Nichts, das mir mei­ne Zu­kunft be­deu­te­te. Erst als ich un­ten im Tal Bau­ern her­an­zie­hen sah, raff­te ich mich auf. Eins wuss­te ich: So­lan­ge man mich am Le­ben glaub­te, wür­de man mich für einen Feind hal­ten und über­all hin ver­fol­gen. Das bren­nen­de Grab war ge­räu­mig ge­nug; wenn ich ver­schwand, wür­de nie­mand zwei­feln, dass auch ich dort bei den Mei­ni­gen aus­ruh­te. Im He­ru­mir­ren auf der Fels­hö­he fand ich die Brief­ta­sche ei­nes mei­ner Be­dien­ten, der aus Bre­s­cia ge­bür­tig und viel in der Welt her­um­ge­fah­ren war. Sei­ne Pa­pie­re la­gen dar­in; ich steck­te sie zu mir, auf alle Fäl­le, und floh durch den dich­ten Klip­pen­wald. Nie­man­dem be­geg­ne­te ich, der mich hät­te ver­ra­ten kön­nen. Als ich mich ver­schmach­tet zu ei­nem trü­ben Wald­see bück­te, sah ich, dass auch mein Äu­ße­res mich nicht ver­ra­ten konn­te. Mein Haar war in der Nacht er­graut; mei­ne Züge wa­ren um vie­le Jah­re ge­al­tert.

In Bre­s­cia an­ge­langt, konn­te ich ohne Schwie­rig­kei­ten mich für mei­nen Die­ner aus­ge­ben, da der­sel­be schon als Kna­be die Stadt ver­las­sen hat­te und dort kei­ne Ver­wand­ten mehr be­saß. Fünf Jah­re lang leb­te ich wie ein licht­scheu­er Ver­bre­cher und ver­mied die Men­schen. Eine Ohn­macht hat­te sich auf mei­nen Geist ge­senkt, als wäre durch je­nen Schlag, der mich zu Bo­den warf, das Or­gan des Wil­lens in mir zer­trüm­mert wor­den.

Dass es nicht zer­stört, son­dern nur ge­lähmt war, emp­fand ich bei der Kun­de von Eu­rem Auf­tre­ten ge­gen das Tri­bu­nal. Mit ei­ner fie­ber­haf­ten Span­nung, die mich ver­jüng­te und mir das Be­wusst­sein mei­ner Le­bens­kraft zu­rück­gab, ver­folg­te ich die Nach­rich­ten aus Ve­ne­dig. Als ich das Schei­tern Eu­res hoch­her­zi­gen Wa­g­nis­ses ver­nahm, sank ich nur auf einen Au­gen­blick in die alte, dump­fe Re­si­gna­ti­on zu­rück. Im nächs­ten Au­gen­blick drang es wie ein Feu­er­strom durch alle mei­ne Sin­ne. Der Ent­schluss stand fest, das Werk, das Ihr auf dem of­fe­nen Wege des Rechts und des Ge­set­zes nicht hat­tet voll­brin­gen kön­nen, auf dem Wege der Ge­walt und ei­ner furcht­ba­ren Not­wehr, mit dem Arm des un­sicht­ba­ren Rich­ters und Rä­chers zum Heil mei­nes teu­ren Va­ter­lan­des hin­aus­zu­füh­ren.

Ich habe die­sen Ent­schluss seit­her un­abläs­sig ge­prüft und mei­ne Ab­sicht un­sträf­lich ge­fun­den. Ich bin mir hei­lig be­wusst, dass nicht Hass ge­gen die Per­so­nen, nicht Ra­che für er­lit­te­nes Leid, nicht ein­mal der ge­rech­te Gram um das Weh, das mei­nen Lie­ben wi­der­fah­ren, mei­nen Arm ge­gen die Ge­walt­her­ren be­waff­net. Was mich be­wegt, für ein gan­zes in Knecht­schaft ver­sun­ke­nes Volk als Ret­ter auf­zu­tre­ten und ein­zeln den Spruch zu voll­stre­cken, der zu an­de­ren Zei­ten vom Ge­samt­wil­len ei­ner frei­en Na­ti­on über un­ge­rech­te, dem Arm des Rich­ters un­er­reich­ba­re Mäch­ti­ge ver­hängt wor­den ist – es ist we­der Ei­gen­sucht, noch eit­le Ruhm­be­gier; es ist nur eine Schuld, die ich durch eine ta­ten­lo­se Ju­gend auf mich ge­la­den habe, und an de­ren Be­zah­lung mich da­mals Euer Blick im Palast Mo­ro­si­ni mahn­te.

Gott, in des­sen Schutz ich mei­ne Sa­che be­feh­le, möge mir als ein­zi­gen Er­satz für al­les, was er mir ge­nom­men, die Gna­de zu­teil wer­den las­sen, dass ich in ei­nem be­frei­ten Ve­ne­dig Euch noch ein­mal die Hand drücken kann. Ihr wer­det die blut­be­fleck­te nicht zu­rück­sto­ßen, die dann in kei­ner Freun­des­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­