image
Image

Isabella Rose

Berlin21

ein erotischer Krimi

Image

© 2017 Isabella Rose

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7439-8242-0
Hardcover:978-3-7439-8243-7
e-Book:978-3-7439-8244-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Samstag, 13.6.2015, Sterntaler See

Es geschah so, wie es der Sonntagabendkrimifan erwartet: Ein frühmorgendlicher Jogger entdeckte am Westufer des Sterntaler Sees, unweit des Gedenkkreuzes für einen der berühmtesten Könige der Weltgeschichte, die Leiche eines Mannes. Sacht schaukelnd im seichten Wasser, das Gesicht dem Seegrund zugewandt. Eine Entenfamilie zog an ihr vorbei.

Der Jogger, der sich auch beim Morgensport nie von seinem Telefon trennte, verständigte die Polizeiinspektion Sterntal. Es kam ein Ortspolizist. Er hielt die Personalien des Joggers fest, bat ihn, sich zur Verfügung zu halten, sperrte den Fundort ab und benachrichtigte seinerseits den Rechtsmediziner. Der wiederum stellte erstens den unwiderruflichen Tod des Mannes und zweitens als Todesursache gewalttätige Fremdeinwirkung fest. Ein Spurensicherungsteam wurde angefordert. Es erschienen mehrere Beamte, auch der Dienststellenleiter, der, kaum am Ort des Geschehens eingetroffen, natürlich sofort alle Informationen begehrte, die ein Rechtsmediziner nur im Zuge einer ordnungsgemäßen Obduktion gewinnen kann. Der verweigerte denn auch alle Auskünfte. Die Polizei wiederum ließ sich nicht abspeisen, woraufhin der Rechtsmediziner – das übliche Spiel – eine vorsichtige Schätzung wagte und als Todeszeitpunkt den späten Abend des vorhergehenden Tages angab. Die gewalttätige Fremdeinwirkung als solche konnte er indessen schon genauer benennen: Der Mann war mit einem spitzen, schweren, zweifellos metallischen Gegenstand, etwa einer Spitzhacke, erschlagen worden. Selbstmord ausgeschlossen. Aus der Wunde am Hinterkopf stachen Knochensplitter, dazwischen quoll blutige Hirnmasse. Der Mann war mit Sicherheit auf der Stelle tot gewesen. Und erst postmortal in den See geworfen worden.

Die Leiche wurde eingepackt und abtransportiert und bis zur weiteren Verwendung im Kühlraum der Rechtsmedizin zwischengelagert. Und die Kriminalbeamten verfassten ihren ersten Bericht.

Darin stand, dass der Tote kein Geld und keinerlei Papiere bei sich habe; nichts, das im gegenwärtigen Stadium eine Identifizierung ermögliche. Auffällig sei hingegen seine mit mehr als zwei Metern durchaus als extrem zu bezeichnende Körpergröße samt entsprechendem Volumen – der Standardsarg hatte sich als völlig unzureichend erwiesen, und man hatte eigens ein Modell für Übergrößen aus München kommen lassen müssen; die Polizisten fühlten sich, sonderbar berührt, an ihren verflossenen König erinnert. Und auffällig sei ferner eine sehr merkwürdige Fußbekleidung – merkwürdig umso mehr, als sie so gar nicht zu seinem sonstigen Outfit passen wollte. Zum dezent dunkelblauen, gewiss maßgeschneiderten Geschäftsanzug trug der Tote nämlich nicht etwa Lederschuhe, sondern eine halbwegs neue Erfindung der Sportbekleidungsindustrie: Zehenschuhe. Salamanderfarben: signalgelb und schwarz. Der Handschuh für den Fuß. Die dünne, biegsame Gummisohle war mit schwarzen Noppen gespickt. Der Polizeifotograf, womöglich ein Kenner, widmete sich den Füßen des Toten mit einer Ausführlichkeit, die später ins Protokoll der Kriminalpolizei Eingang fand.

Eine erste, eher unaufgeregte Recherche am Wochenende ergab, dass diese Schuhe, wenn man sie denn so nennen darf, seit einiger Zeit bei Wanderern beliebt sind, die sich als fortschrittlich verstehen und die Kombination von Barfußlaufen und Fußschutz für eine revolutionäre Errungenschaft halten. Möglicherweise ist die Konstruktion aber nur ein mehr oder minder fauler Kompromiss, der dem fußweichen Großstädter ein Massai-Feeling vermitteln will. Wie dem auch sei – zu Geschäftskleidung passt salamandereskes Schuhwerk keinesfalls, und aus diesem modischen Fehlgriff zogen die Ermittler den Schluss, dass die Schuhe nicht zum Opfer gehörten. Beziehungsweise zum Zeitpunkt seines Ablebens nicht von ihm getragen wurden. Sie nahmen dies als freundlichen Fingerzeig des Mörders und machten sich daran, die Herkunft der Zehenschuhe zu ermitteln.

In einem Sportgeschäft wurde mit entsprechendem Material getestet, wie leicht sich dieses Fußzeug an- und ausziehen lässt. Sehr leicht, stellten die Ermittler überrascht fest: Das dürfte auch bei Leichen mühelos gehen. Weitere Recherchen ergaben, dass es solche Schuhe in der näheren Umgebung ausschließlich in diesem Fachgeschäft gab und dass in den letzten Wochen nur ein einziges Paar in der fraglichen Größe und Farbkombination verkauft und mit Kreditkarte bezahlt worden war.

Unterdessen wurden die ansehnlichen Körpermaße des Toten bundesweit mit den neuesten Vermisstenmeldungen abgeglichen, und sehr rasch ließ sich ein schwerreicher Berliner Bauunternehmer namens Bernhard Voith mit dem Toten in Verbindung bringen. Interessanterweise vermissten ihn nur seine Mitarbeiter; die Ehefrau weilte zu Selbstfindungs- und Seidenmalzwecken in der Toskana und hatte das Verschwinden ihres Gatten noch gar nicht bemerkt. Anhand der DNA-Untersuchung eines Haars aus seinem Kamm, den die Polizei bei der nach Berlin zurückgekehrten, vorerst aber nicht weiter beunruhigten Gattin des Vermissten abholte, war der Tote alsbald identifiziert.

Die Kreditkartendaten des Sportgeschäfts wiederum führten zu einem jungen Mann aus Köln, der die Schuhe gut drei Wochen zuvor gekauft hatte. Dass die Schuhe Eigentum des Bauunternehmers seien, hatte man nach Rücksprache mit der Witwe, die angesichts der jüngsten Entwicklungen nun doch ein wenig aus der Fassung geriet, ausschließen können.

Der Verdächtige aus Köln hatte kein Alibi für die Tatzeit und konnte auch seine jüngst erworbenen Zehenschuhe nicht mehr vorweisen: Er sei vom Laufkomfort enttäuscht, sagte er, und habe sie noch während seines Urlaubs in Oberbayern entsorgt. Wo? Das könne er nicht mehr sagen. Der Ermittlungsrichter stimmte einer Untersuchungshaft zu, und die Polizei konnte sich bei der Pressekonferenz schon wenige Tage nach Auffinden der Leiche eines schnellen Erfolgs rühmen. Der mutmaßliche Mörder allerdings bestritt die Tat energisch.

Bei einem Haftprüfungstermin einige Tage später stellte sich dann heraus, dass der junge Mann nicht den leisesten Anflug eines Motivs hatte. Der Richter entließ ihn unter Auflagen und verwies den Fall – von den Medien mit einer gewissen Häme „Gelbfiaßlerfall“ genannt – an die nächsthöhere Polizeiinstanz. Er wurde neu aufgerollt. Somit hatte der Mörder mit seiner falschen Fährte die Ermittlungen um zwei Wochen verzögert und nicht nur der internetgeschädigten Boulevardpresse eine papierne Auflagensteigerung, sondern auch dem Sportfachhandel recht erfreuliche Zehenschuhumsätze beschert.

Mit der Wiederaufnahme der Ermittlungen wurde nun das Landeskriminalamt in München betraut, das in Gestalt der hochangesehenen, weil ungewöhnlich erfolgreichen Hauptkommissarin Gerda Schulze-Klemmbach auftrat.

Diese Frau Schulze-Klemmbach bewohnte aus Kostengründen eine Souterrainwohnung – wobei von günstigem Wohnen in München keine Rede sein kann; sagen wir so: Das Souterrain war für eine inzwischen alleinstehende höhere Staatsbeamtin erschwinglich. Dort gab es zwar wenig Tageslicht, weil die Fenster nicht mehr waren als ein paar bessere Lichtschächte mit Ausblick auf Autoreifen, Füße, Hunde und Tauben, aber sie befand sich in Zentralschwabing, und zumal im Sommer tobte vor den Lichtschächten das Leben. Die Frau Kommissarin bekam jedoch weder vom tobenden Leben noch vom mangelnden Licht sehr viel mit, denn sie arbeitete so fleißig, dass sie ihre Höhle meist nur zu nachtschlafender Stunde betrat und auch wieder verließ; und da ihr die längste Zeit ihres Lebens eine Heerschar unmündiger Kinder am Hals hing, war ihr die Sparsamkeit zur zweiten Natur geworden; niemals hätte sie sich beschwert oder gar nach Höherem gesehnt. Ebendieser Wohnung verdankte sie ihren Spitznamen: Nachdem sich bei der Einweihungsparty etliche Kollegen von den Wohnverhältnissen ihrer Starermittlerin mit eigenen Augen hatten überzeugen können, brachte ein Scherzbold den Namen in Umlauf, und der stieß allseits auf schmunzelnde Akzeptanz. Und blieb hängen. Im Kollegenkreis hieß die Kommissarin fortan „Erda“.

Erda hatte die fünfzig knapp hinter sich und hatte, wie erwähnt, allein mehrere Kinder großgezogen, über deren Vater oder Väter sie sich ausschwieg. Als erfahrene Kommissarin wusste sie natürlich, dass der ersten Spur nicht zu trauen ist, und sie ließ daher bei ihren Ermittlungen die gelben Schuhe weitgehend außer Acht.

Von den Ereignissen, die letztlich zum Ableben des Herrn Voith geführt hatten, ahnte sie noch nichts, obwohl sie, wie es der Zufall wollte, einen der Drahtzieher sogar persönlich, mehr noch: aus einstmals geteilter Nähe kannte. Erst hinterher, als sie den Zusammenhängen auf die Spur gekommen war, wunderte sie sich ausführlich über die verworrenen Wege des Lebens. Und des Verbrechens im Besonderen.

Der Weg, den Erda diesmal nachzuzeichnen gezwungen war, hatte einige Zeit zuvor mit dem Anruf eines hochrangigen Politikers aus Berlin begonnen. Der hatte eine Nummer gewählt, die in keinem öffentlichen Telefonbuch stand und unter Eingeweihten wie ein Schatz gehütet wurde. Sie führte ihn, den Berliner, zu einer exklusiven Personal- und Managementberatung am Sterntaler See.

Mittwoch, 17.4.2013, Sterntal

Ein wichtiger Schauplatz unserer Geschichte, an dem etliche Fäden des Szenarios zusammenliefen – Fäden, die kriminell, wenigstens aber verwerflich sind und von unseren Ordnungshütern und -innen unbedingt bekämpft werden müssen, teilweise aber leider derart tief in den normalen Alltag eingewoben sind, dass ihre Heraustrennung und Beseitigung das gesamte Gesellschaftsgebäude ins Wanken brächte –, befand sich in Oberbayern und nannte sich „Personal- und Managementberatung Sterntal“. Hier trafen sich nicht nur die Lokalgrößen, sondern dank der Mundpropaganda von Begeisterten verkehrte hier zunehmend die Creme des Berliner politischen Lebens. Und eine zentrale Figur der Geschichte, ein hochrangiger Politiker aus der Hauptstadt, hatte schon lange vor den hier zu berichtenden Ereignissen Wind von jener exklusiven Einrichtung am Sterntaler See bekommen und, wie es seinem Charakter entsprach, alle Hebel in Bewegung gesetzt, um der Telefonnummer habhaft zu werden, die in keinem öffentlichen Verzeichnis stand und unter Eingeweihten wie ein Schatz gehütet wurde. Und als er sie endlich hatte, gönnte er sich eine Pause in seinem ausgefüllten Arbeitstag, begab sich zu Fuß ans Spreeufer, wo er vor unerwünschten Lauschern sicher war, und rief an.

„Personal- und Managementberatung Sterntal“, meldete sich eine angenehm neutrale weibliche Stimme. „Andrea Schmidt am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“

„Tach! Welser hier! Aus Berlin! Verbinden Sie mich mit Ihrem Chef!“

„Gerne verbinde ich Sie mit meiner Chefin. Wen darf ich melden, ich habe Ihren Namen leider nicht ganz verstanden, Entschuldigung!“

Welser hier! Harald Welser! Aus Berlin! Mein Name dürften Ihnen nicht unbekannt sein!“

„Darf ich ausrichten, in welcher Angelegenheit?“

„Das werde ich nicht gerade Ihnen auf die Nase binden, gnädige Frau! Und wenn Sie mich jetzt bitte mit Ihrer Chefin verbinden …!“

Eine Stille trat ein. Eine wirklich vollkommene Lautlosigkeit, nicht zerstört durch Kleine Nachtmusiken oder Große Elektronikklänge. Welser vermerkte es mit Befriedigung.

Unterdessen stellte die Empfangsdame Andrea die Verbindung zu ihrer Chefin her. „Madame du Rhin, ich habe einen Herrn Welser in der Leitung, der Sie sprechen will. Prominent und wichtig.“

„Kann ich jeden kennen?“, fragte die Chefin mit gereiztem Unterton. „Welser? Wer soll das sein?“

„Harald Welser, sagt er, aus Berlin, und er klingt auch so. Zackpreußisch.“

Der Welser? Das ist ja interessant. Stellen Sie bitte durch.“

Madame du Rhin legte großen Wert auf die richtige Aussprache ihres Nachnamens. Zwar war sie seit Generationen durch und durch deutsch, doch hatte sich vor gut zwei Jahrhunderten ein napoleonischer Soldat in ihren Stammbaum eingeschlichen, und weil der frühe Fraternisierer ein gutkatholischer Mann gewesen war und seine bayrische Kriegsbraut geehelicht hatte, trugen seine Nachkommen fortan den Namen des deutsch-französischen Grenzflusses. Hausintern war die korrekte Aussprache natürlich gesichert, zumal Madame du Rhin grundsätzlich nur sehr kultivierte, somit auch mehrsprachige Mitarbeiterinnen einstellte. Nachdem sich aber auch die Kundschaft ausschließlich aus den höheren Gesellschaftsschichten rekrutierte, die von der galoppierenden Anglifizierung der deutschen Sprache noch nicht vollständig erfasst waren, wirkte der französische Name wie tänzelndes Treibgut in wilden Wassern und ragte lieblich und wohltuend aus der fast- und ganzenglischen Flut. Sofern er denn französisch ausgesprochen wurde.

„Grüß Gott, Herr Welser“, begrüßte sie ihn warm, wie einen alten Bekannten.

„Guten Tag! Welser mein Name! Harald Welser! Berlin! Sie dürften wissen, um wen es sich handelt! Ein Bekannter hat mich an Sie verwiesen und mir Ihre Nummer gegeben!“

„Darf ich fragen, wer Ihr Bekannter ist?“

Der Schwall stockte unerwartet, und da sich das Zögern über ganze zwei Sekunden hinzog, wähnte Madame, die auf zackpreußisches Tempo eingestellt war, bereits eine Störung in der Leitung und war im Begriff, nachzufragen. Indessen: „Ja, äh … der Holzi … wie heißt der jetzt …“ Herr Welser aus Berlin schien zu grübeln. Dann aber rief er, leicht ungehalten über die selbstverursachte Bresche in seiner Dynamik: „Der Name tut ja wohl nichts zur Sache! Ihr Etablissemang ist mir sehr empfohlen worden! Und da ich dienstlich des Öfteren in Ihrer malerischen Gegend zugange bin … ha! Also ein Bekannter von mir, sozusagen Kollege, hat mir alles über Sie und Ihren Laden dort unten im schönen Bayern erzählt und Sie mir wärmstens ans Herz gelegt!“

„Wie schön.“

„Ja! Und ich plane baldmöglichst einen Besuch bei Ihnen! Daher Termin, erstens! Und eine Frage, zweitens, zu Ihren, äh, Abrechnungsmodalitäten! Sie verstehen, dass ich in meiner Position peinlichst genau darauf achten muss, keiner Verschleuderung von Staatsgeldern bezichtigt zu werden, ha! Folglich müsste ich Ihre etwaigen Rechnungen, obwohl Ihr – sagen wir: Service – von staatserhaltender Relevanz sein dürfte, aus privater Tasche bezahlen! Und dies wiederum könnte gewisse, äh, innereheliche Turbulenzen verursachen, Sie verstehen! Wie man mir aber sagt, sind die Kosten, die bei Ihnen anfallen, völlig neutral deklariert und als Beratungsaufwand steuerlich absetzbar!“

„Herr Welser, darf ich Ihnen mit Nestroy antworten? ‚Die schönen Tage sind das Privileg der Reichen, aber die schönen Nächte sind das Monopol der Glücklichen.„ Unser Service, wie Sie sagen, ist umfassend auf allen nur denkbaren Ebenen. Und selbstverständlich sind unsere Rechnungen unverfänglich und halten jeder Prüfung durch Finanzbeamte und Ehefrauen stand. Im Besonderen hängt es natürlich auch von Ihrer Position ab. Sie sind im öffentlichen Dienst?“

„Jawohl, leitender Angestellter im öffentlichen Dienst! Und neugierig, wie Sie sind, werden Sie mich jetzt bestimmt noch nach meiner Besoldungsgruppe fragen, wie? B11!“

„So viel hätte gar nicht sein müssen, Herr Welser. Aber wir sind ja alle recht bewandert in der Alphanumerik der monetären Verschleierung auf Steuerzahlerkosten, nicht wahr? In Ihrer Position können Sie nicht nur jede unserer Rechnungen, die Sie privat zahlen, steuerlich vollständig absetzen. Die Kosten für ein persönliches Coaching sind sogar voll erstattungsfähig und können beim Arbeitgeber – Dienstherrn in Ihrem Fall – geltend gemacht werden.“

„Wie bitte?! Ich selbst zahle nichts?! Mein lieber Schwan.“ Letzteres in untypischer, geradezu andächtiger Zurückhaltung.

„Na ja, Herr Welser, das hängt natürlich auch von der Beschaffenheit und Intensität Ihrer Wünsche ab: Wenn sie den Rahmen des normalen Coachings übersteigen, fallen zusätzliche Kosten an. Auf jeden Fall erhalten Sie für unsere Dienstleistungen eine detaillierte Rechnung samt Mehrwertsteuer und allen gesetzlich vorgeschriebenen Angaben. Wie sich das gehört. Wenn Sie mir aber doch noch einen Hinweis auf Ihren Bekannten geben könnten? Wissen Sie, Mundpropaganda ist wichtig für uns, aber sie soll natürlich auch nicht ausufern – wir hätten schon gern eine gewisse Kontrolle …“

„Ich verrate Ihnen seinen Vornamen! Den Nachnamen habe ich sowieso nicht parat, leider! Holger-Zacharias heißt der arme Mann!“

„Ja, Herr Welser, dann weiß ich schon Bescheid. Er zählt ja zu unseren Stammgästen. Wollen wir also einen Termin für ein erstes Gespräch zum gegenseitigen Kennenlernen vereinbaren?“

„Wenn die Lufthansa nicht wieder streikt, bin ich nächsten Dienstag in München! Um einundzwanzig Uhr kann ich bei Ihnen sein, passt das?!“

„Das passt ausgezeichnet. Ich werde Sie persönlich in die Usancen unseres Hauses einführen.“

„Ich bitte darum!“

„Unsere Adresse haben Sie? Finden Sie her, oder brauchen Sie eine Wegbeschreibung?“

„Danke, ich kenne mich aus in Ihrem schönen Bayern!“

„Ja, Herr Welser, dann bis nächste Woche, wir freuen uns auf Ihren Besuch.“

„Ja! Wiederhören!“

Er hatte aufgelegt. Auch Madame du Rhin legte auf, befriedigt. Wieder ein Kunde nach ihrem Geschmack. Mächtig, vermögend und vollkommen ichbezogen. Sie kannte diese Sorte von politischen Amtsträgern. Sie predigen Familientugenden und schützen anfangs gewisse Hemmungen vor, sobald sie aber erkennen, dass ihnen nicht nur jeder noch so aberwitzige Wunsch erfüllt wird, sondern sie sich zudem die Kosten teilweise oder sogar ganz erstatten lassen können, fällt alle Scheinheiligkeit von ihnen ab, und sie erweisen sich als ebenso unersättliche wie profitable und vor allem treue Gäste.

Dienstag, 23.4.2013, Sterntal

Welser hatte seinen Fahrer zum Flughafen bestellt, wo er den Wagen von ihm zu übernehmen gedachte, und der Fahrer freute sich auf den halbfreien Tag samt Abend in der bayrischen Hauptstadt. Er konnte seinem Chef den Wunsch, eigenhändig zu chauffieren, sehr gut nachfühlen – er war ja selber so begeistert von dieser Luxuskarosse, dass ihm seine jüngst angetretene Stelle tatsächlich Spaß machte. Unangenehm war nur, dass die Soundanlage der Limousine im Wesentlichen Wagneropern zu bieten hatte, die er nicht ausstehen konnte. Diesmal blieben sie ihm erspart, sein Chef reiste ohne ihn, fliegend, und er fuhr den ganzen Weg von Berlin nach München allein. Steuergeldverschleuderung, gewiss, aber auch reinster Genuss – ohne das gehörvernichtende Getöse hysterischer Sopranistinnen betrachtete er diese vergleichsweise harmlose, quasi nebenbei begangene Sünde des Chefs mit Milde. So fuhr er ganz ohne Heldengesang und Göttergedonner fröhlich und flott übers Land, ließ sich von ZZ Top und Led Zeppelin beschallen und war pünktlich am Flughafen „Franz Josef Strauß“.

Dort nahm er seinen Chef in Empfang, kutschierte ihn in die Innenstadt, parkte illegal hinter dem Rathaus, wo Harald Welser vom Oberbürgermeister erwartet wurde, übergab Wagenschlüssel und Papiere und empfahl sich.

Welser brachte einen weitgehend öden Tag in Gesellschaft diverser Vertreter des Deutschen Städtetags zu, doch der Gedanke an den Abend hielt ihn aufrecht. Und als auch noch das – zugegeben: delikate – Büffet überstanden war, begab er sich beschwingten Schritts treppab zu seinem Wagen, entfernte die hinter den Scheibenwischer geklemmte Zahlungsaufforderung der Landeshauptstadt und fuhr los. Stadtauswärts, nach Süden.

Innerhalb einer guten halben Stunde – phänomenal, dieser Wagen! S-Klasse natürlich, schwarz, alle Schikanen – ließ er sich zu der Adresse navigieren, an der die Personal- und Managementberatung Sterntal, kurz PMS, ihren Sitz hatte. Zu seiner Verblüffung aber stand er, als sein Navigationsgerät behauptete, er sei am Ziel angelangt, weder vor einem Bürogebäude noch vor einer schicken Villa aus der Zeit der letzten Jahrhundertwende. Sondern vor dem bekannten Designmuseum. Dessen Tor hoch und verschlossen war. Dahinter war alles dunkel, wie nicht anders zu erwarten; Museen schließen früh. Welser war sicher, dass ihn sein Lotse in die Irre, sprich: bayrische Wildnis geschickt hatte, und in einem Anfall von Jähzorn zückte er sein Telefon, um seinen Anwalt zu kontaktieren. Nicht mit mir!, sagte er sich, wer bin ich denn! Aus eigener leidvoller Erfahrung und daraus entsprungenen früheren Aktionen seines vielbeschäftigten Rechtsbeistands wusste er, dass die Präzision der Kartierung vom Autoadel abhängt: Die oberen Ränge der kartografischen Hierarchie nehmen die Vorstände der Unternehmen ein, die serienmäßige Abnehmer der jeweiligen Navigationsgeräte sind, und daher sind Stuttgart, München, Wolfsburg und Ingolstadt die am präzisesten erfassten Orte in Deutschland. Hier unten in der bayrischen Provinz hingegen … Terra incognita, dachte Welser, hic sunt leones, und tippte, Zorn im Herzen, die Privatnummer seines Anwalts. Dann fiel ihm ein, dass im Landkreis der Millionäre zweifellos auch etliche Vorstände und Aufsichtsräte von Automobilherstellern siedeln und Navigationsfehler, wie sie bei Billigfabrikaten serienmäßig zu erwarten sind, hier nicht vorkommen dürften, löschte die Nummer wieder und wollte die PMS anrufen, doch im selben Moment öffnete sich ferngesteuert und lautlos das Tor. Wie gut, dass er nach dem ersten Telefonat noch einmal angerufen und sein Kennzeichen genannt hatte: B-W 1.

Das Gebäude, vor dem er anhielt und ausstieg, war eine Bauhaussymphonie – weißer Beton, helles Holz, weiß gekieste Zufahrt. Der Bau selbst rechtwinklig, ohne jede Verzierung, in seiner Nüchternheit überaus elegant; ein Eindruck, zu dem nicht zuletzt die vielen Glasflächen beitrugen. Welser bewunderte die Harmonie der übereinander geschachtelten Kuben. In den Proportionen ausgewogen wie ein Schweizer Wahlergebnis, dachte er. Das ist ja ein Schiff!, dachte er dann, als er ein paar Schritte gegangen war und das Gebäude von der Seite betrachtete. Den Bug bildete ein Steg, der hoch über dem See auf- und hinausragte. Majestätisch und überaus angemessen. Welser kehrte zum Wagen zurück und sah sich nach einem Parkplatz um, als eine junge Frau aus dem Haus kam. Sie trug eine Art Chauffeursuniform, schwarz, dazu eine entfernt militärisch wirkende Mütze, ebenfalls schwarz, aber mit umlaufender Goldkordel und Fliegerbrille, was Welser mit einem inneren Grinsen als Anzeichen dafür nahm, dass die Dame auch Cabriolets und Flugzeuge betreute: offene Doppeldecker vermutlich. Er würdigte ausgiebig ihre Erscheinung, die enge schwarze Uniform, die vorteilhaft ihr gesäßorientiertes Bewegungsmuster betonte, die hohen schwarzen Stiefel, und während er noch überlegte, welche Art von Dienstleistung die Dame neben der Fuhrparkbetreuung wohl erbringen mochte, stand sie schon vor ihm und begrüßte ihn: „Herr Ministerpräsident, Madame erwartet Sie bereits.“ Und fügte kokett hinzu: „Vertrauen Sie mir Ihren Wagen an?“

Nach kurzem Zögern reichte er ihr den Schlüssel. Was soll‟s, sagte er sich, Schäden sind sowieso gedeckt, die Kutsche gehört ja dem Land, und das hat Geld genug. Und würde bald noch mehr haben, wenn sein Plan aufging, den er auch in München kurz angerissen hatte, nämlich die ebenso raffinierte wie raffiniert verschleierte Neuberechnung des Bruttosozialprodukts seines und weiterer Bundesländer. (Kurz zusammengefasst: Weniger öffentlichkeitstaugliche Posten wie unsaubere Einnahmen aus Waffengeschäften, Prostitution, Drogenhandel etc. werden umdeklariert, nicht anders, als es zum Beispiel Gammelfleischund Dioxineierverkäufer tun, und fließen in ihrem neuen, vielmehr gereinigten Gewand in die Staatseinnahmen ein, wo sie dann der Umsetzung drängender Projekte wie Autobahnbau und Bezahlung von Expertenkommissionen dienen können.) Von seinen ebenfalls überwiegend klammen Amtskollegen hatte er parteiübergreifende Zustimmung erhalten. Damit stiege nämlich automatisch die Verschuldungsmöglichkeit im Haushaltsplan, was ein paar entscheidende Jahre mehr bis zum GAU ergäbe, und diese Zeit gedachte er in den Dienst seines Lieblingsprojekts sowie seines eigenen bescheidenen Vergnügens zu stellen. Um Nachruhm ging es ihm! Er wollte der Nachwelt Bleibendes hinterlassen! Eine möglichst umfangreiche Nachkommenschaft – wobei der Weg zu deren Erzeugung nicht einfach angenehmes Beiwerk war, sondern auch Zweck an sich! Deshalb war er heute hier! – und, noch wichtiger: Bauwerk! Ein grandioses Bauwerk, das für immer mit seinem Namen verbunden wäre. Dessen Glanz das pedestre Bewusstsein der Normalbürger himmelhoch überstrahlte! Alle Großen hatten gebaut, Nero, Ludwig Zwo, Zar Peter … Auch Hitler. Keine geistige Verwandtschaft mit dem Kerl, natürlich nicht. Aber: Der Verbrecher hatte im brandenburgischen Sand ein Fundament hinterlassen, das er, Welser, nun einer neuen Nutzung zuführen wollte.

Wie so oft riss es ihn hin, und er schwelgte in traumhaften Gedanken an sein neosakrales Bauwerk. Unterdessen folgte er der uniformierten Dame ins Gebäude. Und als er im Geist bei seiner Privatwohnung mit Garten und Pool auf dem Dach des Opernhauses angelangt war, von der sein Architekt erst im Nachhinein erfahren hatte, was nicht nur die statische, sondern auch die finanzielle Planung zusätzlich ins Wanken brachte, – da stand vor ihm die Dame, mit der er jenes einladende Telefonat geführt hatte, die Dame mit der überaus angenehmen Stimme und dem klingenden französischen Namen, Madame du Rhin. Ihre Erscheinung übertraf die telefonische Verheißung noch um einiges.

„Guten Abend, Herr Ministerpräsident“, sagte sie mit tiefem, rauchigem Timbre, das seine erotische Färbung keinem Nikotingenuss und der Natur nur partiell verdankte: Madame war nach dem Studium der Betriebswirtschaft ihrer wahren Neigung gefolgt und hatte sich an der Theaterakademie beworben. Wo man sie auch auf Anhieb angenommen hatte. Ihre Stimme war professionell gebildet. Ihr jetziges Betätigungsfeld allerdings behagte ihr mehr als jede Bühne.

„Guten Abend! Aber hören Sie, reden Sie mich doch mit meinem Namen an! Ich bin schließlich inkognito hier! … Darf ich fragen, welche Funktion Sie hier im Hause ausüben?“

„Selbstverständlich. Ich bin die Geschäftsführerin.“

„Und wer ist dann dieser Albert Schwarz, der im Handelsregister steht? Sie können sich denken, dass ich gern vorbereitet bin! Ich habe recherchieren lassen!“

„Herr Schwarz ist geschäftsführender Gesellschafter. Leider hält er sich in geschäftlichen Angelegenheiten derzeit in Indien auf. Aber wenn Sie öfter zu uns kommen, werden Sie ihn sicher noch kennenlernen“, versprach sie ihm und führte ihn durch die Eingangshalle. „Und machen Sie sich keine Sorgen“, sagte sie, „Ihr Inkognito ist bei mir in den allerbesten Händen. Viele Personen des öffentlichen Lebens sind unsere Kunden – Politiker jeden Ranges und jeder Parteizugehörigkeit, Industrielle, Kirchenmänner, Botschafter. Bei uns muss sich niemand verkleiden – Bärte ankleben oder Sonnenbrillen aufsetzen. Sie, Herr Welser, haben nun mal ein bekanntes Gesicht, unsere Damen werden Sie sicher aus den Medien kennen.“

Welser schnaubte nur; er war in die Betrachtung ihres Hüftschwungs vertieft und nicht ganz Ohr, trotz erotischen Timbres. Sie öffnete die Tür zu ihrem Büro und ging ihm voran.

Der Raum war kühl und stilsicher eingerichtet. An den Wänden hingen expressionistische Gemälde erotischen Inhalts aus dem Museumsbestand, die in der öffentlich zugänglichen Ausstellung keinen Platz mehr gefunden hatten oder aber dem Publikum vorenthalten werden mussten, weil die Provenienz der Bilder nicht lückenlos nachweisbar war. Oder anders: In der Provenienz klafften Lücken der Schande, die man nicht öffentlich zugab. Die Gäste der Personal- und Managementberatung stellten keine Fragen und waren ohnehin anderweitig in Anspruch genommen. Madame jedenfalls betrachtete sehr gern die Kunst an ihren Wänden, und wenn sie sich bürokratischen Notwendigkeiten widmete, residierte sie inmitten ihrer Gemälde an einem großen, mit weißem Leder nahtlos bespannten Schreibtisch. Weil der Tisch gut drei Meter lang und mindestens eineinhalb Meter tief war, wunderten sich Besucher bisweilen und fragten sich, aus welchem Tier sich derart große rechteckige Stücke herausschneiden lassen – aus weißen Elefanten? Walen? Welser aber, luxusgewöhnt, wie er war, wusste natürlich, dass sich Ziegenleder nach ausreichender Bewässerung fast beliebig dehnen und strecken lässt. Er war beeindruckt.

Madame erkundigte sich so zartfühlend wie zurückhaltend nach seinen Wünschen und Vorlieben, und als er sich zierte, sicherte sie ihm nicht nur volle Zufriedenheit, sondern auch vollständige Diskretion zu. „Nun“, sagte sie, „lassen wir das Thema vorläufig, Sie haben jederzeit Gelegenheit, uns zu sagen, auf welche Weise wir Sie glücklich machen können.“

Stattdessen erklärte sie ihm das interessante Geschäftsmodell: Tagsüber diene der Bau kulturbeflissenen Mitbürgern als Museum, nachts werde er anderweitig genutzt; in manchen Räumen fänden Tag- und Nachtaktivitäten statt, andere seien exklusiv der Personal- und Managementberatung vorbehalten, wieder andere allein Ausstellungszwecken. Die Doppelfunktion des Gebäudes, so Madame weiter, sei Gegenstand eines Mietverhältnisses zwischen dem Träger des Museums und dem Coaching-Institut. Dieses habe sich damit eine weltweit einmalige Location gesichert, was ein nicht zu überbietender Trumpf bei der Kundschaft sei, die schließlich die Spitzen der Gesellschaft repräsentiere. Die Einnahmen aus dem Mietverhältnis wiederum dienten der Querfinanzierung des Kulturbetriebs – eine Win-win-Situation, schloss Madame lächelnd, mit der alle Beteiligten mehr als zufrieden seien.

Welser war noch mehr beeindruckt. Und beschloss auch für sein künftiges Opernhaus sogleich eine Mehrfachnutzung. Kolossale Idee, dachte er, geradezu genial!

„Wollen wir uns die Räumlichkeiten ansehen?“, fragte sie.

„Sehr gern!“

Sie führte ihn in einen großen Saal, in dem Möbel berühmter Designer ausgestellt waren, speziell historische Sitzmöbel. Während er sich noch fragte, weshalb er sich für das fünfstellige Tageshonorar, das ihm die PMS berechnete, uninteressante und zweifellos unbequeme alte Sitzmöbel anschauen sollte, die er auch für zehn Euro zu den üblichen Museumsöffnungszeiten besichtigen konnte, wies ihn Madame auf eine mit Ponyfell bespannte Liege hin, die sich in geschwungene, blank verchromte Stahlrohrkufen auf einem schwarzen Untergestell schmiegte.

„Das ist die berühmte LC4. Kennen Sie sicher. Der Bauhaus-Klassiker. Symbol des modernen Möbeldesigns.“

„Ach!“

„LC steht offiziell natürlich für Le Corbusier. Bei uns für Love Chair.“

Welser war entzückt. Unglaublicher Einfall, diese Doppelnutzung eines öffentlichen Gebäudes, noch dazu bis in die Möblierung hinein! Bewundernswerte Folgerichtigkeit! Er stellte sich vor, was man mit den Requisiten der künftigen Inszenierungen auf seiner Bühne alles anfangen konnte. Ungeahnte Möglichkeiten! Es wurde ihm warm ums Herz.

„Stellen Sie es sich so vor“, sagte Madame. „Er liegt auf dem Rücken, sie reitet auf ihm. Dank ihrer besonderen Mechanik lässt sich die Liege stufenlos so verstellen, dass der lustoptimale Penetrationswinkel gefunden werden kann. Zumal man auf diese Weise auch einstellen kann, wie stark sie sich mit den Füßen auf dem Boden abstützt, das heißt, der Mann bestimmt, wie weit er sie an den Hüften hebt.“

„Aha! Sehr anregend!“, lobte Welser, der schon immer ein Freund der Technik gewesen war, auch und gerade in Liebesdingen.

„Dies hier ist ein Stück aus den Siebzigern.“ Madame deutete auf eine Hängekugel, unbunt, aus transparentem Acryl, die mittels Feder und Stahlseil an der Decke des Raums befestigt war.

Als sie das Sitzpolster herausnahm, zeigte sich im Boden der Kugel ein espressountertassengroßes Loch.

„Ein Klassiker des Möbeldesigns. 1968. Eero Aarnio!”

„Eros?“

„Nein!“ Madame lachte. „Eero Aarnio ist ein finnischer Designer. Unsere Gäste benutzen seine Erfindung gern folgendermaßen: Der Mann liegt bequem unter der Kugel, ohne Körperkontakt mit der Frau, die entspannt über ihm im Sessel sitzt. Er kann nun nämlich mithilfe der beiden Griffe hier an der Unterseite die Kugel gegen die Federkraft leicht auf und ab bewegen und – ganz besonders schön – samt Inhalt drehen. Dabei tordiert das Stahlseil, und wenn er nach ein paar Umdrehungen loslässt, dreht sich die Kugel von allein langsam zurück. Sie kennen diese Technik vielleicht auch als Chicken-in-the-basket? Das ‚Huhn im Korb„ empfinden wir allerdings als ziemlich frauenverachtend und nennen den Sessel deshalb so, wie ihn sein Erfinder genannt hat: Bubble Chair. ‚Weniger ist mehr„, sagte schon Mies van der Rohe. Ist das nicht ein Meisterwerk der Reduktion?“

„Sehr schön, in der Tat!“, sagte Welser, der im Geist bereits unter der Kugel lag. Dieses Museum hatte prachtvolle Schätze zu bieten. „Und das dort, was ist das? Dient wohl zu BDSM-Praktiken?“

„Nein“, sagte sie und lachte wieder ihr reizendes, aufreizendes Lachen. „Das ist der Red and Blue von Rietveld. Klassiker von 1917 – sieht vor allem gut aus, aber bequem ist anders. Zum trivialen Sitzen geht es. Wir haben alle möglichen Experimente gemacht, keines hat uns überzeugt. Außerdem ist der Stuhl lausig verarbeitet, bei Paarbenutzung, zumal mit Bewegung, würde er sofort zusammenbrechen. Man kann hier wirklich nur sitzen. Allein. Und natürlich zuschauen, gegebenenfalls. Übrigens handelt es sich bei diesem Objekt um ein seltenes Original, das in den zwanziger Jahren gebaut wurde.“

Sie ging ein paar Schritte weiter. „Aber schauen Sie, ist der nicht schön? Stuhl kann man das ja nicht nennen. Ein Sitzobjekt.“ Sie deutete auf ein futuristisches Gebilde aus schwarzem Metall, groß, geschwungen, von der Seite entfernt einer Maske ähnelnd, mit geringster Bodenauflage und daher, trotz seiner Materialschwere, geradezu ein Inbegriff der Bewegtheit.

„Ron Arad, ein Meisterwerk! Ganz neu, der Entwurf ist erst ein paar Jahre alt. Es gibt auch eine günstige Kunststoffversion, aber wir haben das Original aus Gusseisen. Ist ja auch viel stabiler. Er liegt, kann schaukeln und sie hockt auf ihm. Die zusätzliche Schaukelbewegung ist wunderbar, Sie werden sehen, Herr Welser. Unsere Gäste schwärmen, ausnahmslos!“

Welser lächelte versonnen. „Sagen Sie“, fragte er, „kann man hier eigentlich auch im Freien …? In warmen Sommernächten, mit so einem Objekt draußen auf dem Steg? Mit Blick übers Wasser? Die Sterne über einem, die fernen Lichter am anderen Ufer und ein Schaukeln zu zweit mit einer langhaarigen Schönheit …“

„Sie geraten ja allein beim Anblick ins Schwärmen, Herr Welser! Aber ja, selbstverständlich. Nachts gehört das ganze Gelände uns. Und das“, fuhr sie fort, als sie beim nächsten Stück angelangt waren, „ist der Christine-Keeler-Stuhl.“

„Kieler? Wie die Woche?“

„Welche Woche? Nein, Keeler, die Affäre Profumo, Sie wissen schon. Aber das hier ist nur ein museales Stück – eine historische Kuriosität sozusagen, das ist nämlich das Original aus dem Londoner Fotostudio … Und hier“, sagte sie, weitergehend, „das ist wirklich kurios! Ikea hat es ins Museum geschafft. Ein Traktorsitz auf einem Bein mit einem umgedrehten Pilz als Fuß. Hier sitzt er, sie nimmt auf seinem Schoß Platz, ihm zugewandt oder auch nicht. Dank dem Pilzfuß haben Sie völlige Freiheit, den optimalen Unterstützungswinkel zu finden. Wenn Sie‟s allerdings bequemer wollen, dann kommen wir jetzt zu den italienischen Designersofas und Wasserbetten. Die Freiheitsgrade sind hier naturgemäß

höher und vielfältiger, und Ihrer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Übrigens gehören die Liegemöbel zum größten Teil unserem Institut und sind nicht Teil der Ausstellung; wie Sie sehen, haben Sie hier, falls gewünscht, auch Ihre Privatsphäre.“

Madame hatte eine unauffällige Museumsschiebewand geöffnet und betrat einen langen Flur, von dem aus man in abgetrennte Zimmer gelangte. Die meisten Türen waren geschlossen, vor einer offenen Tür zu einem unbesetzten Raum blieb Madame stehen. „Für unsere ökologisch gesinnten Gäste“, sagte sie, „gibt es sogar das Wasserbett mit Solarheizung. Aber natürlich haben wir auch elektrisch temperierte Exemplare mit Flüssigkeiten unterschiedlichster Viskosität.“

„Das hier scheint mir ja auch sehr interessant“, sagte Welser und deutete auf ein von der Decke hängendes Gebilde aus Lederriemen, Karabinerhaken, Schnallen.

„Das ist unsere Liebesschaukel. Nennt sich Love Swing und ermöglicht eine hohe Anzahl lustvoller Kombinationen. Wir zählen übrigens eine bemerkenswert gelenkige Spezialistin zu unseren Mitarbeiterinnen, die Sie gerne einführen wird, denn ohne die praktische Unterweisung von Roswitha bleiben dem Neuling viele Möglichkeiten verschlossen. Sie werden sie sicher bald kennenlernen … Und hier, dieses kleine Sofa, das könnte Sie auch interessieren. Es ist so weich, dass es Sie förmlich aufsaugt, während die Dame Sie einsaugt. Es nennt sich, aus gutem Grund, Tactile. Stellen Sie sich vor, wie Sie hier einsinken und von allen Seiten umschlossen werden wie in Abrahams Schoß.“

„No ja“, sagte Welser zweifelnd. Kontrollverzicht war seine Sache nicht. „Das da kenne ich, das habe ich schon gesehen.“ Er deutete auf ein Objekt wie aus der Computersimulation eines Raumschiffs.

„Zaha Hadid. Große Architektin. Bekannt sind eigentlich vor allem ihre fantastisch weich anmutenden Kreationen aus Beton, Prinzip moderner Atlantikwall in Soft. Aber dieses ist ein Stuhl von ihr. Und zwar aus dem Drucker. Erstaunlich, nicht? Es ist mir gelungen, das Programm für uns zu sichern: Wir sind das erste Museum, das exklusiv ein Computerprogramm besitzt, mit dem es möglich ist, ein Möbelstück auszudrucken. Dieses Objekt ist neulich leider unter dem Liebesspiel eines Paares zusammengebrochen, denn natürlich hat Frau Hadid solche Nutzungsvarianten nicht vorgesehen, aber statt das Ding zu reparieren, konnten wir es einfach neu ausdrucken lassen. – Aber ich schlage vor“, fügte Madame hinzu, „dass wir unseren Rundgang an dieser Stelle beenden. Wenn‟s Ihnen recht ist, werde ich für unsere Damen Ihr Profil erstellen.“

„Wie bitte, Sie wollen ein Profil von mir erstellen?!“, protestierte Welser. „Ich pflege umgekehrt vorzugehen! Ich wähle aus.“

„Wissen Sie, unsere Mitarbeiterinnen erfahren hier die höchste Wertschätzung von allen Seiten. Sie erhalten für ihre Tätigkeit nicht nur ein sehr anständiges Gehalt mit Gewinnbeteiligung und Jahresbonus, sondern sind selbstverständlich auch frei von jeglichem Druck oder gar Zwang. Wir sind ein Haus für höchste Ansprüche, unsere Damen sind gebildet, belesen, mehrsprachig, fantasievoll, jede verfügt über eine besondere Spezialisierung und, ganz wichtig, geht ihrem Beruf mit Lust und Liebe nach. Folglich haben sie alle das Recht, sich ihre Partner selbst auszusuchen. Natürlich sähen wir es nicht gern, wenn sie von ihrem Vetorecht allzu oft Gebrauch machten, aber in der Praxis kommt es tatsächlich nicht häufig vor – schließlich sind unsere Gäste gutsituierte, erfolgreiche Herren wie Sie, die es im Leben zu viel gebracht haben; natürlich legen sie auch großen Wert auf ihre Erscheinung. Und natürlich nützt gegenseitige Sympathie allen Beteiligten, nicht zuletzt den ökonomischen Interessen unseres Hauses.“

„Ich werde doch wohl vorher erfahren dürfen, mit wem ich mich hier einlasse!“, sagte Welser missmutig. „Ich suche mir meine Frauen immer selbst aus.“

„Natürlich, Herr Welser. Selbstverständlich haben unsere Gäste dasselbe Einspruchsrecht wie unsere Mitarbeiterinnen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass derlei in den ganzen dreizehn Jahren unseres Bestehens kein einziges Mal vorgekommen ist. Das glauben Sie mir jetzt nicht“, sagte Madame lächelnd, „aber warten Sie, bis Sie unsere Damen kennengelernt haben. Sie werden bald eines Besseren belehrt sein. Bevor Sie aber, Herr Ministerpräsident, bei uns zum ersten Mal tätig werden, brauche ich einen Gesundheitsnachweis. Wir arbeiten mit einer Ärztin zusammen, die fast täglich hier im Haus ist und verschiedene Funktionen wahrnimmt, unter anderem führt sie gern die Untersuchung zum Einstand unserer Gäste durch. Aber wenn Sie lieber zu Ihrem Hausarzt …? Wie auch immer. Wenn Sie zu uns kommen, erhalten Sie selbstverständlich eine ordnungsgemäße Rechnung, die Sie bei Ihrer Krankenkasse einreichen können. Das Ergebnis der Untersuchung erfahren Sie binnen weniger Tage.“

Welsers Gesichtszüge sackten herab. „Das ist nicht Ihr Ernst?! Ich soll heute noch gar nicht zum Zug kommen?!“

„Es tut mir leid, Herr Welser, aber wir sind sehr auf unser Niveau bedacht und machen keine Ausnahmen. Wir können aber bereits heute einen oder mehrere Termine für Ihre nächsten Besuche vereinbaren. Kommen Sie noch mal mit mir in mein Büro, ich würde doch gern mehr über Ihre Neigungen und Wünsche wissen, damit wir uns darauf einstellen können. Wir müssen dann natürlich auch wissen, ob Sie unsere Räumlichkeiten exklusiv für einen Abend nutzen möchten, ob Sie ein eigenes Zimmer wünschen, oder ob Sie es vorziehen, sich in einem Saal zu betätigen, in dem zeitgleich andere Aktivitäten … Ach!“, unterbrach sie sich, „sehen Sie, da kann ich Sie doch gleich mit unserer Ärztin bekanntmachen. Dorothea!“, rief sie durch den Raum, wo durch die Tür am anderen Ende eine zierliche, dunkelhaarige Gestalt im wehenden weißen Ärztekittel eingetreten war und mit energischem Stiefelschritt auf die zweite Tür gegenüber zustrebte. Bei Madames Ruf hielt sie abrupt inne und blickte zu den beiden her. „Dorothea, haben Sie einen Moment Zeit? Ich möchte Ihnen einen neuen Gast vorstellen.“

Unvermindert energisch wechselte Dorothea die Richtung und strebte auf Madame du Rhin und Harald Welser zu, den bei ihrem Anblick freudiges Erschrecken durchschauerte. Eine Lolita, dachte er und fand, als sie vor ihm stand und zu ihm aufblickte, seinen ersten Eindruck vollkommen bestätigt. Sie war klein und mager wie eine Zwölfjährige, ihr Gesicht aber, zumal mit dem farbenfrohen Makeup, das sie trug, verriet eine durchaus erwach-

sene, gar nicht mehr junge Frau. Mit einer Miene, die kindlich und lasziv zugleich war, sah sie ihn an. Welser erspähte Stethoskop und nackte Haut unter ihrem halb geöffneten Kittel und lächelte.

Madame du Rhin hob zur gegenseitigen Vorstellung an, doch Dorothea kam ihr zuvor. „Ich weiß, wer Sie sind“, sagte sie, „Ministerpräsident Harald Welser, nicht wahr? Ich freue mich sehr, Sie zu unseren Gästen zählen zu dürfen. Wir werden uns bald näher kennenlernen, ja?“

„Sehr gern!“, antwortete Welser, auf einmal der Inbegriff des Charmeurs, mit einer angedeuteten Verbeugung, ergriff die ihm gereichte Hand und hob sie zu einem angedeuteten Kuss in die Nähe seiner Lippen.

„Es tut mir leid, ich werde erwartet“, sagte Dorothea und entzog ihm ihre Hand. „Aber bis sehr bald, hoffe ich?“

„Sehr gern!“, wiederholte Welser. „Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, mich von Ihnen untersuchen zu lassen!“ Er blickte der Enteilenden nach, die auch von hinten eine überaus prickelnde Erscheinung war. Phänomenal, dachte er, Kind und Domina, jung und – nun: nicht alt, aber doch auch nicht jung – in ein und demselben Körper. „Ist sie nur die Ärztin hier?“, fragte er Madame. „Oder auch Sexarbeiterin?“

„Sexarbeiterin!“ Madame war pikiert. „Herr Welser, Sie erfassen, scheint‟s, noch immer nicht, wo Sie sich hier befinden! Sex bekommen Sie natürlich, so viel Sie wollen, aber doch von sehr besonderer Art. Wir pflegen Kunst und Kultur auf allen Ebenen, wir verwöhnen Sie, wir erfüllen Ihre innigsten Wünsche, und wenn Sie vor und nach dem Akt das intelligente Gespräch suchen, finden Sie auch das. Jede unserer Damen ist etwas Besonderes, eine Perle im Ozean.“

Als sie den Saal verließen, wies Madame du Rhin mit einer schwungvollen Geste zu einer prunkvollen Freitreppe, die nach oben führte. „Das Dachgeschoss und den Dachgarten kann ich Ihnen heute nicht zeigen – der Gast hat das ganze Stockwerk exklusiv gebucht, Sie verstehen …“

„Sicher. Aber wie darf man sich diesen Dachgarten vorstellen? Blick über den See, über einem die Sterne, die fernen Lichter am anderen Ufer …?“

„Der See hat es Ihnen angetan, Herr Welser, wie?“, sagte Madame mit ihrem bezaubernden Lachen. „Es ist wunderschön, Sie werden sehen. Wir haben einen japanischen Architekten mit der Gestaltung einer sehr speziellen Zen-Landschaft beauftragt.

Neben dem eigentlichen japanischen Garten mit seiner wunderbaren Kombination von Ziergewächsen und Kiesflächen gibt es dort oben Nischen, Séparées eigentlich, untereinander uneinsehbar, aber jede mit Blick auf das Alpenpanorama. Und auf den nächtlichen See natürlich. Und in jedem Séparée steht ein Zuber aus Teakholz – aber Sie dürfen sich das nicht klein und eng vorstellen: Jeder Zuber hat die Größe einer Zweipersonenwanne –, eine Geisha bringt Ihnen heißes Wasser, entkleidet Sie, lässt Sie ins Wasser gleiten, massiert Sie mit Duftölen, teilt mit Ihnen das Bad …“

„Nein, nein“, fiel ihr Welser ins Wort, „keine Japanerinnen bitte! Flachbrüstige, knopfnasige, plattfüßige Wesen, aus denen Vogelgezwitscher quillt … Bitte seien Sie mir nicht böse, das klingt fürchterlich rassistisch, ich weiß, aber mit Japanerinnen kann ich nicht, ich kann nicht!“

Madame lachte herzlich. „Keine Sorge! Wir beschäftigen hier gar keine Asiatinnen. Aber wie ich Ihnen schon sagte – jede unserer Mitarbeiterinnen verfügt über eine Besonderheit, eine spezielle Fähigkeit, und in unserer Branche gehören dazu eben auch die fernöstlichen Liebestechniken. Sie werden Augen machen, das verspreche ich Ihnen.“

Harald Welser war herb enttäuscht, dass er an diesem Abend nicht mehr zum Durchbruch gelangen sollte, die Vorfreude aber, die Madame in ihm geweckt hatte, war eine beträchtliche.

Überhaupt diese Madame du Rhin! Was für eine bezaubernde Frau! Als Geschäftsführerin war sie zweifellos in anderen Bereichen tätig als ihre Mitarbeiterinnen. Aber war sie darum unempfänglich für die erotische Anziehung männlicher Macht? Als er ihr wieder zu ihrem Büro folgte, als er ihr schimmerndes schwarzes Haar betrachtete, das ihr in lockenden Wellen auf die Schultern fiel, als ihm ihr dezenter Parfumhauch in die Nase stieg, als er ihr seidiges Rascheln vernahm und nahe daran war, in taktiler Lust die Hand nach ihr auszustrecken, da war in ihm ein Entschluss gereift. Eines Tages, schwor er sich, gehört sie mir.

Welser, der große Welser, war betört.

Mittwoch, 24.4.2013, irgendwo in Indien