Cover.jpg

Für Neetha,
weil sie nie den Glauben verliert

Prolog

Kaum hatte der Weißkittel das Zimmer mit den Käfigen betreten, ahnte der Gefangene, was der Mann im Schilde führte: Er wollte ihn töten.

Vielleicht erkannte er es an dem Lächeln, das der Weißkittelmann ihm zur Begrüßung durch die Gitterstäbe zugeworfen hatte. Der Mann lächelte so gut wie nie. Jetzt musterte er den Gefangenen durch seine übergroße Brille mit dem schwarzen Rand. Es war ein über fünfzigjähriger Weißkittel mit spärlichem grauem Haar, ein dürrer, blasser Mann, der tagein, tagaus vor dem Computer saß oder die Arbeiten im Labor überwachte, wenn dort eines der vielen Experimente durchgeführt oder ein Stück Technik installiert wurde. Mit dem Sicherheitsausweis, der an einem Schlüsselband um seinen Hals hing, konnte er sich frei im Gebäude bewegen.

Auf der Chipkarte war ein Foto von ihm zu sehen und sein Name zu lesen: SIMMONS.

Ja, vielleicht sollte der Gefangene ihn lieber beim Namen nennen. Es gab nur einen Simmons, aber mehr als genug Weißkittel – Weißkittelmänner und -frauen. Über die Jahre hatte der Gefangene etliche von ihnen kennengelernt, Daggert und Wilkins und noch viele andere. Und dann war da die rothaarige Frau, die nur Madam Director genannt wurde.

Dem Gefangenen waren die Weißkittel schon lange nicht mehr geheuer. Sie waren keine guten Menschen. Okay, sie gaben ihm zu fressen und kümmerten sich um ihn, sie trainierten ihn. Aber sie hatten ihn nicht lieb.

Nur zwei Weißkittel, ein Mann und eine Frau, waren dem Gefangenen wie echte Freunde vorgekommen. Aber die beiden hatte er schon lange nicht mehr gesehen, seit gut zwölf Monaten nicht mehr. Der Gefangene hatte sie wirklich sehr gemocht. Er hatte gerne ihren Geschichten gelauscht, und wenn sie ihn gestreichelt und liebevoll am Kopf getätschelt hatten, war ihm ganz warm geworden.

Den beiden war etwas Schlimmes zugestoßen. Da war sich der Gefangene ziemlich sicher.

Aber darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Vor ihm stand Simmons.

Dem Gefangenen war etwas aufgefallen: Simmons hatte beide Hände in den Taschen seines langen weißen Kittels vergraben, als versteckte er dort etwas. Und der Gefangene hatte so eine Ahnung, was es sein könnte.

Sicherheitshalber zog er sich tiefer in den Käfig zurück.

Auch die anderen Gefängnisinsassen waren misstrauisch geworden. In diesem Raum waren noch neun andere untergebracht, jeder in einem eigenen Käfig an der Wand, fünf in der oberen Reihe, fünf unten. Drei Häftlinge fauchten und bellten und trotteten aufgeregt im Kreis, auch wenn sie in ihrem Kerker nur in einem sehr engen Kreis trotten konnten. Simmons’ merkwürdige Ausstrahlung ließ sie genauso unruhig werden wie den Gefangenen.

Der Gefangene wünschte, er hätte sich mit den anderen unterhalten können und gewusst, was ihnen durch den Kopf ging. Doch die Weißkittel achteten sehr genau darauf, dass ihre Versuchsobjekte nicht auf fortschrittlichere Weise miteinander kommunizieren konnten – denn hätten sie mentale Verbindungen knüpfen können, hätten sie sich womöglich gegen ihre Wärter zusammengeschlossen. Natürlich konnten sich die Gefangenen noch auf traditionelle Art ausdrücken, sie konnten wimmern und knurren, mit dem Schwanz wedeln und die Nackenhaare sträuben. Aber eigentlich waren sie doch schon viel weiter.

Simmons näherte sich dem Käfig bis auf einen halben Meter und lächelte schon wieder. Zwischen seinen oberen Schneidezähnen hing ein Fetzen Spinat. »Wie geht’s uns heute?«, fragte er. »Wie geht’s meinem Kumpel?«

Der Gefangene starrte ihn bloß an und überlegte. Wäre es nicht klüger, erst mal nicht aggressiv zu werden? So zu tun, als würde er nichts Böses ahnen? Andererseits war Simmons nicht naiv. Obwohl der Gefangene offiziell ein fehlerhaftes Versuchsobjekt war, ein Misserfolg, wusste Simmons genau, wie intelligent er war.

Schließlich hatten die Weißkittel höchstpersönlich all die Implantate in seinem Körper entwickelt und installiert. Sie hatten sie gleich dort drüben auf der anderen Seite des Zimmers eingebaut, auf einem abgewandelten Operationstisch mit grellen Leuchten darüber und einem Dutzend Monitoren an der Wand dahinter. Nur weil diese Menschen ihn sorgfältig programmiert hatten, war er so viel mehr als ein normaler Hund. Mit seinen neuen Begabungen und Fähigkeiten war er dem Tier, als das er zur Welt gekommen war, um Lichtjahre überlegen. Als kleiner Welpe hätte er sich nie träumen lassen, was er eines Tages alles können würde: Er konnte lesen, verschiedenste Sprachen verstehen, Daten analysieren – und einer viele Milliarden schweren Geheimorganisation als Augen und Ohren dienen.

Als Welpe hatte er eigentlich nur davon geträumt, Eichhörnchen zu jagen.

Die Weißkittel wussten von den bemerkenswerten Fähigkeiten des Gefangenen. Aber sie wussten auch von seinen gravierenden Fehlern. Sosehr sie sich auch bemüht hatten, das Versuchsobjekt war nicht mehr zu retten. Kein Stück Technik konnte seine tierischen Instinkte unterdrücken. Und wenn sie ihm noch so viel Software installierten, gegen seine Hundenatur kamen sie nicht an. Vor allen Dingen ließ er sich viel zu leicht ablenken. Man konnte sich nie darauf verlassen, dass er sich auf seine aktuelle Aufgabe konzentrierte. Würden die Weißkittel ihn beispielsweise losschicken, um eine von Terroristen gelegte Bombe aufzuspüren, die Tausende Menschen töten könnte, und in der Nähe würde zufällig jemand einen Ball werfen … dann würde er die Mission abbrechen und diesem hinterherrennen.

Und deshalb, das ahnte der Gefangene, würden ihm die Weißkittel etwas Schlimmes antun.

»Schau mal, was ich für dich habe«, sagte Simmons und zog die linke Hand aus der Tasche. Darin hielt er etwas Kleines, Dunkles, kaum größer als eine Murmel.

Ein Leckerli.

Ein fleischiges, salziges Leckerli.

Der Gefangene bemerkte, wie sich seine Zunge aus dem Maul schob und über seine Lefzen und seine Schnauze glitt. Es passierte ihm einfach, ganz unabsichtlich. Die Weißkittel wussten alles über ihn, und natürlich kannten sie seine Vorliebe für diese Leckerlis – das war eine seiner vielen Schwachstellen. Jetzt nutzten sie sie aus.

Fast hätte der Gefangene sich gezwungen, gleichgültig dreinzublicken, als interessierte er sich nicht für das Leckerli. Aber sollte er nicht lieber reagieren wie immer? Ja, das wäre die beste Taktik. Er wedelte mit dem Schwanz.

Soll er doch denken, ich würde mich freuen.

Das Leckerli zwischen Daumen und Zeigefinger eingeklemmt, steckte Simmons die Hand durch das Gitter.

»Komm doch mal her«, lockte er. »Das wird dir schmecken. Ich weiß doch, wie du die Dinger immer runterschlingst. Mmmmmhhhh, wie gut das riecht! Ich könnte glatt selbst reinbeißen. Das sind doch deine Lieblingsleckerlis.«

Der Gefangene hob den Kopf, bis er fast an die Käfigdecke stieß, und schnüffelte. Stimmt, das war eindeutig eine seiner Lieblingssorten. Als sich seine Nasenlöcher unmerklich weiteten, um den Duft besser in sich aufzunehmen, konnte er das Leckerli fast schmecken.

Er wedelte weiter mit dem Schwanz, schmiegte sich aber immer noch an die hintere Käfigwand.

»Was ist denn, Kollege?«, fragte Simmons. »Keinen Hunger? Ich bin doch extra vorbeigekommen, um dir eins zu bringen. Und ich hab sogar noch mehr davon in der Tasche.«

Simmons’ rechte Hand steckte tatsächlich noch in der Tasche. Wieder blähten sich die Nasenlöcher des Gefangenen. Er sog das Aroma des schmackhaften Bröckchens auf.

Da stimmte etwas nicht. Plötzlich war der Gefangene sich absolut sicher. Mit dem Leckerli stimmte etwas nicht.

Es roch irgendwie seltsam.

Er durfte es nicht fressen. Aber wenn er es nicht tat, würde der Weißkittel ahnen, dass er durchschaut war.

Also trottete der Gefangene nach vorne, reckte seinen pelzigen Hals zum Käfiggitter und nahm das Leckerli vorsichtig zwischen die Zähne.

»Gut gemacht!«, rief Simmons. »Mmmh, schmeckt das lecker!«

Der Gefangene musste sich sehr zusammenreißen, sonst hätte er das Bröckchen mit ein paar gierigen Schmatzern verspeist. Doch er konnte es auch nicht ewig zwischen den Zähnen halten. Er musste dem Weißkittel etwas vorspielen.

Deshalb mahlte er ein paarmal mit den Kiefern und schloss das Maul – und klemmte das Leckerli dabei unter seiner langen, feuchten, rosafarbenen Zunge ein. Dort würde es sich allerdings in kurzer Zeit von selbst auflösen. Wenn er das zuließ, hätte er es auch gleich hinunterschlucken können.

Was er aber nicht riskieren durfte.

»Wirst schon ein bisschen müde, oder?«, sagte Simmons. »Ja, es kann nicht mehr lange dauern, Chip …« Er lächelte mitleidig. »Ganz ehrlich, für mich ist das eigentlich noch schlimmer als für dich. Wir zwei sind doch richtig dicke Freunde geworden. Wir haben doch so viel zusammen erlebt. Und manchmal stelle ich mir immer noch vor, alles wäre nach Plan gelaufen und wir hätten einfach weitermachen können …«

Aha, dachte der Gefangene. Ich soll also müde werden.

Den Gefallen konnte er dem Weißkittel tun. Wenn er schon ein Betäubungsleckerli im Maul hatte, sollte er auch ein bisschen Müdigkeit vortäuschen. Aber noch blieb er stehen und legte den Kopf schief, als interessierte er sich tatsächlich dafür, was der Mann ihm da erzählte.

»Ist wirklich schade um dich, Chipper. Du bist ein prächtiger Hund. So ein feines Kerlchen wie dich hätte jeder gerne als Haustier. Aber bei uns reicht das eben nicht. Und ich kann dich auch nicht einfach irgendeiner Familie schenken, damit du dort wie ein normaler Köter aufwächst. Nicht mit dem ganzen Kram, den wir in dich eingebaut haben.«

Der Gefangene namens Chipper blinzelte. Für eine halbe Sekunde ließ er die Augen zufallen und den Kopf nach unten sacken.

»Du weißt ja …«, flüsterte Simmons und lehnte sich zum Gitter, damit ihn die anderen Gefängnisinsassen nicht hören konnten. »Wir müssten dich erst aufschneiden und das ganze Zeug wieder aus dir rausholen, und danach wärst du sowieso tot. Also machen wir’s eben anders, so leid’s mir auch tut. Schau doch, wie müde du schon bist. Wieso haust du dich nicht hinten aufs Ohr? Dann kann ich den Käfig aufsperren.«

Der Gefangene wich zwei Schritte zurück und kauerte sich auf den Boden, die Vorderbeine ausgestreckt, den Kopf gesenkt. So signalisierte er Simmons, dass von ihm nichts zu befürchten war.

Der Käfig wurde geöffnet, die rostigen Scharniere quietschten. Einige der anderen Hunde jaulten und bellten noch immer. Es stank nach Fell und Angst.

»Braver Junge«, sagte Simmons. »Es tut auch gar nicht weh, das verspreche ich dir. Es geht so schnell, du wirst es gar nicht richtig mitkriegen.«

Gleichzeitig zog Simmons die rechte Hand aus dem Kittel. Darin hielt er einen schmalen, zylinderförmigen, etwa fünfzehn Zentimeter langen Gegenstand.

Mit glitzernder Spitze.

Der Gefangene wusste, was das war. Jeden Moment würde Simmons ihm die Nadel tief in den hinteren Oberschenkel stoßen und den Kolben mit dem Daumen herunterdrücken.

Und ihm einen sanften, sekundenschnellen Tod spritzen.

Ja, der Gefangene war hochintelligent. Er wusste über all das Bescheid. Simmons selbst hatte es ihm beigebracht, er und die anderen Weißkittel hatten seine Speichermodule mit diesen und ähnlichen Informationen gefüllt. Und trotzdem hielten sie sich am Ende immer noch für tausendmal klüger. Trotzdem hatten sie nicht damit gerechnet, dass er ihre Pläne durchschauen würde.

Sie hatten nicht die geringste Ahnung, womit sie es zu tun hatten. Betont langsam richtete Chipper sich auf, um Simmons keine Angst einzujagen, und stellte seine Hinterbeine dicht vor die Rückwand des Käfigs.

»Schön stillhalten«, sagte Simmons zärtlich und hob die Hand mit der Spritze. Die andere streckte er nach vorne, um den Gefangenen festzuhalten.

Da rammte der Gefangene die Hinterbeine gegen die Wand und katapultierte sich durch die Käfigtür wie ein pelziges Geschoss.

Eine Millisekunde nachdem das vergiftete Leckerli unter seiner Zunge herausgeflutscht war, schlossen sich seine Kiefer um Simmons’ Handgelenk. Er grub seine Zähne in das Fleisch, bis die Spritze aus Simmons’ Hand rutschte und beinahe lautlos auf den Fliesen landete.

Simmons selbst wurde dafür immer lauter. Als die Zähne des Gefangenen seine Haut durchbohrten und eine Schlagader aufrissen, brüllte er wie am Spieß. Dann kippte er um und hielt sich die verletzte Hand, während sich der Gefangene weiter in seinem Arm verbiss.

»Hilfe!«, schrie Simmons.

Die anderen Hunde rasteten aus. Ihr zorniges, übermütiges Kläffen hallte durchs Zimmer wie eine hysterische Symphonie.

In der Luft hing Blutgeruch.

Aus dem Lärmen der anderen Hunde hörte der Gefangene viel mehr Gefühle heraus, als seine ahnungslosen Kerkermeister wahrnehmen konnten. Das Bellen und Fauchen verriet ihm, dass sie wütend waren und verängstigt – doch es war auch eine Menge hämische Freude dabei. Alle Gefängnisinsassen verachteten ihre Herrchen und Aufseher, diese skrupellosen Menschen, die nichts anderes im Sinn hatten, als sie zu Hightech-Sklaven zu machen.

Chipper lockerte seinen Griff um Simmons’ Handgelenk und widmete sich stattdessen dem Sicherheitsausweis am Schlüsselband. Als er danach schnappte, zuckte Simmons panisch zusammen, aber Chipper zerbiss bloß den elastischen Stoff. Die Chipkarte schlidderte über den Boden.

»Hilfe!«, schrie Simmons noch einmal und blickte hinauf zu der Überwachungskamera in der Ecke. Doch jetzt, mitten am Tag, würde dort wahrscheinlich niemand zusehen. Das hoffte Chipper jedenfalls. Wurde dieser Raum nicht vor allem nachts überwacht, wenn sich die Agenten anderer Länder oder irgendeiner konkurrierenden Behörde leichter in die Anlage einschleichen und die Tiere stehlen – oder töten – könnten? Außerdem war das Getöse der kläffenden und knurrenden Hunde so laut, dass von Simmons’ Hilferufen wahrscheinlich nicht viel zu hören war.

Mit den Zähnen bekam Chipper die Chipkarte nicht zu fassen, sie lag zu flach am Boden. Also schleckte er sie mit der Zunge auf wie einen Cracker. Danach manövrierte er sie im Maul nach vorne, klemmte sie behutsam zwischen die Vorderzähne und rannte zur Tür, während Simmons sich weiter am Boden krümmte, eine Hand um seinen verletzten Arm gekrallt. Das Lesegerät hing in einem Meter Höhe neben der Tür. Wie oft hatte der Gefangene beobachtet, wie die Weißkittel ihre Chipkarten benutzten? Man musste bloß damit vor einem grünen Lichtpunkt herumwedeln, der in etwa so groß war wie eine Bleistiftspitze, das war alles.

Der Gefangene stellte sich auf die Hinterbeine, die Vorderpfoten an die Wand gestützt, und hielt die Karte vor das Licht. Prompt glitt die Tür zur Seite.

Als er hindurchhuschte, warf er noch einen Blick zurück – Simmons stemmte sich gerade mühsam hoch.

»Halt!«, rief er und stolperte dem Gefangenen hinterher. »Komm zurück, du missratener Köter, oder –«

Doch noch bevor Simmons die Tür erreicht hatte, schnappte sie ihm vor der Nase zu, und ohne Chipkarte konnte er sie nicht öffnen.

Chipper raste den langen Gang entlang. Er kannte den Weg ins Freie, schließlich wurden er und die anderen ständig nach draußen gebracht, sie brauchten viel Auslauf und Training. Am Ende des Flurs, kurz vor der nächsten Tür, bremste er ab, doch der Marmorboden war über Nacht gewischt worden, und so rutschte er einfach weiter und donnerte gegen die geschlossene Pforte. Um ein Haar wäre ihm die Chipkarte aus dem Maul gefallen. Er rappelte sich auf, stellte sich erneut auf die Hinterbeine und schwenkte den Ausweis vor dem grünen Lichtpunkt.

Die Tür öffnete sich.

Nun befand er sich im weitläufigen Eingangsbereich. Viele Menschen marschierten zügig von A nach B, Weißkittel und Anzugträger, alle versunken in ihre üblichen Aufgaben. Das war Alltag im Institut. Hier wurde nicht getrödelt. Hier hatte man immer zu tun.

Der Haupteingang stand offen. Das ist das Tor zur Echten Welt, dachte der Gefangene. Die beiden großen Glastüren waren zur Seite gefahren, und kühle, frische Luft wehte herein und trug eine Million Düfte an seine Schnauze. Jeder Einzelne davon roch nach Freiheit.

Alle Menschen erstarrten. Ein frei laufendes Versuchstier ohne Leine und Wärter – das war ein ungewöhnlicher Anblick. Und ein Hund mit blutverkrusteter Schnauze und einer Chipkarte zwischen den Zähnen war noch ungewöhnlicher.

Vielleicht denken sie, die Weißkittel hätten mir ein neues Kunststück beigebracht.

Den offenen Ausgang fest im Blick, erhöhte Chipper das Tempo. Als ihm die Karte aus dem Maul fiel, achtete er kaum darauf. Er brauchte sie nicht mehr.

»Haltet ihn auf!«, brüllte jemand.

»Schnappt euch den Köter!«, rief ein anderer. »Er darf nicht entkommen!«

»Knallt ihn ab!«, schrie der Erste.

»Spinnst du?«, erwiderte eine dritte Person. »Der ist ein Vermögen wert!«

Chipper hatte keine Zeit, einen Blick über die Schulter zu werfen und zu überprüfen, ob ihn schon jemand mit der Waffe anvisierte. Er musste rennen.

Vor ihm schloss sich langsam die Tür. Irgendwer hatte auf den Notknopf gehämmert.

Der Gefangene legte noch einen Zahn zu.

Der Spalt wurde schmaler und schmaler.

Im letzten Augenblick quetschte Chipper sich hindurch. Seine Schwanzspitze wurde in der Tür eingeklemmt, doch mit einem kurzen Ruck riss er sich los.

Der Gefangene war kein Gefangener mehr. Er war frei.

Doch er wollte nicht einfach nur frei sein. Er hatte etwas Wichtiges zu erledigen.

Chipper musste den Jungen finden.

01

»Sauber? Das ist doch nicht sauber.« Tante Flo zog den Vorhang zurück und inspizierte die Duschkabine. »Was denkst du dir eigentlich dabei, Jeffrey?«

»Tut mir leid«, sagte Jeff. »Ich hab mich halb totgeschrubbt.«

»Weißt du, woran man erkennt, ob es richtig sauber ist?«, fragte Tante Flo. »Wenn man das Wasser laufen lässt … hier, ich zeig’s dir …« Sie drehte den Hahn auf und zog schnell die Hand unter dem kalten Wasserstrahl weg. »Siehst du, wie hässlich das Wasser auf den Fliesen zerrinnt? Wenn sie so richtig glänzen würden, würden sich dort Tropfen bilden. Siehst du da irgendwelche Tropfen?«

»Ein paar schon«, antwortete Jeff müde. Er war um sechs Uhr aufgestanden, noch vor Sonnenaufgang. Dass man sich als Zwölfjähriger schon um diese Uhrzeit mit dem Rest der Welt auseinandersetzen musste, fand er eigentlich einfach nur unverschämt – besonders im Spätsommer, wenn noch Ferien waren. Die Schule würde erst in ein paar Wochen wieder losgehen, und zum ersten Mal, seit er denken konnte, freute Jeff sich sogar darauf.

Heute war Samstag. Früher hatte Jeff samstags ausschlafen können, und wenn er dann irgendwann aufgestanden war, hatte er nichts zu tun gehabt, außer faul herumzuhängen. Doch diese Samstage waren lange her. Es war erst zehn Uhr, und Jeff kam es vor, als wäre er seit Tagen auf den Beinen.

Hier bei Flo’s Cabins herrschte am Samstag immer Hochbetrieb, vor allem im Sommer. Zu dieser Jahreszeit blieben die meisten Leute, die zu Tante Flos Angelcamp am Pickerel Lake kamen, nämlich genau eine Woche, und das bedeutete: von Samstag bis Samstag. Immer samstags zogen aus allen oder fast allen der acht Hütten die alten Gäste aus, und neue zogen ein. Das war der große »Wechseltag«, so nannte Tante Flo das.

An Sommersamstagen hatte Jeffrey deshalb alle Hände voll zu tun, unter anderem musste er die Hütten so schnell wie möglich auf Vordermann bringen. Wobei »Hütten« fast zu rustikal klang. Es waren zwar keine vornehmen Villen, aber jede davon hatte fließend Wasser und ein eigenes Bad mit Dusche. Diese Hütten zu putzen, war Jeffs bescheidener Meinung nach der mieseste Job von allen – denn wenn sich eine Bande Angler irgendwo für eine Woche einnistet, hinterlässt sie meistens eine sagenhafte Verwüstung: mit Essensresten verkrustetes Geschirr, halb leere Bierflaschen mit Zigarettenstummeln darin, der Mülleimer randvoll mit Fischeingeweiden … Jeff ging eine leicht abgewandelte Zeile aus einem der Lieblingsmusicals seiner Mom durch den Kopf: »Ich denke an das, was schrecklich …«

Doch Jeff hätte lieber hundert Teppiche gesaugt, tausend Fenster geputzt und eine Million Herde gereinigt, als ein einziges Badezimmer zu säubern, in dem eine ganze Woche lang drei Angler mittleren Alters gewütet hatten. Das war ein wirklich schwerer Fall von MEW, von Maximal Eklig und Widerwärtig. Konnten die Typen beim Pinkeln denn überhaupt nicht zielen? Wuschen sie sich eigentlich die Hände, bevor sie zum Handtuch griffen? Und marschierten sie wirklich mit ihren verschlammten Stiefeln in die Dusche?

Tante Flo war eine Sauberkeitsfanatikerin. Egal wie gründlich Jeff putzte, sie hatte immer etwas zu meckern – auch an diesem Samstagvormittag, als sie in die Duschkabine von Hütte 4 spähte, Jeffs letzter Hütte an diesem Tag. Wenigstens würde ihm Hütte 8 erspart bleiben, denn dort zog niemand aus oder ein. Der alte Mr Green hatte sie sich für den ganzen Sommer gemietet, und der hielt sie auch ohne Hilfe einigermaßen in Ordnung.

Doch auch so hatte Jeff einen Haufen Hütten hinter sich bringen müssen. Das einzig Gute war, dass heute zumindest keine neuen Gäste mehr eintrudeln würden … außer irgendjemand, der nicht vorreserviert hatte, nahm spontan die Abzweigung zum Camp, das konnte immer sein. Es war aber eher unwahrscheinlich. Jetzt, wo sich der Sommer dem Ende zuneigte, mussten die meisten Leute schon wieder an die Arbeit denken und ihre Kinder für die Schule startklar machen, hatte Tante Flo ihm erklärt.

»Ich glaube, den Anglern ist es ziemlich egal, ob die Fliesen nun total glänzen oder nicht«, sagte Jeff zu ihr, während er mit den letzten Schmutzpartikeln kämpfte. »Die wollen’s nur halbwegs sauber haben.«

Tante Flo seufzte. Das war ihre absolute Lieblingsreaktion: kurz einatmen, dann langsam und leise ausatmen und dabei zusätzlich den Kopf schütteln.

»Das ist deine ganze Lebenseinstellung, oder?«, meinte sie. »Hauptsache, es ist gut genug. Tja, bei mir gibt es leider kein gut genug. Ich will, dass es perfekt ist.«

Als wäre das hier kein Angelcamp, sondern das Hilton.

»Unseren männlichen Gästen«, sprach Tante Flo weiter, »mag es egal sein, ob hier alles glitzert und glänzt, aber viele von ihnen kommen mit Frau und Kindern, und an einer Unterkunft, die sie bei Florence Beaumont mieten, sollen die Damen nicht das Geringste auszusetzen haben.«

»Wie du meinst«, murmelte Jeff, griff zu der Sprühflasche mit dem giftgrünen Putzmittel und machte sich mit dem Scheuerschwamm ans Werk.

Nachdem sie auch diese Auseinandersetzung mit ihrem Neffen gewonnen hatte, marschierte Tante Flo zufrieden davon, um seine Arbeit in Hütte 1 zu überprüfen. Der Junge schrubbte währenddessen weiter, und in der engen Duschkabine stiegen ihm die Putzmitteldämpfe in die Nase, bis er fast in Ohnmacht fiel. Wobei das eigentlich mal eine nette Abwechslung wäre, dachte Jeff. Wie ein Mini-Urlaub.

Wenn er hier fertig war, würde es wenigstens hinaus an die frische Luft gehen. Jeff hatte noch mehr als genug Aufgaben im Freien vor sich.

Drüben an den alten Holzstegen waren einige Vier-Meter-Aluminiumboote vertäut, die Tante Flo an ihre Gäste vermietete. Jeff hatte sich darum zu kümmern, dass die Kähne immer anständig aussahen und halbwegs fahrtüchtig wirkten. Sobald er mit der Duschkabine fertig war, lief er deshalb die paar Meter zum Ufer und verscheuchte dabei die vor seinem Gesicht herumschwirrenden Mücken.

Das erste Boot sah aus, als wäre darin jemand abgemurkst worden. In den paar Zentimetern Dreckwasser, die unten hin und her schwappten, schienen kleine Klumpen aus Eingeweiden zu treiben. Jeff wusste aber, dass es bloß Regenwürmer waren. Allerdings richtig fette Prachtexemplare, wie Angler sie eben am liebsten mochten.

Wenigstens schwammen in diesem Boot keine … oder doch. Oh doch, da hatte jemand an Bord seinen Fang ausgenommen. Und das bedeutete nicht, dass irgendein Angler den armen Fischen das Geld aus der Tasche gezogen hätte. Nein, hier hatte jemand Fische ausgeweidet. Irgendwer hatte ihnen den Bauch aufgeschlitzt, die Innereien herausgezerrt und einfach ins Boot fallen lassen.

Das ist echt ein klasse Job hier, dachte Jeff. Jedenfalls wenn man gerne kotzt.

Aber dass ihm speiübel war, änderte nichts daran, dass er an Bord gehen und seine Arbeit erledigen musste. Zuerst musste er mit der alten rostigen Kaffeedose, die hinter dem Sitz am Bug klemmte, möglichst viel von dem Kladderadatsch aus dem Boot in den See schaufeln.

Jeff machte einen großen Schritt und stieg auf den Sitz – nur so würden seine Turnschuhe die Sache überleben. Er hatte das schon tausendmal gemacht, und selbst wenn das Boot kräftig hin und her schaukelte, hatte er immer das Gleichgewicht halten können.

Doch diesmal hatte er etwas übersehen. Auf dem Sitz lag ein schleimiger, glitschiger, schmieriger Regenwurm, und als Jeff mit dem rechten Fuß mitten darauftrat, fühlte er sich, als wäre er auf eine Bananenschale gelatscht.

Im nächsten Moment flog er durch die Luft.

Er landete am Boden des Boots. Das Metall dröhnte, eine kleine Welle schwappte über ihn, und Jeff war von Kopf bis Fuß verschmiert mit toten Regenwürmern, nassem Schlamm und schleimigen Fischinnereien.

Er stieß einen Fluch aus, den er sich in Gegenwart von Erwachsenen nie erlaubt hätte. Hätten seine Eltern das mitbekommen, hätte er richtig Ärger gekriegt.

Wäre das nicht toll? Eltern zu haben, die einem richtig Ärger machen können?

Aber wie sich herausstellte, lauerte hinter ihm nur Tante Flo. Sie stand am Ende des Stegs und hatte natürlich alles mitbekommen. Wahrscheinlich gefiel es ihr nicht besonders, dass Jeff mit seinen zarten zwölf Jahren solche Schimpfwörter in den Mund nahm, aber was sollte sie schon machen? Sie konnte ihn ja schlecht auf sein Zimmer schicken. Wer hätte denn dann die ganze Arbeit erledigt?

Also stand sie bloß mit verschränkten Armen da und musterte ihn streng.

Jeffs Blick wanderte von ihr zu seinen verdreckten Händen. Zwischen seinen Fingern klemmte ein toter Wurm. Da landete eine Mücke auf seiner Nasenspitze, und instinktiv schlug er danach – ohne die Folgen zu bedenken.

Plötzlich hatte er das ganze Zeug, in das er sich hineingesetzt hatte, auch noch im Gesicht kleben. Auch den toten Glitschwurm.

Tante Flo stieß ihr unverwechselbares Seufzen aus.

»Jeff Conroy«, sagte sie. »Willst du den ganzen Tag nur bequem herumsitzen? Oder willst du dich auch mal ein bisschen nützlich machen?«

Nachdem Jeff zuerst das Boot und dann sich selbst sauber gemacht hatte, stand eine Fahrt zur Müllkippe auf dem Programm. Er musste die Mülltonnen, die sich über die Woche gefüllt hatten, auf die Ladefläche von Tante Flos altem Ford-Pick-up wuchten und dann ungefähr eineinhalb Kilometer weit die Landstraße entlang zur Deponie kutschieren.

Jeff hatte versucht, seiner Tante begreiflich zu machen, dass man mit zwölf Jahren noch gar nicht hinterm Steuer sitzen durfte. Bei ihrem Familienbesuch im Angelcamp ein Jahr zuvor hatte Jeffs Dad ihm zwar das Fahren beigebracht, aber doch nur auf Tante Flos eigenen fünfzehn Hektar Land und nicht auf der benachbarten Landstraße! Nicht dass es besonders schwierig gewesen wäre – mit Automatikschaltung musste man nur den Hebel auf Fahren stellen, aufs Gas treten, und los ging’s. Aber trotzdem …

»Mach dich nicht lächerlich«, hatte Tante Flo auf Jeffs Bedenken erwidert. »Oder kommst du etwa mit den Füßen nicht an die Pedale? Ach was, du bist doch größer als ich, und ich kann den Truck ohne Probleme fahren. Meine Güte, du hast jetzt schon so lange Beine, wo soll das noch hinführen? Außerdem hat mir dein Vater erzählt, dass ihr zwei andauernd Gokart gefahren seid, mit dem Fahren kennst du dich also bestens aus. Und die Kübel laufen doch nicht von allein zur Müllkippe, oder?«

»Aber wenn mich die Polizei anhält und meinen Führerschein sehen w–«

Tante Flo hatte seinen Einwand weggewischt. »Die verstehen das schon. Wenn sie dich wirklich anhalten, sag ihnen einfach, sie können heute Nachmittag hier vorbeikommen und umsonst mit einem von meinen Booten rausfahren. Die Polizisten drehen hier doch sowieso immer nur Däumchen. Hier gibt’s doch keine Verbrecher. Da können sie genauso gut mit einer Angel in der Hand auf dem See hocken …« Und dann hatte Tante Flo hämisch gekichert.

Also tuckerte Jeff nun quer durchs Camp, hievte die vollen Mülltonnen auf die Ladefläche und steuerte den alten Ford über die Zufahrt zur geteerten Landstraße. Dort kam nur alle zehn Minuten ein Auto vorbei, wenn überhaupt. Jeff lenkte nach rechts, in Richtung Deponie.

Als sein Blick auf den leeren Beifahrersitz fiel, musste er an Pepper denken.

Pepper war seine Hündin gewesen, und sie hatte nur ein einziges Mal in diesem Truck mitfahren dürfen.

Sie war ein vier Jahre alter, schwarz-weißer Border-Collie. Rund um ihr rechtes Auge wuchs weißes Fell, rund um ihr linkes schwarzes. Jeff war nur einmal gleich zu Beginn des Sommers mit ihr im Pick-up unterwegs gewesen, aber er erinnerte sich noch, wie viel Spaß es ihr gemacht hatte. Sie hatte den Kopf aus dem Seitenfenster gesteckt und sich den Wind um die Nase wehen lassen, als wäre es das Großartigste der Welt. Nur die Müllkippe fand sie anscheinend noch ein bisschen großartiger, denn dort konnte man wunderbar Eichhörnchen, Ratten und Möwen jagen.

Wäre Pepper bei ihm gewesen, hätte sie jetzt den Duft der Natur genossen und sich nur ab und zu vom Fenster losgerissen, um Jeff schnell das Gesicht abzuschlecken.

Er hatte sie so lieb gehabt.

Doch Tante Flo mochte keine Hunde. Als Jeff nach dem Tod seiner Eltern zu ihr ziehen sollte, hatte sie nur eine Bedingung gestellt: Sie würde nicht mit diesem Tier unter einem Dach leben. Jeff musste Pepper wohl oder übel ein neues Zuhause suchen. Nach seiner ersten Woche im Angelcamp hatte er sie an eine Familie in der Stadt gegeben, die in derselben Straße wohnte wie er früher.

Jeff dachte an Pepper und Tante Flo und sein neues Leben und versank immer tiefer in seinen Grübeleien. Da war es kein Wunder, dass er das riesige Schlagloch mitten auf der Straße übersah.

Das rechte Vorderrad bretterte hinein.

KAWUMM!

Eine Millisekunde später bretterte das rechte Hinterrad hinein.

KAWUMM!

Und Jeff hörte ein dumpfes Poltern. Er warf einen Blick in den Rückspiegel und sah eine der Tonnen auf der Fahrbahn liegen, inmitten von überall verstreutem Müll.

Er konnte das Zeug nicht einfach liegen lassen, wo es war. Jeff bremste den Pick-up, stieg aber nicht gleich aus, um die Schweinerei aufzuräumen. Stattdessen ließ er die Stirn aufs Lenkrad sinken und schloss die Augen.

Er wollte nur noch heulen.

Er hasste sein Leben bei Tante Flo.

Er hasste es so sehr.

Und Pepper fehlte ihm.

Doch seine Mom und sein Dad fehlten ihm noch mehr. Es war einfach nur scheiße, mit gerade mal zwölf Jahren keine Eltern mehr zu haben.