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poupette marie eder

Bittere Leere

poupette marie eder

Bittere Leere

tredition

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter: http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1.Auflage

© 2017 Poupette Marie Eder

Verlag tredition GmbH, Hamburg

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Autorin

Lektorat/Satz/Layout: Heike Deschle

Hardcover: (D) Euro 17,99

ISBN: 978-3-7439-7655-9

Paperback: (D) Euro 8,99

ISBN: 978-3-7439-7654-2

e-Book: (D) Euro 2,99

ISBN: 978-3-7439-7656-6

Danksagung

Mein erster Dank gilt meiner Freundin Celly, die mich immer wieder anspornte, alles aufzuschreiben, was mich bewegt. Ich beschloss ein Buch zu schreiben, und schrieb und schrieb. Wir trafen uns drei bis vier Mal pro Woche und ich zeigte ihr meine Notizen. Wir korrigierten und verbesserten, ich formulierte und schrieb neu, bis ich irgendwann die Nase voll hatte und nicht mehr weiter wusste …

… und auf eine brillante Lektorin traf, Heike Deschle. Ihr gab ich meinen fünf Mal überarbeiteten Rohschnitt in die Hände und wir formten gemeinsam dieses, wie ich finde, „meisterhafte“ Buch, meine Anerkennung gilt ihr.

Viel Liebe und Dankbarkeit an meine Tochter Liz, die es mir erlaubte, ihre Charakterzüge in Zeilen zu verfassen.

Dank sagen möchte ich auch meiner Schwester Nanny, die immer da war, wenn ich sie brauchte.

Dank allen Personen, die mich durch beschwingte und bedrückende Lebenssituationen begleiteten.

Poupette Marie Eder

Mit der Leichtigkeit des Sommers

Wenn das Wetter es zuließ, verbrachte ich jeden Sommer mit Freunden auf einem Grundstück am Stadtrand von Markburg. Auf dem fast siebenhundert Quadratmeter großen Anwesen wohnten wir in einem zweistöckigen selbstangefertigten Holzhaus, das an einem kleinen See lag, versteckt hinter wucherndem Schilf. In der Mitte des Sees hatte der Eigentümer – ein guter Freund namens Henner – ein Revier für Enten und Schwäne gebaut, die den Sommer über hier ihr Gefieder pflegten und sich um ihren Nachwuchs kümmerten …

Dieses Jahr hatte der Sommer schon zeitig begonnen, auch heute knallte die Sonne wieder vom Himmel und keiner konnte der Hitze entkommen. Jeder versuchte ein schattiges Plätzchen zu ergattern, unter einem Baum oder dem Vordach des Hauses. Sogar am Eingang des Kellers wurden Decken und Kissen ausgebreitet, um wenigstens noch bis zum geplanten Grillabend durchzuhalten.

Die Zeit floss träge dahin und als ich mal wieder zur Uhr blinzelte, war es bereits um drei. So allmählich rappelten sich dann auch alle auf und traten wie in Trance den für den Abend bevorstehenden Vorbereitungen entgegen. Meine Aufgabe bestand darin, den Salat zu bereiten und so eilte ich schließlich schnurstracks in die Küche, die sich im Erdgeschoss des Hauses befand, legte mir alles, was ich an Zutaten und Küchengeräten brauchte, zurecht und machte mich an die Arbeit. Ab und zu schweiften meine Blicke raus zu den anderen, um zu prüfen, ob sie nach festgelegter Richtlinie kreativ und flexibel ihren gestellten Aufgaben nachkamen.

Nach genau sechsundzwanzig Minuten war mein traditioneller Gemüsesalat fertig. Ich schnappte mir die bis zum Rand gefüllte Schüssel – es sollte immerhin für fünfzehn Personen reichen – und verließ das Haus.

„Überraschung!“, rief ich fröhlich, als ich auf die Wiese trat. Aber keiner lenkte so richtig ein und lobte mich wenigstens mal kurz. Na ja, es wurde eben als Selbstverständlichkeit angesehen. – Ich staunte jedoch nicht schlecht, wie alles allmählich Form angenommen hatte. Der Tisch war von den anderen Gästen – ein paar Kumpels von Benno und Arbeitskollegen von Henner – sehr hübsch mit den von ihnen mitgebrachten Speisen eingedeckt worden und der Grill bereits voll bestückt mit Würstchen, Fleisch und ausgewählten Fischspezialitäten.

„Nu groußardsch!“, brummelte es sächselnd neben mir. Nanny, meine Schwester, strahlte mich mit einem herzlichen Lächeln an. Sie lebte mit ihrem Mann Benno, einem Bundeswehrsoldaten, und ihrem zwölfjährigen Sohn Sandro in Markburg. Mein geliebter Neffe Sandro …

Als Sandro neun Jahre alt war, erlitt er plötzlich einen bösen Anfall, als er eines Tages bei seiner Oma übernachtete. Sandro schlief bei ihr im Ehebett und Oma hielt seine Hand fest. Im Schlaf verkrampfte sich mit einemmal sein kleiner Körper und er stöhnte schwer. Am nächsten Tag erzählte Oma das Geschehen Nanny. Keiner wusste so recht, was das bedeutete, wir hielten es für einen einmaligen Vorfall. Aber die Krämpfe häuften sich: zumeist bei Nacht ereilten ihn zwei, drei, gar vier oder fünf Anfälle, die in der Regel zwanzig bis dreißig Sekunden andauerten. Sandro bekam davon nichts mit. Allerdings brauchte er immer eine gewisse Zeit, bis er das Bewusstsein wieder erlangte und war dann völlig erschöpft, als käme er direkt von einem Zehn-Kampf. Danach musste er längere Zeit schlafen, um sich überhaupt wieder zurechtzufinden. Sandro wurde verschiedensten Untersuchungen unterzogen, er nahm diverse Medikamente und ließ zahlreiche Klinikaufenthalte über sich ergehen. Nannys psychischer Zustand in jener Zeit war beängstigend und ein Antidepressivum wurde zu ihrem täglichen Begleiter. Es war für unsere ganze Familie ein Höllentrip. Bald traten die Anfälle auch tagsüber auf: beim Essen, Trinken, beim Spazieren gehen, in der Schule. Nach dutzenden Klinikbesuchen über ganz Deutschland verteilt und zig Therapieversuchen, wurde uns nach zwei Jahren endlich der Befund mitgeteilt: Der Auslöser der Anfälle befindet sich vermutlich in seiner linken Gehirnhälfte und wird sich eventuell in der Pubertät zurückbilden, – was wir ihm von ganzem Herzen wünschen, doch bis dahin bleibt er unser aller Sorgenkind.

Es berührt mich immer wieder, wenn ich über das Schicksal des kleinen Sandro nachdenke. Die Sorge um dieses tapfere Kerlchen, der doch sein ganzes Leben noch vor sich hat, wiegt schwer und ist immer präsent. Ihm gilt meine größte Bewunderung, wenn ich sehe, mit welcher Leichtigkeit und Lebensfreude er diese Kräfte zehrende und zerstörende Krankheit erträgt. Ich ersehne sehr, dass ein Schutzengel ihn Tag und Nacht behütet und ihm den Lebenswillen und die Energie schenkt, die er braucht und die er verdient, wie jeder Mensch auf dieser Erde.

*

„Bissde ferdsch middm Sallad forr dausnd Leide? Isch hoffe, duh hasdsch nisch übberarbeeded.“

„Was soll das denn jetzt heißen?“ Ich verleierte die Augen, ich war eh schon ein wenig angekratzt vom vielen Salatschneiden.

„Forrschdehsde keen Schpoß? Dei Humor muss ’sch doch ooch forrschdehn.“

„Hm, klar doch, mein Schwesterherz, hättest mir ja auch helfen können!“, sagte ich mit huldvollem Zwinkern.

Unsere Grillmaster Hendrick und Otto, beides Freunde von Henner, baten uns jetzt an die Partytafel und servierten die fertigen Leckerbissen. Otto legte mir gleich die erste Bratwurst auf den Pappteller, der bereits halbvoll mit Salat war. Die Wurst sah ziemlich verkohlt aus und ich lästerte Stirn runzelnd, aber noch nett, wenn auch mit ironischem Unterton: „Sag mal, Otto, dieses verbrannte Etwas hat wohl genauso lange in der glühenden Energieeinstrahlung gelegen wie dein Gesicht? Hast wohl vorhin in den Mittagsstunden kein schattiges Örtchen gefunden?“, grinste ich ihm zu. Daraufhin brach ein schallendes Gelächter aus und Otto ging sofort in die Verteidigung:

„Was wären wir nur ohne dich, Polly!“

Ach ja, bei solchem Geflaxe fühlte ich mich so richtig wohl und in meinem Element. Ich feixte in mich hinein, nahm mir ein Stück des wohlriechenden Lachs’ und legte das verkohlte Etwas zurück.

Mhm, was für ein himmlischer Abend! Die Sonne warf ein letztes rötlichgelbes Licht über das Land, nicht mehr lange und sie würde hinter den Silhouetten der Bäume verschwunden sein. Ich ließ meine Gedanken weiter schweifen, während Henner, unser Gastgeber, der dem Aussehen nach D’Artagnan glich, das machte, was er immer gern tat, sobald es zu dämmern begann. Er legte die vorher gesammelten Holzscheite in die offene Feuerstelle und machte es uns so richtig gemütlich. Die Zeit verging wie im Fluge und als ich nach der Uhr sah, war es schon nach neun. Ich konzentrierte mich wieder auf die Gesellschaft und stellte bei einem Blick auf den Tisch fest, dass mein „Getränke-Spender“ reichlich an Inhalt verloren hatte – ich fixierte den nackten Boden der Weinflasche. Das hatte auch meine Freundin Celly, die rechts neben mir saß, bemerkt.

„Polly? Gehst du jetzt in die Küche oder fährst du nach Hause?“, kicherte sie, weil sie genau wusste, welche Entscheidung ich bevorzugen würde.

„Mensch, Celly, du kennst doch das Sprichwort: Wein macht rein! – Also, was soll’s …“

Ich erhob mich und holte noch ein Fläschl – mein Kehlchen sollte doch nicht austrocknen. Als ich wiederkam, sah ich mit Erstaunen, dass ein neuer Gast meinen Sitzplatz eingenommen hatte. Wieso hatte Celly nicht auf die Sitzordnung geachtet?! Ach so, sie stand mit Henner auf der Wiese und die beiden hatten sich wohl in ein interessantes Thema verbissen.

Ich habe ja eine ganz eigene Meinung zu Menna, die sich nun auf meinem Stuhl breit gemacht hatte. Sie ist Anfang vierzig und ziemlich groß, aber dennoch schmächtig gebaut, ihre Brüste sind aufgespritzt, das schwarze Haar trägt sie kurz. Sie arbeitet in einem Landwirtschaftsbetrieb im Kuhstall. Ich akzeptiere sie, doch schenke ihr kaum Beachtung oder Aufmerksamkeit. Mich machen ihre aufgesetzten Blicke nervös, die von Person zu Person wandern und keine Wärme ausstrahlen.

Ich lief zum Tisch, an dem gerade wieder ein Platz frei wurde, weil Nanny zur Toilette ging. Das war für mich eine fixe Gelegenheit, einen Stuhl zu ergattern. Somit blieb mir aber auch nichts anderes übrig, als mich neben dieses unreelle Frauenzimmer zu setzen. Ich stellte die Flasche Rotwein auf den Tisch und schenkte mir ein Glas ein. Gleichzeitig stieß ein spitzer Ellenbogen an meinen rechten Oberarm. Ganz und gar auf das Einschenken konzentriert, zuckte ich zusammen und sagte wütend:

„Aua, spinnst du?“

„Guten Abend! Ach, Miss Dehnhardt, tut mir leid – ääh … äähm, ich wollte dich nicht so hart mit einem Armpiekser begrüßen.“ – Notgedrungen erwiderte ich den Gruß und nahm erst mal einen Hieb von meinem Schoppen.

„Und, schmeckt’s? Alles klar, meine Polly?!“, gellte es zwei Stühle weiter. Celly hatte sich wieder zur Gruppe gesellt, sie wurde auch Hippie genannt, wegen ihrer Haare, die bis zum Ellenbogen reichten und der kleinen Brille auf der Nase. Celly war ein Jahr jünger als ich und drückte einst mit meiner Schwester Nanny während der zehn Pflichtjahre die Schulbank. Irgendwie verstanden wir uns beide sehr gut und freundeten uns schon vor Jahren an. Celly arbeitete als Sekretärin in einer kleinen Malerfirma.

„Na, was denkst du denn, hier fehlt’s doch an nichts!“, erwiderte ich ihr zuprostend. Im gleichen Atemzug bekam ich den zweiten Armpiekser von „Beautiful-Menna“, und ich fürchtete, dass sie mir ein gehaltloses Gespräch aufdrängeln wollte.

„Rauchst du eine mit mir?“, so fing sie üblicherweise an, um dem Anfang einen Anfang zu verleihen.

„Na klar, gib mir mal eine von deinen. Danke!“

„Wie geht’s so? Schon ’ne neue große Liebe gefunden?“

„Wie immer. Alles bestens und das Singleleben genieße ich erst einmal in vollen Zügen.“ – Im gleichen Augenblick tippte mich Nanny auf die Schulter, ich war ihr gerade sehr dankbar für ihr Erscheinen, und murmelte:

„Nu, Frau Wischdisch oudorr ooch Frau Middlbungd. Wie viel Weinschn hassde denne schohn?“ Ich erwiderte keck grinsend: „Meine Nanny, bist du heute ein bisschen verkrampft? Dann mach doch einfach ein paar tänzerische Lockerungsübungen auf Henners gebastelter Tanzfläche. – Prost, Kleene!“

Ich bin sehr stolz auf mein Schwesterherz, doch solche lieb gemeinten Neckereien kann ich mir selten verkneifen, doch sie nimmt’s mir nicht übel, sie kennt mich ja.

„Eh, Nanny, warte mal! Warst du schon wieder beim Friseur? Irgendwann fallen dir mal deine Haare aus, bei deinen ständigen Farbwechseln, und jetzt auch noch drei verschiedene: schwarz-rot-gelb. Stehst du heute hier irgendwo im Tor? Hab ich was verpasst?“

Sie drehte sich kopfschüttelnd um und ging, mein Lachen war nicht zu stoppen. Da schoss Mennas lockeres Mundwerk neben mir los, mit einer Bemerkung, die ich auf Feierlichkeiten schon öfter mal gehört hatte:

„Ja, ja, unsere Schauspielerin ist heute wieder mal ‚in business‘. Warum bewirbst du dich nicht einfach irgendwo, um es völlig auszuleben?“, fragte sie spitz. Ich schmunzelte und schaute in den sternenklaren Himmel. – Wenn du wüsstest …

Auf Empfehlung eines flüchtigen Bekannten hatte ich mich schon vor längerer Zeit bei der UFA in Potsdam Babelsberg zum Casting vorgestellt. Ich war sehr naiv und unbedarft an diese Sache herangetreten und das Vorsprechen ging tüchtig in die Hose. Das wollte ich aber nicht der Plaudertasche Menna auf die Nase binden. –

Die Party wurde dann noch recht lustig und ging bis spät in die Nacht. Celly und ich „schwankten“ gemeinsam nach Hause und am nächsten Morgen erwachte ich mit reichlich Restalkohol und dröhnendem Kopf. Alles in mir schrie regelrecht nach Vitaminen, Waldluft und vor allem Ruhe! Das war nach solch einer Abend-Nacht-Tour ein selbstverständliches Bedürfnis für mich. Doch musste ich heute den Waldspaziergang aufgrund meines zittrigen Zustandes ausfallen lassen. Bevor ich mich aber ungestört auf meinem gemütlichen Sofa ausbreitete, mixte ich mir einen Saft aus verschiedenen Früchten und holte mir eine mollige Decke aus dem Schlafzimmer. Dann stellte ich das Festnetztelefon auf stumm und schaltete mein Handy aus. So nach und nach gingen mir die Gespräche und die verschiedenen Personen des Vorabends durch den unausgenüchterten Kopf: mein Schwesterherz Nanny, mit ihrer manchmal zickigen, aber auch witzigen Art; die mitleidsbedürftige Menna; die anderen Gäste in ihren eigenen Persönlichkeiten auf ihren jeweiligen Niveaus, die ihr Leid und Glück miteinander ausgetauscht hatten. – Dann blieben meine Gedanken hängen … Menna hatte mich wieder an mein Schauspieltalent erinnert. Mich diesem Thema noch einmal zu widmen war vielleicht gar nicht so dumm. Trotz Niederlage bei der UFA. Ich könnte ja diesmal intensiver arbeiten, würde mir ein neues Ziel für die fernere und nähere Zukunft setzen. Andererseits dachte ich aber auch: schon wieder die Künstlerbranche. Wo ich doch sieben Jahre mein Brot im Modelbusiness verdient hatte und irgendwann die Nase voll hatte von dem ständigen Rumkutschieren, dem Perfektaussehen-müssen, den wichtigtuenden Schmarotzern und halbgewalkten Business-Typen, die mit Sex und Drogen ihren Newcomern die oberste Sprosse der Leiter versprachen, um ihnen dann sagen zu können: ‚Jetzt bist du ein Star!‘ – Ich stiefelte damals mit kaum dreiundzwanzig Jahren über den Laufsteg und war ganz schön naiv. Viele graue Erfahrungen sammelte ich über die Jahre, doch die Einsicht kam erst sehr spät, aber seitdem mache ich diesen Job nur noch hin und wieder aus Lust und Laune, vielleicht mal am Wochenende, um ein paar Mäuse nebenher zu verdienen.

In erster Linie arbeite ich heute freiberuflich, lehre Englisch in kleineren und größeren Firmen und gebe Privatunterricht. Dass ich mich in diesem Geschäftsfeld selbständig machen konnte, verdanke ich einer Frau, mit der ich vor Zeiten eine knapp dreijährige Beziehung führte, die allerdings in einem grässlichen Desaster endete.

Ich weiß noch ganz genau, wie es angefangen hat.

An einem kalten Dezemberabend traf ich eine alte Bekannte wieder, Renata, ungefähr in meinem Alter, mit der ich dereinst im Reitklub trainiert hatte. Zur Feier des Tages gingen wir in ein italienisches Restaurant und plauderten über unsere elfjährige Reitzeit.

Natürlich haben wir uns über den Pferdetritt unterhalten, den ich mit zwölf Jahren abbekommem hatte. Damals trat ein Schimmel-Wallach nach mir und ich hatte seinen Hufabdruck in meinem aufgequollenen Gesicht. Daraufhin durfte ich drei Wochen nicht zum Training und lag fünf Tage mit Gehirnerschütterung im Bett. – Über diese Geschichte amüsierten wir uns köstlich und wärmten auch noch andere Kamellen auf.

Dann erzählte Renata mir von ihrer großen Liebe. Da konnte ich nicht viel mitreden, ich war gerade Single. Außerdem war ihre Liebe eine Frau. Gespannt hörte ich zu, es klang nicht uninteressant.

Nach dem Essen fragte sie mich, ob ich noch Lust hätte, mit ihr in eine Lesben-Diskothek zu kommen. Da ich sowieso nichts anderes vorhatte und auch schon ein wenig angeheitert war, nahm ich ihre Einladung gerne an. Als wir eintrafen war der Laden schon ziemlich voll und Songs aus den Achtzigern wurden gespielt. Es war seltsam und ungewohnt für mich, so viele Frauen auf einmal zu sehen, aber es waren alles wunderschöne Wesen. – Ich bestellte mir ein Bier und stellte mich etwas abseits. Plötzlich wurde ich von einer Frau, die vollständig schwarz gekleidet war, angesprochen:

„Guten Abend! Ich bin Elena.“

Vor lauter Schreck sagte ich erstmal gar nichts. Dann kam stammelnd die Antwort über meine bebenden Lippen:

„Po… Po… Polly.“

Aufgrund der Lautstärke kam es nicht zu einem intensiven Gespräch, ihre Worte drangen nur abgehackt und undeutlich an mein Ohr. Sie schob mir einen von der Zigarettenschachtel abgerissenen Pappfetzen mit ihrer Handynummer rüber und ich verabschiedete mich hastig. – Es dauerte zwei Tage, dann rief ich sie endlich an. Sie meldete sich mit Vor- und Zunamen.

„Elena Fahrig!“

Sie klang sehr neugierig und wirkte dominant. Wir verabredeten uns für den Nachmittag in einer kleinen Szene-Kneipe in der Stadt. Ich konnte mich kaum noch an ihr Aussehen erinnern, und sie sich wahrscheinlich auch nicht an meins. Sieben Minuten zu früh nahm ich an der leeren Bar Platz und bestellte mir eine Tasse Kräutertee. Den Blick suchend auf die Tür gerichtet stand eine Frau mit schulterlangem dunklem Haar, in schwarzem Blazer und Jeans, mit einem Hauch slawischer Herkunft, im Raum. Das könnte sie sein. Mit einem Handwink gab ich ihr ein Zeichen. Sie kam auf mich zu.

„Du bist Polly!“ Ich nickte.

„Hallo.“ Es war eine völlig neue Situation für mich, sie war eine „richtige“ lesbische Frau und nicht bisexuell, wie ich. Nach mehreren Enttäuschungen mit Männern, sollte ich es vielleicht mal mit dem anderen Geschlechts versuchen … Der Lesben-Spruch: Wahre Liebe gibt es nur unter Frauen!, hatte durchaus seinen Reiz. Ob es wirklich das Wahre war, musste ich erst noch herausfinden.

Wir sprachen zunächst über Geschäftliches und ich berichtete über meine berufliche Situation. Dann erzählte sie, dass sie Englischunterricht für Erwachsene gab und noch Schüler für das bevorstehende einjährige Crash-Seminar suchte. Das passte ja bestens, meine Englisch-Kenntnisse mussten unbedingt aufgefrischt werden. Sie sagte:

„Der Kurs führt zum Abschluss ‚Europa-Sekretärin‘.“

Das klang nicht schlecht. Ich fand, sie war eine tolle Frau! Und es schien ein tolles Seminar zu sein, das auch noch von ihr geleitet wurde! Was sollte da noch schief gehen? Sie schrieb mir die Adresse der Akademie auf, bei der ich mich schriftlich bewerben sollte, was ich auch gleich am nächsten Morgen in Angriff nahm. Vier Tagen später rief mich Elena an, um nachzufragen, wie es mir ginge und ob sich Frau Witlov von der Akademie schon gemeldet habe.

„Ja“, verkündete ich mit Stolz und dankte ihr herzlich für diese Empfehlung.

Von da an sahen wir uns regelmäßig, sie gab mir zusätzlich Privatunterricht bei sich zu Hause. Emotional kamen wir uns immer näher. Schließlich zog ich zu ihr und vermietete meine Leipziger Wohnung erst einmal für ein halbes Jahr. – Als meine Familie davon erfuhr, drehte sie fast durch und verstand die Welt nicht mehr.

„Du und eine Frau – das ist ja eine lesbische Beziehung – und deine Tochter? Sie ist doch erst acht, soll sie dort aufwachsen? Bist du verrückt?“, predigte mir meine Mama. Damals war mir das ziemlich egal, ich glaubte an eine neue glückliche Partnerschaft.

Doch es kam alles ganz anders. Nach sechs Monaten schon fing Elena an, mir heftige Eifersuchtsszenen zu machen. Überwiegend betraf es meinen Job als Model, den ich weiter nebenher ausübte. Hier hatte ich es natürlich immer mit sehr schönen Frauen zu tun, gab ihr jedoch nie einen Anlass, misstrauisch zu sein. Vergeblich, die Treffen mit meinen Freundinnen Susan und Marlene musste ich einschränken und wenn ich zu meiner Familie fuhr, glaubte sie ständig, ich ginge fremd. Ich fühlte mich eingeengt und kontrolliert von ihr. Trotzdem bauten wir weiter das gemeinsame Geschäft auf und da ich erstmal noch nicht fit genug war, fiel mir nur die Rolle der Untergebenen, der „Untertanin“ zu. Und dann führten wir noch zwei weitere mühevolle chaotische Beziehungsjahre.

Jetzt trank Elena täglich eine Flasche Rotwein, manchmal auch zwei, womit sie sich nicht mehr unter Kontrolle hatte und aggressiv wurde. Ohne Grund schrie sie mich dann an und meinte, ich solle verschwinden. Egal zu welcher Tageszeit, auch nachts setzte sie mich skrupellos vor die Tür und da ich meine Wohnung untervermietet hatte, blieb mir nur meine geliebte Schwester, bei der ich jederzeit in meinem niedergeschlagenen Zustand Unterschlupf finden konnte. Elena wurde so bösartig, dass sie mich mitunter brutal gegen die Wand drückte oder mir ins Gesicht schlug.

Ich nährte noch immer die Hoffnung, sie würde sich wieder fangen und normal werden. Ein fataler Irrtum! Als ich dem von ihr ausgeübten Druck nicht mehr standhielt, beendete ich unsere Beziehung, kündigte die Wohnung in Leipzig und zog mit meiner Tochter in eine kleine Dachgeschosswohnung in meiner Heimatstadt Markburg. Ich absolvierte die noch ausstehende staatliche Prüfung mit letzter Kraft und schaffte auch meinen Abschluss. –

Elena gab jedoch keine Ruhe. Sie wollte mich zurückhaben und schrieb mir ellenlange Briefe, sie klingelte mich laufend an und flehte um Entschuldigung. Sie nervte so lange, bis ich schließlich nachgab. Eines Abends gegen zwanzig Uhr ließ ich sie zu mir in die Wohnung. Heulend brach sie in der Küche zusammen. Sie verstand einfach nicht, was sie mir angetan hatte und wollte unbedingt noch mal bei mir übernachten. Mir war zwar sehr mulmig zumute, aber dann empfand ich doch plötzlich wieder Mitleid für sie. Mein Verstand sagte nein, aber mein Herz ja. Also willigte ich ein und sie freute sich wie ein kleines Mädchen. An diesem Abend stellte ich bei ihr keinen Alkoholgenuss fest, vielleicht weil ich sie nicht küsste. Meine Tochter Liz schlief schon und wir lagen wortlos auf dem Sofa. Als ich die Decke aufschüttelte, nahm ich doch einen schwachen Alkoholhauch wahr. In meinem Inneren machte sich ein widerwilliges erbärmliches Gefühl breit und ein dicker Kloß wuchs in meinem Hals. Ich schielte zu Elena rüber und sah diesen beängstigend starren Blick in ihren Augen, mit dem ich im Streit häufig konfrontiert worden war. Mit einem entsetzlich lauten Kreischen rief sie:

„Ich will alle meine Unterlagen zurück!“ Was für Unterlagen?, dachte ich mir und bemühte mich um Ruhe. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie vom Sofa und stürzte zu meinem Regal, riss wahllos Ordner heraus und fing an, darin herumzuwühlen.

„Lass das, lass das! Warum tust du das? Das ist nicht deine! Wonach suchst du denn?“, fragte ich, noch immer zurückhaltend. Jetzt zeigte sie wieder ihre Boshaftigkeit, diese kalte Aggressivität, das Intrigenspiel. – Es begann nun für mich der blanke Psychoterror. Sie wurde tätlich, presste ihre Hand an meiner Kehle, drückte mich gegen die Fensterscheibe, stieß mich die rau verputzte Wand entlang. Dann warf sie meine Grünpflanzen um, schmiss sie durch das Wohnzimmer und rastete völlig aus. Sie schrie herum, schlug wild um sich, prügelte auf die Möbel ein und benahm sich äußerst hysterisch.

Meine Tochter Liz erwachte völlig verängstigt und verwirrt von diesem grässlichen Lärm und rief heimlich die Polizei an. Dann kam sie ins Wohnzimmer, wo ich sie schließlich weinend im Türrahmen stehen sah. Ich lief rasch zu ihr, nahm sie fest in die Arme und versuchte sie zu beruhigen. Dabei gestand sie mir flüsternd den Notruf. Unglaublich! Diese kleine Maus, hatte rasch und richtig reagiert. Dass dieser Blitzgedanke ihr in dem Moment durch den Kopf geschossen war, war einfach großartig!

Dann entdeckte uns Elena, wie wir uns ängstlich aneinander klammerten. Sie stutzte kurz und tat ganz unvermittelt so, als sei nichts geschehen, mit hoch gezogener Augenbraue warf sie Liz ein aufgesetztes liebliches Lächeln zu. Nun pfiff sie leise vor sich hin, setzte sich seelenruhig auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Da wir einen erneuten Ausbruch fürchteten, wenn sie mitbekam, dass die Polizei alarmiert war, liefen wir rasch ins Kinderzimmer und schlossen uns ein bis es klingelte. – Die Beamten brauchten zwanzig Minuten, um den Sachverhalt zu klären und Elena aus der Wohnung zu verweisen. Meine letzten Worte an sie waren:

„Es hat sich erledigt, Elena. Melde dich nie wieder bei mir!“ Sie hielt sich daran und ich konnte endlich wieder Ruhe finden und mich auf mein weiteres Leben konzentrieren.

Trotz der schönen und intensiven Zeit, die wir anfänglich miteinander erlebt hatten, endete diese Beziehung letztlich in einem Fiasko, wurde zum Höllentrip, den ich nicht wieder vergessen werde. Doch habe ich auch etwas mitgenommen, eine Erkenntnis gewonnen: Ich hatte es geschafft loszulassen – trotz der außergewöhnlich starken und tiefen Gefühle für diesen Menschen, die mich immer wieder einholten.

*

Am nächsten Abend rief mich mein geliebtes Schwesterchen an und erkundigte sich nach meinem Zustand, da wir beide die letzten Gäste bei Henners Feier gewesen waren.

„Hassde widdorr ä glahrn Gobb oudorr bissde noch grang?“

„Bin wieder fit, Süße. Hab gestern den ganzen Tag gelegen und mich mit Vitaminsäften und diversen Fruchtsorten vollgestopft. Und heute Morgen war ich sogar schon geschäftlich unterwegs.“

„Duh, hähre mah, is soll ab näschsde Woche widdorr scheehnes Weddorr gähm, wollmorr uns dah nohch zwee dolle Wochng an dorr Seeh machng?“

„Hey, klasse Idee! Hab sowieso im Moment wenig Kurse und unsere Kinder haben noch Ferien. Passt doch.“

„Aborr wieh siehds’n middm Buhchn aus?“

„Du weißt doch, bei einem spontanen Entschluss gibt es auch noch spontane freie Plätze und außerdem kennen wir die Crew vom Campingplatz – ein Anruf sollte genügen! Lass mich mal machen, Schwesterlein.“

Da ich die Nummer nicht hatte, rief ich zunächst bei Celly an und lud sie gleich mit ein. Dann sprach ich mit Karl. Der klang gestresst und blieb kurz angebunden. Er fragte hastig nach der Anzahl der Zelte, der Personen und dem Zeitraum.

„Ähm … also … Wir sind sechs Leute, drei Erwachsene, drei Kinder, zwölf und vierzehn, vom dreizehnten bis sechsundzwanzigsten August. Ach, und wenn’s geht, bitte in der Nähe unserer Chemnitzer Freunde, die stehen im Z-Bereich. Mit ihnen habe ich schon telefoniert. Sie können kaum erwarten, uns zu sehen.“

„Okay, gebongt! Ich werde für euch reservieren. Klingelt mich kurz vorher auf dem Handy an.“

„Tausend Dank, Karl!“, sagte ich entspannt.

Nun gab ich Nanny und Celly grünes Licht. Die Chemnitzer – die sechzehnjährige Sara mit ihrem Papa Steve – informierte ich über unser baldiges Eintreffen. Oma und Mama waren ein wenig traurig, uns solange nicht zu sehen.

Nachdem wir uns neun Tage bei bombastischem Wetter erholt hatten, regnete es anschließend drei Tage ununterbrochen und alle versuchten sich die Zeit so gut als möglich zu vertreiben. Liz und Sara vergnügten sich im

Auto und hörten volle Kanne Hardrock. Die Jungs beschäftigten sich mit verschiedenen Gesellschaftsspielen und schrien sich abwechselnd an, wenn einer versuchte den anderen zu beschummeln. Hippie Celly lag wahrscheinlich mit ihrem „Fürsten Karl“ im überdachten Boot am Strand. Nanny wuselte im Zelt herum und beschäftigte sich, wie auch sonst, mit alltäglichen Aufräumarbeiten. Am liebsten sortierte sie ihre Klamotten, damit sie bloß nicht knitterten oder sich heimlich Schmutzflecke eingeschlichen. War das der Fall, musste sofort gewaschen werden. Das ging mir manchmal heftig auf die Nerven und ich konnte mir spöttische Bemerkungen kaum verkneifen.

„Du mit deinem Putzfimmel!“ Sie kochte innerlich und entgegnete impulsiv:

„Basse libborr off disch off un gugge nach deim Zeische. Außorrdähm räschneds.“

„Sei doch nicht gleich so kritisch, mein Herzchen! Mach nur dein Wusel-Wusel.“

Ich überbrückte die Zeit mit einem trockenen Rotwein, dachte über die Schauspielersache nach und schrieb ein paar gesammelte Ideen nieder, die ich zu einem bestimmten Zeitpunkt umzusetzen beabsichtigte.

Wegen des Wetters brachen wir unseren Urlaub vorzeitig ab und fuhren wieder heim. Bevor der Alltag endgültig Einzug hielt, blieb noch ein ganzes Wochenende zum Genießen. – Am Samstag erhielt ich einen Anruf.

„Ciao Polly! Deine Freundin Marlene am Apparat. Wir haben ja lange nichts voneinander gehört. Wo treibst du dich denn rum?“

Typisch Marlene! Sie hatte wieder mal nicht zugehört!

„Hab dir doch gesagt, ich war zwei Wochen mit meiner Schwester, mit Celly und den Kiddis an der Ostsee.“

„Sorry! Wie sieht’s denn aus mit unserem Weiberabend? Wir sollten wieder mal richtig über alles labern. Hat sich eigentlich unsere Dritte im Bund gemeldet, Susan?“

Leicht spitz, dennoch belustigt gab ich zur Antwort:

„Ja, Susan wünschte uns einen schönen Urlaub und viel Spaß! Ich werde sie wegen des Treffens informieren. Mittwoch zwanzig Uhr im Café Luisa?“

„Klingt gut. Freue mich!“

Marlene, zweiunddreißig, schwarzes langes Haar, ein Gesicht wie Victoria Beckham, ideale Maße und einsachtundsiebzig groß, entsprach dem idealen Business-Typ. Sie studierte BWL – eine ziemlich trockene Angelegenheit! Ich lernte sie ’95 auf einem Model-Casting in München kennen. Gelegentlich jobbten wir gemeinsam.