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Johan Bargum

Nachsommer

Aus dem Schwedischen von Karl-Ludwig Wetzig

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Die Übersetzung wurde gefördert durch das
Übersetzerstipendium des Landes Niedersachsen und von FILI – Finnish Literature Exchange.

Da die Handlung unter der schwedischsprachigen Minderheit in Südfinnland spielt, werden die Orte im Text mit ihren schwedischen Namen bezeichnet. So ist etwa Helsingfors die schwedische Bezeichnung für Helsinki.

© 2018 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann / Anastasia Hermann, mareverlag

Satz mareverlag, Hamburg

ISBN E-Book: 978-3-86648-339-2
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-260-9

www.mare.de

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Über dieses Buch

I

Weiß man eigentlich jemals, was vor sich geht?

Es ist wie bei einem Vierhundertmeterlauf: Einige Augenblicke lang befindet man sich im Zentrum der Ereignisse, der Wind saust einem um die Ohren, die Lungen wollen platzen, die Gegner keuchen, das Einzige, was existiert, ist das Zielband irgendwo vor einem.

Aber ist es das, was wirklich passiert?

Nachher erinnert man sich an den Lauf, und das Gedächtnis fängt sofort an, die Fakten zu sortieren; es redigiert, unterteilt, sortiert. Ich hätte die erste Kurve nicht so langsam angehen sollen. Auf der Gegengeraden hätte ich kürzere Schritte machen müssen. Im Endspurt bin ich gestolpert, das war allesentscheidend.

Nachher sieht alles gleich anders aus.

In unserer Familie war sicher nicht ich der Wettläufer, sondern Carl.

Ich sitze auf der Veranda und schreibe diese Zeilen, bin allein. Das alte Landhaus, die Villa, hat sich geleert. Alle sind abgereist, in die Stadt, ins Ausland. Eine ist am Ende ihres Weges angekommen und wird bald in Rauch aufgehen.

Es ist leise und ruhig geworden.

Es ist nachher, auch für mich.

Wo habe ich zu kurze Schritte gemacht? Wo bin ich gestolpert?

Oder bin ich die ganze Zeit nur drauflosgerannt, was das Zeug hielt?

Ist alles, was man nachher tut – sich mit einem Trainer zusammensetzen und den Lauf analysieren oder sich auf eine Veranda hocken und schreiben –, eine Art Selbstrechtfertigung, die man unternimmt, um zu überleben? Sind alle nachträglichen Rationalisierungen und Bearbeitungen etwas, das man braucht, obwohl man weiß, dass vielleicht nichts anderes dabei herauskommt als Lügen und verdammte Dichtung?

Wozu dann? Um die Kraft aufzubringen, sich noch einmal an die Startlinie zu stellen, mit einem einzigen eitlen Gedanken im Kopf: Diesmal werde ich nicht stolpern?

Es begann an einem Nachmittag im August damit, dass das Telefon auf meinem Nachttisch klingelte.

Ich schlief. Ich war die ganze Nacht durchgefahren, von einem dieser unzähligen Musikfestivals nach Hause, auf dem ich mich mühselig durch drei Konzerte und eine elende Menge Folkloremusik gehört und ein paar halbherzige, nachsichtige Kritiken verfasst, abends zu viel Bier getrunken und zu viel dummes Zeug mit ein paar Kollegen geschwatzt hatte.

Es war Onkel Tom. Er wollte mit mir reden. Nein, nicht am Telefon, er wollte mich sehen.

Es ging um Mutter, nahm ich an.

Im Krankenhaus sagten sie, sie würde schlafen.

Onkel Tom. Als Mutter eines Morgens vor ein paar Jahrzehnten verkündete, von dem Tag an sollten wir Tom Onkel Tom nennen, verstanden weder Carl noch ich, wozu das gut sein sollte. Wir fanden es nur ausgesprochen komisch. Carl schrieb Onkel Toms Hütte auf ein Brett und nagelte es an die Tür des Plumpsklos. Das fand Mama überhaupt nicht komisch. Zur Strafe durften wir antreten, um die Jauchegrube unter dem Klo auszuschaufeln.

»Es war Carls Idee, nicht meine«, versuchte ich.

»Schieb die Schuld nicht auf deinen kleinen Bruder«, sagte sie.

Wie oft habe ich diese Worte von ihr zu hören bekommen?

Noch immer kann ich menschliche Exkremente nicht riechen, ohne das Echo in meinem Kopf zu hören: Schieb die Schuld nicht auf deinen kleinen Bruder!

Tom war zwar auf eine entfernte und verwickelte Art irgendwie mit Mutter verwandt, aber wir sollten ihn nicht deshalb Onkel nennen. Mutters Botschaft war eine andere, und ich glaube, Carl und ich verstanden sie auf eine nebulöse Weise. Mama stellte bestimmte Dinge klar: Tom kam natürlich häufig zu Besuch, Tom feierte mit uns zusammen Weihnachten, Tom war morgens da, wenn es darum ging, uns ein Geburtstagsständchen zu bringen, Tom wohnte den Sommer über bei uns im Landhaus.

Aber Tom behielt seine eigene Wohnung in der Stadt. Und er hatte im Landhaus sein separates Zimmer hinter der Küche. Tom war wie ein Onkel.

Mutter und er waren nicht richtig zusammen, nicht so, wie sie und Papa es gewesen waren.

Erst später begriff ich, dass sie diese Abgrenzungen nicht nur unseretwegen vornahm.

Worum es ging, davon machte sich Carl seine eigenen Vorstellungen. Eines Abends, nachdem Mama das Licht in unserem Zimmer gelöscht und wir wie üblich die Taschenlampen aus dem unter Carls Bett versteckten alten Nachttopf hervorgeholt hatten, sagte er: »Was meinst du, was Tom und Mama miteinander treiben?«

»Du sollst ihn Onkel nennen«, verbesserte ich.

Er leuchtete mir ins Gesicht und lachte.

»Wart mal«, sagte er, kramte in einer Schublade und holte eine zerschlissene Stoffpuppe und ein kleines Spielzeugpferd mit Namen Samuel heraus, das einmal mein Kuscheltier gewesen war. Carl legte mir die Puppe in den Arm. »Das ist Mama«, sagte er. Dann nahm er Samuel und drückte ihn der Puppe in die Arme. »Und das ist der gute alte Tom«, sagte er und ließ Samuel mit dem Hinterteil kleine, ruckartige Bewegungen ausführen.

Sein Gesichtsausdruck dabei war fremd und abstoßend. Sein Lachen hörte sich wie hechelndes Stöhnen an.

Ich schlug ihm mit einem Buch auf den Kopf, so fest ich konnte. Es war ein dickes Buch. Es gab ein Mordstheater.

Ich versuchte gar nicht erst, die Schuld auf Carl zu schieben.

Am nächsten Tag bekam ich Stubenarrest. Ich sah mir das Foto von Papa an. Darauf saß er zurückgelehnt auf der Verandatreppe, die Beine gekreuzt. Mit nachdenklichen Augen schaute er geradewegs in die Kamera, mich direkt an. Er sah ein wenig traurig aus, fand ich.

Lieber Papa, schrieb ich auf einen Zettel. Sei mir nicht böse. Ich bin Deinetwegen so wütend geworden. Und sei auch nicht böse auf Carl. Er hat überhaupt keine Erinnerung an Dich.

Dann zerriss ich den Zettel in winzig kleine Fetzen, die ich mir sicherheitshalber in den Mund stopfte und herunterschluckte.

Tom tauchte gegen sieben Uhr auf. Er trug einen seiner doppelreihigen grauen Anzüge, eine Fliege unter dem Kinn, schwarze, blank geputzte Schuhe: Onkel Toms Uniform. In den gesamten dreißig Jahren seiner Tätigkeit als privat praktizierender Arzt hatte er stets dieselbe graue Aufmachung getragen. Das flöße seinen Patienten Vertrauen ein, hatte er behauptet. Es war eine Gewohnheit daraus geworden.

Nun war er seit zehn Jahren Rentner. Ich vermutete, er hatte es sich trotzdem noch nicht abgewöhnt, seine Mitmenschen als mutmaßliche Patienten zu betrachten.

Onkel Tom hatte ein außerordentlich rundes Gesicht. Sein Schädel war kahl und sah aus wie die Krone eines Bowlerhuts. Es kam immer noch vor, dass ich von ihm träumte. Es war immer derselbe Traum: Ich steckte ihm den Finger ins Ohr und ließ seinen Kopf über den Anlegesteg rollen wie eine Bowlingkugel. Sie kullerte über das Ende des Stegs, und es gab ein deutliches Platschen.

Seine Augenbrauen hingen herab, kleine Schutzdächer über seinen sanften, verständnisvollen grauen Augen: Kein Leid ist mir fremd. Ein schwacher Duft von Rasierwasser umgab ihn, immer derselbe in all den Jahren.

Onkel Tom war ein netter, durch und durch sympathischer Mensch, ein dermaßen anständiger, lieber Kerl, dass er mich noch immer zur Weißglut treiben konnte.

Natürlich war das ungerecht. Eigentlich hätte er auf mich wütend sein sollen.

Einmal waren Carl, Onkel Tom und ich nachmittags zum Einkaufen gefahren. Es war in dem Sommer, in dem ich zum ersten Mal das Motorboot steuern durfte. Onkel Tom stieg auf das kleine Vordeck des Boots, um an Land zu springen. Ich nahm den Gang heraus, und das Boot glitt mit noch beträchtlicher Geschwindigkeit auf den Steg zu. Ich sollte besser abbremsen, dachte ich, legte den Rückwärtsgang ein und gab Vollgas.

Das Boot stoppte schlagartig ab. Onkel Tom verlor das Gleichgewicht, fiel der Länge nach über Bord und versank.

Carl glotzte nur mit offenem Mund.

Langsam, wie eine kleine, runde Klippe, tauchte Toms Glatze aus dem Wasser auf.

»Was machst du für einen Bockmist«, sagte Carl zu mir.

Onkel Tom schwamm an Land und kam ungerührt mit triefenden Kleidern ans Ende des Stegs, um uns in Empfang zu nehmen.

»Du Volltrottel«, sagte Carl.

Onkel Tom sah mich an.

»Ist ja nicht so schlimm«, sagte er.

Nacheinander gingen wir zum Haus hinauf. Onkel Tom hinterließ eine nasse Spur auf dem Kies.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Regte er sich wirklich nicht im Geringsten auf?

Mama lachte bloß.

Ich wartete ein paar Tage ab, bis ich mit Onkel Tom allein im Boot war.

Er stellte sich wieder aufs Vordeck.

Er drehte sich um und sah mich an.

Ich legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Er landete im Wasser. Es sah fast so aus, als hätte er es mit Absicht getan.

Und genau wie beim letzten Mal kam er ans Ende des Stegs, vertäute das Boot und nahm die Einkaufskartons entgegen.

Er sah mich an, ohne ein Wort zu sagen.

Aber Mama lachte diesmal nicht.

»Ich glaube, für diesen Sommer bist du genug Motorboot gefahren«, sagte sie.

»Sei nicht so hart zu dem Jungen«, meinte Onkel Tom, »er ist noch ein wenig ungeübt, und ich bin auch nicht gerade der beste Seemann der Welt. So schlimm war es doch gar nicht.«

Später an dem Abend sagte Carl zu mir: »Wenn du das noch ein Mal machst, hau ich dich grün und blau.«

Er war damals schon stärker als ich, obwohl er zwei Jahre jünger war. Aber ich ließ es nicht seinetwegen bleiben, sondern weil ich sah, dass es nichts brachte.

Onkel Tom konnte mich rasend machen.

Jetzt saß er auf meinem Sofa und schaute aus dem Fenster. Er sah müde aus.

»Gibst du einen aus?«

Ich holte eine Flasche Whisky und zwei Gläser.

»Leider ist im Zustand deiner Mutter eine Verschlechterung eingetreten«, sagte er.

Er trank einen Schluck und blinzelte mit seinen runden Augen.

»Eine Verschlechterung«, fragte ich. »Wie ernst ist es?«

Er seufzte.

»Sehr ernst.«

Draußen auf dem Treppenaufgang begann ein Hund zu bellen, laut und wütend.

»Was bedeutet das?«

Er zog ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich.

»Noch eine Woche, vielleicht.«

Eine Taube landete auf dem Fenstersims und blickte neugierig herein. Wir schauten zurück, bis sie wegflog.

»Ich bin, wie du vielleicht weißt, auf einer Dienstreise gewesen, und …«, sagte ich.

Er schwieg eine Weile.

»Ich bin überzeugt, die Verschlechterung wäre auch eingetreten, wenn du hier gewesen wärst«, sagte er dann mit einem schwachen Lächeln.

Ich machte mir nicht die Mühe einer Antwort. Ich machte mir nicht mehr die Mühe, mich über ihn aufzuregen. Es brachte nichts.

»Das Merkwürdige ist«, sagte er, »dass sich die Krankheit deiner Mutter exakt so entwickelt wie die deines Vaters. Als wollte sie ihn nachahmen.«

»Woher weißt du das?«

Er blickte erstaunt auf.

»Dein Vater war mein Patient. Hast du das nicht gewusst?«

Ich schwieg. Ich trank und merkte, dass ich meine Ohren verschlossen hatte. Halt die Fresse, sagte es andauernd in mir, nach all diesen Jahren, du darfst meinen Vater nicht einmal erwähnen.

»Wo ist er gestorben?«

»Draußen in der Villa, in seinem eigenen Bett.«

Ich versuchte zu gähnen, um die Ohren wieder zu öffnen. Ich merkte plötzlich, dass ich seine runden, neugierig forschenden Augen nicht ertragen konnte. Ich stand auf und trat ans Fenster.

»Im selben Bett, in das deine Mutter sich jetzt legen will«, sagte er in meinem Rücken. »Erinnerst du dich nicht?«

An der Straßenbahnhaltestelle blieb eine junge Frau mit dunklem Teint stehen. Sie stellte einen Hut vor ihre Füße und stopfte eine Handvoll Geldscheine hinein. Dann zog sie eine Panflöte aus ihrer Handtasche und begann zu spielen.

Ich hatte noch immer dieses Sausen in den Ohren. Nichts. Überhaupt nichts.

Onkel Tom sagte: »Auch sie will jetzt dahin. Nach Hause in die Villa.«

»Was sagen die Ärzte?«

»Die beschäftigen sich lieber mit Patienten, die noch eine Chance haben.«

Menschen gingen geschäftig an der Frau vorbei und schauten weg, als mache sie der Hut zu ihren Füßen verlegen.

»Weiß sie, dass sie keine mehr hat?«

»Sie weiß ja, wie es mit deinem Vater gegangen ist.«

»Aber sollte man ihr nicht geradeheraus sagen, wie es um sie steht?«

Er schaute eine Zeit lang in sein Glas und schwenkte einen Eiswürfel darin.

»So einfach ist das nicht, Olof. Eigentlich wollen die Menschen nur so lange, wie sie gesund sind, dass man ihnen geradeheraus die Wahrheit sagt.«

Offen und ehrlich miteinander reden – was für eine naive Vorstellung im Grunde.

»Ich bin nicht sicher, ob es eine gute Idee wäre, Tom.«

Er nickte.

»Offen gestanden, ich auch nicht. Aber ich sehe keine andere Möglichkeit, als dass wir ihr ihren Wunsch erfüllen.«

Er erhob sich.

»Gebe Gott, dass auch wir jemanden haben, der tut, was wir uns von ihm wünschen, wenn es so weit ist.«

Damit ging er. Durchs Fenster sah ich ihn einen Moment vor der jungen Frau stehen bleiben, die auf ihrer Flöte einen alten Dylan-Song spielte. Er stand da und hörte mit gesenktem Kopf zu: The answer, my friend, is blowin’ in the wind … Dann legte er einen Geldschein in ihren Hut und ging weiter.

Ich habe meine Sachen in einem Handkoffer untergebracht, der fertig gepackt neben der Haustür steht. Carl hat verkündet, ich solle nur nehmen, was ich haben wolle, ihm sei es egal, er wolle mit einem Innenarchitekten reden, mit dessen Hilfe er das Haus von dem alten Plunder zu entrümpeln und die Bruchbude so umzubauen gedenke, dass Menschen darin wohnen könnten.

Mein Koffer ist so gut wie leer. Etwas Spielzeug, ein paar Fotos, Papas alter Ölmantel.

Dabei habe ich gedacht, es gäbe hier jede Menge Dinge, die ich retten wollte, alte, undichte Zinnkrüge, seltsame Keramikdosen in Tierform, eine Schnecke, ein Huhn, ein Nähkästchen aus zusammengeleimten Zündhölzchen, Petroleumlampen. Ich bin durch sämtliche Zimmer gegangen, habe ein kurioses Ding nach dem andern in die Hand genommen, sie eine Weile darin gewogen und dann wieder zurückgestellt.

Sie lassen sich nicht retten. Auf eine eigenartige Art hängt jedes einzelne von ihnen mit den anderen zusammen. Wenn man sie voneinander trennt, werden sie absurd und bedeutungslos.

Vielleicht hat Carl recht: Der Müllcontainer, in den er sie bald werfen wird, ist ihre folgerichtige Endstation.

Es wird ja doch nichts mehr so wie früher.

Und das meiste lässt sich ohnehin nicht in einen Koffer packen: die Gerüche, die Schatten der geraden Kiefern über den Blaubeersträuchern, die grüne, geheimnisvolle Färbung des Wassers, das leise zwischen den Steinen um das Fundament des Bootsstegs schwappt.

Und ich habe geglaubt, ich würde all das vermissen und mein erzwungener Aufbruch wäre von Schmerz und Trauer erfüllt. Dabei empfinde ich jetzt fast Erleichterung.

Das macht mich wütend. Es fühlt sich an, als hätten sie mir unrecht getan, nicht nur, indem sie mir meine alte Sommerfrische nahmen, sondern indem sie mir auch noch den Schmerz über den Verlust raubten.