Impressum

Johan Nerholz

Nadja Kirchner und die gefährlichen Wesen der Halbwelt

Teil 2 der Nadja-Kirchner-Fantasy-Reihe

ISBN 978-3-95655-871-9 (Buch)

ISBN 978-3-95655-872-6 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Bildes von Luca Moos

2. und 3. Umschlagseite: Luca Moos

 

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Prolog

Eine kindliche Gestalt schwebte über einen trocken gelegten See. Es war ein Geist. Der See trug den Namen dieses kindlichen Geistes, der einst Griseldis, die Tochter der von Dudenheims war. Weiter entfernt lag das Dorf und der Geist der Griseldis erkannte den Jäger. Der alte Hoffmann konnte sie nicht sehen, denn sie schwebte zu weit oben. Das war gut so, denn die Lebenden durften nichts von ihrer Existenz erfahren.

Griseldis von Dudenheim war als kleines Mädchen von einem Mann ermordet worden, den im Dorf alle nur den Grafen nannten. Er hatte sich die Unsterblichkeit verschafft und war nun ein Gefangener, der im Auftrag des Geistes Korfylos von den Zyklopen bewacht wurde. Roberto, der Sohn des Grafen, lebte jetzt bei Verwandten. Der Mörder der Griseldis von Dudenheim war auch der Mörder von Nadjas Eltern. Sogar seine eigene Frau hatte er getötet. Nadja Kirchner wollte er auch umbringen. Alle glaubten, dass der Mann, der das Gut besaß, im letzten Jahr bei dem Brand des Gutshauses umkam. Man fand menschliche Überreste unter den Trümmern, die man ihm zuordnete und in aller Stille bestattete. Aber die Überreste waren nicht echt.

Nadja war der einzige Mensch, der wusste, dass der Graf noch lebte. Aber das konnte sie niemandem erzählen. Man würde an ihrem Geisteszustand zweifeln. An dem Geisteszustand des Mannes, der sah, wie der Graf von einem riesigen Geier abtransportiert wurde, zweifelte man bereits. Die Raben waren froh, dass dieser Mann nicht auch die Zyklopen gesehen hatte, die den Grafen reisefertig gemacht hatten.

Korfylos, ebenfalls ein Geist, der sich Raskara, der Anführerin der menschlichen Geister, nicht beugte, verfolgte lange seine eigenen Interessen. Raskara lebte in einem unterirdischen Bereich und lenkte von dort die Geschicke der Geister. Nur ihr Sekretär Bento half ihr dabei. Der Geist der Griseldis erinnerte sich nur ungern an Korfylos. Er hatte sie einst verflucht, als sie Prutorius, den Anführer seiner Dämonenhunde, entdämonisierte. Er war der wertvollste Hund seiner gefürchteten Meute. Aber nun wurde dieses Tier durch Aro ersetzt.

Der kleine Geist durfte erst in die Welten der Geister zu seiner toten Familie ziehen, nachdem Korfylos den Fluch von Griseldis genommen hatte. Seitdem wurde sie besonders von ihrem Bruder Rudolf umsorgt. Auch ihre Eltern kümmerten sich um sie. Besonders Frau von Dudenheim behandelte ihre Tochter wie ein kleines Kind. Darum nahm Griseldis sich immer wieder eine Auszeit und besuchte den trockenen See, wo sie einst ein Bleiberecht hatte. Dort herrschten die Raben um den Anführer Rontur und seine Frau Antarpha. Unterstützung fand Rontur bei einem alten weißen Raben, der die Einsamkeit bevorzugte. Kontakt mit der Senke hielt er über einen riesigen Geier, der Reikosch hieß.

Griseldis von Dudenheim hatte eben die Senke verlassen. Wie immer hatte sie dort viele wieder gesehen. Minra, die Tochter von Rontur, hatte ihr viel von Nadja Kirchner und ihren Großeltern erzählt. Ihnen hatte die Rabenfrau ihr Leben zu verdanken. Auch Minras Geschwister Leukos, Minur und Regia waren anwesend. Minras Gefährten Godok sah sie heute nicht. Er musste sich schonen. Jara, die Heilerin der Raben, hatte das angeordnet. Er und Taukius, der Kampfausbilder der Raben, hatten gemeinsam zu hart trainiert. Die Heilerin fand das kindisch, wie Minra berichtete. Auch Iri, die in der Senke lebende Wasserhexe, hatte sie gesehen, und ihren Mitbewohner Kajik, einen Däumling, der viel essen konnte, wenn man ihn nur ließ.

Dass dieser Däumling in der Senke geduldet wurde, war nicht selbstverständlich. Die Raben mochten Däumlinge nicht. Iri hatte es vor einiger Zeit geschafft, eine Invasion dieser Däumlinge zu verhindern und diese wieder fortgeschickt. Lediglich Kajik war zurückgekehrt und seitdem hier willkommen.

Nun war der Geist der Griseldis wieder auf dem Weg nach Hause. Dass Griseldis die Welten der Geister betreten durfte, hatte sie dem kleinen Persönchen Nadja Kirchner zu verdanken, die nun als Bannherrin der Senke mit für deren Schutz sorgte. Diese Aufgabe hatte sie von einer ihrer Großmütter übernommen. Der Bann verhinderte, dass jemand die Senke betrat, der dort nicht erwünscht war. Die anderen Großeltern hatten von alledem keine Ahnung.

Nadja Kirchner hatte es geschafft, dass der Fluch von dem Geist der Griseldis genommen wurde, nachdem Korfylos mit allen Wesen, die er befehligte, gegen die Senke zu Felde zog. Er war auch der Grund dafür gewesen, weswegen die Raben Nadja unter besonderen Schutz stellten, denn sie war die Tochter der Manuela. Die wurde mit ihrem Mann ebenfalls von dem Grafen getötet.

Nadjas Mutter war bis dahin die Bannherrin der Senke. Die Raben mussten erkennen, dass auch Nadjas Leben in Gefahr war. Darum beorderte Rontur den ehemaligen Dämonenhund Takesch zurück zu den Kirchners. Als Rontur feststellte, dass das nicht reichte, brachten die Raben dem Mädchen ihre Verteidigungskünste bei. Iri, Reikosch und Griseldis trugen ihren Teil dazu bei. Niemand ahnte, dass Nadja eines Tages wirklich kämpfen musste und das auch letztendlich so wollte, um sich und die Raben zu schützen, die gerade ihre Jungen in der Senke aufzogen.

Der kleine Geist dachte immer wieder daran zurück, denn auch Raskara war entgegen ihrer sonstigen Gepflogenheiten bei dem Kampf erschienen und hatte Korfylos beigebracht, dass er einem Irrtum unterlag. Das und das entschiedene Auftreten der kleinen Nadja sorgten dafür, dass Griseldis wieder frei war. Takeschs Gefährtin Dinara durfte auch zurückkehren. Sie hatte wie Takesch einst freiwillig ihren Dämon abgeschüttelt und wurde auch von Korfylos verflucht, weil sie sich ebenfalls mit Prutorius anlegte. So hatte das Mädchen den Raben wieder Frieden verschafft und Prutorius indirekt zu einer neuen Aufgabe verholfen.

Auf Nadja war aber durch das Auftauchen von Dinara etwas zugekommen, womit sie nicht gerechnet hatte. Takesch ging mit seiner Gefährtin fort, die mit Nadjas zu ihrem zurückkehren konnte. Dieser Abschied war für Nadja schlimm. Aber ihr ging es inzwischen besser.

Der kleine Geist schwebte nun tiefer. Wenige Momente und Griseldis war wieder in ihrer Welt. Niemand würde sie fragen, wo sie war. Das hatte man anfänglich getan, aber sie hatte sich das ihrer Familie gegenüber entschieden verbeten.

Der Tabubruch

Der angebrochene Morgen war kalt. Leichter Nebel hatte sich gebildet. Das Gras war feucht und überall roch es frisch. An diesem Junimorgen herrschte am Rande des Gebirgszuges eine ungewöhnliche Stille. Es schien so, als warteten alle auf etwas.

Zwei Personen standen bewegungslos in der Mitte der riesigen Grasfläche und starrten in eine Richtung.

„Die Ruhe ist unheimlich.“ Der Mann, der das sagte, war ein alter Haudegen. Er hatte einen kahl rasierten Schädel. Das Gesicht war starr und regungslos. Die Augen blickten kalt und grausam. Unter der kurzärmligen Kleidung sah man muskulöse Arme mit vielen Narben.

Die andere Person summte zustimmend. Sie sah in stoischer Gelassenheit nach vorn. „Die anderen sind bereit und warten auf deine Befehle!“

Der Haudegen sah sich um. „Etwas anderes habe ich nicht erwartet.“ Die Antwort war leise und heiser. „Wir müssen schnell sein. In kürzester Zeit sind sie sonst da.“ Der alte Haudegen sagte das mehr zu sich.

„Ich weiß!“ Der andere Mann reagierte mit größter Gelassenheit.

„Das ist mir klar!“

Der Narbige wendete sich nun dem anderen voll zu. „Machst du dir Sorgen?“

Prüfend wurde der Haudegen begutachtet. „Man weiß nie, was einen erwartet, wenn man in deren Welten ist. Gerade diese Raben haben einen siebten Sinn dafür entwickelt, wann es brenzlig wird. Deren Anführer ist mit allen Wassern gewaschen.“

Im Gesicht des Narbigen machte sich ein angeekelter Ausdruck breit. „Den siebten Sinn haben sie gelernt. Rontur ist klug und nicht umsonst ihr Anführer!“ Der andere Mann schien Verständnis zu haben. Aber der Narbige schien das nicht zu teilen. Er hatte jetzt einen hasserfüllten Gesichtsausdruck und sah zum Fürchten aus. „Die Raben waren mir immer unheimlich und beizukommen ist denen nicht. Sie sind schlimmer als die Pest, wenn sie erst da sind. Es gibt einfach zu viele davon.“ Der Narbige prüfte die Gegend vor sich, als wären sie schon da.

„Sie werden alt, sind dennoch sterblich und wollen überleben.“ In der Stimme des anderen Mannes war immer noch Gleichmut.

„Leider klappt das bei denen richtig gut. Wenn die erst hier sind, sind ihre Anhänger auch nicht weit. Dann wird es ungemütlich.“

Den anderen Mann schien das nicht sonderlich zu interessieren. „Damit werden wir fertig!“

„Trotzdem! Jeder von denen scheint sieben Leben zu haben.“

Der andere Mann hob die Arme an. „Sie wissen sich zu schützen.“

„Das kann man wohl sagen.“ Der Narbige schnaubte verächtlich.

„Es wird nicht einfach. Dennoch werden wir es wagen.“ Der Mann klang entschlossen.

„Hauptsache, sie merken nicht zu früh, was Sache ist!“ Der Narbige sah sich um.

„Das werden sie und dann zahlreich erscheinen. Bis dahin ist hoffentlich alles erledigt.“ Der Angesprochene wendete nun seinen Blick hinter sich.

Der Haudegen schien zu erraten, wonach sein Gesprächspartner suchte und in ihm kam Stolz hoch. „Du wirst keinen sehen. Sie haben sich bestens getarnt.“

„Das ist gut!“ Der andere Mann nickte bedächtig.

„Aber sie werden schnell sein.“ Ein weiteres Nicken war die Antwort. Dann ging der andere Mann nach vorn. Der alte Haudegen war mit etwas Abstand gefolgt. Nun richtete er erneut das Wort an den anderen. „Wir müssen das Gebiet zügig sichern.“

„Das dürfte kein Problem sein. Das Gebiet ist klein und unscheinbar.“ Die leise Stimme klang gelassen.

„Warum wir gerade dieses Gebiet einnehmen wollen, wirst du mir sicherlich nicht sagen.“ Der Narbige versuchte, in dem Gesicht seines Gesprächspartners zu forschen.

„Wenn alles erledigt ist.“ Dann tastete er nochmals das Gebiet vor sich mit Blicken ab.

„Wir brechen ein Tabu!“ Der Narbige sagte das mit Nachdruck.

„Das ist mir nicht neu!“

„Raskara als Anführerin der Geister wird sich das nicht gefallen lassen.“ Der Angesprochene wendete sich erneut dem anderen zu.

„Was will sie tun? Ehe sie sich mit dem Riesenraben Rontur und mit dessen Widersacher Korfylos verständigt hat, haben wir Tatsachen geschaffen.“

„Mit ihr ist nicht zu spaßen!“ Der Narbige sagte das mit Unbehagen.

„Sie hat keine Chance.“ Der andere Mann klang teilnahmslos. Er wendete wieder seinen Blick von dem Narbigen ab.

„Was ist mit Korfylos?“ Der Narbige schien es wissen zu wollen.

„Hat auch keine Chance!“

„Ich dachte, du vertraust ihm!“

„Ich traue keinem und Korfylos ist schwach geworden.“

„Korfylos und schwach!“, rief der Narbige ungläubig.

„Du hast richtig gehört!“

„Wie kommst du darauf?“

„Man erzählt, dass ihn vor einem Jahr beinahe ein Menschenkind besiegt hätte. Das war zu einem Zeitpunkt, als er auf sich allein gestellt war. Seitdem läuft er Gefahr, ein Spielball der Gegenseite zu werden. Wir werden ihn über kurz oder lang nicht mehr gebrauchen können!“

„Was hast du eben gesagt?“ Fassungslos sah der Narbenmann jetzt den anderen an.

„Ich denke, du hast mich verstanden!“

„Ein Kind? Ich dachte immer, Korfylos ist unbesiegbar.“

„Das ist er nicht. Wenn man sich gegen ihn verbündet, kommt er auch nicht weit. Die Raben haben ihm seine Grenzen aufgezeigt. Auch Raskara hat sich eingemischt. Sein Image hat jetzt Risse. Er ist geschwächt.“

„Ausgerechnet ein Kind? Niemand hat das bisher geschafft!“ Der Narbige schüttelte ungläubig den Kopf.

„Dieses Kind hat es geschafft, ihn zu demütigen. Dafür ist es aber nicht allein verantwortlich. Korfylos hat einen Riesenfehler gemacht.“

„Was gab es denn noch?“

„Er hat sich von einem Menschen, der sich die Unsterblichkeit verschaffte, manipulieren lassen.“

Der Haudegen sah noch erstaunter aus. „Korfylos als Manipuliermasse?“

Der andere Mann nickte. „Korfylos war sehr erbost. Aber er konnte den angerichteten Schaden nur noch begrenzen. Ungeschehen ließ er sich nicht mehr machen.“

„Woher weißt du das?“

„Es sollte ein Geheimnis bleiben. Das war aber so ungeheuerlich gewesen, dass doch irgendwer alles erzählte und so kam die Sache auch mir zu Ohren!“ Aus der Stimme des anderen Mannes konnte man einen leisen Triumph heraushören.

„Wer ist der unsterblich Gewordene?“

„Ein Mann aus einem kleinen Dorf im Nordosten von Deutschland, wo auch die Raben und Korfylos leben. Der unsterblich Gewordene hatte eine große Landwirtschaft in der Nähe der Senke betrieben und gab sich als Adliger aus.“

„Das hat keiner gemerkt?“

„Seine Tarnung war perfekt. Aber er wollte zu viel.“

„Und weiter?“

„Jetzt ist er ein Gefangener der Zyklopen und keiner weiß, wohin sie ihn verschleppt haben. Ihre Inseln sind nie entdeckt worden.“

„Bis er wieder da ist!“ Der andere Mann schüttelte den Kopf.

„Das wird nicht passieren!“

„Bist du dir da sicher?“

„Sicher kann man sich nie sein. Aber wen die Zyklopen in ihren Klauen haben, den geben sie nicht mehr her.“

„Wieso halten die Zyklopen einen Unsterblichen gefangen?“

„Dafür hat Korfylos gesorgt.“

„Woher weißt du das alles?“ Der Narbige sah den anderen Mann fragend an.

„Ich habe meine Quellen. Leider weiß man nichts von dem Kind. Ich komme in diesem Fall nicht weiter. Schade! Dieses Kind hätte ich gebrauchen können, aber leider würde das zu viel Wirbel verursachen.“

„Das ließe sich doch einrichten, dass die Menschen keinen Verdacht schöpfen!“

Der andere Mann schüttelte den Kopf. „Das geht zurzeit nicht! Man müsste erst einmal herausbekommen, wer dieses Kind ist und dafür habe ich jetzt keine Zeit.“

„Was wird das für ein Kind sein?“

Der andere Mann zuckte auf diese Frage hin mit den Schultern. „Es soll sich um ein Mädchen handeln. Mehr weiß ich auch nicht.“

„Was hättest du von diesem Menschenkind gewollt?“ Der Vernarbte war etwas ratlos.

„Wer es erfolgreich mit Korfylos aufnimmt, ist wertvoll. In unserer Welt benötige ich starke Kämpfer und wer weiß, wie gut dieses Kind erst ist, wenn es erwachsen ist!“

„Ist Korfylos nicht auf unserer Seite?“

„Korfylos ist auf keiner Seite, aber auch er ist wertvoll! Noch jedenfalls.“ Der andere Mann sagte das in einem geschäftsmäßigen Ton.

„Das wird er auch bleiben, hoffe ich.“

Der andere Mann wiegte bei den letzten Worten des Vernarbten bedenklich den Kopf hin und her. Dann zuckte er mit den Schultern. „Es wird der Tag kommen, an dem sich Korfylos von uns abwendet. Ich weiß nicht einmal, wie er nach dem heutigen Tag reagieren wird.“

Der vernarbte Kämpfer nickte verstehend. „Soll trotzdem jemand von meinen Leuten den Versuch unternehmen und herausbekommen, wer dieses Kind ist?“

„Das habe ich schon versucht. Die Eingeweihten schweigen und keiner erhält Informationen. Das Kind steht unter dem Schutz der Raben. Sie haben bei der Tarnung ganze Arbeit geleistet. Es wird ein Zufall sein, der dieses Geheimnis lüftet, und das kann dauern.“

„Und Korfylos?“

„Korfylos wird nichts sagen.“

Der Narbige stimmte dem im Stillen zu.

„Die Raben wissen ihre Geheimnisse zu hüten.“

„Dieses Mal scheint es aber so, als ob alle freiwillig schweigen. Das Kind muss etwas Besonderes sein.“

Der Vernarbte schnaufte leise. „Dieses Kind muss wirklich wertvoll sein, wenn sie sich auf das Schweigen aller Eingeweihten verlassen.“

„Es funktioniert, denn jeder wehrt ab oder weicht aus, wenn man darauf zu sprechen kommt.“ Damit sah der andere Mann wieder nach vorn.

„Wann schlagen wir los?“ Der Narbige hatte das Thema gewechselt.

„Du kannst jetzt zu den anderen gehen. Es wird jeden Augenblick passieren.“

„Ich bin schon weg!“

„Es muss schnell gehen, sonst ist alles vergeblich gewesen, was wir vorbereitet haben.“

„Es wird gelingen.“ Der Haudegen klang zuversichtlich.

„Ich habe noch nie dieses Tabu gebrochen. Es muss gelingen, sonst bin ich blamiert.“

„Wir geben unser Bestes!“

„Das habe ich nicht anders erwartet!“ Der Vernarbte verneigte sich und ging nach hinten. Auf einmal war auch er nicht mehr zu sehen. Es sah so aus, als wäre er in das Nichts gegangen. Aber der zurückgebliebene Mann wusste, dass alle auf ein Zeichen von ihm lauerten. Dann sah er, was er zu sehen gehofft hatte. Er drehte sich um und hob die Hand. Als er sie ruckartig senkte, brach ringsherum die Hölle los.

Der Ruf der Großmutter

Der Frühsommer war heiß, aber nun schien die Hitze zu pausieren. Für die Menschen eine Erholungsphase! Die Haustür des abgelegenen Backsteinhauses der Kirchners öffnete sich und über den Hof wurde ein Mädchenname gerufen. Die Angesprochene antwortete laut aus der Scheune. Es war Nadja Kirchner. Die Großmutter wollte wissen, ob sie schon Hunger hätte. Das Mädchen verneinte. Nadja trainierte gerade und war noch nicht fertig mit ihren Übungen, die einer etwaigen Selbstverteidigung dienen sollten. Seit zwei Jahren trainierte sie täglich und auch dadurch hatte sich ihr Leben verändert.

Sie hatte nun Freunde, von denen sie aber niemandem erzählen konnte. Wer sollte ihr glauben, dass sie mit sprechenden Raben verkehrte? Die lebten in einem trockengelegten Seengebiet. Sie war Bannherrin des Gebietes, damit der Schutzbann wirkte. Der machte es jedem unmöglich, dort einzudringen. Sie hätte schon Schwierigkeiten gehabt zu erklären, was ein Schutzbann ist. Wer sollte ihr glauben, dass sie von den Raben beschützt wurde? Wem sollte sie erzählen, dass sie sich regelmäßig in dem Seengebiet aufhielt, wo doch kein Mensch dieses Gebiet betreten konnte? Die Raben hatten ihr Verteidigungsstrategien beigebracht und ein riesiger Hund namens Takesch hatte ein Jahr lang mit ihr in der Scheune geübt. Wer sollte das glauben?

Das Mädchen hatte Takesch seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Er verließ das Gehöft und das Mädchen hatte eine Mitschuld daran, denn seine große Liebe Dinara, die wie er ihren Dämon abgeschüttelt hatte, durfte aus der Verbannung zurückkehren. Nadja hatte sich das von Korfylos, dem einstigen Feind der Raben, gewünscht. Dinara und Takesch lebten nun weit entfernt von hier. Takeschs Hilfe bei der Arbeit und die Gespräche mit ihm fehlten ihr. Wer würde ihr abnehmen, dass es sprechende Dämonenhunde gab?

Mit der anderen Oma aus dem Nachbarort konnte sie darüber reden, denn sie war vor ihr Bannherrin der Senke gewesen, die man im Dorf den Griseldis nannte. Bei Oma Margot lebte jetzt auch ein riesiger Hund, der zu ihrem Schutz und ihrer Gesellschaft abgestellt worden war und Prutorius hieß. Auch der konnte sprechen und wurde einst von dem Geist der Griseldis entdämonisiert. Deswegen war er nun geächtet und für Korfylos wertlos. Ausgerechnet die Raben, die er einst bekämpft hatte, boten ihm jetzt Schutz. Vor Oma Margot war Nadjas Mutter, die mit Nadjas Vater einen gewaltsamen Tod starb, Bannherrin gewesen.

Niemand im Dorf ahnte, dass es den Geist der Grafentochter wirklich gab. Die Grafentochter war im damals noch existierenden See ertrunken. Es war Mord, was Nadja als Einzige im Dorf wusste. Griseldis lebte lange im Seengebiet, weil sie in die Geisterwelt erst durfte, nachdem auch von ihr ein Fluch genommen wurde. Dafür hatte Nadja gesorgt.

Dem Geist hatte Nadja Kirchner es zu verdanken, dass sie den vierzehnten Turim bekam. Jeder Turim war ein Stern, den sie für bestimmte Fähigkeiten erhielt und als Kette um den Hals trug. Auch mit dem Geist hatte Nadja trainiert. Er brachte ihr bei, Bäume zur Verteidigung zu nutzen. Auf ihren Befehl hin konnten diese nun laufen, mit den Ästen nach Gegnern greifen und um sich schlagen. Es war keine Kleinigkeit gewesen, das zu lernen.

Die Sternenkette verlieh ihr zusätzlichen Schutz, weil ein weißer Rabe, den die anderen Raben den alten Weisen nannten, diese mit einer Schutzformel behandelt hatte. Dazu musste sie auf dem Rücken eines riesigen Geiers zu ihm gebracht werden und das wiederholte sich einige Male.

Auch Iri, eine in der Senke lebende Wasserhexe, und der Geier Reikosch hatten bei ihrer Ausbildung mitgewirkt. Der Geier brachte ihr einen Verteidigungstanz bei und die Wasserhexe lehrte sie, Wasserfontänen zu erzeugen. Erzählen konnte sie auch das keinem.

Der vierzehnte Turim war der letzte Stern, den Nadja bekam. Rontur wollte nicht mehr, dass Nadja täglich zum See kam. Sie sollte wieder ihr Leben wie ein normales Kind führen. Korfylos war kein Feind mehr und er ließ nun das Mädchen in Frieden. Sie war dennoch oft im Seengebiet.

Ein zweites Mal wurde sie jetzt gerufen und sie wusste, dass es bald Essen gab. Minra, eine Tochter von Rontur, war gerade aus der Scheune verschwunden. Sie hatte Nadja besucht. Minra wurde vor zwei Jahren bei einem ihrer ersten Flüge außerhalb des Seengebietes verletzt. Nadja fand das Rabenkind und pflegte es gesund. Dadurch wurde Nadja nicht nur unter den Schutz der Raben gestellt, sondern gewann auch deren Freundschaft.

Jetzt begann ein tägliches Ritual, an das Nadja von frühester Kindheit an gewöhnt war. Mittag wurde in der Küche gegessen und anschließend redete man. Diesen Teil des Tages wollte das Mädchen genauso wenig missen wie das tägliche Training in der Scheune.

Nadja war noch eine Woche Schülerin der achten Klasse am Gymnasium. Dann begannen die Sommerferien. Sie gehörte in ihrer Klasse zu den Besten. Zurzeit befasste sich Nadja in der Projektwoche ausgerechnet mit einem Rabenprojekt. Was sie dort über diese Vögel erfuhr, amüsierte sie. Die von den Schülern zu erarbeitenden Referate hatten nichts mit dem zu tun, was sie wusste. Aber sie gab ihr Wissen nicht preis. Jedoch hob sie sich die in der Schule erhaltenen Informationen auf und gab diese zur Erheiterung der Raben an diese weiter.

Da sie keine Hausaufgaben mehr auf hatte, hatte Nadja mehr Zeit. So konnte sie über die Felder streifen. Dem Jäger war das egal, weil er wusste, dass sie sich vorsah. Aber der neue Gutsherr, der das Anwesen im Dorf erworben hatte und das Wohnhaus wieder aufbauen ließ, sah das nicht gern. Nadja war jedoch in der Lage, allem aus dem Wege zu gehen. Durch ihre Fähigkeiten konnte sie lange vorher erkennen, dass jemand kam! So war sie mit dem neuen Gutsbesitzer noch nie zusammengetroffen. Doch hatte sie viel Positives von ihm gehört.

Die Leute, die vor einem Jahr noch für den sogenannten Grafen arbeiteten, behielten ihre Jobs. Damit wurde einigen Menschen im Dorf eine Angst genommen. Der Gutsverwalter war nicht mehr da. Ihn hatten die Verwandten des Grafen entlassen. Man munkelte im Dorf etwas von Unregelmäßigkeiten mit Geld. Der ehemalige Verwalter konnte das weder dementieren noch bestätigen. Aus heiterem Himmel stand ein Möbelwagen vor der Wohnung des Verwalters und er und seine Familie verschwanden ohne Abschied.

Damit war neben dem Sohn des Grafen auch der einstige zweite Peiniger von Nadja Kirchner verschwunden. Nur der Sohn des Tischlers war noch da. Der sah jetzt zu, dass er Land gewann, wenn er Nadja erblickte. Die Dinge, die ihm und den anderen Jungen einst widerfahren waren, wirkten bei ihm nach. Er hätte dem Mädchen wohl einiges von dem geglaubt, was sie erlebt hatte. An den Angriff der Raben konnte er sich mit Sicherheit noch erinnern und auch an Takesch.

Ein neuer Verwalter wurde nicht eingestellt. Der neue Gutsbesitzer übernahm selbst die Verwaltung. Das Gutshaus und dessen Wiederaufbau sorgten dafür, dass im Dorf mehr Arbeit vorhanden war, denn die Gutsarbeiter wurden nun auch im Winter beschäftigt und besser bezahlt. Weiterhin stellte der neue Betreiber in Aussicht, dass er den Betrieb so umbauen wollte, dass auch in Zukunft im Winter Arbeit für die Angestellten da sein würde. Damit machte sich im Dorf eine optimistische Grundhaltung breit. Es gab noch eine weitere positive Überraschung, die die Kirchners betraf. Als der neue Gutsherr mit Nadjas Großeltern über einen Pachtvertrag für deren Äcker verhandeln wollte, akzeptierte er vorbehaltlos den Willen des Großvaters, der die Ackerflächen nicht an ihn verpachten wollte. Er wollte den anderen Pächter nicht vor den Kopf stoßen. Dadurch, dass der neue Gutsbetreiber die Haltung des alten Kirchners akzeptierte, entspannte sich die Situation für die Großeltern, denn der ehemalige Gutsbesitzer wollte die Ländereien um jeden Preis haben.

Nadja Kirchner hatte keine Angst mehr, allein durch das Dorf zu gehen. Früher hatte sie immer den Hund Barry mitgenommen. Niemand von den Kindern und Jugendlichen taten ihr noch etwas. Einige von ihnen begannen inzwischen, freundlich zu sein. Aber Freundschaften zu den anderen Kindern suchte Nadja nicht. Die jahrelangen Demütigungen und Beleidigungen konnte sie nicht vergessen. Sie verzieh auch den Erwachsenen nicht, die immer weggesehen hatten und alles heruntergespielt hatten, wenn es Konflikte gab. Die einzige Ausnahme machte der Jäger, mit dem sie sich gern unterhielt. Auch der konnte sich nicht beklagen. Er bekam vom neuen Gutsbesitzer signalisiert, dass er seine Jagd solange auf den gutseigenen Ländereien betreiben konnte, wie er wollte.

Die Erwachsenen grüßte Nadja höflich, aber unterkühlt. Das brachte ihr den Ruf ein, genauso eingebildet wie ihre Großeltern zu sein, aber das war ihr egal. Die Kirchners waren auf keinen angewiesen. Die Großeltern bekamen Rente und hatten die Pachteinnahmen. Außerdem konnte der Kredit für das Haus getilgt werden. Daran hatten die Raben einen wesentlichen Anteil, denn sie gaben dem Mädchen Informationen über Wertgegenstände, die ihre Vorfahren einst in der Scheune vergraben hatten.

Dinaras Mission

Nadja versorgte die Tiere und besuchte dann die Gräber ihrer Eltern. Seit einiger Zeit wusste sie, dass sie ihre Eltern wiedersehen würde. Man starb nicht, man ging in eine andere Welt, um dort als Geist weiterzuleben. Erinnern konnte sie sich nicht an sie. Als sie starben, war Nadja noch klein. Sie wusste aber, dass sie bei dem Unfall, der in Wirklichkeit ein Mordanschlag war, mit im Auto saß und gerettet wurde.

Nachmittags machte sich Nadja auf den Weg zum Seegebiet. In der Scheune gab es unter dem Pferdewagen den Beschleunigungsgang, den die Raben eingerichtet hatten. Nadja war immer noch sehr klein für ihr Alter und konnte problemlos unter dem Wagen in den Gang gelangen. Es dauerte nur wenige Augenblicke und sie war angekommen.

„Hallo, Nadja!“

Sie drehte sich um. Hinter ihr stand Iri, die Wasserhexe. „Warum musst du mich so erschrecken?“

Iri grinste. „Du musst immer wachsam sein.“ Iri war gutmütig. Aber niemand erlaubte sich mit ihr einen Scherz. Dann konnte sie böse werden, wie Nadja einst erfuhr, als sie an ihr unwissentlich einen Zugbann ausprobiert hatte und sie aus ihrer Höhle zog. Die Raben hätten sich das nie gewagt, aber fanden es lustig. Auch Takesch hatte gelacht, als er glaubte, in der Scheune allein zu sein. Vorher war er Nadja helfend zur Seite gesprungen, als Iri das Mädchen mit Wasserfontänen beschoss. Das war Nadjas Glück. Selbst Rontur gab später zu, dass er nicht für einen guten Ausgang hätte garantieren können, wenn Takesch nicht zur Stelle gewesen wäre. Aber dann wurden Nadja und Iri Freundinnen.

„Ich dachte immer, hier in der Senke muss ich nicht aufpassen!“ Nadjas Schreck hatte sich gelegt.

„Eigentlich nicht.“ Iri musterte das Mädchen.

„Woran denkst du gerade?“

Die Wasserhexe zuckte mit den Schultern. „Woran soll ich denken?“

„Tu nicht so!“ Das Mädchen kannte die Wasserhexe inzwischen.

„Kannst du noch immer Fontänen aufsteigen lassen?“

Nadja streckte ihre Arme mit den Handflächen nach unten aus und riss sie dann hoch. Aus dem Boden kam ohne Vorwarnung ein scharfer Wasserstrahl, der senkrecht nach oben schoss. Dann riss das Mädchen die Arme herunter. Der Wasserstrahl sank in Sekundenschnelle in sich zusammen.

„Du hast nichts verlernt.“ Die rothaarige Wasserhexe setzte sich auf einen großen Stein. Nadja setzte sich daneben.

„Das ist wie schwimmen. So etwas verlernt man nicht.“

Prompt reagierte Iri: „Gib nicht so an!“

„Es ist wirklich so.“

Iri fragte jetzt interessiert: „Menschen müssen schwimmen lernen?“

Nadja nickte. „Das müssen sie.“

„Das wusste ich nicht.“

„Menschen müssen das lernen, sonst ertrinken sie.“

„Sie ertrinken?“

Nadja nickte. „Ich dachte, das weißt du spätestens, seitdem das mit Griseldis passiert ist!“ Nadja lehnte sich zurück und genoss den Sonnenschein.

„Ich dachte, sie ist vorher gestorben.“ Iri schaute zu der Stelle hinüber, wo es einst passiert war.

„So klein, wie sie war, hätte es ausgereicht, wenn sie einfach in den See gefallen wäre. Aber so genau hat mir Griseldis nicht erzählt, wie sie gestorben ist“, sagte Nadja

„Oder hineingeworfen?“

Nadja summte zustimmend und sah versonnen über die Senke. „So genau habe ich nicht gefragt.“

„Das kann ich verstehen! Es ist auch einer Toten gegenüber taktlos zu fragen, wie sie starb.“ Iri sah nun in den Himmel.

„Bald sind Ferien. Dann wird es langweilig.“ Nadja blickte auch nach oben.

„Ferien sind langweilig? Ich dachte, dann könnt ihr machen, was euch Spaß macht!“ Die Wasserhexe schien das nicht zu verstehen.

„Dieses Mal wird es langweilig. Ich werde nicht weiter ausgebildet und jetzt hätte ich Zeit.“ In Nadjas Stimme war ein wenig Wehmut.

„Das ist nicht mehr nötig. Du musst nur weiter trainieren und das Gelernte kombinieren. Aber nicht in den Ferien. Sie dienen der Erholung!“

„Ich soll mich erholen?“

„Mir hat Minra erzählt, dass du dich eisern fit hältst. Übertreib es nicht!“ Die Wasserhexe sah blinzelnd in die Sonne.

„Es war schwer, in der Scheune Zeit zu finden und das so zu dosieren, dass niemand etwas mitbekommt. Wasser in der Scheune macht sich nicht so gut. Ich hätte einige Schwierigkeiten bekommen, das zu erklären!“

„Kann ich mir vorstellen!“

„Allein habe ich nicht immer den Antrieb, den ich brauche. Es macht mit anderen zusammen mehr Spaß. Außerdem waren die Turims eine schöne Motivation.“

Iri zuckte mit den Achseln. „Ich weiß. Aber Selbstdisziplin ist immer gut. Übe weiter. Dann verbessern sich deine Fähigkeiten und du wirst weitere Turims erhalten.“

„Denkst du?“

„Die Raben haben ab einem bestimmten Grad auch nicht mehr die regelmäßige Ausbildung. Sie verbessern ihre Fähigkeiten wie du durch Üben.“

Nadja wurde aufmerksam. „Warum hat mir das niemand gesagt?“

Iri lächelte erneut. Dann ploppte es und Minra war da.

„Hallo, Minra!“ Nadja behandelte das plötzliche Erscheinen eines Raben aus dem Nichts als die größte Selbstverständlichkeit der Welt. Sie hatte das viel zu oft erlebt.

„Du solltest in den Ferien nicht zu oft herkommen.“

„Ach so?“ Belustigt sah Nadja die Rabenfrau an.

„Du weißt, dass Vater das nicht gern sieht!“ Obwohl das vorwurfsvoll klingen sollte, wusste Nadja, dass sie sich freute. Gerade jetzt war Abwechslung willkommen, denn sie hatte zum zweiten Mal Junge.

„Noch habe ich keine Ferien.“ Nadja räkelte sich neben Iri auf dem Stein.

„Du weißt, was ich meine!“

„In den ersten zwei Ferienwochen bin ich sowieso nicht hier. Da werde ich verreisen.“

Iri drehte sich schnell zu dem Mädchen um. „Was höre ich da? Du verreist!“ Iris Sinne waren plötzlich hellwach.

„Ist etwas dabei?“ Nadja war verunsichert.

„Hoffentlich bist du dann nicht gefährdet.“

„Nicht gefährdeter als sonst!“

„Du stehst unter dem Schutz der Raben und das nicht ohne Grund.“ In Iris Stimme klang ein wenig Sorge mit.

„Mir tut keiner mehr etwas. Ich habe wieder meine Ruhe und das verdanke ich euch.“

Iri wiegte bei diesen Worten den Kopf hin und her. „Trotzdem solltest du mit Rontur sprechen.“

„Dann habe ich ja einen Grund, hier zu sein.“

Iri runzelte die Stirn. „Schon möglich! Jetzt muss ich los. Ich bin müde. Außerdem muss ich alle Verstecke überprüfen, wo Esswaren sind, sonst findet Kajik sie.“

„Das wäre weniger schön“, sagte Minra.

„Aber nur für mich.“ Damit stand Iri auf und war im nächsten Augenblick am Eingang ihrer Höhle, die gute fünfzig Meter entfernt von Nadja war. Das wunderte Nadja nicht. Sie selber beherrschte derartige Flugsprünge auch.

Minra wartete, bis Iri verschwunden war, bevor sie sich erneut an Nadja wandte. „Wohin fährst du?“

„Zu meiner Tante.“

„Ich denke, die ist nicht gut auf euch zu sprechen!“

Nadja bestätigte das durch ein Brummen. „Nun bin ich aber eingeladen worden.“ Nadja hatte missmutig den Kopf in ihre Hände gelegt.

„Hat das einen Grund?“

„Sie will mich aushorchen.“

Die junge Rabenfrau betrachtete das Mädchen. „Sicher nicht.“

„Doch! Dann kommt noch dazu, dass ich im Sommer meinen Großeltern helfe. Sie schaffen nicht mehr alles.“ Nadja machte nun einen bedrückten Eindruck.

„So schlimm?“ Minra sah zweifelnd das Mädchen an. Soweit sie das beobachten konnte, schafften die Großeltern die alltägliche Arbeit noch ganz gut.

Nadja lenkte ein. „Nun ja. Ganz so schlimm nicht. Aber Hilfe können sie vertragen. Doch meine Großeltern meinen, dass ich mal etwas anderes sehen muss.“

„Damit haben sie nicht unrecht!“

Nadja ließ diesen Einwand nicht gelten. „Sie wissen doch nichts über euch und mein anderes Leben und dass ich dadurch mehr gesehen habe als jeder andere Mensch.“

„Trotzdem ist es richtig, dass du fährst. Die Menschen sind deine Zukunft.“ Sie sagte diese Worte mit Nachdruck.

„Mag sein, aber mit denen komme ich nicht so gut klar. Ihr habt mich noch nie enttäuscht.“

„So etwas darfst du nicht sagen, Nadja!“ Ihre Worte waren jetzt eindringlich.

„Es ist aber bis auf wenige Ausnahmen wahr und meine Tante war schon immer komisch.“ Nadja holte tief Luft.

„Du kennst sie doch kaum!“

„Das stimmt und nun soll ich dort zwei Wochen verbringen. Ohne Vorwarnung kam die Einladung!“ Nadja wurde nun ärgerlich.

„Vielleicht will sie dich kennenlernen!“

„Mag sein. Aber das macht mich misstrauisch! Meine Großeltern sind auch nicht begeistert, tun aber so, als wenn es gut für mich wäre.“

„Was soll sie dir denn antun?“

„Nichts. Ich kann aber nicht einfach verschwinden, wenn sie mich aushorchen will.“

„Aushorchen?“

„Deswegen hat sie mich eingeladen.“ Nadja hatte ihren Kopf in die Hände gestützt.

„Über was will sie dich aushorchen?“

„Ich denke, sie ahnt, dass Oma Margot ein neues Testament aufgesetzt hat und glaubt, dass ich es weiß. Die Menschen werden komisch, wenn es ums Erben geht.“ In Nadja stieg Groll auf. Wenn sich nicht andere um Oma Margot kümmern würden, wäre sie schon vereinsamt.

„Sie wollen Oma Margot beerben?“ Die junge Rabenfrau hakte nach.

„Das denken wir. Dabei lebt Oma Margot noch und ich hoffe, das tut sie noch sehr lange.“

„Das hoffen wir alle!“ Minra war nun auf Nadjas Schulter geflogen.

„Ist klar! Um ihr Erbe habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.“

„Weißt du denn über ein Testament Bescheid?“

Nadja schnaufte verächtlich. „Natürlich. Aber das werde ich der Tante nicht auf die Nase binden. Was Oma Margot macht, ist ihre Angelegenheit, und wenn sie es nicht erzählt, wird sie wissen, warum.“ Nadja hatte diese Worte mit Nachdruck gesprochen.

„Das denke ich auch.“

„Siehst du!“

„Aber du solltest tatsächlich mit Vater sprechen.“

Nadja nickte zustimmend. „Das werde ich“, sagte sie dann.

„Gut. Jetzt muss ich los, sonst wird Godok sauer.“ Die Rabenfrau war von Nadjas Schulter gehüpft und hockte nun am Boden.

„Warum sollte Godok sauer werden?“

„Er hat lange genug auf die Kleinen aufgepasst und hofft, dass sie bald selbstständig sind.“ Minra musste lachen.

„Godok scheint aber stolz auf eure Kinder zu sein.“ Nadja unterhielt sich auch immer mal mit ihm und er schwärmte von seinen Kleinen.

„Ab und zu reicht es ihm!“

„Dabei war er so glücklich, als eure Kleinen kamen.“

„Das ist er immer noch. Aber Godok nimmt die ganze Sache zu ernst. Sie sollen alles perfekt beherrschen und er will alles richtig machen. Das stresst ihn dann. Er will sie immer und überall beaufsichtigen.“

„Sei doch froh!“ Nadja verstand nicht, was Minra jetzt sagen wollte.

„Er übertreibt. Außerdem kann er sich nicht durchsetzen.“

Nadja glaubte, nicht richtig zu verstehen.

„Was sagst du da?“

„Du hast richtig gehört!“

„Godok tanzen eure Kinder auf dem Kopf herum?“ Nadja glaubte ihr nicht. Minras Partner war einer der fähigsten Kämpfer und alle hatten großen Respekt vor ihm, seitdem er ihren Ausbilder besiegt hatte.

„Was soll er machen. Sie bekämpfen?“ Minra war fatalistisch geworden.

„Besser nicht!“ Beide fingen an zu lachen.

„Sie sind noch klein und zu dumm, um zu begreifen, was Respekt ist.“ Die junge Rabenfrau hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

„Das müssen sie lernen, sonst bringt Taukius ihnen das bei.“ Nadja kannte den Lehrmeister der Raben. Sie hatte ihn auch einst genießen müssen.

„Das mache ich lieber. Wenn sie an Taukius geraten, sollten sie besser schon Respekt kennen. Jetzt muss ich los.“ Damit verschwand Minra ploppend.

Nadja stieg von dem Stein, um sich auf die Erde zu setzen. So konnte sie ihn als Rückenlehne benutzen. Dann hörte sie Ronturs Stimme.

„Wir werden alles tun, um dir zu helfen“, hörte sie ihn sagen.

„Das reicht nicht. Ich werde dorthin müssen.“ Die andere Stimme, die Nadja eben vernahm, kam ihr bekannt vor. Bevor sie darüber nachgrübeln konnte, setzte Rontur das Gespräch fort.

„Deine Mission wird scheitern!“

„Diese Mission muss ich machen, koste es, was es wolle!“

Die andere Stimme klang entschlossen. „Das geht nicht!“

Der große Rabe klang beschwörend. „Das wirst du nicht verhindern.“

Die andere Stimme klang noch entschlossener. „Ich weiß, dass ich nicht die Macht dazu habe, aber ich würde es tun, wenn ich es könnte.“

„Du kannst es aber nicht!“ Die Stimme, die Rontur antwortete, klang jetzt gereizt.

„Ich meine es nur gut mit dir.“ Seine Stimme war so eindringlich, wie Nadja sie noch nie gehört hatte.

„Dann hilf mir. Greift an. Es wird höchste Zeit, andere Seiten aufzuziehen!“ In der anderen Stimme klang Metall.

„Das geht nicht!“

„Dann werde ich es auf meine Art erledigen.“ Eine Weile war Stille. Dann vernahm Nadja erneut die Stimme vonm Anführer der Raben.

„Sei nicht töricht. Man wird dich schnell entdecken!“ Die Stimme des Raben klang beschwörend.

„Das ist mir egal. Ein Leben ohne ihn kann ich nicht mehr ertragen.“

Nadja hatte die andere Stimme nur einmal gehört und trotzdem wusste sie jetzt, wem sie gehörte. Sie sprang auf und kam hinter dem Stein hervor. „Dinara!“

Die riesige, fuchsfarbene Hündin zuckte zusammen. Aber es war Rontur, der sich an Nadja wandte. „Was machst du hier?“ Er klang weder freundlich noch unfreundlich.

„Ich wollte mit dir reden. Es könnte wichtig sein.“

Rontur und Dinara tauschten einen kurzen Blick aus. Dann nickte die Hündin dem Raben zu. Der richtete nun seine Worte an Nadja.

„Was gibt es?“

„In den ersten beiden Ferienwochen werde ich verreisen. Meine Tante hat mich eingeladen.“

„Margot hat mich schon informiert. Wir haben alle Vorkehrungen getroffen.“

Nadja dankte dem Raben und drehte sich zu Dinara um. „Ist Takesch auch hier?“

Dinara zuckte wieder zusammen. „Nein. Aber ich soll dich grüßen. Nächstes Mal wird er auch mitkommen.“ Dinaras Stimme klang etwas zittrig.

„Wann wird das sein?“

„Das wissen wir nicht. Wir melden uns. Jetzt muss ich los. Bis bald.“ Damit drehte sich Dinara um und verschwand, für Nadjas Begriffe zu schnell.

Das Mädchen sah ihr enttäuscht hinterher. Dann wendete Nadja sich abermals Rontur zu. „Ist etwas passiert?“

„Natürlich nicht. Ich habe auch wieder zu tun. Besser, du gehst jetzt nach Hause und bereitest dich auf die Reise vor.“ Der Anführer der Raben verschwand auch.

Einen Augenblick später war Godok erschienen. „Hallo, Nadja!“

„Hallo, Godok. Was machst du denn hier?“

„Ich lebe hier!“ Er begann zu lachen.

„Stimmt!“ Nadja musste grinsen.

„Minra schickt mich. Ich soll dich begleiten.“

Nadja musterte Minras Gefährten. „Seit einem Jahr benötige ich keine Eskorte mehr. Ich kann den Gang nehmen! Was ist denn auf einmal?“

Godok wendete den Blick von ihr ab und sah über das Feld. „Der Tag heute ist besonders heiß!“

Nadja sah Godok gereizt an. „Was soll das jetzt?“

Godok gab ihr erst keine Antwort. Dann schien er sich wieder im Griff zu haben.

„Ich komme nachher noch einmal vorbei. Falls du dann schon weg bist, verabschiede ich mich schon jetzt.“ Godok war verschwunden, ehe Nadja noch etwas sagen konnte. Das Misstrauen des Mädchens war nun da. Jetzt fiel ihr auf, dass Dinara nicht nur zusammengezuckt war, sondern auch einen traurigen Eindruck machte. Außerdem verstand Nadja nicht, warum sie so schnell verschwand. Da sah sie nicht weit entfernt Kajik, den Däumling. Er sammelte Kräuter. Aber er schien sie nicht sehen zu wollen.

„Hallo, Kajik!“ Der Däumling grüßte knapp. Dann wendete er sich abermals seiner Arbeit zu.

Nadja ging auf den kleinen Mann zu. „Darf ich eine Frage stellen?“

Der Däumling unterbrach seine Arbeit. Dabei legte er ein für Nadjas Geschmack merkwürdiges Gebaren an den Tag. Er sammelte einen Moment lang seine Kräuter. Dann sah es so aus, als ob er sich einen Ruck gab. „Schieß los, aber viel Zeit habe ich nicht!“

„Ich habe eben Dinara getroffen.“

„Ja und?“ Kajik hatte seine Arbeit abermals aufgenommen und unterbrach sie nicht mehr.

„Sie war seltsam.“

„War sie das?“ Sein Erstaunen schien gespielt zu sein.

„Was ist mit ihr?“

„Ich denke, es ist alles in Ordnung!“

„Das denke ich nicht!“

„Seltsam sind diese Hunde doch alle!“

Diese Antwort kam für Nadjas Begriffe zu schnell. „Sag mir bitte, was los ist!“

Kajik sah nach unten. „Nichts ist los. Aber ich habe es jetzt eilig.“

Dann war Iri auf einmal da, obwohl sie doch schlafen wollte.

Nadja sah Iri fragend an. „Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“

Iri fragte Nadja erstaunt: „Was soll denn passiert sein?“

„Warum ist Dinara hier?“

„Rontur besuchen?“

„Sie wollte mit Takesch ein anderes Leben führen und nun kommt sie Rontur besuchen?“

Iri zog eine leichte Grimasse. „Da musst du Rontur oder Dinara fragen.“

„Das habe ich schon getan. Mir erzählen sie nichts!“

„Ich kann dir auch nichts sagen. Mit ihr habe ich nie zu tun gehabt.“

„Das weiß ich!“

„Möglich, dass sie ihn wirklich nur besucht hat“, sagte Iri. Das beruhigte Nadja nicht und Iri und Kajik schienen das zu ahnen. Sie tauschten Blicke aus, verabschiedeten sich schnell und verschwanden. Nadja bedauerte, dass sie den Geist der Griseldis nicht befragen konnte, aber der lebte jetzt woanders. Sie kehrte zurück nach Hause. In der Scheune grübelte sie eine Weile. Warum war Dinara zusammengezuckt, als sie Takesch erwähnte? Von welcher Mission hatte Dinara gesprochen? Was war passiert? Sie fasste nun den Entschluss, am Abend noch einmal aufzubrechen. Sie wollte Oma Margot besuchen.

Die Wahrheit um Takesch

Nadja öffnete die Hoftür und betrat das Anwesen von Oma Margot. Sie wollte an die Haustür klopfen, als sie innehielt und zusammenfuhr. Es wurde auf dem Hof eine Unterhaltung geführt. Die Stimme von Prutorius hatte sie sofort erkannt. Nadja versuchte den Standort des schwarzen Hundes zu lokalisieren. Er musste hinter der Hausecke stehen und mit jemandem reden. Prutorius schien nichts bemerkt zu haben, was ungewöhnlich war. Er konnte Ankommende sonst schon von Weitem spüren. Obwohl er entdämonisiert war, hatte er diese Fähigkeit behalten. Ganz langsam schlich Nadja zur Hausecke und bemerkte nun, dass er sich nicht mit Oma Margot unterhielt. Es war eine fremde, weibliche Stimme. Sie war im Gegensatz zu der von Oma Margot sehr herb. Aber diese Stimme klang dem Wächter gegenüber liebevoll.

Nadja hörte eine Weile zu, es faszinierte sie immer mehr. So nett hatte sie Prutorius noch nie mit jemandem sprechen hören. Es schien sich um belanglose Dinge zu handeln. Der Hund flirtete und sie erinnerte sich an ein Gespräch vor einem Jahr, wo er ihr ein Geheimnis verriet. Er hatte eine Dämonenhündin zur Freundin. Gern hätte sie gesehen, ob es wirklich diese Hündin war. Aber Nadja wagte nicht, um die Ecke zu schauen. Sie hatte keine Ahnung, wie die Unbekannte darauf reagieren würde. Aber auch der Wächter des Hofes könnte sie bemerken. Dann zuckte sie zusammen. Takeschs Name war gefallen.

Die andere Stimme sprach: „Ich bin weiß Gott kein Fan von Takesch und schon gar keiner von dieser roten Furie. Aber in ihrer Haut möchte ich jetzt nicht stecken.“