Marguerite Audoux

 

Marie-Claire

 

Impressum

Covergestaltung: Gunter Pirntke

Übersetzer: Olga Wohlbrück

Digitalisierung und Druckvorbereitung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke



2017


BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke

Mail: brokatbook@aol.com / gunter.50@gmx.net


Gunter Pirntke

Altenberger Str. 47

01277 Dresden

 

Inhalt

Impressum

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil


Erster Teil

Eines Tages kamen viele Leute zu uns. Die Männer traten ein wie in eine Kirche, und die Frauen bekreuzigten sich, wenn sie wieder weggingen.

Ich schlich mich in das Zimmer meiner Eltern und war sehr erstaunt, neben dem Bett meiner Mutter eine große brennende Kerze zu sehen. Mein Vater beugte sich über das Fußende des Bettes, um meine Mutter zu betrachten, die mit über der Brust gefalteten Händen schlief.

Unsere Nachbarin, Mutter Colas, behielt uns den ganzen Tag bei sich. Zu allen Frauen, die unsere Wohnung wieder verließen, sagte sie:

»Sie wissen ja, sie wollte ihre Kinder nicht küssen.«

Die Frauen schneuzten sich, als sie uns ansahen, und Mutter Colas fügte hinzu:

»Solche Krankheiten, die machen böse.«

An den folgenden Tagen trugen wir Kleider mit großen schwarzen und weißen Karos.

Mutter Colas gab uns zu essen und schickte uns zum Spielen auf die Felder. Meine Schwester, die schon groß war, kroch in die Hecken, kletterte auf die Bäume, wühlte im Schlamm, und wenn sie abends heimkehrte, hatte sie die Taschen voll von Getier aller Art, das mir Angst einjagte und über das Mutter Colas in Zorn geriet.

Ich hatte vor allem einen großen Widerwillen gegen Regenwürmer. Diese roten und beweglichen Dinger flößten mir einen namenlosen Abscheu ein, und wenn ich aus Versehen einmal einen von ihnen zertrat, fühlte ich lang anhaltende Ekelschauer. An Tagen, an denen ich Seitenstechen hatte, verbot Mutter Colas meiner Schwester fortzugehen. Aber meine Schwester langweilte sich und wollte mich trotzdem mitnehmen. Dann holte sie stets ihre Regenwürmer hervor, die sich in ihren Händen ringelten, und näherte sie dabei meinem Gesicht. Sogleich sagte ich, daß ich keine Schmerzen mehr hätte, und ließ mich mit auf die Felder schleppen.

Einmal warf sie mir eine Handvoll Würmer auf mein Kleid. Ich wich so unvermittelt zurück, daß ich in einen Kessel mit heißem Wasser fiel. Mutter Colas jammerte, während sie mich auszog. Ich hatte mir nicht viel getan; sie versprach meiner Schwester eine tüchtige Tracht Prügel, und da die Schornsteinfeger gerade an unserem Hause vorbeigingen, rief sie sie und sagte, sie sollten meine Schwester mitnehmen.

Alle drei traten mit ihren Leinen und Beuteln ein; meine Schwester schrie und bat um Verzeihung, und ich schämte mich sehr, weil ich ganz nackt war.

*

Mein Vater nahm uns oft an einen Ort mit, wo viele Männer versammelt waren und Wein tranken. Er stellte mich mitten zwischen die Gläser, um mich das Klagelied der Genoveva von Brabant vorsingen zu lassen. All diese Männer lachten, herzten mich und wollten mir Wein zu trinken geben.

Es war immer schon Nacht, wenn wir heimkehrten. Mein Vater ging mit großen schwankenden Schritten; oft wäre er beinahe gefallen. Manchmal fing er ganz laut zu weinen an und sagte, man habe sein Haus vertauscht. Dann begann meine Schwester zu schreien, und obwohl es Nacht war, war es doch immer sie, die schließlich unser Haus wiederfand.

Eines Morgens überschüttete uns Mutter Colas mit Vorwürfen; sie sagte, daß wir Unglückskinder seien, daß sie uns nichts mehr zu essen geben würde und daß wir uns zu unserem Vater scheren könnten, der wer weiß wohin gegangen war. Als sich ihr Zorn gelegt hatte, gab sie uns zu essen wie immer; aber bald danach ließ sie uns in Vater Chicons zweirädrigen Karren steigen, der voller Stroh und Kornsäcke war. Ich wurde hinten in eine Art Nest zwischen die Säcke gesetzt. Der Karren kippte nach hinten, und bei jedem Stoß rutschte ich auf das Stroh.

Während der ganzen Fahrt hatte ich sehr große Angst; bei jedem Abrutschen glaubte ich, der Karren würde mich verlieren oder die Säcke würden auf mich stürzen.

Wir hielten vor einem Gasthof. Eine Frau hieß uns absteigen, schüttelte das Stroh aus unseren Kleidern und gab uns Milch zu trinken. Während sie uns streichelte, sagte sie zu Vater Chicon:

»Sie glauben also, daß der Vater sie nehmen will?«

Vater Chicon schüttelte den Kopf und klopfte seine Pfeife an der Tischkante aus; er verzog seine dicken Lippen und antwortete:

»Er ist vielleicht schon weit weg. Girards Sohn sagte mir, er hätte ihn auf der Landstraße nach Paris getroffen.«

Vater Chicon führte uns dann in ein schönes Haus, das eine Freitreppe mit vielen Stufen hatte.

Er unterhielt sich lange mit einem Herrn, der mit weitausholenden Gebärden von den Frankreichwanderschaftsverbänden redete. Der Herr legte mir die Hand auf den Kopf und wiederholte mehrere Male:

»Er hatte mir nicht gesagt, daß er Kinder hat.«

Ich begriff, daß er von meinem Vater sprach, und ich wollte ihn sehen. Der Herr blickte mich an, ohne zu antworten; dann fragte er Vater Chicon:

»Wie alt ist denn diese hier?«

»Sie geht ins Fünfte«, sagte der Alte.

Währenddessen spielte meine Schwester auf den Stufen mit einer kleinen Katze.

Der Karren brachte uns zu Mutter Colas zurück, die uns brummend empfing und uns herumschubste. Einige Tage später fuhren wir mit der Eisenbahn, und am selben Abend waren wir in einem großen Haus, in dem es viele kleine Mädchen gab.

Schwester Gabrielle trennte uns sofort voneinander. Sie sagte, meine Schwester sei groß genug, um in die Mittelklasse zu kommen, während ich bei den Kleinen bleiben sollte.

Schwester Gabrielle war ganz klein, alt, mager und ging gebückt; sie hatte die Aufsicht über den Schlafsaal und das Refektorium. Im Schlafsaal strich sie mit ihrem ausgemergelten und harten Arm zwischen unseren Nachthemden und den Laken lang, um sich zu überzeugen, ob wir sauber waren; und diejenigen, deren Laken feucht waren, schlug sie zu einer festgesetzten Stunde mit der Rute.

Im Refektorium bereitete sie in einer riesigen gelben Schüssel den Salat zu.

Sie streifte die Ärmel bis zu den Schultern zurück und vergrub ihre schwarzen und knorrigen Arme immer wieder im Salat, und wenn sie sie wieder herauszog, waren sie ganz glänzend und voll kleiner Tröpfchen und erinnerten mich an regennasse, abgestorbene Zweige.

*

Ich fand sofort eine Freundin.

Ich sah sie mit frechem Gesicht und watschelndem Gang auf mich zukommen.

Sie war kaum größer als die Bank, auf der ich saß. Sie stützte sich ganz ungeniert mit den Ellbogen auf mich und sagte zu mir:

»Warum spielst du nicht?«

Ich antwortete, daß ich Seitenstechen hätte.

»Ach ja«, antwortete sie, »deine Mama war schwindsüchtig, und Schwester Gabrielle hat gesagt, du würdest bald sterben.«

Sie kletterte auf die Bank und setzte sich so, daß ihre kurzen Beine unter ihr verschwanden; dann fragte sie mich nach meinem Namen, meinem Alter, erzählte mir, daß sie Ismérie heiße, daß sie älter sei als ich und daß der Arzt gesagt habe, sie würde nicht mehr wachsen. Sie erzählte mir auch, daß die Klassenlehrerin Schwester Marie-Aimée heiße, daß sie sehr böse sei und die Schwätzerinnen hart bestrafe.

Plötzlich sprang sie runter und rief:

»Augustine!«

Ihre Stimme glich der eines Jungen, und ihre Beine waren ein wenig krumm.

Am Ende der Freistunde sah ich sie auf Augustines Rücken, die sie von einer Schulter auf die andere schaukelte, als wolle sie sie abwerfen. Als Ismérie an mir vorüberkam, rief sie mir mit ihrer lauten Stimme zu:

»Du wirst mich doch auch tragen, nicht wahr?«

Bald darauf machte ich Augustines Bekanntschaft.

*

Das Augenleiden, das ich hatte, verschlimmerte sich. Nachts klebten meine Augenlider zusammen, so daß ich völlig blind war, bis sie mir jemand auswusch. Augustine war beauftragt worden, mich in die Krankenstube zu führen. Jeden Morgen holte sie mich aus dem kleinen Schlafsaal ab. Ich hörte sie schon kommen, wenn sie an der Tür war. Das Ganze dauerte nicht lange: sie faßte mich an der Hand und zog mich ebenso schnell mit sich fort, wie sie gekommen war, ohne sich darum zu kümmern, ob ich mich an den Betten stieß.

In Windeseile liefen wir durch die Korridore und stürzten wie eine Lawine die beiden Stockwerke hinab. Ab und zu berührten meine Füße eine Stufe; mir war es immer, als fiele ich ins Leere; Augustine hatte eine starke Hand, die mich festhielt.

Um ins Krankenzimmer zu gelangen, mußte man erst hinter der Kapelle und dann an einem kleinen, ganz weißen Haus vorbei. Dort verdoppelten wir unsere Geschwindigkeit.

Eines Tages, als ich nicht mehr weiterkonnte, sank ich in die Knie; Augustine brachte mich mit einem Klaps auf den Kopf wieder auf die Beine, wobei sie sagte:

»Beeil dich doch, wir sind vor dem Leichenhaus!«

Seitdem warnte sie mich jeden Tag, wenn wir vor dem Leichenhaus waren, aus Angst, ich könnte wieder fallen.

Angst hatte ich vor allem vor Augustines Angst. Da sie so schnell lief, mußte dort Gefahr sein. Ich kam immer in Schweiß gebadet und ganz atemlos im Krankenzimmer an; irgend jemand schubste mich auf einen kleinen Stuhl, und wenn man begann, mir die Augen auszuwaschen, war mein Seitenstechen längst vergangen.

Augustine führte mich auch in Schwester Marie-Aimées Klasse. Sie sagte mit erkünstelt schüchterner Stimme:

»Schwester, hier ist die Neue.«

Ich machte mich auf ein barsches Wort gefaßt, aber Schwester Marie-Aimée lächelte mir zu, umarmte mich ein paarmal und sagte:

»Du bist zu klein, um auf einer Bank zu sitzen. Ich werde dir hier einen Platz geben.«

Und sie setzte mich auf eine Fußbank unter ihrem Pult.

Wie schön war es dort, unter dem Pult! Wie liebkoste die Wärme ihrer Baumwollröcke meinen an den Holz- und Steintreppen ganz blaugeschlagenen Körper!

Oft stellten sich zwei Füße rechts und links neben meine Fußbank, und ich fand mich eng von zwei kraftvollen, warmen Beinen umschlossen. Eine tastende Hand drückte meinen Kopf zwischen den Knien auf die Röcke, und unter dieser sanften Hand und auf diesem warmen Kopfkissen schlief ich ein.

Wenn ich aufwachte, verwandelte sich das Kopfkissen in einen Tisch. Dieselbe Hand legte zerbröckeltes Backwerk, kleine Zuckerstückchen und Bonbons darauf.

Um mich herum hörte ich das Leben weitergehen.

Eine Stimme weinte:

»Nein, Schwester, ich bin es nicht!«

Andere Stimmen überschrien sie:

»Doch, Schwester, sie ist es!«

Über meinem Kopf gebot eine volle und warme Stimme Ruhe. Gleichzeitig schlug mehrmals ein Lineal auf das Pult; die Schläge hallten in meiner Höhle wider und machten großen Lärm.

Manchmal geriet alles in Bewegung. Die Füße zogen sich von meiner Fußbank zurück, und ich sah, wie sich ein weißer Brustschleier, ein kleines Kinn, winzige spitze Zähne und schließlich zwei zärtliche Augen, die mir Vertrauen einflößten, über mein Nest beugten.

*

Sobald mein Augenleiden geheilt war, wurde dem Naschwerk eine Fibel hinzugefügt. Es war ein kleines Büchlein mit Bildern neben den Wörtern. Oft betrachtete ich eine große Erdbeere, die ich mir beinahe ebenso groß vorstellte wie ein Milchbrötchen.

Als es in der Klasse nicht mehr kalt war, setzte mich Schwester Marie-Aimée auf eine Bank zwischen Ismérie und Marie Renaud, die auch meine Bettnachbarinnen waren. Von Zeit zu Zeit erlaubte sie mir, wieder in meine geliebte Höhle zu kommen, wo ich Märchenbücher vorfand, über denen ich die Zeit vergaß.

Eines Morgens zog mich Ismérie ganz geheimnisvoll beiseite, um mir mitzuteilen, daß Schwester Marie-Aimée die Klasse nicht mehr behalten würde, da sie Schwester Gabrielles Platz im Schlafsaal und im Refektorium einnehmen sollte. Sie sagte mir nicht, woher sie das wußte, aber sie war darüber ganz bekümmert.

Sie liebte Schwester Gabrielle sehr, die sie stets wie ein kleines Kind behandelte; »diese Schwester Aimée« dagegen, wie sie sie verächtlich nannte, wenn sie sicher war, nur von uns gehört zu werden, konnte sie nicht leiden.

Sie sagte auch, daß Schwester Marie-Aimée ihr nicht erlauben würde, uns auf den Rücken zu klettern, und daß man sich über sie nicht würde lustig machen können wie über Schwester Gabrielle, die die Treppen ganz schief hinaufging.

Abends nach dem Gebet sagte uns Schwester Gabrielle, daß sie fortginge. Sie umarmte uns alle, wobei sie bei den Kleinsten anfing. Beim Hinaufgehen in den Schlafsaal herrschte ein großes Durcheinander: die Großen tuschelten und empörten sich schon im voraus gegen diese Schwester Marie-Aimée, und die Kleinen plärrten wie beim Nahen einer Gefahr.

Ismérie, die ich auf meinem Rücken trug, weinte laut, ihre kleinen Finger würgten mich ein wenig, und ihre Tränen tropften auf meinen Hals.

Niemand dachte daran, über Schwester Gabrielle zu lachen, die mühsam hinaufstieg und unermüdlich »Seht, seht!« machte, ohne daß der Lärm abnahm.

Auch das Kindermädchen vom kleinen Schlafsaal weinte; es schüttelte mich ein wenig, als es mich auszog, und sagte:

»Du bist sicher zufrieden, daß du deine Schwester Marie-Aimée bekommst.«

Wir nannten sie Schwester Esther.

Von den drei Kindermädchen, die wir hatten, mochte ich sie am liebsten. Sie war ein wenig brummig, aber sie hatte uns sehr gern.

Nachts weckte sie diejenigen, die schlechte Angewohnheiten hatten, um ihnen am nächsten Tage die Rute zu ersparen. Wenn ich hustete, stand sie auf und steckte mir tastend ein Stück angefeuchteten Zucker in den Mund. Oft hatte sie mich auch, wenn ich ganz erstarrt in meinem Bett lag, in das ihrige geholt, um mich zu erwärmen.

*

Ganz geräuschlos betraten wir am folgenden Tage das Refektorium. Die Kindermädchen befahlen uns, stehenzubleiben; mehrere von den Großen hielten sich sehr gerade und setzten eine stolze Miene auf. Schwester Justine stand bescheiden und traurig am Ende des Tisches, während Schwester Néron, die wie ein Gendarm aussah, unaufhörlich im Refektorium hin und her ging.

Sie blickte öfter nach der Wanduhr, wobei sie geringschätzig die Achseln zuckte.

Schwester Marie-Aimée trat ein und ließ die Tür hinter sich offen; sie erschien mir größer mit der weißen Schürze und den weißen Ärmeln. Sie ging ganz langsam und schaute alle an. Der Rosenkranz, der ihr von der Hüfte herabhing, machte ein leises Geräusch, und der untere Teil ihres Rockes wogte ein wenig hin und her. Sie stieg die Stufen zu ihremPodium hinauf und forderte uns durch eine Handbewegung auf, uns zu setzen.

Am Nachmittag führte sie uns ins Freie. Es war sehr heiß. Ich setzte mich neben sie auf eine Anhöhe. Sie las in einem Buch und warf ab und zu einen Blick auf die kleinen Mädchen, die uns zu Füßen auf einem Feld spielten. Lange betrachtete sie die untergehende Sonne, und sie sagte immer wieder:

»Wie schön das ist! Wie schön das ist!«

Am selben Abend verschwanden die Ruten aus dem kleinen Schlafsaal, und im Refektorium wurde der Salat mit langen Rührscheiten umgerührt. Sonst veränderte sich nichts. Von neun bis zwölf Uhr hatten wir Unterricht, und nachmittags kernten wir für einen Ölhändler Nüsse aus.

Die größeren Mädchen klopften sie mit einem Hammer auf, und die kleineren trennten die Nußkerne von den Schalen. Es war streng verboten, davon zu essen, und außerdem war das auch gar nicht leicht: es fand sich immer ein neidisches Leckermäulchen, das einen verpetzte.

Schwester Esther sah uns in den Mund. Manchmal faßte sie eine unverbesserliche Naschkatze. Sie sah sie dann mit großen Augen an, gab ihr einen Klaps und sagte:

»Ich behalte dich im Auge!«

Zu einigen von uns hatte Schwester Esther großes Vertrauen. Sie ließ uns vorkommen und tat so, als wollte sie uns in den Mund schauen; doch dann sagte sie lachend:

»Mach deinen Schnabel zu!«

Ich hatte oft Lust, von den Nüssen zu naschen, aber wenn ich an die guten Augen Schwester Esthers dachte, errötete ich bei dem Gedanken, ihr Vertrauen zu täuschen.

Schließlich wurde das Verlangen so stark, daß ich an nichts anderes mehr dachte. Tagelang suchte ich nach einer Möglichkeit, von den Nüssen naschen zu können, ohne mich erwischen zu lassen. Ich versuchte, einige in meinen Ärmeln zu verstecken; aber ich war so ungeschickt, daß ich sie sofort wieder verlor; und dann überkam mich das Verlangen, ganz, ganz viele zu essen. Mir schien, ich hätte einen ganzen Sack voll davon aufessen können.

Eines Tages fand ich endlich eine Gelegenheit. Schwester Esther, die uns in den Schlafsaal führte, glitt auf einer Nußschale aus und ließ ihre Lampe fallen, die dabei auslöschte. Und da ich gerade neben einer vollen Wanne stand, nahm ich eine Handvoll Nüsse heraus und versteckte sie in meiner Tasche.

Sobald alle im Bett lagen, holte ich die Nüsse aus meiner Tasche, steckte den Kopf unter die Decke und stopfte sie mir in den Mund. Aber sogleich schien es mir, als höre der ganze Schlafsaal das Geräusch meiner Kinnbacken. Und so vorsichtig und langsam ich auch knabberte, das Geräusch pochte in meinen Ohren wie die Schläge eines Paukenschlegels. Schwester Esther erhob sich; sie zündete die Lampe an, beugte sich herab und sah unter die Betten.

Als sie neben mir stand, blickte ich sie erschrocken an. Sie sagte ganz leise:

»Du schläfst nicht?«

Dann suchte sie weiter. Sie ging bis ans Ende des Schlafsaals, öffnete die Tür und schloß sie wieder; aber kaum hatte sie sich wieder hingelegt und die Lampe gelöscht, klickte der Türdrücker, als ob die Tür geöffnet würde.

Schwester Esther zündete abermals die Lampe an und sagte:

»Das ist aber zu stark! Die Katze kann doch nicht ganz allein die Tür aufmachen!«

Mir schien, als hätte sie Angst; ich hörte, wie sie sich im Bett herumwälzte, und plötzlich begann sie zu schreien:

»Mein Gott, mein Gott!«

Ismérie fragte sie, was sie hätte. Sie sagte, eine Hand hätte der Katze die Tür geöffnet, und eben hätte sie einen starken Luftzug auf ihrem Gesicht gespürt.

Im Halbdunkel sah man die ein wenig geöffnete Tür. Ich war sehr erschrocken. Ich glaubte, daß mich der Teufel holen käme. Eine Zeitlang hörte man nichts mehr. Schwester Esther fragte, ob nicht eine von uns aufstehen und die Lampe auslöschen wolle, obwohl sie gar nicht weit von ihrem Bett stand. Niemand antwortete. Da rief sie mich. Ich erhob mich, während sie sagte:

»Dir, die du so brav bist, werden die Gespenster nichts tun.«

Sie schwieg in dem Augenblick, als ich die Lampe auspustete. Plötzlich sah ich Tausende leuchtender Punkte und spürte eine große Kälte auf den Wangen. Ich vermutete unter den Betten grüne Drachen mit flammenden Rachen. Ich fühlte ihre Klauen an meinen Füßen, und rund um meinen Kopf zuckten Lichter. Ich mußte mich schnell setzen, und als ich mein Bett erreicht hatte, glaubte ich steif und fest, daß ich keine Füße mehr hätte. Als ich mich davon zu überzeugen wagte, merkte ich, daß sie eiskalt waren. Ich nahm sie in meine Hände, und so schlief ich schließlich ein.

Am Morgen fand Schwester Esther die Katze auf einem Bett neben der Tür.

Sie hatte während der Nacht ihre Jungen zur Welt gebracht.

Man hinterbrachte die Geschichte Schwester Marie-Aimée. Sie meinte, daß sich die Katze sicher bis zum Türknauf hochgeangelt und so die Tür geöffnet habe. Aber die Sache wurde niemals recht aufgeklärt, und die Kleinen tuschelten noch lange darüber.

*

In der folgenden Woche zogen alle, die acht Jahre alt waren, in den großen Schlafsaal hinunter.

Mein Bett stand neben einem Fenster, ganz nahe bei Schwester Marie-Aimées Zimmer.

Marie Renaud und Ismérie blieben meine Nachbarinnen. Oft kam Schwester Marie-Aimée, wenn wir schon im Bett lagen, und setzte sich an mein Fenster. Sie nahm meine Hand und streichelte sie, während sie hinaussah.

Eines Nachts war in der Nachbarschaft ein großes Feuer ausgebrochen. Der ganze Schlafsaal war hell erleuchtet. Schwester Marie-Aimée öffnete das Fenster ganz weit, dann rüttelte sie mich und sagte:

»Wach auf, komm, sieh dir das Feuer an!«

Sie nahm mich in ihre Arme und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht, um mich wach zu machen, wobei sie wiederholte:

»Komm, sieh dir das Feuer an! Sieh doch, wie schön das ist!«

Ich wollte aber so gern weiterschlafen, daß ich meinen Kopf auf ihre Schulter sinken ließ. Da gab sie mir eine tüchtige Ohrfeige und nannte mich ein dummes kleines Tier. Diesmal wachte ich auf und begann zu weinen. Sie nahm mich wieder in die Arme, setzte sich und wiegte mich, wobei sie mich an sich preßte.

Sie näherte ihren Kopf dem Fenster. Ihr Gesicht war wie durchsichtig, und in ihren Augen stand ein tiefes Leuchten.

Ismérie wäre es am liebsten gewesen, wenn Schwester Marie-Aimée niemals ans Fenster gekommen wäre; das hinderte sie am Schwatzen. Sie hatte immer etwas zu erzählen, und ihre Stimme war so laut, daß man sie am anderen Ende des Schlafsaals hörte.

Schwester Marie-Aimée pflegte zu sagen:

»Ismérie spricht schon wieder!«

Worauf Ismérie stets antwortete:

»Schwester Marie-Aimée knurrt schon wieder.«

Ich war verblüfft über ihre Kühnheit. Ich glaubte, daß Schwester Marie-Aimée nur so tue, als höre sie es nicht.

Doch eines Tages sagte sie zu ihr:

»Ich verbiete dir zu antworten, du Zwerg!«

Ismérie schrie:

»Breimaul!«

Das war ein Ausdruck, den wir untereinander gebrauchten und der etwa besagte: Na, du kannst lange reden!

Schwester Marie-Aimée stürzte nach der Klopfpeitsche. Ich zitterte für den kleinen Körper Isméries, doch diese warf sich flach auf den Boden, strampelte und krümmte sich, wobei sie seltsame Schreie von sich gab. Schwester Marie-Aimée stieß sie voller Ekel mit dem Fuß beiseite; sie schleuderte die Peitsche weit weg und sagte:

»Was für eine scheußliche kleine Kreatur!«