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In Business as Usual erklärt Paul Mattick die aktuelle ökonomische Krise verständlich und gänzlich jargonfrei.

Er macht die Grenzen jeglicher Versuche der Politik, die Wirtschaft zu beeinflussen und zu stabilisieren, deutlich. Er legt dar, dass die heutige Rezession nicht eine Folge der Finanzkrise ist, sondern ein Merkmal der wahren Natur des sozialen und wirtschaftlichen Systems, in dem wir leben.

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PAUL MATTICK, geb. 1944, lehrt Philosophie an der Adelphi-Universität New York. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Social Knowledge (1986), Art in Its Time (2003) und Art Works: Geld (2004, mit Katy Siegel). Von 1987 bis 2004 war er Herausgeber des International Journal of Political Economy.

PAUL MATTICK

BUSINESS AS

USUAL

KRISE UND SCHEITERN DES

KAPITALISMUS

AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT VON FELIX KURZ

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EDITION NAUTILUS
Verlag Lutz Schulenburg
Schützenstraße 49a
D-22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2012
Deutsche Erstausgabe
Februar 2012
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Autorenporträt Seite 2: © privat
Druck und Bindung:
Beltz Bad Langensalza
1. Auflage
Print ISBN 978-3-89401-754-5
eBook ISBN 978-3-86438-072-3 (ePub)
eBook ISBN 978-3-86438-073-0 (PDF)

Well, it’s not just me
And it’s not just you
This is all around the world
.
Paul Simon

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Als Ende 2007 das amerikanische Finanzsystem zu kollabieren begann und Billionen Dollar in Rauch aufgingen, waren sich nicht nur Politiker, sondern auch die meisten Experten an den Universitäten und in den Wirtschaftsredaktionen darüber einig, dass die Lage zwar ernst sein möge, Vergleiche mit der Großen Depression aber deplatziert seien. Wenige Monate später jedoch war dieser Vergleich allgegenwärtig, und sei es nur als Folie für die Beteuerung, dass sich die Abwärtsspirale diesmal kontrollieren lasse – sofern die Regierungen das Richtige täten, und zwar schnell. Andernfalls, so der damalige Führer der freien Welt, »this sucker’s going down«. Drei Jahre später schien es tatsächlich, als sei das Schlimmste verhindert worden. Als im Frühjahr 2011 die englische Ausgabe dieses Buches erschien, galt die Rezession als beendet; Wirtschaftswissenschaftler, Politiker und Finanzexperten behaupteten zuversichtlich, der Aufschwung, wenn auch »fragil«, habe bereits eingesetzt.

Bereits im Herbst 2011 jedoch zeigten sich Ökonomen, um nur einige wenige Sätze aus der New York Times zu zitieren, angesichts des ausbleibenden Wirtschaftswachstums »sprachlos« und galt die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit nicht zurückging, als »Signal für wirtschaftlichen Stillstand und die erheblichen Gefahren, die eine Untätigkeit auf Seiten der Politik birgt«, während amerikanische Städte und Bundesstaaten von Bankrott bedroht oder bereits betroffen waren und Rentenpläne, Arbeitslosenunterstützung und zahlreiche Stellen im öffentlichen Sektor kürzten. Am 19. September prognostizierte die Zeitung »ein nachlassendes Wachstum in Europa und wahrscheinlich auch in den Vereinigten Staaten, gewaltige Verluste großer europäischer Banken, weltweit fallende Börsenkurse und eine Kreditverknappung, die es für viele Schuldner schwierig machen wird, neue Darlehen zu bekommen«. Die Eurozone taumelte unterdessen von einer Staatsschuldenkrise zur nächsten und bedrohte Woche um Woche die Stabilität des globalen Finanzsystems. Im November entging Griechenland nur knapp dem Staatsbankrott und beschleunigte damit die Kreditflucht aus Italien und Spanien, die als die nächsten Kandidaten auf der Liste gefährlich überschuldeter Staaten galten, während Frankreich das AAA-Rating für seine Staatsanleihen zu verlieren drohte und Deutschland, die feste Burg [im Orig. dt.] des europäischen Kapitalismus, bei einer Auktion am 24. November 30 Prozent der angebotenen Bundesanleihen nicht verkaufen konnte. So breiteten sich Spekulationen aus, dass der Euro, einst stolzer Rivale des Dollar, mit weitreichenden Folgen für das globale Finanzwesen zusammenbrechen könnte.

Wie gravierend diese Entwicklungen sind, wurde auch in anderer Weise deutlich: nämlich in der Welle von Protesten und sozialen Bewegungen, die um den Globus rollte, von Athen nach Kairo und in andere arabische Länder, nach Madrid, Tel Aviv sowie zuletzt – und am überraschendsten – in die Vereinigten Staaten, wo Tausende von jungen Menschen öffentliche Plätze im Namen jener »99 Prozent« der Bevölkerung besetzten, die aus ihrer Sicht von dem Ökonomie wie Politik beherrschenden »1 Prozent« wirtschaftlich unterdrückt werden. Ein erstaunliches Merkmal dieser Proteste bestand vielerorts in einem Niedergang des Glaubens an die konventionelle Politik, einer Abkehr von der Vorstellung, der Walzer der Wahlparteien könne zu besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen führen. Die Bewegung in den Vereinigten Staaten, die mit einem Aufruf zur Besetzung der Wall Street begann, erwies sich für Politiker und Journalisten als frustrierend, da sie sich weigerte, Forderungen zu stellen, und stattdessen einfach ihre Empörung und Wut über die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zum Ausdruck brachte. Diese Abwesenheit von Forderungen an Lokal- und Bundespolitiker bezeugte zugleich die Bedeutungslosigkeit traditioneller linker Gruppen in der Bewegung, die ihre Programme meist als politische Forderungskataloge formulieren – eine Bedeutungslosigkeit, die ich im letzten, vor diesen Ereignissen geschriebenen Kapitel erkläre.

Angesichts dieser ökonomischen und politischen Entwicklungen kann man sich kaum der Schlussfolgerung entziehen, dass die Wirtschaftskrise, die mit einem lokalen Ereignis – dem Zusammenbruch des amerikanischen Hypothekenmarktes – anfing, ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft darstellt. Um sie zu begreifen, müssen herkömmliche Vorstellungen über den Charakter dieser Gesellschaft überdacht werden.

Noch vor wenigen Jahren gewannen Ökonomen, die erklärten, dass die Marktwirtschaft ein rationales, effizientes und sich selbst korrigierendes System sei, den Nobelpreis; andere wiederum, die diese Auffassung nicht teilten, waren gleichwohl davon überzeugt, durch die richtige Politik lasse sich jede Wachstumsschranke überwinden, auf die der Kapitalismus womöglich stoßen könnte. Beide Spielarten wirtschaftswissenschaftlicher Orthodoxie haben an Glaubwürdigkeit verloren, seitdem die Gewinne der vergangenen Jahre dahingeschmolzen sind wie Gletscher unter den Folgen der globalen Erwärmung – große Vermögen lösten sich an den Börsen in aller Welt in Nichts auf, die neun größten US-amerikanischen Banken verloren Anfang 2008 binnen drei Wochen mehr Geld, als sie in den drei Jahren davor verdient hatten, und die Regierungen hatten unterdessen damit zu kämpfen, den Schaden einzudämmen. Doch obwohl Zeitschriften wie der Economist überraschenderweise durchaus bereit waren, in den gegenwärtigen Störungen eine ernsthafte Gefährdung des Wirtschaftssystems zu sehen (seine Titelgeschichte vom 18. Oktober 2008 hieß »Capitalism at Bay«, »Kapitalismus in Bedrängnis«), scheint es immer noch schwer begreiflich zu sein, dass die derzeitige Krise nicht bloß das Ergebnis von Gier, unternehmerischer Verantwortungslosigkeit und der Deregulierung der Finanzmärkte ist. Gier und unternehmerische Verantwortungslosigkeit sind schwerlich neue Züge der kapitalistischen Gesellschaft. Und wenn der Abbau der Regulierungen, die in den Vereinigten Staaten während und nach der Großen Depression zur Eindämmung exzessiver Finanzgeschäfte eingeführt worden waren, auch dem Schwindel und einem untragbaren Wachstum der Spekulation den Weg gebahnt hat, ermöglichte er zugleich die ungeheure Kreditausweitung, von der das Wohlstandsniveau der letzten zwei Jahrzehnte abhängig war. Um die Große Rezession zu verstehen, darf man nicht bei der Frage stehen bleiben, welchen Anteil an dem Debakel die Instabilität neuartiger Finanzinstrumente – etwa der mittlerweile berüchtigten »Collateralized Debt Obligations« (CDOs, besicherte Schuldverschreibungen) und der »Credit Default Swaps« (CDS, Kreditausfallversicherungen) – sowie deren Duldung durch die Regierungen hatten, und muss den Blick auf die langfristige Dynamik des Kapitalismus selbst richten.

Das vorliegende Buch versucht die gegenwärtige Situation zu begreifen, indem es sie in den Kontext dieser langfristigen Dynamik stellt. Dazu muss natürlich beurteilt werden, welche Aspekte der Vergangenheit am relevantesten sind, um die Gegenwart zu verstehen und über die Zukunft zu spekulieren. Das Unvermögen der Wirtschaftstheorie, das bisherige Geschehen vorauszusehen oder auch nur zu erklären, sollte uns, gelinde gesagt, einen Moment innehalten lassen, bevor wir die Verlautbarungen der miteinander im Streit liegenden Ökonomen allzu ernst nehmen. Deshalb geht der hier vertretene Ansatz von dem Schluss aus, zu dem James K. Galbraith kürzlich aufgrund breiter Kenntnis seiner akademischen Zunft gelangte: Es sei »sinnlos, Diskussionen weiterzuführen, die sich auf die konventionelle Wirtschaftswissenschaft stützen«.1 Stattdessen beziehe ich mich auf das Denken von Karl Marx, der sich nicht als Ökonomen, sondern als Kritiker der ökonomischen Theorie bezeichnete.

Marx’ Lebzeiten liegen lange zurück, und der Kapitalismus hat bedeutende Veränderungen durchlaufen, seitdem Marx Schriften über ihn verfasste. Seine Theorie bewegte sich allerdings auf einem so hohen Abstraktionsniveau, dass sie für das Wirtschaftssystem, in dem wir heute leben, noch immer von Belang ist.2 Zudem sind Marx’ Abstraktionen anderer Natur als die der konventionellen Wirtschaftswissenschaft, die eine überhistorische Gültigkeit beanspruchen: Er betonte gerade die Züge der modernen Gesellschaft, die den Kapitalismus von anderen sozialen Systemen unterscheiden. Deshalb hob er die Rolle des Geldes in der Wirtschaft und insbesondere die Tatsache hervor, dass Unternehmen Profite erzielen müssen. Wie wir sehen werden, ist dies nicht nur für ein allgemeines Verständnis des Wechsels von Prosperität und Depression zentral, sondern auch, um die Grenzen der politischen Maßnahmen zu begreifen, mit denen sich Regierungen – wie zurzeit – darum bemühen, eine angeschlagene Wirtschaft wieder auf den Wachstumspfad zu bringen. Mein Vertrauen in diese Art der Analyse ist durch die Tatsache gestärkt worden, dass ich seit Beginn der Krise im Jahr 2007 im Gegensatz zu den meisten Kommentatoren in der Lage war, ihre weitere Entfaltung vorauszusehen, obwohl ich über weniger Zugang zu Daten verfüge als das Gros der Ökonomen. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass ich gewitzter wäre als andere; vielmehr geht es darum zu wissen, wie man über das Zeitgeschehen nachdenkt. Dieses Wissen ist es, das ich mit den Lesern teilen möchte.

Während Theorie im vorliegenden Buch nicht vermieden wird, da sich die Wirklichkeit ohne sie nicht begreifen lässt, habe ich mir Mühe gegeben, jeglichen Jargon zu vermeiden. Ich setze auf Seiten der Leser weder große Kenntnisse der Wirtschaftswissenschaften noch umfangreiches Wissen über die Wirtschaftsgeschichte voraus; beides soll lediglich so weit vermittelt werden, wie zum Verständnis der aktuellen Ereignisse erforderlich. Mit den vorherrschenden Spielarten der ökonomischen Theorie befasse ich mich in dem Maß, wie sie die Wirtschaftspolitik beeinflusst haben; darüber hinaus gebe ich der Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen wenig Raum (notwendige oder unwiderstehliche Anmerkungen dieser Art sind weitgehend in die Fußnoten verbannt). Historische Daten stammen größtenteils aus offiziellen Quellen. Die Grenzen der Exaktheit solcher Daten sind allgemein bekannt, oder sollten es zumindest sein; obwohl wir sie verwenden müssen, da wir über keine anderen verfügen, sind genaue Zahlen etwa für Wachstumsraten und Arbeitslosigkeit grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen.3

Kapitel 1

Was ist passiert?

Wie lassen sich die Ereignisse beschreiben, die seit 2007 die Weltwirtschaft erschüttert haben? Fast alle scheinen sich darüber einig zu sein, dass es zu einer Finanzkrise kam, die eine Rezession auslöste. Diese wird zwar gewöhnlich als die schlimmste seit der Großen Depression geschildert, nach allgemeiner Auffassung konnte die US-Regierung jedoch durch zügige Rettungsaktionen im Finanzsektor die Gefahr einer Depression abwenden und den »Hoffnungszeichen« für eine wirtschaftliche Erholung den Weg bereiten, die der Präsident der US-Notenbank Ben Bernanke bereits im Spätsommer 2009 ausmachte.4 Eine volle Blüte der Wirtschaft erwarteten einige Ökonomen und Journalisten zwar erst in ein bis zwei Jahren, und beinahe alle waren sich einig, dass mit einem »Aufschwung ohne Arbeitsplätze« zu rechnen sei. Doch die allgemein geteilte Ansicht, als dieses Buch im Sommer 2010 fertiggestellt wurde, lautete, dass wir bereits auf dem Weg aus der Großen Rezession seien, wie man die Krise inzwischen reuevoll nannte – eine Auffassung, die von den Konjunkturforschern des National Bureau of Economic Research (NBER) im September 2010 offiziell mit der Meldung bestätigt wurde, dass die Rezession vor fünfzehn Monaten geendet habe.

Auch über die Ursachen des Zusammenbruchs der amerikanischen Finanzindustrie, der die globale Rezession in Gang gesetzt hatte, bestand allgemein Einigkeit: Er galt als unbeabsichtigte – vielleicht absehbare, von den meisten Ökonomen und Finanzmanagern jedoch nicht vorausgesehene – Folge einer beispiellosen Risikobereitschaft im Finanzsektor, die von dessen sagenhaften Profiten in den 1990er Jahren angetrieben und durch laxe gesetzliche Regulierung gefördert worden sei. Anhänger dieser Sichtweise verweisen beispielsweise auf die enormen Gehälter und Boni, die den professionellen Spekulanten in Banken, Hedgefonds und anderen Finanzunternehmen einen Anreiz geboten hätten, das Geld ihrer Firmen – und vor allem das von diesen geliehene Geld anderer Leute – aufs Spiel zu setzen, um in den Grenzen des gesetzlich Erlaubten (und sogar darüber hinaus) kurzfristig Profite zu erzielen. Um ein besonders naives Beispiel anzuführen: Der Wirtschaftsprofessor und Nobelpreisträger Paul Krugman erklärte in seiner Kolumne in der New York Times, dass »eine Reform der Vergütung von Bankern bei Weitem das Beste ist, was wir tun können, damit sich die Finanzkrise nicht in ein paar Jahren wiederholt«.5

Obwohl riskante Spekulationen mit einem zu hohen Anteil an Fremdkapital ein internationales Phänomen waren, lag der Kern des Problems in den Vereinigten Staaten, dem dominierenden Wirtschafts- und Finanzzentrum der Welt. Dort war das waghalsige Verhalten der Finanzhändler Teil einer Kultur, die allgemein als hemmungslos konsumfreudig beschrieben wird. In den Vereinigten Staaten liehen sich zu viele Privatpersonen zu viel Geld; zu viele Banken vergaben Kredite an unzuverlässige Kunden. Die darin angelegte Gefahr wurde durch eine technische Innovation verstärkt, die Risiken durch Streuung gerade handhabbar machen sollte: die »Verbriefung« von Hypotheken und anderen Kredittypen, die gebündelt und als Wertpapiere verkauft werden. Dabei legt die kreditgebende Bank ihr Geld nicht in einer realen Immobilie fest und wartet auf die Rückzahlung des Kredits, sondern verkauft das Recht auf die Zinseinnahmen aus der Hypothek (oder beispielsweise Kreditkarten) in Form von komplex strukturierten Paketen (CDOs) an Investoren wie andere Banken oder Rentenfonds. Diese Investoren können die CDOs natürlich weiterverkaufen oder als Sicherheit verwenden, um riesige Kredite für den Kauf weiterer Wertpapiere oder für Spekulationen auf dem rasant wachsenden Geschäftsfeld der Derivate aufzunehmen, ein Typus von Investition, den die Financial Times treffend beschrieben hat: Er funktioniert so, »als stelle man einen Spiegel vor einen anderen Spiegel, sodass sich ein Gegenstand ins Unendliche spiegeln kann«; bei Anbruch der Krise waren beispielsweise CDS in Höhe von 62 Billiarden Dollar im Umlauf. Die hypothekenbesicherten US-Wertpapiere, auf denen diese umgedrehte Pyramide von Finanzinstrumenten ruhte, waren im Januar 2007 selbst mit einem Gesamtwert von 5,8 Billiarden Dollar weit über die Preise der realen Immobilien hinausgewachsen. Davon basierten 14 Prozent auf Subprime-Krediten, die Privatpersonen mit geringen finanziellen Mitteln aufgenommen hatten. Als diese Schuldner 2006 in Zahlungsschwierigkeiten gerieten, bekam die Pyramide erste Risse.

Die Zwangsversteigerungswelle von Immobilien hätte nicht überraschen dürfen, da die Reallöhne von Arbeitnehmern, die keine Führungsfunktion ausüben, ihren Höchststand in den 1970er Jahren erreicht hatten und seitdem ebenso stagnierten wie die Beschäftigung (seit dem Jahr 2000 hat insbesondere die arbeitgeberfinanzierte Krankenversicherung einen rapiden Niedergang erlebt). Als die variablen Hypothekenzinsen stiegen, konnten diese von mehr und mehr Schuldnern nicht mehr bezahlt werden. Unterdessen war die US-Notenbank, die Fed, 2004 zu einer Anhebung der Zinssätze übergegangen, nachdem sie die Kreditaufnahme, auch für spekulative Zwecke, zuvor durch Zinssenkungen gefördert hatte. Mit dem Anstieg der Zinsen wurden Hypotheken teurer, Häuser waren schwerer zu verkaufen und die Immobilienpreise stagnierten oder fielen. Dadurch wurde wiederum die Refinanzierung von Hypotheken schwierig oder gar unmöglich – anders als es vielen Hauskäufern von ihren Kreditgebern zugesichert worden war. Im Dezember 2007 standen beinahe eine Million amerikanische Haushalte vor der Zwangsversteigerung. Daraufhin fielen die Hauspreise noch schneller; der Hypothekenmarkt brach zusammen und riss das gesamte Gebäude verbriefter Investitionen mit sich, die inzwischen einen gewaltigen Teil der amerikanischen und weltweiten Finanzanlagen ausmachten.

Alan S. Blinder, ehemals Vorstandsmitglied der Fed und heute wie Krugman Professor an der Princeton University, formulierte es so: »Bei all den raffinierten Sachen – Kreditderivate, Swaps – vergisst man leicht, dass die Ursache des Ganzen fallende Hauspreise sind.« Vom bescheidenen Hausbesitzer bis zu den »Masters of the Universe« an der Wall Street hatte man sich vorgestellt, dass die Hauspreise ewig weiter steigen würden. Als sie dann zu fallen begannen, sahen sich die Institutionen, die Hypotheken gekauft und bei der Kreditaufnahme als Äquivalent hoch bewerteter Häuser eingesetzt hatten, plötzlich außerstande, ihren Verbindlichkeiten nachzukommen. Weil derart viele Institutionen durch den Kauf verbriefter Immobilienkredite in den Hypothekenmarkt verwickelt waren, wurde das gesamte Finanzsystem binnen kurzer Zeit tödlich getroffen: Da immer mehr Zahlungen nicht beglichen werden konnten, wurden bei der Kreditvergabe mehr Sicherheiten verlangt, was den Manövrierspielraum der Institutionen weiter einengte. Große Banken wurden in Fusionen oder den Bankrott getrieben, während der Versicherungsriese American International Group, der Hypotheken in Billiardenhöhe versichert hatte, nur dank einer massiven Finanzspritze der US-Regierung überlebte. Bankkredite waren nicht mehr zu bekommen – und der Kapitalismus lebt vom Kredit: Nicht nur Privatpersonen sind auf ihn angewiesen, um sich mit Kreditkarten von Monat zu Monat zu hangeln, sondern auch Unternehmen jeder Größe, die allwöchentlich Löhne und andere Betriebsausgaben begleichen müssen. So rief die Finanzkrise – dieser Darstellung zufolge – in kurzer Zeit die Große Rezession hervor.

In einer komplexeren Version dieser Geschichte wird eine globale Dimension angeführt: Amerikas wirtschaftliche Expansion der letzten Dekaden ging mit einem wachsenden Handels- und Zahlungsbilanzdefizit gegenüber dem Rest der Welt einher. Die Amerikaner kauften mehr Güter im Ausland, als sie selbst für den Export herstellten. Und das von ihnen ausgegebene Geld floss in die USA zurück, wo es in Aktien, Wertpapiere und Immobilien, aber auch in Staatsanleihen investiert wurde, die den beständigen Dollarfluss aufrecht erhielten, mit dem in aller Welt Güter gekauft wurden – je nach Sichtweise ein Teufelskreis oder ein positiver Kreislauf. Dieser Zufluss trug dazu bei, die amerikanischen Zinssätze niedrig zu halten, was wiederum den Kauf ausländischer Waren sowie die Kreditaufnahme für Häuser und Wohnungen ermöglichte. Daran waren zwar viele Länder beteiligt, zum größten Besitzer von US-Staatsanleihen entwickelte sich jedoch die chinesische Regierung, die so den wachsenden Appetit der amerikanischen Verbraucher auf chinesische Güter finanzierte und zugleich deren Preise niedrig hielt – denn andernfalls hätte der massive Dollarstrom nach China den Wert der chinesischen Währung, des Renminbi6, in die Höhe getrieben und die chinesischen Waren auf dem Weltmarkt entsprechend verteuert. So ließen China und andere Länder mit großen Dollarreserven die amerikanischen Konsumgewohnheiten zu (wie man in einer Entzugsklinik sagen würde), und damit die Schuldenexpansion und übermäßige Spekulation, die zum finanziellen Kollaps führten. In den Worten von Martin Wolf, einem führenden Kolumnisten der Financial Times:

»Einkommensstarke Länder mit elastischen Kreditsystemen sowie Haushalte, die zu einer wachsenden Verschuldung bereit waren, glichen die gewaltigen überschüssigen Ersparnisse im Rest der Welt aus. Die laxe Geldpolitik begünstigte diese übermäßigen Ausgaben, und die Immobilienblase war ihr Vehikel.«7

Im Gegenzug musste eine Welt, deren nationale Ökonomien durch Finanz- und Handelsströme miteinander verflochten sind, zwangsläufig vom Stillstand des Finanzsystems in den Vereinigten Staaten erfasst werden.

Das alles ist so weit durchaus plausibel und deckt sich mit Phänomenen, die jedem Leser der Finanzteile der großen Zeitungen geläufig sind. Die offene Frage scheint darin zu bestehen, welche Maßnahmen nun zu ergreifen sind. Welche Reformen des Finanzsystems sind notwendig – und möglich? Sollte in diesem oder jenem Land ein weiteres Konjunkturpaket aufgelegt werden, um den Motor der Wirtschaft wieder auf Hochtouren zu bringen, oder ist bereits genug ausgegeben worden? Mit welchen Maßnahmen sollte man die Arbeitslosen unterstützen und staatliche Leistungen aufrechterhalten, bis sich die Wirtschaft wieder normalisiert hat? Die optimistischste Variante dieser Sichtweise formulierte John E. Silvia, Chefökonom bei Wells Fargo, in einer »Forschungsnotiz«, die am 29. Juli 2009 in der New York Times veröffentlicht wurde: »Die Rezession ist vorbei, die Wirtschaft erholt sich – schauen wir nach vorn, anstatt unseren Blick in die Vergangenheit zu richten.«

Eine Krise der Wirtschaftswissenschaften

Mit dieser Position unterstrich Silvia lediglich seinen Glauben an die gegenwärtig vorherrschende Tendenz in der Wirtschaftstheorie. Laut den führenden Ökonomen der letzten dreißig Jahre sind die Finanztransaktionen, die für das aktuelle Debakel eine so zentrale Rolle gespielt haben, ein effizienter Mechanismus für die Allokation von Ressourcen. Eben jener Martin Wolf, der nun ein fundamentales Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft beklagt, sah 2004 in den globalen Finanzströmen ein Mittel der Stabilität; sein einziger Vorbehalt lautete: »Wenn manche Menschen (Asiaten) weniger ausgeben möchten, als sie gegenwärtig verdienen, muss man andere dazu ermuntern, mehr auszugeben«.8 Eine in Wirklichkeit – historisch betrachtet – relativ stagnierende Wirtschaft, die sich durch unterschiedlich schwere Rezessionen bewegte und eine endlose Abfolge von Banken-, Schulden- und Währungskrisen durchlief, wurde zu dieser Zeit als im Kern stabil dargestellt. So schrieb der Nobelpreisträger Robert E. Lucas Jr. im Wall Street Journal – Ende 2007, als der Hypothekenmarkt bereits aus den Fugen geriet –, er sei »skeptisch gegenüber der Argumentation, dass das Problem der Subprime-Immobilienkredite den gesamten Hypothekenmarkt kontaminieren wird, dass der Wohnungsbau zum Erliegen kommen und die Wirtschaft in eine Rezession abgleiten wird. Jedes Glied in dieser Argumentationskette ist fragwürdig und keines ist je quantifiziert worden. Wenn wir etwas aus den vergangenen zwanzig Jahren gelernt haben, dann ist es die Tatsache, dass die Realwirtschaft über ein hohes Maß an Stabilität verfügt.«9

Jegliche Störung konnte diesem Verständnis des Kapitalismus zufolge ihren Ursprung nur außerhalb des eigentlichen wirtschaftlichen Mechanismus haben – insbesondere in falscher Regulierung, Finanz- und Geldpolitik seitens der Regierung.

Dergestalt bekräftigte die Wirtschaftswissenschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert das rosige Bild des privatwirtschaftlichen Systems, durch das sich die Disziplin in ihren frühesten Tagen ausgezeichnet hatte. Während des 19. Jahrhunderts behauptete die ökonomische Orthodoxie, der natürliche Zustand einer kapitalistischen Wirtschaft sei die gesunde Auslastung aller Ressourcen, um die maximale Menge an Konsumgütern zu produzieren. Denn wie bereits Adam Smith in Der Wohlstand der Nationen