Über das Buch

Auch wenn er als Revolutionär 1848 kläglich scheiterte und sein Traum in eine kommunistische Diktatur führte: Marx’ Theorien leben fort, werden verehrt oder verachtet, von Politikern, Arbeiterführern und Historikern überhöht oder in ihr Gegenteil verkehrt. Was er uns auch heute noch als Analyst des Weltmarktgeschehens und erster Globalisierungskritiker über Freiheit, Moral, Religion und Gesellschaft zu sagen hat, erfährt man in diesem Buch.

Eine hochaktuelle Biografie, die Marx’ Leben, sein Werk und seine Nachwirkungen auf dem neuesten Forschungsstand diskutiert und knapp, kenntnisreich und unterhaltsam darstellt.

Wolfgang Korn

Karl Marx

Ein radikaler Denker

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Hochgejubelt — mausetot gesagt ... und nun?
Was Marx uns heute noch zu sagen hat

Nur heraus aus dem engen, stickigen Mief!
Eine Jugend im ärmlichen Trier

Vom Bonner Kneipverein zum Berliner Doktorclub.
Karl Marx erringt nicht nur einen Doktorhut

Auf dem »Holzweg« der Erkenntnis.
Karl Marx als liberaler Journalist und Kritiker

Zwei Männer stellen die Philosophie vom Kopf auf die Füße.
Eine Freundschaft fürs Leben – und viele Feindschaften

1848 — Halb Europa geht auf die Barrikaden.
Ein kommunistisches Manifest und eine bürgerliche Revolution

Richtige Revolution oder nur ein Vorspiel?
1848/49 in Deutschland

Tragödien und Komödien statt Revolutionen.
Als politischer Flüchtling im Londoner Exil

Die nächste Krise kommt bestimmt.
Karl Marx kämpft nicht nur mit dem ersten Entwurf seiner ökonomischen Theorie

Ein knapper Titel und 956 schwer verdauliche Seiten.
»Das Kapital« soll die ganze globale Wirtschaft erklären und verändern

Das Jahr der Höhen und Tiefen — 1871.
Nicht »Das Kapital«, sondern die Kommune von Paris lässt Marx berühmt und berüchtigt werden

London — forever!
Das Ende einer großen Liebe und der Niedergang eines großen Analytikers

Marx ist tot, es lebe der Marxismus!
Marx’ Wiedergeburt als Legende und die missglückte Verwirklichung seiner Ideen

Und heute?
Irgendwo zwischen globalem Turbo-Kapitalismus und digitalem Sozialismus. Weiterdenken mit Marx

Kommentierte Literatur – Marx zum Weiterlesen

Bildnachweis

Hochgejubelt — mausetot gesagt ... und nun? Was Marx uns heute noch zu sagen hat

Trotz aller G-8-, G-10- und G-20-, Klimaschutz- und Armutbekämpfungs-Gipfel, trotz aller Handelsabkommen und Wirtschaftsförderung: Die Welt wird immer ungerechter. Die reichen Länder werden immer reicher, einige »Schwellenländer« können zu ihnen aufschließen, doch die meisten armen Länder kommen nicht hinterher und werden immer ärmer. In den reichen Ländern selbst wiederum werden nur die Reichen reicher, die Armen dort bleiben arm. Und seit der Finanzkrise von 2008 sind sogar noch mehr Menschen die Wohlstandstreppe hinuntergefallen: Während in Spanien Tausende von Baustellen aufgegeben werden mussten und Bauruinen die Landschaft verschandeln, sind unzählige Bürger der USA völlig überschuldet und müssen ihre Häuser verlassen. Während in Europa große Teile der Jugend arbeitslos sind, können die Menschen in schwach entwickelten Ländern kaum noch ihren Reis oder ihr tägliches Fladenbrot bezahlen.

Doch die Ökonomen, Banker und Politiker, die in den vergangenen Jahrzehnten die Öffnung der Märkte gefordert haben, heben die Arme: Wir wussten nicht so genau, was wir taten! Und wir wissen erst recht nicht, wie wir da wieder herauskommen. Rette uns, wer kann!

Ein kleines Verlagshaus in Berlin dagegen hat einen ungeahnten Boom erlebt. Dort werden seit DDR-Zeiten die Werke von Karl Marx und Friedrich Engels herausgegeben, die aufgrund ihres markanten Ledereinbandes die »Blauen Bände« genannt werden. Der Verlag ist mit dem Drucken, besonders des ersten Bandes des »Kapitals«, nicht mehr hinterhergekommen.

Karl Marx ist wieder in aller Munde – und das nicht nur, weil sich am 5. Mai 2018 sein Geburtstag zum 200. Mal jährt. Er wird vor allem deswegen wieder gelesen, weil seine Analyse des Kapitalismus gefragt ist. Denn dessen ungehemmte Herrschaft benötigte nicht einmal zwanzig Jahre, um die globale Wirtschaft an den Rand des Kollapses zu führen. Und die Krise schwelt nach 2008 weiter. Auch heute noch könnte die Pleite einzelner Banken einen weltweiten Finanzcrash auslösen. Hat Marx das kommen sehen?

Andererseits gilt der radikale Denker vielen noch immer als ein teuflischer Verführer. Schließlich habe die Geschichte gezeigt, was in Marx’ Namen passierte: In den Ländern des real existierenden Sozialismus wurden seine Theorien im 20. Jahrhundert in die Praxis umgesetzt – mit verheerenden Folgen. Aber von wem stammten diese Vorstellungen eigentlich? Von Marx oder von seinen Nachfolgern, den Marxisten?

Das ist eine der Fragen, die den Autor dieses Buches selbst als jungen Menschen interessierten: Ich zog im Jahr 1978 nach West-Berlin und habe dort Politische Wissenschaften studiert. Die »Blauen Bände« gehörten für mich und die anderen Teilnehmer der »Kapital-Lektürekurse« zur Grundausstattung. Wir mussten uns – da in der Bundesrepublik nur gekürzte Texte von Marx erschienen – die Marx-Engels-Werke aus der damaligen DDR besorgen. Nicht nur im Osten, auch im Westen wurde mit Beginn der Studentenbewegung 1967 verstärkt wieder Marx gelesen. Studenten beschäftigten sich über Jahre hinweg Kapitel für Kapitel mit dem schwierigen Hauptwerk von Marx und debattierten über jeden einzelnen Satz und seine mögliche Bedeutung. Am Otto-Suhr-Institut, an dem ich damals studierte, lehrten lauter Professoren, die nach eigenen Angaben Marx besser kannten als die Führer der realsozialistischen DDR. Viele boten ihren eigenen »Kapitalkurs« an und bekämpften die der Konkurrenten. Es ging um Haupt- und Nebenwidersprüche, die zudem vom irrwitzigen Kalten Krieg und dann vom Reaktorunfall von Tschernobyl überschattet wurden …

Doch Ende der 1980er-Jahre war der Spuk mit einem Mal vorbei. Mit dem Ende der Sowjetunion wurden nicht nur im Osten die Marx-Denkmale von aufgebrachten Massen gestürzt, sondern auch im Westen galten seine Theorien quasi über Nacht als widerlegt. Die »Blauen Bände« wurden eingemottet, beim Trödler für ein paar Mark verkauft oder ganz entsorgt. Ich habe sie damals auf dem Dachboden meiner Eltern eingelagert. Es hieß: »Marx ist mausetot – es lebe der globale Markt!«

Aber nun, dreißig Jahre danach, kommt Marx wie ein Springteufel aus der Mottenkiste der Geschichte hervorgesprungen: Er ist aktueller denn je. Wenn seine Schriften nur nicht so kompliziert wären – aber sind sie das wirklich?

Hat Marx doch recht?

Kaum ein Ökonom bestreitet, dass Marx die richtigen Fragen stellte, um das Wirtschaftsgeschehen zu begreifen: Wo kommt der Antrieb zum hemmungslosen Wachstum der Wirtschaft her? Wie entsteht der Profit? Kann es Wachstum ohne Krisen geben?

Doch warum soll gerade Marx darauf die richtigen Antworten gefunden haben? Weil er in einer Zeit lebte, in der das heutige Wirtschaftssystem noch nicht etabliert war und in der sich gerade erst die alles durchdringende Macht des Kapitalismus herausbildete. Diese Schwellensituation bot ihm die Möglichkeit, die immer komplizierter werdenden Mechanismen zu durchschauen.

Inzwischen ist die ganze Welt in das System des globalen Kapitalismus eingebunden. Wer wissen will, wo unsere Welt steht, kommt an diesem empfindsamen Raubein und exzessiven Denker nicht vorbei. Denn sein ganzes Wirken – als Journalist, Theoretiker und Politiker – ist eine einzige Auseinandersetzung mit den Gestaltungskräften unserer Gesellschaft: mit Ideen, mit der Wirtschaft und der Politik.

Dabei war Marx als einer der ersten Theoretiker der Überzeugung, dass die materiellen Verhältnisse den Menschen entscheidend mitprägen. Doch hat sein »Historischer Materialismus« wirklich alles nur aus den wirtschaftlichen Ursachen abgeleitet? Wie sehr kommt es auf die einzelnen Menschen, ihren Willen und ihre Moral an? Diese Frage kann man auch auf Karl Marx selbst beziehen: Konnte er durch seine Analysen und Kampfschriften tatsächlich den Lauf der Geschichte wesentlich beeinflussen?

Wie war Karl Marx als Mensch?

Karl Marx war vor allem eines nicht: ein Säulenheiliger. Trotz der vielen Denkmale, die ihn als unverrückbaren Fels in der Brandung der Weltgeschehnisse darstellen sollen.

Er war ein Mensch aus »Fleisch und Blut«, sehr viel »Fleisch und Blut« sogar: Er sprach mehr, er schimpfte mehr, er soff mehr, er litt mehr, vor allem schrieb er mehr als seine Zeitgenossen. Und er hat mehr Theorien entwickelt als andere.

Doch die wenigsten wissen wirklich über Marx Bescheid, über sein Leben und Wirken. Dabei lässt sich das heute besser denn je herausfinden, denn es wurde viel über ihn und seine Schriften in den über 130 Jahren nach seinem Tod geforscht.

So wissen wir heute: Marx war ein liebevoller Familienvater, doch als Revolutionär und Arbeiterführer hat er komplett versagt. Und deshalb müssen wir nicht nur zwischen dem wahren Menschen »Karl Marx« und dem zum Mythos verklärten Revolutionär »Karl Marx« unterscheiden, sondern auch zwischen seinen Theorien und dem »Marxismus«, der vor allem von seinen »geistigen Erben« geprägt wurde.

Dieses Buch ist nicht nur eine Entdeckungsreise in die Geschichte des 19. Jahrhunderts und in das Leben von Karl Marx, sondern auch eine Erkundung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das heute auch »Globalisierung« genannt wird. Und damit hinein in das aufregende, überraschende Leben des Karl Marx!

Nur heraus aus dem engen, stickigen Mief! Eine Jugend im ärmlichen Trier

Trier im August 1835. Eigentlich will der 17-jährige Karl nur irgendwie das Abitur bestehen. Ohne sich groß anzustrengen, möchte er die sieben schriftlichen Prüfungsarbeiten hinter sich bringen. Die erste Aufgabe für seinen Aufsatz lädt sogar regelrecht zum Schwafeln ein: »Betrachtungen eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes«. Karl steigert sich jedoch in das Thema hinein und empört sich: »Unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben … schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen im Stande sind.« Damit meint er: Keiner kann sich aussuchen, wann und wo er zur Welt kommt. Sonst würden alle Menschen nur in die reichen und berühmten Familien hineingeboren werden – niemand will freiwillig zum Heer der Armen und Unterdrückten gehören.

Diese Fragen sollten Karl Marx sein Leben lang beschäftigen. In welchem Ausmaß sind Menschen der Geschichte ausgeliefert, also ihrer Herkunft, der Zeit, in der sie leben, und der sozialen Schicht, in der sie sich bewegen?

Der Abiturient zweifelt noch nicht: »Die Hauptlenkerin aber, die uns bei der Standeswahl leiten muß, ist das Wohl der Menschheit (und) unsere eigene Vollendung.« Der junge Karl Marx ist sich sicher: Einzelne können ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen! Der Mensch kann zum Helden werden – ganz egal, wann, wo und in welcher Schicht er zur Welt kommt.

Als am 5. Mai 1818 im Haus Nr. 664 der Brückengasse in Trier ein Knabe zur Welt kam, der Karl genannt wurde, hatte er sich nicht unbedingt einen günstigen Moment der Weltgeschichte ausgesucht. Es war nämlich keine einfache Zeit und Trier in der deutsch-französischen Grenzregion keine einfache Gegend. Und dass die Familie Marx jüdische Wurzeln hatte, machte die ganze Angelegenheit noch komplizierter.

Erst französisch …

Trier gehörte zusammen mit den westrheinischen Gebieten seit der Friedensordnung von Lunéville 1801 zu Frankreich. Dort hatte sich zehn Jahre nach der Französischen Revolution der General Napoleon Bonaparte an die Macht geputscht. Unter seiner Herrschaft entwickelte sich Frankreich zu einer neuen europäischen Supermacht. Die Karten wurden in Europa völlig neu gemischt – zumindest für ein paar Jahre. Napoleon entschied die Kriege mit England und Österreich im Eiltempo zu seinen Gunsten. Als sich europäische Länder in wechselnden Koalitionen gegen seine Armee erhoben, wurden sie von ihm geschlagen. Preußens Heer wurde 1806 bei Jena und Auerstedt vernichtet, und mit der Flucht König Friedrich Wilhelms III. hörte Preußen eigentlich auf zu existieren. Preußen konnte als Staat nur weiterbestehen, weil sich der russische Zar Alexander I. dafür einsetzte – er wollte weiterhin einen Puffer zwischen sich und Frankreich haben. Neben Frankreich blieb nur Russland als eigenständige Großmacht auf dem Kontinent übrig.

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Das Geburtshaus von Karl Marx in Trier — obwohl die Familie nur kurz dort wohnte, wurde es zu einem Karl-Marx-Museum umgewandelt.

Für das deutsche Volk hatte die Herrschaft des französischen Kaisers weitreichende Folgen: Napoleon bereinigte den Flickenteppich »Deutschland«. 67 Kleinstaaten und über hundert Reichsstädte wurden in größere Länder eingliedert. Vor allem aber schuf er mit seinem Code Napoléon eine bis dahin nicht bekannte Art von Rechtssicherheit. So wurden alle Menschen, damit auch erstmals die Juden, gleichgestellt, die Privilegien des Adels stark eingeschränkt und bürgerliche Freiheiten wie Meinungs- und Pressefreiheit eingeführt.

Napoleons Herrschaft gab auch fortschrittlichen Preußen wie dem Freiherrn von Stein und dem Fürsten Hardenberg den Rückenwind, um in ihrem Land endlich die nötigen Reformen durchzusetzen: Als letzter Staat in Westeuropa hob Preußen 1807 die Leibeigenschaft auf, die bis dahin den Gutsherren die völlige Herrschaft über ihre Bauern gewährt hatte. Außerdem gaben die Reformer den Städten und Gemeinden große Freiheiten, schafften die Zünfte ab und liberalisierten das preußische Heer, das nun aus Wehrpflichtigen gebildet wurde. Nicht zuletzt führten sie eine Bildungsreform durch und gründeten 1809 die Berliner Universität.

In den linksrheinischen Gebieten herrschten diese Freiheiten dagegen schon länger, in der Moselregion bereits seit 1794, als sie von Frankreich besetzt worden war. In dieser Situation hatte ein gewisser Herschel Marx, der aus einer jüdischen Rabbinerfamilie stammte, einen entscheidenden Schritt gewagt: Er studierte Jura an der französischen Rechtsschule in Koblenz und ließ sich anschließend als Anwalt in Trier nieder. Damit hatte er mit der Familientradition gebrochen. Denn nicht nur sein Vater, sondern auch sein Großvater, sein Urgroßvater genauso wie sein Ur-Ur-Großvater waren Rabbiner, jüdische Geistliche, gewesen. Auch unter den männlichen Vorfahren seiner Frau, deren Stammbaum überhaupt einige berühmte Vorfahren aufzuweisen hatte, fanden sich viele Rabbiner.

… dann preußisch

Zar Alexander I. hatte mit seinem Misstrauen gegen Napoleon richtiggelegen, denn der französische Feldherr versuchte, mit seiner Armee auch Russland zu erobern. Aber er scheiterte, verhob sich an der Größe des Landes und konnte dem kalten russischen Winter nicht trotzen. Napoleons Rückweg führte von Niederlage zu Niederlage, er ging ins Exil, kam wieder zurück und wurde 1815 bei Waterloo von Engländern und Preußen endgültig besiegt. Auf dem Wiener Kongress, der vom Herbst 1814 bis zum Sommer 1815 stattfand, ordneten die Diplomaten unterdessen Europa neu. Deutschland wurde dabei jedoch nicht zu einem Staat zusammengefasst, die 41 Länder und Stadtstaaten schlossen sich nur locker im »Deutschen Bund« zusammen. Das Rheinland und die Moselregion wurden dem starken Preußen zugeschlagen.

Doch kaum fiel die Bedrohung von außen weg, erlahmte auch schon der Reformwille Friedrich Wilhelms III. Und auf den König kam es an, denn Preußen war noch immer eine absolutistische Monarchie: Der König konnte Gesetze ohne Zustimmung eines Parlamentes erlassen, Haftbefehle anordnen, Bücher verbieten, Bischöfe einsetzen und Kriege beginnen.

Als bei der 300-Jahr-Feier zur Reformation 1817 Studenten auf der Wartburg eine deutsche Republik forderten und Symbole der Obrigkeit verbrannten, ließen die Reaktionen nicht lange auf sich warten. In den Karlsbader Beschlüssen wurde eine strenge Zensur eingeführt. In der Folge verloren viele Wissenschaftler und Publizisten ihre Stellungen. Die Unterdrückungen setzten wieder ein – besonders hart traf es das Rheinland, das ja gut zwei Jahrzehnte die Vorzüge französischer Rechtssicherheit hatte genießen dürfen. Hinzu kam: Im ständig umkämpften deutsch-französischen Grenzgebiet wollte niemand viel investieren – der preußische Staat nicht und deutsche Geschäftsleute erst recht nicht.

Und so bildete zu dieser Zeit die Gegend um Trier ein, vielleicht sogar das Armenhaus Deutschlands. »Ich habe noch nie so ausgemergelte und ausgehungerte Gestalten gesehen wie in der Trierer Gegend!« Dieses vernichtende Urteil fällte nicht etwa ein Kritiker der deutschen Obrigkeiten, sondern einer der Anführer der Befreiungskriege gegen Napoleon, der spätere preußische Generalfeldmarschall Gneisenau.

Die Zahlen: 80 Prozent der Bevölkerung von Trier lebten am Existenzminimum, von denen 25 Prozent auf öffentliche Fürsorge und Almosen angewiesen waren. Und täglich drängten neue Arbeitslose, verarmte Winzer und Tagelöhner aus der Umgebung in die Stadt.

Die Situation für die Familie Marx im Jahr 1818 sah also folgendermaßen aus: Sie sind umgeben von verfallenden römischen Ruinen in ihrer Stadt, allerlei kirchlichen Bauten und einer wachsenden Anzahl Mittelloser. Nach einem kurzen Schnuppern an der französischen Freiheit haben die Preußen das Sagen. Und auch die jüdischen Wurzeln stehen dem beruflichen Erfolg des Vaters und dem Ansehen der Familie wieder im Wege. Allen Reformen zum Trotz – wenn Karls Vater weiter Rechtsanwalt bleiben will, darf er kein Jude mehr sein.

Und so geht er noch einen Schritt weiter: Anfang des Jahres 1817 tritt Herschel Marx zum Protestantismus über und nennt sich nun Heinrich, in seinem Reisepass steht sogar Henry. Seine Ehefrau dagegen blieb mit Rücksicht auf ihren Vater weiterhin Jüdin.

In diese Situation hinein wird am 5. Mai im Jahr 1818 Karl Marx als drittes von neun Kindern des Rechtsanwalts Heinrich Marx und dessen Frau Henriette in Trier geboren.

Ob man will oder nicht – jeder Mensch muss auf die historische Herausforderung, die seine Zeit an ihn stellt, antworten – durch die Art, wie er sein Leben gestaltet. Das kann man tun, indem man die Tradition fortsetzt. Wie beispielsweise Karls Großvater: Er stammte aus einer bekannten Rabbinerfamilie und war selbst Rabbiner geworden. Nach seinem Wunsch wären auch sein Sohn und sein Enkel Karl Rabbi geworden – doch die Dinge entwickelten sich anders.

Schon Karls Vater hatte anders auf die Anforderungen seiner Zeit reagiert. Er hatte mit der Familientradition der Rabbinertätigkeit gebrochen, hatte Jura studiert und war Rechtsanwalt geworden, später sogar evangelischer Christ.

Armenhaus statt Marmor

Als Karl ein Jahr alt wurde, zog die Familie in die Simeonstraße 8, nur knapp zwanzig Meter von der Porta Nigra entfernt, dem einst prächtigen Stadttor aus römischer Zeit. Das Haus aus dieser Zeit steht noch, doch zum »Marx-Haus« in Trier wurde später sein viel kleineres Geburtshaus gemacht. Es ist heute eine der vielen historischen Sehenswürdigkeiten der idyllischen Moselstadt mit ihrer langen Vergangenheit, zunächst als Römerstadt und danach noch lange als Bischofssitz.

Ganz so idyllisch wie heute ging es zu Karls Zeiten nicht zu. Die Gebäude aus der römischen Zeit, auch das imposante Tor, waren weitgehend verfallen, die Marmorfassaden gestohlen, und aus Fenstern und Toren wuchsen Büsche, ja ganze Bäume. Auch die Bevölkerungszahl war geschrumpft, es lebten gerade noch 12.000 Menschen zwischen den Ruinen der Stadt.

Aus Karls Kindheit ist sehr wenig bekannt, über vieles kann deshalb nur spekuliert werden. So zum Beispiel, ob der kleine Karl am achten Tag nach der Geburt beschnitten wurde und einen jüdischen Namen erhielt. Denn nach den jüdischen Regeln wird ein Neugeborenes automatisch jüdisch, wenn die Mutter eine Jüdin ist. Oder hatte sich der Vater einfach darüber hinweggesetzt?

Vermutlich nicht, denn Heinrich Marx war zwar protestantischer Christ geworden, doch eher der Not gehorchend statt aus Überzeugung. Außerdem hielt er weiterhin gute Kontakte zur alten Glaubenswelt, er vertrat als Anwalt die jüdische Gemeinde, und zusammen mit dem jüdischen Hausarzt der Familie, Dr. Lion Berncastel, erwarb er drei Weinberge in der Umgebung. Fest steht jedenfalls: Christlich getauft wurde Karl zusammen mit seinen Geschwistern erst im Jahr 1824, als er sechs Jahre alt war.

Der Vater betrieb seine Anwaltskanzlei, deren Klienten vor allem Handwerker und Winzer der Umgebung waren. Er bemühte sich jedoch gleichzeitig um Anschluss zur bürgerlichen Welt Triers – so war er Mitglied der »Gesellschaft für literärische Casinos«, kurz Kasinogesellschaft genannt, die eine Bibliothek und einen Lese- und Ballsaal betrieb und einen Großteil des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt organisierte. Daheim ließ Heinrich Marx auch gern mal ein Zitat von Schiller oder Goethe fallen.

Die Mutter dagegen blieb in der jüdischen Welt verwurzelt. Das begann schon damit, dass sie Jiddisch sprach, genauer gesagt eine Mischung aus Jüdisch, Niederländisch und Deutsch. So nannte sie ihren Sohn »Karell«. Mit Widerwillen und erst nachdem der Großvater, ihr Vater, gestorben war, ließ sie sich ebenfalls protestantisch taufen.

Marxs Kinder und Enkelkinder wussten aus familiären Erzählungen, dass der kleine Karl seinen Schwestern und Cousinen ständig seine selbst fabrizierten Kuchen aus Sand zu essen gab und ihnen zur Belohnung wunderbare Geschichte erzählen konnte. Mit seinen dunklen Augen und seinen dunklen Locken war er offenbar der kleine Tyrann, der im Mittelpunkt stand und sich im Kreise seiner Familie pudelwohl fühlte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr erhielt er häuslichen Privatunterricht.

War es jedoch wirklich so, dass die Eltern in Karl ihr »Glückskind« sahen, seinen »hellen Verstand, sein reines Gefühl und seine Aufrichtigkeit« lobten? Immerhin bekennt der Vater in einem späteren Brief an den Studenten Karl: »Ich will und kann meine Schwäche gegen Dich nicht verbergen. Mein Herz schwelgt zuweilen in Gedanken an Dich und Deine Zukunft.«

Die Welt der evangelischen Protestanten in der katholischen Bischofsstadt Trier war klein, mit 300 Mitgliedern nicht viel größer als die Welt der Juden in der Stadt. Deshalb war es auch kein Zufall, dass sich die Familie Marx mit der ebenfalls protestantischen Familie des geheimen Regierungsrates Ludwig von Westphalen befreundete. Und in dieser Familie stand das älteste und hübscheste Mädchen im Mittelpunkt: Johanna Bertha Julie Jenny von Westphalen, genannt Jenny. Sie war ein kluges und durchsetzungsfähiges Mädchen und verstand es früh, ihre wachsende Schönheit und ihren natürlichen Charme einzusetzen.

Jenny freundete sich mit der zwei Jahre jüngeren Sophie Marx, der älteren Schwester von Karl, an – und beide Mädchen schleppten ihre kleineren Brüder ständig mit sich herum: Edgar und Karl. Die vier bildeten längere Zeit ein Gespann, dessen Mittelpunkt abwechselnd mal Jenny, mal Karl bildete.

Doch Jenny und Karl entwickelten sich auseinander – ganz nach den damaligen Konventionen, die für Jungen und Mädchen unterschiedliche Wege ins Erwachsenenleben vorsahen. Junge, noch dazu adlige Frauen wurden dazu erzogen, Heiraten, Kindergebären und Repräsentieren als Ziele anzustreben. Neben Lesen und Schreiben standen deshalb vor allem Singen, Klavierspielen, Konversation, Handarbeiten und etwas Fremdsprachen auf Jennys Unterrichtsplan.

Karl dagegen besuchte ab 1830 das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Trier, das aus einer ehemaligen Jesuitenschule hervorgegangen war. Dort erhielt er Unterricht in Deutsch, Französisch, Mathematik, Physik, Geschichte, Geografie und Religion. Vor allem jedoch musste er die alten Sprachen büffeln: Griechisch und Latein.

In der Schule wurde er bald »Mohr« genannt – ein Name, den er sein Leben lang beibehalten sollte. Warum? Das erklären zwei Bilder, auf denen er abgebildet ist, übrigens die einzigen, die wir vom jungen Marx haben: Auf einem Gruppenbild mit seinen Mitschülern ist Karl mit dichtem schwarzem Bart- und Kopfhaar zu sehen, Letzteres sehr gelockt. Und eine spätere Porträtzeichnung aus der Berliner Studentenzeit lässt erkennen, dass er auch einen dunklen Hautton hatte.

Der »Mohr« blieb ein Außenseiter in der Schule, ob seine Mitschüler ihn wegen seiner jüdischen Herkunft oder seines dunklen Aussehens nicht leiden konnten, wissen wir nicht. Doch die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Denn seine Schulkameraden tat Karl später ohne Ausnahme als »Dorftrottel« und »Bauernlümmel« ab, von denen die meisten aus purer Bequemlichkeit »Pfaffen« werden wollten.

Liberale Vorbilder

Dagegen sah Karl zu seinen Lehrern auf. Sie waren fast alle liberale Humanisten mit einen breiten Allgemeinwissen – allen voran der Schuldirektor Johann Hugo Wyttenbach, der auch Karls Klassenlehrer war. Wyttenbach war Gründer und Vorsitzender der Stadtbibliothek, Gründer der Kasinogesellschaft und ein leidenschaftlicher Republikaner. Während der französischen Besatzung hatte er für die Regierung gearbeitet, weil er die Republik für fortschrittlicher als den deutschen Untertanenstaat hielt. Außerdem konnte Wyttenbach viele Kulturgüter vor der Vernichtung oder der Beschlagnahmung durch die Franzosen retten. Denn die Franzosen waren der Meinung, die größten Kunstwerke der Menschheit sollten in der freiesten Nation der Welt zu Hause sein – also in ihrer. Als die Preußen das Rheinland übernahmen, beließen sie Wyttenbach zwar in seinem Schulamt, aber er stand unter ihrer Beobachtung.

Die andere Person, zu der Karl aufschaute, war Jennys Vater, Ludwig von Westphalen. Dieser Mann war das genaue Gegenteil eines preußischen Beamten, wie er so gern klischeehaft dargestellt wird. Obwohl er einer der hochrangigen Verwaltungsmänner in Trier war, hatte er den Mut, staatliche Ungerechtigkeiten anzuprangern. Er diskutierte mit anderen Stadtgrößen offen darüber, ob es Preußen zulassen dürfe, dass die Moselregion immer weiter ins Elend stürzte. Deshalb wandte sich der Oberbürgermeister von Trier, Wilhelm von Haw, in einem Hilfebrief direkt an die Regierung in Berlin. Doch statt der erhofften 1500 Taler für die Armutsbekämpfung erhielt die Stadt nur 600. Karl und Jenny verfolgten diese Debatten genau mit.

Vor allem jedoch wurde im Hause von Westphalen die Literatur hochgehalten. Man las Dante, Goethe, Schiller und vor allem Shakespeare; einige Familienmitglieder konnten ganze Passagen auswendig vortragen. So hat Karl mit Sicherheit auch von Shakespeares »Romeo und Julia« gehört. Von der Liebe, die nicht erfüllt werden konnte, weil die Familienoberhäupter die Verbindung zwischen Romeo und Julia verboten. Ging Karls Sympathie für Jenny schon in dieser Zeit über eine Jugendfreundschaft hinaus?

Jenny war immerhin vier Jahre älter als er – in diesem Alter ist das eine schier unüberbrückbare Entfernung. Während Karl noch ein Junge war, befand sich Jenny mit sechzehn, siebzehn, spätestens mit achtzehn Jahren in dem Alter, in dem junge Frauen damals bereits an das Heiraten dachten und »unter die Haube« gebracht werden sollten.

Und so geschah das Unvermeidliche: 1831, Karl war gerade dreizehn Jahre alt, verlobte sich Jenny – noch dazu mit einem Militär. Der schneidige Secundeleutnant Karl von Pannewitz aus Schlesien hatte sie mit seinen guten Umgangsformen im Sturm erobert. Doch es dauerte nicht lange, und Jenny ertrug ihren Verlobten nicht mehr. Er war ihr einfach zu engstirnig. Für einen preußischen Soldaten gehörten ein wenig Bildung und Wissen zur gesellschaftlichen Grundausstattung, aber in Grenzen. Da lag er bei Jenny jedoch falsch: Die begnügte sich nicht mit Handarbeiten, ein bisschen schöngeistiger Literatur und Klatsch über den letzten Stadtball. Sie wollte über ernste Literatur, soziale und politische Themen diskutieren. Wie stand Leutnant von Pannewitz zum Beispiel zur Julirevolution, die ein Jahr zuvor Frankreich erschüttert hatte? Jenny wollte dazu nicht schweigen, nein – sie hatte eine Meinung, aus Sicht des Leutnants auch noch die völlig falsche: Sie war nicht nur gegen das Eingreifen der Armee, sie zeigte Sympathien für die Aufständischen!

Wer letztlich die Geduld verlor – sie oder er –, ist trotz der vielen Briefe, Dokumente und Biografien nicht überliefert. Auf jeden Fall wurde die Verlobung im Herbst 1831 schon wieder aufgelöst. Und vermutlich hörte man in Trier einen großen Aufprall, als einem gewissen jungen Mann in der Simeonstraße 8 ein riesiger Stein vom Herzen fiel.

Karls geliebte Jenny war wieder frei.

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Adlig, schön und gebildet — ein Porträt von Jenny von Westphalen

Jede Kritik im Keim erstickt

In der folgenden Zeit drängten sich allerdings andere Ereignisse in den Mittelpunkt. Denn die Julirevolution in Frankreich zeigte mit einiger Verzögerung auch Auswirkungen in deutschen Landen. Nun begehrten auch Deutsche auf: Stellvertretend für das Volk trafen sich 1832 Studenten und Gelehrte beim sogenannten Hambacher Fest, bei dem unter anderem Redefreiheit gefordert wurde.

Die Ansprachen, die dort gehalten wurden, verbreiteten sich zur Sorge des preußischen Staates schnell im ganzen Land. Deshalb durchsuchten Polizeibeamte einige Wochen später auch das Trierer Gymnasium – und wurden fündig: Reden des Hambacher Festes und andere aufrührerische Literatur wurden sichergestellt, ein Schüler wurde festgenommen und der ohnehin schon verdächtige Schuldirektor Wyttenbach unter »staatliche Aufsicht« gestellt.

Auf einem Fest der Kasinogesellschaft kam es 1834 zu einem neuen Eklat. Regelmäßig trat dort Heinrich Marx als Festredner auf. Auch dieses Mal hatte er die Ergebenheit gegenüber dem preußischen König betont: »Darauf lasset uns in tiefstem Vertrauen einer heiteren Zukunft entgegensehen, denn sie beruhet in der Hand eines gütigen Vaters, eines gerechten Königs« – aber er hatte noch etwas hinzugefügt: »dessen Hochherzigkeit wir die ersten Institutionen einer Volksvertretung verdanken.«

Nicht nur in den Ohren der anwesenden Polizeispitzel klang das zynisch, denn der König erlaubte zwar Parlamente wie den »Rheinischen Landtag«, verbot jedoch gleichzeitig jede Art von demokratischer Versammlung. Außerdem waren nach Marx’ Rede in ausgelassener Stimmung neben den üblichen und eher harmlosen Liedern auch Lieder mit aufrührerischen Texten gesungen worden, sogar die »Marseillaise«, die berühmte Hymne aus der Französischen Revolution.

Und gleich am nächsten Tag hatte in Trier die Gerüchteküche angefangen zu brodeln: Es seien in der Anwesenheit von Lehrern und hohen Beamten revolutionäre Lieder vorgetragen worden, und Heinrich Marx habe staatsfeindliche Äußerungen getan.

Die ganze Familie Marx hielt jedenfalls für einige Wochen den Atem an – bis Bürgermeister von Haw die Angelegenheit ohne Konsequenzen für Heinrich Marx beilegen konnte. Allerdings musste die Kasinogesellschaft aufgelöst werden. Später wurde sie dann als »Erholungs«-Gesellschaft wiederbelebt.

Am ärgsten jedoch traf es den Vorsitzenden der Kasinogesellschaft: Wyttenbach wurde – als letzte Verwarnung vor der Absetzung – ein reaktionärer preußischer Beamter namens Dr. Vitus von Loers als stellvertretender Schulleiter zur Seite gestellt. Heinrich Marx nahm an der Einsetzungsfeier dieses Mannes teil und klagte später über die Erniedrigung, die Wyttenbach dadurch erfahren habe. In Karls Augen hatte sich der Vater durch seine Teilnahme an der Feier sehr unterwürfig verhalten.

Als Karl im Sommer 1835 zum Abitur zugelassen wurde, wollte er eigentlich nur so viel Leistung erbringen, wie zum Bestehen der Prüfungen notwendig war. Doch er hatte Pech: Die Abiturordnung war ein Jahr zuvor neu und streng geregelt worden. Bis dahin konnten Abiturienten praktisch mit jedem Zeugnis an einer Universität studieren. Nun jedoch wurden ihr Wissen und ihre Sprachfähigkeiten in sieben schriftlichen und dreitägigen mündlichen Prüfungen auf Herz und Nieren geprüft. Karl strengte sich nur beim Abfassen des »Berufswahl-Aufsatzes« an, und so bestand er das Abitur schließlich mit einem »Befriedigend« (Gesamtnote 2,6).

Romeo oder Othello?

Schon der Siebzehnjährige fühlte sich der Gesellschaft verpflichtet, wie er in seinem Abituraufsatz erklärte. Darin wurde er zu pathetischen Ausführungen über die Pflicht gegenüber der Gemeinschaft angehalten, doch klingt an einigen Stellen schon die persönliche Einsatzbereitschaft des jungen Karl an: »Wenn der Jüngling nur für sich schafft, kann er wohl ein berühmter Gelehrter, ein großer Weiser, ein ausgezeichneter Dichter, aber nie ein vollendeter, wahrhaft großer Mann sein. Die Geschichte nennt diejenigen als die großen Männer, die, indem sie für das Allgemeine wirkten, sich selbst veredelten.«

Und deshalb nahm er den Fehdehandschuh auf, den der preußische Staat dem liberalen Trier hingeworfen hatte – aber auf seine Weise. Nach der Abiturprüfung war es eigentlich Sitte, dass die Absolventen Rektor und Konrektor noch einmal aufsuchen, um sich persönlich zu verabschieden. Karl aber besuchte seinen verehrten Wyttenbach und nicht Loers.

Dafür wurde er vom Vater getadelt: »Herr Loers hat es sehr übel empfunden, dass du ihm keinen Abschiedsbesuch gemacht hast … Ich musste mich zu einer unschuldigen Lüge entschließen und ihm sagen, wir seien während seiner Abwesenheit dort gewesen.« Das genau machte den Unterschied zwischen Vater und Sohn aus: Heinrich Marx taktierte, er wollte Veränderungen, aber innerhalb des Rahmens, den die Gesellschaft ihm vorgab. Sein Sohn Karl dagegen wollte mit dem Kopf durch die Wand.

Während seiner Kindheit hatte Karl in der Familie sowie in deren Freundeskreis die Rolle des kleinen Prinzen gespielt. Mit seinen Locken und seinem natürlichen Charme konnte er alle verzaubern und deshalb auch alle drangsalieren. Doch würde er diese Rolle auch draußen in der Welt spielen können? Oder würde er sich wie die meisten jungen Männer nur »die Hörner abstoßen« und dann eine gewöhnliche juristische Laufbahn einschlagen? Würde er ein Anwalt oder Beamter werden wie seine Lehrer oder wie sein väterlicher Freund Ludwig von Westphalen? Oder eiferte er den Vorbildern aus den Geschichten nach, die er hörte und las? Hatten zum Beispiel Shakespeares Figuren auch sein eigenes Leben beeinflusst?

Mit Sicherheit muss ihm die Parallele zwischen Romeo und Julia und seiner Liebe zur adligen Jenny aufgefallen sein. Allerdings begehen Romeo und Julia Selbstmord, weil ihre verfeindeten Familien gegen die Verbindung der beiden Liebenden sind. Karl dagegen glaubte nicht daran, dass es unüberwindbare Schranken gab. Und für diese Haltung fand sich bei Shakespeare ebenfalls ein Vorbild: Othello. Obwohl Othello dunkelhäutig ist und deshalb auch »Mohr« genannt wird, hat er es in der venezianischen Armee zum Feldherrn gebracht. Und er heiratet seine Geliebte gegen den Willen des Vaters.

Aber ganz so überzeugt war Karl offenbar doch noch nicht davon, dass er wie Othello dem Schicksal trotzen konnte. Denn warum sollte ein angehender Othello Rechtswissenschaften studieren? Karl Marx aber tat genau das: Im Herbst 1835 begann er ein Studium der Rechtswissenschaften in Bonn.

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Mit Charme und Haarlocken — Karl als junger Student

Gene, Vorbilder oder Eigensinn — was formt den Charakter?

Warum werden die einen zu Verlierern, während die anderen scheinbar geborene Sieger sind? Seit Jahrhunderten wird darüber gestritten, ob der Charakter eines Heranwachsenden durch die Herkunft vorherbestimmt ist ober ob er durch Erziehung, die Umwelt oder Vorbilder geprägt wird. Heute herrscht unter Pädagogen und Wissenschaftlern weitgehend Einigkeit: Gut die Hälfte unseres Verhaltens ist genetisch festgelegt, das heißt, es wird durch das Erbgut, das wir über unsere Eltern von unseren Vorfahren bekommen haben, vorherbestimmt. Aber welche Hälfte das ist, das ist die entscheidende Frage. Die Erziehung wurde lange Zeit als der wichtigste Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes angesehen: Sie soll angeblich das soziale Verhalten bestimmen, aber auch entscheidend dafür sein, wie stark ein Mensch seine Anlagen ausschöpfen und sich für seine Aufgaben engagieren kann. Allerdings: Mit der Erziehung lassen sich zum Beispiel die Biografien von Menschen, die eine fast schicksalhafte Bestimmung haben, nicht erklären. Musiker zum Beispiel, die in einer Welt ohne Instrumente aufgewachsen sind und später plötzlich wissen, dass sie Pianisten werden wollen. Oder geniale Wissenschaftler wie Albert Einstein. Er hat in seiner Kindheit zwar nicht gesprochen, aber stattdessen ein eigenes mathematisches System im Kopf entwickelt. Es kommt weit weniger auf die Erziehung an, als allgemein angenommen wird. Deshalb können auch Heranwachsende durchatmen, falls sie das Gefühl haben, die falschen Eltern zu haben. Es ist nicht ganz so wichtig. Als junger Mensch braucht man aber Personen, an denen man sich orientieren kann und die sich auch durch ein konsequentes Verhalten auszeichnen. Kinder haben ein gutes Gespür, wenn sich Erwachsene widersprüchlich zeigen — wenn Eltern beispielsweise große Reden über gesunde Lebensführung schwingen, um dann mit dem Feuerzeug in der Hand auf dem Balkon zu verschwinden. Wenn wir jung sind, suchen wir uns Vorbilder. Aber für welche entscheiden wir uns? Hier setzt die Skriptpsychologie von Eric Berne an: Wir suchen uns unbewusst biografische Leitbilder — häufig schon in der Kindheit. In Anlehnung an Filmdrehbücher werden diese unbewussten Lebensprogramme »Skripte« genannt. Als Kind orientiert man sich häufig an den Lebensgeschichten anderer. »Ein Kind erlebt im Laufe seiner Entwicklung alle möglichen schwierigen Situationen, die es irgendwie bewältigen muss«, erläutern Renate und Ulrich Dehner. »Es zieht daraus Schlussfolgerungen für sich, zum Beispiel was für eine Person es selbst ist und wie man mit dem Leben klarkommt. Jeder Mensch entwickelt ganz bestimmte Glaubenssätze über sich, manche hilfreich, manche schädlich.« Es können knappe Glaubenssätze sein wie: Ich muss perfekt sein. Ich schaffe das nie. Ich bin nicht liebenswert. Seltener: Ich schaff das. Alle mögen mich! Häufig entstehen diese Skripte in der Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kindern, indem die Kinder die tatsächlichen oder eingebildeten Reaktionen der Eltern in einem Glaubenssatz bündeln. Andere Heranwachsende dagegen holen ihre Skripte von Vorbildern aus dem realen Umfeld, aber auch aus Märchen, Dramen, Filmen und TV-Serien. Aschenputtel oder Harry Potter — oder Romeo und Othello wie im Falle von Karl Marx. Es kann also gut sein, dass es an einem gewissen, für manche Menschen sogar entscheidenden Moment davon abhängt, welche Lebensbotschaft jeder Einzelne für sein eigenes Leben wählt.

Vom Bonner Kneipverein zum Berliner Doktorclub. Karl Marx erringt nicht nur einen Doktorhut

Gerade das geordnete Berlin mit seinen Schlössern, Kasernen und großzügigen Parkanlagen erweist sich für den jungen Karl Marx als die wahre Hölle. Immer öfter stürzt er sich in einen seiner Exzesse: Entweder liest, schreibt und dichtet er mehrere Tage ununterbrochen, um am Ende das Ergebnis zu verwerfen. Oder er lässt sich von Mitstudenten bis in die Morgenstunden zechend durch die Cafés, Kneipen und Absteigen der Hauptstadt schleppen.

Nach einer solchen Tour kann Marx nicht mehr einschlafen, in seinem Kopf drehen sich sämtliche Gedanken und Sorgen wie in einem wilden Karussell: die wartende Jenny, der fordernde Vater, die offene Hand des Vermieters, das abgebrochene Jurastudium, die vielen angefangenen Projekte und der krakenhafte Hegel mit seiner verlockenden, aber süchtig machenden Philosophie.

Karl Marx bricht zusammen, und der Arzt verordnet ihm eine Kur. Burn-out mit neunzehn Jahren – wie kann das passieren?

Zunächst war der siebzehnjährige Karl Marx nach seinem Abitur von Trier ins nahe gelegene Bonn gezogen, um dort Jura und nebenher Literatur und Philosophie zu studieren.

In der kleinen Universitätsstadt am Rhein lebten zu dieser Zeit rund 700 Studenten – die meisten waren in Landsmannschaften organisiert, seit die Burschenschaften nach dem Hambacher Fest verboten worden waren. Entstanden waren die Burschenschaften nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon. Sie waren Vereinigungen von Studenten, die sich zu einer einheitlichen deutschen Nation bekannten und die Farben Schwarz-Rot-Gold trugen. Karl trat der Trevirania bei, dem Trierer Kneipverein, der seinem Namen alle Ehre machte: Wie bei den Burschenschaften wurde nach strengen Regeln gesoffen und hin und wieder auch debattiert.

Das gefiel Karl – auch später sollte er gern nächtelang durchzechen und jeden, der anderer Meinung war als er, mit Argumenten niederringen. Und wenn das nicht gelang, dann eben niederbrüllen oder niederschlagen.

Außerdem hatte er als Treviranier die Ehre hochzuhalten – die eigene, die der Landsmannschaft und die des Landes. Und deshalb prügelte man sich möglichst mit konkurrierenden Landsmannschaften. Besonders verhasst, aber auch gefürchtet war das Borussia-Korps: eine Vereinigung der in Bonn stationierten preußischen Soldaten, deren Mitglieder sich ebenfalls durch die Nächte zechten und randalierten. Verhasst waren sie, weil sie Preußen waren. Und gefürchtet, weil die Soldaten den milchbübischen Studenten kräftemäßig überlegen waren.

So blieb Karl wenig Zeit für Lektüre. Seine juristischen Bücher bedeuteten ihm von Anfang an wenig. Er las sie nur, um sich von seiner Liebe zu Jenny abzulenken und weil er ihr und ihrem Vater durch Bildung imponieren wollte. Immerhin besuchte er regelmäßig seine Vorlesungen. Ihm wurde bescheinigt, dass er »fleißig und aufmerksam« das Studium verfolge.

Außerdem wurde er von seinen Eltern ständig ermahnt. Der Vater, zu dem er einen intensiven Briefkontakt hielt, gab ihm laufend Ratschläge wie diesen: »Wenn du deinem Geiste recht kräftige Nahrung gibst, vergesse nicht, dass der Körper auf dieser erbärmlichen Erde dessen stetiger Begleiter ist und das Wohlbehagen der ganzen Maschine bedient. Ein siecher Gelehrter ist das unglücklichste Wesen auf Erden.«

Die Mutter bat ihn in recht unbeholfenen Sätzen, nicht über die Stränge zu schlagen: »Du darfst dir nicht zu sehr erhitzen, nicht viel Wein noch Kaffee trinken und nichts Scharfes wie viel Pfeffer oder sonst Gewürztes genießen, darfst kein Tabak rauchen und nicht zu lang aufbleiben abends.«

Diese Bitten bewirkten allerdings genau das Gegenteil, denn Karl tat all diese Dinge – und zwar möglichst oft und in steigender Dosierung. So wurde in seinem Abgangszeugnis vermerkt, dass er sich wegen »nächtlichen Ruhe störenden Lärmens und Trunkenheit eine Karzerstrafe« zugezogen habe. Der Karzer war eine Art Gefängniszelle, in die Studenten bei größeren Verstößen gegen die Regeln für ein bis mehrere Tage gesteckt wurden.

Doch bei Karl hatte diese Strafe keine Reue zur Folge – sondern das Gegenteil. Seine Ausschweifungen steigerten sich, genauso wie die Prügeleien. Nach mehreren Handgreiflichkeiten mit den Borussia-Korps kam es zu einer Art Entscheidungskampf: Die Soldaten schlugen ordentlich zu und zwangen die nichtsnutzigen Studenten (darunter auch Karl), vor ihnen niederzuknien und einen Treueschwur auf den preußischen Adel zu leisten.

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Mehr zechen als büffeln — Studenten der Trierer Landsmannschaft in Bonn (Marx ist mit einem Kreuz gekennzeichnet)

Nie wieder wollte sich Karl derart erniedrigen lassen. Und um sich dagegen zu wappnen, besorgte er sich eine Pistole – was Zivilisten eigentlich verboten war. Auf einer Reise nach Köln geriet er in eine Polizeikontrolle, die Waffe wurde gefunden und beschlagnahmt. Als er im Sommer die Bonner Universität verlassen wollte, lief noch ein Verfahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes gegen ihn. Nur weil sein Vater Anwalt war, kam er ungeschoren aus dieser Sache heraus.

So raubeinig Karl auftrat, er hatte auch eine zarte Seite. Denn er träumte von romantischen Stunden und schrieb Gedichte – wie das mit dem Titel »Enttäuschung«:

… Alles möcht’ ich mir erringen,

Jede schöne Göttergunst,

Und im Wissen wagend ringen

Und erfassen Sang und Kunst

Darum laßt uns alles wagen,

Nimmer rasten, nimmer ruhn,

Nur nicht dumpf so gar nichts sagen

Und so gar nichts woll’n und tun …

Auch körperlich war Karl viel empfindlicher, als er sich gab. Das wurde deutlich, als er nach seinem achtzehnten Geburtstag auf Wehrtauglichkeit geprüft wurde. Der Vater hatte ihm geraten, vom Familienfreund Dr. Berncastel ein Attest anzufordern. Dieses bescheinigte, dass Karl »Blut spucke«. Auch wenn das reichlich übertrieben war – Karl wurde zunächst vom Militär zurückgestellt, später dann ganz vom Wehrdienst befreit, weil er »zu schwach auf der Brust« sei. Seine körperliche Konstitution war nicht die beste, und sportliche Übungen standen damals weder auf dem Schulplan, noch wurden sie von Ärzten als kräftigende Maßnahme empfohlen.