Über Gabriele Wohmann

Gabriele Wohmann, 1932 in Darmstadt geboren, gehörte zu den wichtigsten Schriftstellerinnen Deutschlands. Ihr umfangreiches Werk umfasst Romane, Gedichte, Essays, Hör- und Fernsehspiele, vor allem aber galt sie als eine Meisterin der Kurzgeschichte. Mit scharfem, ironischem Blick und einem Gespür für die verborgenen Dramen des Alltags schrieb sie unverwechselbare und stets pointierte Shortstorys über die Abgründe und Tröstungen des normalen Lebens. Gabriele Wohmann erhielt zahlreiche Preise, darunter den Bremer Literaturpreis und den Hessischen Kulturpreis, und das Große Bundesverdienstkreuz. Sie starb am 22. Juni 2015 in Darmstadt. Im Aufbau Verlag erschienen die Sammlungen »Scherben hätten Glück gebracht«, »Schwarz und ohne alles«, »Wann kommt die Liebe«, »Eine souveräne Frau. Die schönsten Erzählungen« (Hrsg. von Georg Magirius) sowie »Weihnachten ohne Parfüm«.

Informationen zum Buch

Wenn jemand die hohe Kunst der Kurzgeschichte beherrscht, dann ist das Gabriele Wohmann. Mit jeder Erzählung erweitert sie die Erfahrung ihrer Leser um ein neues Minidrama, bevölkert sie mit Figuren, die um so abgründiger sind, je normaler sie wirken. Auch das Besondere passiert in diesen Geschichten einfach so, mitten im Alltag: Manch einer trifft eine Entscheidung, die ihn selbst am meisten überrascht; oder jemand beginnt aus scheinbar nichtigem Anlaß in Frage zu stellen, wie er bisher gelebt hat. Verpaßte Gelegenheiten, alte Verletzungen, verdrängte Sehnsüchte blitzen in Sekunden auf oder überschatten ein ganzes Leben. Die Figuren bewegen sich wie überforderte oder listige Hauptdarsteller in der Wirklichkeit, fallen aus ihrer Rolle, hinein in Mißgeschicke, erleben Leid und Wonne wie Augenblicke des Triumphs. Frisch, ironisch und lustvoll seziert Gabriele Wohmann diese individuellen und zwischenmenschlichen Katastrophen. Ihrer vertrackt verzweifelten Personnage aus Babys, Rentnern, Ehepaaren und Einzelgängern bringt sie spürbar Sympathie entgegen, selbst wenn sie höchst unübliche Wege einschlagen, um ihre Interessen durchzusetzen. Schließlich sind es manchmal Scherben, die Glück bringen.

»Eine unbestechliche Beobachterin« Die Zeit

»Niemand hat mit sensibleren Ohren in unsere Häuser gehorcht.« Süddeutsche Zeitung

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Gabriele Wohmann

Scherben hätten Glück gebracht

Erzählungen

Inhaltsübersicht

Über Gabriele Wohmann

Informationen zum Buch

Newsletter

Wings

Big Thicket

Countdown

Endlich Falten

Das Amerikagefühl

Du kriegst nichts geglaubt

Angerührtes Mehl

Ballonfahrer

When in Rome

Heiraten oder nicht

Frau Kaisers Rezepte

Komisch, nichts weiter

Bill hat ein Bällchen, und das ist rund

Das Schicksal der kleinen Dolores

Babys im Streß

Sprechblasen

Der Rivale

Die Hauptperson

Das Geburtstagsherz

Scherben hätten Glück gebracht

Impressum

Wings

Aber du doch nicht! Die beiden anderen Frauen hinter der Theke des Wings widersprachen unisono. Ausgerechnet du mit deinem Aufwischfimmel, sagte Zita. Du nervst, stimmts, Bertie?

Bertie sagte: Klar. Dir kann das nicht passieren, jemand, der dauernd alles blank wischt und wenn hundertmal der nächste Fettspritzer in der nächsten halben Minute fällig ist, so jemand wird nie und nimmer verwahrlosen. Gibs auf, Frida, wir kennen dich besser. Die Frauen seufzten gutmütig.

Im Wings war um diese Zeit, nachmittags gegen vier, wenig los. Bevor die zwei Burschen an der Frittiertrommel Pause gemacht hatten, der eine war zum Rauchen ins Freie gegangen, der andere füllte seinen Lottoschein aus, hatten sie über Motorräder geredet. Obwohl keine Kunden da waren, brutzelte das Fett für die Wings. Es heizte den Laden auf, so daß es drin noch etwas heißer war als draußen, und die Frauen schwitzten. Da aber plötzlich jemand reinkommen konnte, zogen sie ihre roten Basecaps mit der weißen Aufschrift Wings nicht vom Kopf. Bertie hatte schulterlange Locken, Zita und Frida trugen ihre glatten Haare im Nacken aufgesteckt oder zum Pferdeschwanz gebündelt, je nachdem. Frida fiel ein, daß die Kolleginnen sich täglich beim Duschen die Haare wuschen, und sie sagte: Nehmt mal zum Beispiel Duschen, Haarewaschen, jeden Morgen. Und daß ihr es macht und daß ich es nicht mache. Ich habe schon so eine Tendenz in mir, ich meine eine Tendenz zur Schlamperei. Gut, hier mit den Fettspritzern und den Klecksen von der roten Sauce bin ich pingelig. Ich nehme an, es ist irgendwie neurotisch. Das meiste bei mir ist das, neurotisch.

Ulla Kleber hat mal eine Therapie wegen seelischer Störungen angefangen, und das ist eine ganze Weile her, und sie hat bis heute nicht damit aufgehört, sagte Bertie.

Die lassen dich so leicht nicht mehr los, diese Psycholeute, sagte Zita.

Es könnte schlimmer mit mir werden, und dann würde es bei mir auch so ausgehen. Ich könnte wie diese alte Frau enden. Frida fixierte den Wischlappen in ihrer rechten Hand, aber sie sah so aus, als würde sie ihn überhaupt nicht erkennen, als würde sie werweißwas erblicken.

Alle drei hatten gestern abend diese trübsinnige Reportage gesehen. Eine dreiundneunzigjährige Frau war gestorben. In ihr kleines Haus verkrochen, hatte sie keinen mehr eintreten lassen, und das seit ein paar Jahren schon. Über den Gartenzaun weg konnten die Nachbarinnen noch mit ihr reden, wenn sie auf ihrem minimalen Grundstück herumwirtschaftete, sie buddelte Kartoffeln ein und wieder aus und zog ein bißchen Grünzeug. In der Reportage hatten die Nachbarinnen gesagt: Es war ja nicht mehr an sie ranzukommen. Sie war eigenbrötlerisch, hatte ein Nachbar gesagt, wie die Alten so sind. Dazu hatte er ein bißchen gelächelt, er war selber ein Alter, aber das wurde ihm nicht bewußt. Kein Zutritt also, das Haus tabu, und nachträglich wunderte das keinen mehr. Die alte Frau mußte sich immerhin geschämt haben. Sie mußte gewußt haben, in was für einem Dreck und in welcher Verkommenheit sie hauste.

Den Beruf möchte ich nicht haben, was genau war er, dieser ältere Mann von der Behörde, Einwohnermeldeamt oder was weiß ich … Zita lupfte die Kappe, stülpte sie wieder über.

Er war sehr behutsam, fand ich, ich fand ihn richtig pietätvoll, sagte Frida. Er stand da in diesem schmutzigen Schlamassel und behielt die Ruhe. Es war, als würde er vor sich hin reden, als wäre überhaupt kein Fernsehteam da.

Das sind Nachlaßpfleger, die so was machen müssen, sagte Bertie. Und er war einer, ein Nachlaßpfleger. Die Behörde schickt sie, wenn keine Erben da sind, die sich drum kümmern, was mit dem Krempel passieren soll. Das muß dann der Nachlaßpfleger außerdem noch tun, nach irgendwelchen Angehörigen fahnden. Nach irgendwelchen Hinweisen auf Leute, die diese Arbeit eigentlich machen müßten.

Der Mann war in Zivil. An den Unrat, durch den er sich wühlen mußte, war er von vielen Hinterlassenschaften gewöhnt, trotzdem sagte er einmal: Man gewöhnt sich nie dran. Die Frauen erwähnten das und daß man den Eindruck gehabt hatte, der Nachlaßpfleger hätte dabei nicht vor allem anderen an Ekel und Widerwillen gedacht, vor allem anderen schien er bedrückt zu sein: wieder eine Verlassenheit, wieder ein vereinsamter uralter Mensch, der sich aufgegeben hatte. Ein jüngerer Mann, der in seiner Plastikschutzkleidung wie aufgeblasen aussah, sortierte aus dem Gerümpel ein Porzellanservice, eine geschnitzte Hirschfigur, von der sein älterer Kollege meinte, sie wäre vielleicht ein bißchen was wert, einen Meisterbrief im Holzrahmen von der Handwerksinnung, ab und zu kleine zerschlissene und verstaubte, von fasrigem Spinnweb flusige Koffer und Taschen, in denen sein Vorgesetzter vergilbte Dokumente und Photoalben fand, vorsichtig entnahm, prüfte; der Mann im durchsichtigen Plastik erledigte die Vorstufe für die Entrümpelung.

Die Frauen hatten das offenbarte Geheimnis der Toten, die Verkommenheit, das dreckige Chaos, grausig, skandalös gefunden. Und gewiß auch traurig. Als einzige Gesellschaft duldete die Tote Ungeziefer und Mäuse, die sich bei ihr überfressen hatten. Dieser Stuhl riecht schon von weitem nach Urin, hatte der Nachlaßpfleger in aller Ruhe festgestellt, das Bett auch. Auf dem Stuhl lagen alte Kissen, alte Decken auf dem Bett.

Frida sagte: Ich sah mir das an und dachte, wie leicht man dahin kommen kann. Wie leicht es ist, es so weit kommen zu lassen.

Die zwei anderen protestierten wieder, und Bertie sagte: Ich hatte mal nachts ein Malheur, ist jetzt zwei Jahre her, und ich sagte mir, Bertie, du bist noch nicht im Alter für Blasenschwäche, und obwohl es damals sicher psychogen war, weil ich mal wieder Streß mit Fred hatte, ging ich zum Urologen, und der gab mir was, und schon wars aus und vorbei mit dem Spuk. Man muß was tun. Das ganze Leben lang muß man auf sich aufpassen und was tun.

Ein Kunde betrat den Laden, und einer der Frittierburschen kam durch den Hintereingang und war zur Stelle. Zita war es, die von ihrem Barhocker aufstand, dienstbereit. Sie hatte wie die zwei anderen den Kunden mit Hallo begrüßt, stand ihm mit Fragezeichengesicht, hochgezogenen Augenbrauen gegenüber.

Zehn, sagte der Kunde, bitte.

Der Bursche schmiß zehn bleiche staksige Wings ins schmurgelnde Fett. Der Kunde, ein Mann unbestimmbaren Alters und trotz der Hitze in einer abgewetzten Lederjacke, sah so aus, als wäre er bloß aus Langeweile in den Laden gegangen. Er sah nicht nach Appetit aus. Er orderte eine Cola. Wahrscheinlich wollte er bloß ein bißchen unter Menschen sein. Verdammt heiß heute, sagte er.

Kann man sagen, sagte Zita. Welche Sauce?

Gibts verschiedene?

Wir haben drei: scharf, mittelscharf, extrascharf.

Der Mann war unentschlossen. Vielleicht ganz ohne. Gehts auch ganz ohne Sauce?

Machen wir sonst nie. Aber warum nicht?

Geben Sie mir extrascharf.

Also doch mit Sauce. Zita klang nach unterdrücktem Gähnen. Sie löste ein Pappschiffchen vom Stapel.

Ich möchte sie hier essen. Der Mann deutete auf das Schiffchen.

Das bleibt sich gleich. Take-away oder hier drin, wir servieren nicht auf Tellern, sagte Zita.

Ich habs mit Extrascharf bestellt wegen der Hitze, wegen Afrika. In Afrika essen sie sehr scharf. Der Mann probierte aus, ob er lachen konnte. Vielleicht würde jemand im Laden dann auch lachen, und etwas käme in Gang. Bis jetzt hatten sich die beiden anderen Frauen rausgehalten, der Bursche machte sowieso nie den Mund auf, und sie hatten zum Tresen geschaut, weil sonst nichts los war, aber jetzt sagte Frida halblaut zu Bertie: Er will reden. Er will, daß Zita mit ihm redet. Danach lachte sie, laut genug für den Mann.

Der Typ in der Geschichte hat die mittelscharfe Sauce bestellt, sagte der Mann.

In was für einer Geschichte? rief Frida nach vorne.

Zita klatschte die dicke grellrote Sauce auf die gebräunten Wings, legte eine Serviette neben das hochgefüllte Pappschiffchen und schob es dem Kunden hin.

Eine reicht nicht, sagte der. Rücken Sie ruhig noch zwei, drei raus. Keine Ahnung, wie man das anständig essen soll, die Finger werden garantiert ganz schön fettig. Er lachte wieder. In der Geschichte war es anscheinend kein Problem, jedenfalls wird es nicht erwähnt. Ach so, die Geschichte. Ein Freund hat sie mir neulich gegeben und gesagt, lies die mal, sie paßt genau auf dich und wie du lebst. Eigentlich bin ich bloß wegen der Geschichte hier reingekommen. Das muß mehr als ein Zufall gewesen sein, dachte ich, es muß was bedeuten, Wings-Buden habe ich hier noch nirgendwo gesehen … viel zu heiß, um was Heißes zu essen, aber als ich den Laden sah …

Das bei uns, das ist ein sonniger Fleck, sagte Bertie, die mit Frida ihre Barhocker zum Tresen gezerrt hatte, und wenn es hundertmal ringsherum rabenschwarz ist von Unwettern, an uns zieht alles vorbei, als wäre da irgendeine Sperre am Himmel.

Kein Tropfen fällt, wir trocknen einfach aus, sagte Frida, und Zita, wie angesteckt von den zwei anderen, beschwerte sich über die verdorrten Pflanzen in ihrem kleinen Garten: Abend für Abend plagen wir uns mit Gießen ab.

Das ist es wieder, sagte Frida. Du gießt noch. Ich erlasse mir immer mehr. Ich sag mir, das ist deine Freiheit. Das Nachthemd waschen? Du kannst es ebensogut morgen machen. Du kannst alles mögliche ebensogut irgendwann mal machen. Bis du es überhaupt nicht mehr machst. Du siehst es einfach nicht ein. Es zu machen. Und dann wird es wie bei dieser alten toten Frau. Frida erklärte dem Mann: Wir haben gestern eine Reportage über einen Nachlaßpfleger und was der bei Vereinsamten und Heruntergekommenen zu tun hat gesehen. Bei Gestorbenen. Ohne Verwandtschaft oder mit irgendwelchen Verwandten, die sich nicht mehr haben blicken lassen. Und als ich zusah und hinterher immer wieder, dachte ich, so wie die Alte aus dem Film könnte auch ich eines Tages enden.

Sie ist geschieden, unsere gute Frida, Kinder hat sie auch keine, erklärte Bertie.

Leute, die nur für sich allein zu sorgen haben, kommen leicht auf übergeschnappte Gedanken, sagte Zita.

Ich verstehe es gut, sagte der Mann. Und zwar verstehe ich es, obwohl ich ein Familienleben habe. Manchmal, mittendrin in diesem Familienleben, passiert was mit mir, es ist, als würde etwas in mir reißen, es ist wie ein Riß, und ich gehöre plötzlich überhaupt nicht mehr dazu, ich kenne sie alle überhaupt nicht und bin ein Fremder.

Das ist aber nicht diese Geschichte, die Sie gelesen haben und wegen der Sie ins Wings gekommen sind, sagte Bertie.

Sie essen nicht, sagte Zita. Besser, Sie lassen das Zeug nicht kalt werden.

Laß ihn doch seine Geschichte erzählen, sagte Frida.

Na schön, sie spielt auch in einem Wings, sagte der Mann, irgendwo in den USA, in irgend so einem Kaff im Mittleren Westen und auch bei Hitze. Aber Bruno hat mir diese Geschichte nicht deshalb gegeben, weil er weiß, daß ich ein paar Jahre in Minnesota gelebt habe und ein bißchen rumgekommen bin, ob Sie es glauben oder nicht, ich war in einem Ort mit dem Namen Normal, genau wie unser normal …, der Mann lachte, normal hatte er deutsch ausgesprochen, und die Frauen reagierten mit O nein! und seufzendem Gekicher. Ich sah Bruno an, daß er an irgendwas Versponnenes dachte, verträumt sah er aus, wie einer, der versucht, was Seltsames zu kapieren, und nachdem ich die Geschichte gelesen hatte, kapierte wieder ich, ich meine, warum der Typ diesen Eindruck machte, und nun rätselte auch ich daran herum … falls Sie mir folgen können.

Ich nicht, sagte Bertie, ich kanns nicht.

Da müßte man schon mehr wissen, bis jetzt kann ichs auch nicht, sagte Zita. Bei uns ist nur Frida fürs Übersinnliche zuständig.

Quatsch, sagte Frida, hören Sie nicht drauf.

Ein bißchen crazy, sagt Bertie.

Stimmt schon, bis jetzt kann da keiner draus schlau werden. Der Mann hatte seine Wings noch immer nicht angerührt, und nun rückte er die Portion weit von sich weg nach rechts, stützte sich auf seine Ellenbogen. Der Mann in der Geschichte war auf der Durchreise, so wie ich heute, sagte er.

Wo solls denn hingehen? fragte Bertie.

Irgendwohin, nur weiter, alles andere ist mir egal.

Glücklich, wer so leben kann. Zita seufzte. Was sagt denn Ihre Familie dazu?

Ihre Frau vor allem? fragte Bertie.

Weiß ich nicht. Und glücklich … weiß ich auch nicht. Der Mann fingerte aus einer Innentasche seiner alten Lederjacke eine Packung Pall Mall, schnickte einen Schub Zigaretten hervor und bot sie den Frauen an; er klopfte sich ab, fand ein hellgrünes Feuerzeug, wartete mit dem Anzünden, bis Bertie und Frida zugegriffen hatten, nur Zita sagte: Danke, besser nicht. Der Chef sieht es nicht gern, wenn wir hier drin rauchen.

Der kommt erst gegen sechs, und solang nichts los ist … Frida schob die Hand des Mannes und damit die Flamme des Feuerzeugs etwas nach oben. Damit ich mir nicht meine Fransen verbrenne, sagte sie. Zita, wenn Bertie und ich fertig sind, kannst du dir eine genehmigen. Eine von uns sollte immer bereit sein, einen Kunden zu bedienen, erklärte sie dem Mann. Wissen Sie, ich bin neugierig auf Ihre Geschichte, und trotzdem muß ich immer wieder an diese Tote und an den Nachlaßpfleger denken. Und zwar im Zusammenhang mit Ihrer Geschichte. Fast fürchte ich, die Geschichte wird mich enttäuschen, denn irgendwie habe ich damit angefangen, mir was davon zu versprechen, so etwas wie eine Antwort …

Wer sagts denn! Zita lachte. Und das soll nicht übersinnlich sein! Vornehm ausgedrückt!

Alle lachten, nur der Mann nicht, dann sagte Frida: Kann verrückt sein, aber Ihr Freund, Bruno, oder?, der ist es auch, so ein bißchen verrückt, oder? Von da an hörte Frida sich wie in Trance an, wie von weit her. Wasch ich mein Höschen, oder laß ich es sein? Ich machs längst nicht mehr jeden Abend, ich machs nur noch jeden zweiten Abend, und ich könnte die Abstände vergrößern, ich spüre irgendwas im Kopf, wie ein Ticken, wie bei der Blinden-Fußgängerampel Kennedyplatz, und das ist die Gefahr … ich habe mir schon eine Menge erlassen und es Freiheit genannt, machs morgen, machs irgendwann, und ich weiß nicht mehr, ob mich das wirklich immer freier macht oder ob es mich beunruhigt …

Der Frittierbursche trottete mit einem stimmbrüchigen Kiekserlachen ab.

Zita sagte, jetzt wäre sie dran mit dem Rauchen, und griff nach der Pall-Mall-Packung, die auf der von Frida blank gewischten Theke lag: Ich bediene mich mal, okay? Das Angebot gilt doch noch?

Der Mann sagte: Klar tut es das. Er war schon bei der zweiten, und nach einem tiefen Zug atmete er aus, wedelte den Qualm weg. Eine Antwort? Weiß ich nicht, Antwort … ich selbst habe noch keine rausgefunden. Auf den ersten Blick denkt man, man weiß, was gemeint ist, aber dann denkt man, es müßte mehr dahinterstecken.

Er machts spannend, sagte Bertie.

Besser, man läßt ihn mal zu Wort kommen. Zita inhalierte paranoid. Fridas Höschen, das kennen wir mittlerweile. Was also passierte mit dem Durchreisenden in diesem gottverlassenen Wings?

In diesem gottverlassenen Wings hatte jemand ein Schild gebastelt und über dem Fett-Trog aufgehängt, und von der Hitze, die zu dem Schild aufstieg, drehte es sich, erzählte der Mann, und damit es sauber blieb, hatte dieser Jemand die Druckbuchstaben der Aufschrift mit durchsichtiger Folie in vielen schmalen Streifen überklebt. Und die Aufschrift ging so oder bis auf ein Wort, bei dem ich nicht ganz sicher bin, ungefähr so: »Leben ist etwas, das passiert, wenn du Pläne machst.«

Die Frauen bekundeten ihr respektvolles Staunen phonetisch: Ah, oh, bis Frida sagte: Man muß sich das erst mal durch den Kopf gehen lassen.

Was ist das eine Wort, bei dem Sie nicht ganz sicher sind? fragte Bertie, und Zita sagte, sie hätte den Satz sofort verstanden, und Frida übertönte beide mit dem Zuruf: Wenn! Wenn ist das Wort!

Stimmt genau, sagte der Mann. Vielleicht stand da statt wenn während.

Es sollte während heißen, sagte Frida. Während es stattfindet. Während ist besser.

Das kennt man, sagte Zita, die Leute denken immer, sie verpassen was.

Tun sie ja auch, oder? Bertie lachte.

Irgendwas verpaßt jeder, sagte Zita. Du kannst nicht alles in ein Leben reinstopfen. Die Leute träumen zu viel. Man muß auf dem Boden bleiben, und dann lebt man auch.

Für den Typen in der Geschichte war es wie Aufwachen, sagte der Mann. Nicht wie Träumen.

Irgendwie imponiert es mir, einfach so als Satz. Aber dann finde ich es auch banal, sagte Frida. So ähnlich wie das, was Zita meint: Was die Leute so sagen, du verpaßt es, zu leben. Nur, was ist das groß anderes, leben. Tut mir leid, wenn ich Sie enttäusche.

Der Mann schüttelte den Kopf, winkte ab, sagte: Macht nichts.

Bertie, wie meistens mit einem Lachen in der Stimme, sagte: Es heißt, das Leben geht an dir vorbei, du denkst an die Zukunft, das ist das mit den Plänen, und in der Gegenwart tut sich nichts.

Das kommt auf dich selber an, sagte Zita. Mach was draus, häng nicht rum. Sie seufzte, wandte sich an den Mann: Wissen Sie, ich habe nicht genug Zeit zum Hinund Hergrübeln. Überhaupt, wenn man Familie hat, muß man Pläne machen, und ich weiß nicht, wieso man dann nicht lebt. Anschaffungen, oder nehmt Urlaub …

So was hat der mit der Schild-Idee nicht gemeint: Urlaub! Frida klang verächtlich, aber Zita entgegnete aufsässig: Ich lebe, im Urlaub. Und sonst auch. Da sind die Kinder …

Trotzdem, das hat er nicht gemeint, der aus der Geschichte, sagte der Mann, er rauchte schon wieder. Kann man ein Bier haben? Wie ich sehe, haben Sie sogar Guinness. Er hat nicht das Übliche gemeint.

Bertie übernahm es, dem Mann sein Guinness zu zapfen, und Frida sagte: Ich habe mit Plänen längst aufgehört, aber lebe ich? Wenn das die Voraussetzung ist, ich meine, daß ich nichts mehr plane?

Zita erinnerte an die verwahrloste Tote aus der Reportage und an ihren Unrat, durch den sich der Nachlaßpfleger pflügen mußte, und Frida sagte: Mit dreiundneunzig, was sollte sie planen? Sie fragte: Krieg ich noch eine?, und der Mann schüttelte ihr aus der Packung eine Zigarette, und beim Anzünden schubste Frida wieder die Hand mit dem Feuerzeug ein wenig aufwärts. Allerdings muß diese einsame Alte viel früher schon mit allem Schluß gemacht haben. Wie geht es denn weiter in der Geschichte?

Ändert jemand sein Leben, der Held, ändert er was? fragte Bertie.

Wer weiß, vielleicht irgendwann, sagte der Mann. In der Geschichte kommt davon nichts vor. Nichts passiert. Alles hört auf, wie es angefangen hat, einfach so mittendrin im Leben von Leuten an einem heißen Tag irgendwo im Mittleren Westen. Der Mann trank sein Guinness aus. Er griff nach der Pall-Mall-Schachtel, legte sie wieder hin. Ich habe es übrigens beim Nacherzählen schon gemerkt, ich meine, die Wirkung schwächt sich ab, der Satz ist plötzlich beinah nur noch ein Satz, sagte der Mann.

Oh, rief Bertie, ihr kleines Gesicht wurde dramatisch. Und wir sind schuld dran! Zita, sie ist immer so übervernünftig.

Nein nein, sagte der Mann, niemand ist schuld dran.

Kann es nicht sein, daß der Satz einfach nur gut klingt? Er klingt so nach Botschaft, sagte Frida. Vielleicht hat das der, von dem die Geschichte ist, der Schriftsteller, vielleicht hat er das auch gemerkt und deshalb mittendrin aufgehört.

Weiß ich nicht, sagte der Mann. Sein Durchreisender ist Feuer und Flamme für den Jungen, der das Schild gebastelt hat, der Junge gesteht dann zwar, daß der Satz nicht von ihm ist, aber das macht dem Durchreisenden nichts aus. Denn der Junge hat sich den Satz gemerkt und ihn wichtig gefunden und sich die Mühe mit dem Schild gemacht und es im Wings über der aufsteigenden Hitze aus dem Fettbottich aufgehängt, und er feiert den Jungen, redet wie ein Wasserfall auf ihn ein und lobt und lobt … er ist ganz durcheinander …

Und dann hört es wirklich auf? fragte Bertie. Sonst nichts?

Sonst nichts. Die Geschichte hört auf, sagte der Mann.

Sie scheint trotzdem gut zu sein, sagte Frida. Eine gute Geschichte. Wenn alles offen bleibt … wie im Leben.

Ich weiß nicht, sagte Zita, ich finde, man vermißt da was. Ich lese lieber Sachen mit einem richtigen Schluß. Mit Problemen, okay, aber dann werden die gelöst. Sowieso lese ich eigentlich nur Romane. Sie seufzte, ihr Ausdruck wurde vorwurfsvoll. Wenn überhaupt. Wenn überhaupt Zeit bleibt für so was wie Lesen.

Bei Ihnen, Frida wandte sich an den Mann, der vor sich hin brütete, bei Ihnen war es wahrscheinlich so mit dem starken Eindruck und daß der stärker war als bei mir … möchten Sie noch ein Guinness?

Danke.

Danke: was?

Besser nicht, danke.

Sie hat es mehr erwischt als mich, weil Sie noch mitten im Plänemachen sind, und ich habe das ja längst aufgegeben, sagte Frida. So könnte das gewesen sein, oder?

Keiner hatte die Lastzüge auf dem Parkplatz gehört, und plötzlich drängte ein Schwall Kunden in den Laden, die Frittierburschen erschienen an ihren Plätzen, und die Frauen waren beschäftigt. Sie bekamen noch mit, daß der Mann seinen Platz am Tresen frei machte, mehr nicht. Keine hatte ihn weggehen gesehen.

Das ist wie in seiner komischen Geschichte, sagte Zita. Hört auch mittendrin auf. Nichts für mich.

Bertie gab zu bedenken, daß sie versäumt hatten, sich um ihn zu kümmern, und Frida sagte: Die Reportage mit dem Nachlaßpfleger hatte auch keinen Schluß. Es war eine gute Geschichte, seine. Wie im Leben.

Big Thicket

Gut, wenn ihr wollt, mache ich weiter, sagte Simon, aber jeder konnte ihm ansehen, daß er noch an sein Problem mit Roberta dachte. Und wir dachten auch daran, als er damit anfing, daß unter günstigeren Bedingungen alles hätte besser verlaufen können, und vielleicht meinten er und wir das gleiche mit diesen günstigeren Bedingungen. Mit weniger Zähnen im Mund – ihre Vorderzähne oben und unten sind wie übereinandergestapelt –, könnte Simon sich vorstellen, Roberta zu küssen, das wäre das eine. Wir alle finden es wichtig für ihn, daß er endlich wieder eine Frau hat, und Roberta ist in Ordnung, aber da sind diese Zähne, und einer vorne ist auch noch bläulich. Und das andere: Mit einer besseren Ausrüstung wäre die kleine Exkursion der beiden vielleicht ein Erfolg gewesen. Roberta hatte Simon immer wieder mit dem Big Thicket in den Ohren gelegen und daß sie es ihm unbedingt eines Tages zeigen wollte, und sich als fröhliche Prophetin aufgespielt (aber nett, auf ihre immer etwas penetrante Art doch nett) und vorausgesagt: Und dieser Tag wird kommen, Simon! Roberta ist ein bißchen eine Bildungstante, und sie muß die wichtigsten Sachen gesehen oder wenigstens, wenn es gar nicht machbar ist, darüber gelesen haben. Machbar ist aus ihrem Wortschatz, und sie hält mehr dafür als Leute wie wir und auch als Simon, und als der sich, bevor sie loszogen, über kommende Strapazen beklagt hat, habe ich gesagt: Aber irgendwas muß dich doch daran verlocken. Er hat sich damit verteidigt, daß wir ihm zugeredet hätten, weil wir hofften, es würde was Handfestes zwischen ihm und Roberta, etwas für immer, und außerdem wüßten wir ja, daß er jemand wäre, der nicht nein sagen könnte. Da hat dann keiner von uns mehr widersprochen. Wir haben gelacht, Simon auch. Ein bißchen Reiselust muß er doch gehabt haben. Es wäre ein Naturschutzgebiet, in das sie führen, das Big Thicket, und Simon sagte: Ganz schön gefährlich, mit einer Botanikerin dorthin zu gehen. Das wird eine einzige riesige, endlose Unterrichtsstunde.

Dann wird sie nicht dauernd darauf warten, daß du sie küßt, und du brauchst nicht dauernd an ihre Doppeldeckerzähne zu denken. Damit und mit noch ein paar Flachsereien, bei denen er aber tüchtig mitmachte, und natürlich mit Bier und Schnaps besserten wir die Stimmung auf. Und ganz ähnlich wie damals saßen wir auch heute wieder zusammen, nach seiner Tour, nur war das jetzt ein düsterer Nachmittag mit Schnee im Regen und kaltem Südwestwind, der ab und zu nasse Böen gegen die Fensterscheiben schleuderte. Wieder, weil die am meisten Platz haben, bei den Weppers, und weil ich drum gebettelt hatte, machten sie den künstlichen Kamin an, sie haben einen speziellen, der sogar knistert.

Simon erzählte: Wir hatten also verdammt primitive Camping-Bedingungen. Roberta sagte, ich bins gewöhnt, und lagerte sich im Einmannzelt aus, so hatte immerhin ich den Verschlag im Wagen, trotzdem, ein Viersternehotel war es nicht.

Habt ihr es irgendwie peinlich gefunden, das Drum und Dran vor der Nacht, die Frage lag doch in der Luft, wie man das mit dem Schlafen organisiert, zusammen oder getrennt? wollten wir wissen, und ob Simon den Eindruck gehabt hätte, Roberta würde auf ein Zeichen von ihm lauern? Obwohl, Roberta ist überhaupt nicht der Typ dafür, aber unter diesen ausgefallenen Bedingungen? Da wisse man doch nie … und so weiter.

Simon antwortete ganz fest, nein, die Ausnahmesituation hätte Roberta nicht verändert, sie wäre genau die Roberta geblieben, die sie auch zu Haus in der Stadt ist, keine Frau fürs Flirten, eher etepetete.

Trotzdem, sie rechnet mit einer Zukunft. Mit einer festen Bindung. Und so was fängt an mit dem Küssen, keine Frau auf der Welt, die das anders sieht. Und damit kommt das verdammte Problem mit der verdammt zu großen Zahnportion wieder auf. Im Qualm seiner Pfeife atmete Simon jedesmal, wenn er an Robertas überfülltes Gebiß dachte, seine Seufzer aus.

Als erstes besuchten wir ein Museumsdorf, und ich fand es langweilig, und überhaupt habe ich mich während der ganzen Zeit hundertmal weggewünscht, aber das Verrückte ist, nachträglich möchte ich es nicht missen. Auf der Fahrt runter in den südöstlichen Winkel von Texas bis ziemlich nah der Grenze zu Louisiana haben wir uns am Steuer abgelöst, ich hätte es von ihr nicht erwartet, aber sie fährt nicht schlecht, es ist ja zwar nicht logisch, aber ich würde es immer wieder denken: Eine so kleine Frau und der dicke, große, schwere Tramper, das paßt nicht zusammen. Na schön, und am dritten Tag gegen Abend waren wir am Ziel, dem Big Thicket. Das wird von zwölf separaten Territorien, acht Landarealen, vier Flußkorridoren gebildet, und das Besichtigungswürdige ist oft viele langweilige Meilen voneinander getrennt. Es hat was von einer Inselkette. Man fährt also endlos herum, und Roberta hielt ihre kleinen Vorträge: Sümpfe wie im Südosten der USA, dann aber auch Prairie, dann südwestliche Wüstenflora, immerzu stiegen wir aus, und sie zeigte mir einzelne Pflanzen. Wir kamen in dichte Wälder, die würden an die Appalachen-Bergkette im Nordosten erinnern, sagte sie, obwohl sie nie in den Appalachen war, und als wir durch die Savanne fuhren, erzählte sie, die hätte früher von Kanada bis zum Golf von Mexiko gereicht. Immer wieder kamen wir an kleineren Feuerstellen vorbei, natürliche Feuer, die da von selbst brannten, wußte sie. Sie deutete auf einzeln herumstehende Eichen: Die sind als einzige überlebensfähig, und gerade weil so wenige in der Ebene verstreut übriggeblieben sind, prägen sie das Bild der Savanne. Ich habs euch schon gesagt, an Ort und Stelle bin ich wie blockiert gewesen, und mir ist Robertas Unermüdlichkeit ganz schön auf den Geist gegangen, aber jetzt, nachträglich, bin ich beeindruckt, und zwar ziemlich stark. Dort wars mir dauernd zu viel pure Natur, und ich war scharf drauf, endlich nach Beaumont zu kommen; aber hier ist mir alles zu sehr Stadt, Fassaden, Beton, Asphalt, und ich kriege so etwas wie Heimweh, sogar nach den Sümpfen, wo du Probleme hast mit dem Atmen, weil es so dampfig ist. Kletterwurzelbäume muß man gesehen haben, Sumpfzypressen, Bäume mit den Wurzeln in der Luft, und auch diese verlassen im flachen Savannengraugrün aufragenden Eichen. Übrigens war die feuchte Luft besser für Robertas Zähne. In der trockenen Prairie hatte sie Schwierigkeiten, den Mund zuzukriegen. Die Lippen schafften es nicht über dem holprigen Oberkiefer, und ihre Zunge mußte erst alles naßmachen, nur ist ja dann auch die Zunge trocken. Simon machte das vorsichtige Gesicht, das er immer hat, wenn er an all diese geschachtelten, übereinanderverschobenen Zähne denkt, er hat mal gesagt, sie würden ihn an Hütten in Slums erinnern.