Mami – 1909 – Wir beide in einem fremden Land

Mami
– 1909–

Wir beide in einem fremden Land

… aber alles wird gut

Myra Myrenburg

Impressum:

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-527-7

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»Hallo, Ronnie!« rief Fee van Zanten, ging in die Knie und breitete die Arme aus. Ihr straff frisiertes Haar leuchtete wie Messing in der Morgensonne. Ihre Hände, die das herbeistürmende Kind auffingen, waren schlank und fest.

»Ronnie, der Racker«, sagte sie lächelnd und schwang den Zweijährigen dann so lange im Kreis herum, bis ihr die Luft ausging.

»Noch mal«, krähte er und krallte sich in die weiten Ärmel der weichen, samtigen Bluse, die Fee van Zanten zu einem knöchellangen dunkelroten Wollrock trug.

»Nein, jetzt ist es genug«, beschied sie ihn, nahm ihn bei der Hand und ging seiner Mutter entgegen, die im Torbogen des kunstvoll restaurierten alten Stadthauses stehengeblieben war, eine schmalschultrige, dunkel gekleidete junge Frau.

»Guten Morgen, Stefanie«, sagte Fee herzlich und schob eine Hand unter ihren Arm, »schön, daß du kommen konntest.«

Ronnie drängte sich zappelnd dazwischen, setzte einen kleinen roten Schuh in eine Pfütze und tat alles, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Ich hätte mich ja schon längst einmal sehen lassen«, erwiderte seine Mutter gedämpft, »aber es gab schrecklich viel zu erledigen nach der Beerdigung – jede Menge Laufereien – und dazu dieser kleine Junge, der mich sowieso schon auf Trab hält…«

»Ich weiß, ich weiß…«

»Aber nächste Woche bin ich soweit, dann kannst du wieder fest mit mir rechnen«, schloß Stefanie aufatmend.

Fee van Zanten schwieg, während sie durch den Torbogen traten und die flachen Stufen zum Eingang hinauf stiegen, wo es normalerweise von Kindern wimmelte, aber heute war Samstag und der Privatkindergarten im Bonner Diplomatenviertel war geschlossen.

Ronnie steuerte sofort seinen Kleiderhaken an, der mit einer Mickymaus gekennzeichnet war, warf sein kurzes Mäntelchen ab, kickte ein unversehens aufgetauchtes Bällchen vor sich her und warf einen suchenden Blick in die Runde.

»Martin? Niko? Wo sind sie alle?«

»Zu Hause«, erklärte Stefanie und schnürte ihm die Schuhe fester, »heute spielst du allein mit der großen Eisenbahn. Na, was sagst du dazu? Ist das nicht toll?«

Ronnie schüttelte betrübt den blonden Kopf und ließ sich auf dem dicken dunkelgrünen Spielteppich nieder, während die beiden Frauen in den offenen Nebenraum gingen.

»Komm, ich habe uns schon Kaffee gekocht«, sagte Fee, »und frische Croissants sind in der Tüte da drüben.«

Sie setzten sich an den Fenstertisch, der mit schlichtem buntem Geschirr gedeckt war. An der Wand hing ein großer Kalender unter einer großen runden Uhr.

»Der Mai ist schon fast vorbei«, seufzte Stefanie und rührte in ihrer Kaffeetasse, »höchste Zeit, daß ich wieder Tritt fasse. Danke, daß du so viel Geduld mit mir hattest.«

»Das war doch selbstverständlich. Hör mal, Stefanie…«

»Nein, warte. Ich möchte dir noch sagen, daß ich deine Großzügigkeit zu schätzen weiß, daß ich das alles eben nicht als selbstverständlich genommen habe, daß ihr mir gefehlt habt – du und Alina – und daß ich mich auf die Arbeit freue nach dieser langen Unterbrechung, sehr sogar. Das mußte einmal gesagt werden, ich habe es mir die ganze Zeit vorgenommen. So, jetzt bist du dran.«

Stefanie nahm sich ein Croissant und begann mit sichtlichem Appetit zu essen. Sie hatte große kristallblaue Augen, die sehr intensiv blicken konnten, schmale Wangen und blondes, leicht gelocktes Haar, das an den Spitzen silbrig schimmerte. Sie trug schwarze Jeans und ein pink gemustertes Seidentuch über einem schwarzen Pulli, denn sie hatte vor vier Wochen ihren Mann bei einem Autounfall verloren. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und seit drei Jahren feste Mitarbeiterin im Privatkindergarten der Holländerin Fee van Zanten.

Ronnie, der inzwischen die Wagen der Holzeisenbahn aneinandergekoppelt hatte und sich gerade ein Croissant abholen kam, war ihr einziges Kind.

»Wie sieht es aus mit deinen Rentenansprüchen?« erkundigte sich Fee gedämpft.

»Frag nicht! Hajo war ja erst seit drei Jahren im Beruf. Nein, da habe ich nichts zu erwarten. Ich bin auf mich selbst gestellt. In diesem Punkt mache ich mir keine Illusionen.«

Fee betrachtete ein Fensterbild, das an einem Kettchen vor der Glasscheibe hing und den heiligen Martin auf seinem Pferd darstellte. Sie hob die Hand und rückte es ein paar Millimeter nach rechts.

»Da wir von Illusionen sprechen«, sagte sie langsam, »auch ich bin gezwungen, endlich den Tatsachen ins Auge zu sehen. Unsere Kundschaft wandert ab. Spätestens im September müssen wir den Kindergarten schließen.

»Schließen?« wiederholte Stefanie verstört.

Fee van Zanten nickte resigniert. Das Diplomatenviertel in Bonn, die Basis ihres Unternehmens, löste sich auf. Nach Berlin, wo die Eltern ihrer kleinen Zöglinge künftig wohnen würden, zog sie nichts. Sie war fünfzig Jahre alt, auf der niederländischen Karibikinsel Aruba geboren und aufgewachsen. Dort stand ihr Elternhaus, dort konnte sie von ihren Ersparnissen leben, dorthin wollte sie zurückkehren. Das war immer schon ihr Ziel gewesen.

Wenn ihr der Abschied trotzdem schwerfiel, so hauptsächlich wegen Stefanie, die vor vier Wochen ihren Mann verloren hatte und nun auch noch ihre Existenz verlieren würde, ihre vertraute Umgebung, den letzten sicheren Boden für sich und ihr Kind.

Der kleine Ronnie war sozusagen im Kindergarten zu Hause, war außer von seiner Mutter stets von Fee und Alina betreut worden. Kindergesellschaft hatte seine ersten Jahre begleitet und geprägt. Er plapperte schon wie ein Dreijähriger und war seinem Alter weit voraus.

»Im September, sagst du?« fragte Stefanie mit dumpfer Stimme, den Blick auf den Kalender gerichtet.

»Ja, länger werden wir es nicht schaffen. Wir haben mehr Abmeldungen als Anmeldungen, die Kostenrechnung geht nicht mehr auf. Für Alina ist es nicht schlimm, sie wollte ohnehin zurück nach Amsterdam.«

»Aber für uns ist es schrecklich – für Ronnie und für mich! Hier konnten wir immer zusammensein, es war ideal – wie in einer großen, glücklichen Familie. Was soll ich jetzt tun, Fee? Ich bin noch gar nicht richtig zu mir gekommen seit dem Unglück.«

»Das ist kein Wunder, Stefanie. Du brauchst Zeit, Beistand, guten Rat und gute Referenzen. Denn das Leben geht weiter, nicht wahr, es kommt nur darauf an, welche Richtung du einschlägst. Wir werden gemeinsam darüber nachdenken und alle Möglichkeiten prüfen, die sich bieten. Ronnie, komm her, nimm eine Serviette und wisch dir die Händchen ab! Bring dein Croissant mit und leg es auf diesen Teller, wenn du es nicht mehr magst.«

Der Knirps richtete sich vom Spielteppich auf, betrachtete tiefsinnig die Spuren, die er hinterlassen hatte, hob sein winziges Zeigefingerchen und ermahnte sich selbst.

»Nicht krümeln, Ronnie!«

Stefanie biß sich auf die Lippen.

Er war so aufgeweckt, ihr kleiner Sohn, so gewitzt. Er war ein solcher Trost in diesen dunklen Tagen, und gleichzeitig ihre größte Sorge.

»Alles wird gut«, hatte Hajo geflüstert und ihre Hand gedrückt, bevor er erschöpft die Augen schloß und für immer schwieg.

Es war erst vier Wochen her, aber die Ewigkeit, in die er eingegangen war, schien sich auszudehnen und alle zeitlichen Grenzen zu verwischen. Es war, als läge sein Leben und sein Sterben unsäglich weit zurück. Geblieben war nur der Schmerz.

Stefanie atmete tief durch, sah auf die Uhr und nahm den gutgemeinten Vorschlag an, mit Fee über den Trödelmarkt zu schlendern, um anschließend im Bistro an der Ecke eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken.

Ronnie trippelte schon hinaus in die Diele und nahm sein Mäntelchen vom Kleiderhaken.

»Rausgehen«, befahl er sich selbst und den beiden Frauen.

Seine Augen, schilfgrün mit goldenen Lichtern strahlten vor Unternehmungslust. Es waren Hajos Augen.

*

Anfang Juni nahm Stefanie ihre Arbeit im Kindergarten wieder auf.

Sie tat es mit einer gewissen Erleichterung, denn sobald sie zur Ruhe gekommen war, stellten sich die widerstreitensten Gefühle und kuriosesten Gedanken ein.

In ihrem Schmerz mischte sich wilder Zorn, denn wenn es je einen sinnlosen Tod gegeben hatte, dann war es dieser Unfall, der leicht zu vermeiden gewesen wäre.

Überflüssig, wie so vieles in Hajos Leben, aus ihrer Sicht jedenfalls.

Er hatte in der Forschungsabteilung eines großen Automobilherstellers gearbeitet. Motoren waren seine Leidenschaft, sie beherrschten sein Denken und leider auch sein ganzes Tun.

Wenn andere Männer wochenends zum Fußballstadion pilgerten oder friedlich daheim vor den Fernsehschirm saßen, tummelte sich Hajo Zeller mit ein paar Gleichgesinnten auf der Rennstrecke am Nürburgring, und nichts konnte ihn mehr deprimieren als ein Tag, an dem die berüchtigte Nordschleife für Amateurfahrer gesperrt war.

Seit sie Hajo kannte, hatte Stefanie die schreckliche Kurve gefürchtet, verabscheut und schließlich gehaßt. Während der Schwangerschaft war es ihr gelungen, Hajo auf andere Wege zu führen, Ausstellungen zu besuchen, Bastelläden, Versteigerungen, aber auf die Dauer hatte sie nicht vermocht, ihn von der Nordschleife fernzuhalten. Seine Passion für alles, was Räder und einen Motor hatte, war einfach nicht zu besiegen gewesen, nicht einmal von der Liebe zu ihr und dem Kind.

In seiner Jugend hatte er den Traum, Rennfahrer zu werden, gehegt und gepflegt und später schweren Herzens begraben, seiner Augen wegen, die nicht zuverlässig genug waren. Aber alle anderen Fähigkeiten glaubte er zu besitzen, und um sie regelmäßig zu prüfen, bretterte er mit wechselnden Fahrzeugen immer wieder über den Ring. Immer wieder schaffte er die Nordschleife – bis zu jenem letzten Freitag im April.

Er starb im Krankenwagen, hielt die Hand seiner Frau, sah ihr in die Augen und flüsterte: »Alles wird gut.«

Sie nickte schwach, kämpfte mit den Tränen und wollte ihm glauben, konnte es nicht.

Wie sollte sie diese Stunde jemals vergessen?

Diesen Alptraum! Dieses Grauen!

Wie sollte sie ihm verzeihen, was er ihr angetan hatte! Aus Leichtsinn! Aus Übermut! Aus Unvernunft! Aus keinem anderen ersichtlichen Grund!

Nur nicht darüber nachdenken. Nur nicht daran rühren.

Hader und Groll mußten verbannt werden in die Tiefen des Bewußtseins. Sie stifteten nur Unheil, vergifteten die Gedanken und beschäftigten die Erinnerung.

Arbeit war die beste Medizin.

Aber auch damit sah es zur Zeit nicht gut aus.

Einen Namen nach dem anderen strich Fee van Zanten in den Unterlagen, immer kürzer wurde die Liste ihrer Zöglinge. An einem sonnigen Vormittag Anfang Juli stand sie am Fenster und sah den meterlangen, mit schwarzen Vorhängen versehenen Wagen der arabischen Fürstin Kadidja vorfahren, die, daran gab es für Fee keinen Zweifel, ihre beiden kleinen Töchter Mariam und Selima abmelden wollte.

Die Unterhaltung wurde auf Französisch geführt, denn die Fürstin liebte die deutsche Sprache zwar sehr, sie verehrte die deutschen Dichter und Musiker, konnte sich jedoch nicht auf Deutsch verständigen.

Sie war eine hochgewachsene Frau unbestimmbaren Alters, die man nie ohne den schulterlangen schwarzen Gazeschleier sah. Aber im übrigen kleidete sie sich europäisch. An diesem sonnigen Sommertag trug sei ein cremefarbenes Seidenkostüm, hochhackige mattbraune Schuhe und eine beutelförmige Tasche aus genopptem Leder.