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CHRISTOPH TWICKEL
GENTRIFI
DINGSBUMS
ODER EINE STADT FÜR ALLE

 

 

 

 

EDITION NAUTILUS

Mein Dank gilt den Aktivistinnen und Aktivisten von Komm in die Gänge, No BNQ, Einen Gang zulegen, Schreberspacken, Local Organized Multitude (LOMU), Es regnet Kaviar, der Roten Flora, des Centro Sociale, dem Einwohnerverein St.Georg und den anderen Initiativen des Hamburger »Recht auf Stadt«-Netzwerks, dem Schwabinggrad Ballett, dem Euromayday, dem Buttclub, den Machern der Dokumentation »Empire St. Pauli«, der Redaktion von »Unter Geiern«, dem Ehrenfelder-Magazin aus Köln, dem Freiräume-in-Bewegung-Netzwerk aus Düsseldorf, der LAG Soziokultur NRW, Hannah Kowalski, Marion Walter, Christine Ebeling, Florian Tampe, Ted Gaier, Katharina Köhler, Torsten Seif, Rocko Schamoni, Peter Lohmeyer, Melissa Logan, Susie Reinhardt, Armin Chodzinski, Norbert Hackbusch, Siri Keil, Robert Jarowoy, Sacha Essayie, Gerald Wolf, Michalis Pichler, Sven Stillich, Christoph Schäfer, Rolf Weilert, Marc Meyer, Chara Ganotis, Tino Hanekamp und Tina Petersen.

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg | Schützenstraße 49 a | D - 22761 Hamburg |

www.edition-nautilus.de | Alle Rechte vorbehalten |

© Edition Nautilus 2010 |

Autorenfoto Seite 2: Dirk Pudwell |

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, www.majabechert.de |

Originalveröffentlichung | Erstausgabe August 2010 |

Druck & Bindung: Fuldaer Verlagsanstalt |

2. Auflage Januar 2011 |

Print: ISBN 978-3-89401-726-2 | eBook: ISBN 978-3-86438-018-1 (ePub) | ISBN 978-3-86438-019-8 (PDF)

Vorwort

Gentrifi... was? Das Dingsbums geht nicht leicht über die Lippen. Aber es ist da. Es fällt dir auf, wenn du dich eines Sonntagmorgens fragst: Wann bin ich eigentlich zum letzten Mal wach geworden, weil jemand einen Nachbarn mit der Hupe rausgeklingelt hat? Heute ist nur noch das Raspeln von Rollkoffern auf dem Pflaster zu hören. Du bemerkst es, wenn auf dem Spielplatz keiner mehr nach »Kevin« oder »Cem« ruft. Wenn auf dem Bauschild vor dem Apartment-Rohbau steht: »Der Kiez freut sich auf Sie!« Wenn nachts um halb zwei immer noch Leute mit Laptop in der Bar sitzen. Wenn das Fleischerei-Fachgeschäft einem Adidas-Flagship-Store weicht und du dich kaum mehr daran erinnerst: Wann war das noch mal, als die Fixerstube dicht gemacht und dort dieses freundliche Café eröffnet hat? Da sitzt du nun, bestellst die hausgemachte Zitronen-Tarte und liest von den hässlichen Seiten der Stadt in der Zeitung: Das Kleinkind, das in einer Großsiedlung an Unterernährung stirbt. Die alkoholisierten jungen Männer osteuropäischer Herkunft, die sich in einem »Problemstadtteil« eine Schlägerei mit der Polizei liefern. Gut, dass man da nicht wohnt! Sondern halt in den »üblichen Vierteln«, wie es auf den kopierten Zetteln mit den abreißbaren Telefonnummern heißt, die an den Ampeln kleben: »Wir (w 28, m 33), Akademiker, solvent, suchen Altbauwohnung in den üblichen Vierteln.«

Yuppisierung, Schickimickisierung, Lattemacchiatisierung. Wie auch immer man das Dingsbums nennen mag: Es ist eine Maschinerie, die die Teilhabe an der Stadt über Geld und Herkunft regelt. An ihren Schalthebeln mögen die politische Klasse, die Bauwirtschaft, Immobilienfonds, Banken und Investoren sitzen. Doch sie macht eben auch Leute zu Rädchen der ökonomischen Aufwertung, die das gar nicht im Sinn haben und ihr am Ende selbst nicht standhalten. Dass die Pioniere – die Studierenden, die Künstler, die Bohemiens und die Alternativkultur – ihr Schmiermittel sind, erklärt die Ratlosigkeit, die das Gentrifidingsbums in diesen Kreisen oft umweht: Wie soll man etwas bekämpfen, das man doch selbst produziert?

Eine Antwort auf diese Fragen suchte das Manifest »Not In Our Name, Marke Hamburg«, das wir – eine Handvoll Musiker, Künstler, Autoren, Club- und Labelmacher – im Herbst 2009 veröffentlicht haben. Unser Ausgangspunkt war jene Auffassung von Kulturproduktion und städtischer Aneignung, die mit dem Begriff der »kreativen Klasse« des US-Ökonomen Richard Florida zum Mainstream urbaner Standortpolitik avanciert ist: Dass sich Metropolen mit »kreativen Milieus« schmücken müssen, um ein investitionsfreundliches Image zu produzieren. Dagegen haben wir eine kollektive Haltung formuliert, wie sie sich etwa in der Parole der französischen »Coordination des Intermittents et Précaires« ausdrückt: »Keine Kultur ohne soziale Rechte!« Das Manifest gab einem Unbehagen Ausdruck, das offensichtlich nicht nur in Hamburg um sich greift. Der Text verbreitete sich von Blog zu Blog, fand sich nachgedruckt in diversen Zeitungen und wurde zur Blaupause für ähnliche Initiativen in anderen Städten.

Eine andere Antwort haben die Besetzer des Hamburger Gängeviertels gefunden: Mitten in einer innerstädtischen Premium-Lage haben sie die Überbleibsel des historischen Hafenarbeiter-Ghettos besetzt und gegen die Verwandlung des Areals in ein weiteres Büro- und Apartment-Quartier protestiert. Es gelang ihnen nicht nur, bundesweit eine Debatte um Stadtpolitik anzustoßen – sie setzten auch per »kultureller Bespielung« eine handfeste Hausbesetzung durch und schließlich den Rückkauf der Häuser durch die Stadt.

Die »Komm in die Gänge«-Gruppe ist nur die bekannteste unter vielen Initiativen, die sich in Hamburg zum »Recht auf Stadt«-Netzwerk zusammengeschlossen haben. Das Spektrum reicht von Schrebergärtnern über Mieterinitiativen, Parkschützer und Eltern behinderter Kinder bis zur linksautonomen Roten Flora. Auf St. Pauli mobilisiert die Initiative »No BNQ« gegen die Errichtung des Eigentumswohnungs-Komplexes Bernhard-Nocht-Quartier. In St. Georg sammeln Anwohner Unterschriften »gegen die Zerstörung der sozialen Strukturen«. In Altona halten Künstler und Stadtteilaktivisten wochenlang den Siebziger-Jahre-Einkaufskomplex Frappant besetzt, um die Ansiedlung eines Ikea-Möbelhauses zu verhindern. Hunderte von Großplakaten mit dem Slogan »Ikea bringt die Autobahn quer durch Altona« zwingen die Lokalpolitik zu aufgescheuchten Dementis. Eine gefakte Ausgabe der Imagebroschüre »Hamburg: Magazin aus der Metropole« flutet die Hansestadt. Anwohner, Baumschützer und Umweltorganisationen stemmen sich erfolgreich gegen den Bau einer Fernwärmetrasse mitten durch den Grünzug eines Sozialwohnungsgebiets zwischen St. Pauli und Altona. Mit »Fette Mieten Partys« bei Wohnungsbesichtigungen oder einer Leerstandskampagne bringen Aktivisten die Spekulationspraxis von Vermietern in die Öffentlichkeit. Anlässlich einer Managertagung der Immobilienwirtschaft taucht vor einem Luxushotel auf St. Pauli eine orange gewandete Sekte auf, die mit einem psychokinetischen Ritual das Gebäude ins Weltall zu schicken versucht. Mitglieder des Aktionsnetzwerkes gegen Gentrifizierung »Es regnet Kaviar« überkleben Klingelschilder mit nichtdeutschen Namen, um darauf hinzuweisen, dass das städtische Wohnungsunternehmen migrantische Bewohner aus den »üblichen Vierteln« hinausdrängt.

Eine unübersichtliche Multitude, die neue Strategien erprobt und neue politische Spielräume jenseits von kulissenhafter Anwohnerbeteiligung und linksradikalem Puritanismus eröffnet: Bewegungen für das Recht auf Stadt müssen Tools erfinden, um Schneisen in die unternehmerische Stadt zu schlagen. Auch dieses Buch will ein solches Werkzeug sein. Es ist der Versuch, den Hype um die globale und nationale Standortkonkurrenz zu dechiffrieren, der Städte heute zur Beute von Anlagekapital macht und die Gemeinwesen zu Geiseln von Imagepolitik. Es gibt viele kluge und dicke Bücher, die dies allgemeingültiger, wissenschaftlicher, detailreicher analysieren. Auch diese möge man bitte lesen. Ein Vorteil der folgenden Ausführungen liegt vielleicht darin, dass sie aus einer und für eine Grassroots-Perspektive geschrieben sind. Weniger für Stadtplaner, Architekten, Architekturkritiker, Stadtentwicklungspolitiker oder Urbanismusforscher also. Eher für Leute, die sich in eine Polemik über den Wandel ihrer Stadt einmischen möchten. Die das Gentrifidingsbums nicht mit einem Achselzucken quittieren oder für den Lauf der Dinge halten wollen – weil sie die Stadt als ihr Lebensmittel und als das ihrer Nachbarn begreifen.

Hamburg ist häufig das Exempel. Manches findet anderswo ähnlich statt, anderes nicht. In ostdeutschen Städten etwa muss die Sorge weniger dringlich sein, dass subkulturell zwischengenutzte Gründerzeitviertel morgen zum Reservat einer Bionade-Bourgeoisie werden. Dort mag eher die Privatisierung von kommunalen Wohnungsbeständen das Desaster sein. Und wenn hoch verschuldete Ruhrgebiets-Kommunen von Dinslaken bis Oberhausen »Kreativquartiere« ausrufen, entstehen womöglich nur hochsubventionierte, halb leerstehende Enklaven. Bisweilen ist das Gentrifidingsbums nämlich nicht mehr als eine teure Chimäre, die eine Armada von Projektentwicklern, Architekten, Baufirmen, Event- und PR-Agenturen unterhält. Oder wie es kürzlich in einer E-Mail von Aktivisten aus Dortmund stand: »Anders als in Hamburg (Gentrification) lautet die Fragestellung im Ruhrpott: Was passiert, wenn nichts passiert?«

Den Titel des Buches verdanke ich einem Plakat, mit dem Aktivisten rund um den ehemaligen Bauwagenplatz »Bambule« in Hamburg zu einer Demonstration aufgerufen hatten. »Gegen Gentrifidingsbums« lautete der Slogan. Auch das ist ein Etappensieg der jungen »Recht auf Stadt«-Bewegungen in Hamburg und anderen Städten: Aus einem akademischen Fachterminus ist ein politischer Kampfbegriff geworden.

Kapitel 1

Inés oder Profit Center in der Problemzone

Eines Tages stand Inés aus Santiago de Cuba vor der Tür unserer Zweier-WG. Mein Mitbewohner hatte sie bei einer seiner zahlreichen Radtouren über die Karibikinsel kennengelernt. Inés war 32 Jahre alt, Mutter eines sechsjährigen Jungen. In Santiago, ein bei Touristen beliebtes Kolonialstädtchen im kubanischen Oriente, arbeitete sie gelegentlich als Fremdenführerin, weil sie ein wenig Deutsch konnte. In den Achtzigern hatte sie vier Jahre lang im Rahmen der sozialistischen Völkerfreundschaft in einem volkseigenen Betrieb der Kleinstadt Schmalkalden in Thüringen gearbeitet. An diese goldene Zeit fühlte sie sich offensichtlich erinnert, als sie auf Kuba meinen Mitbewohner traf. So gerne würde sie ihre alten Freunde in der ehemaligen DDR wiedersehen, hatte Inés versichert. Zurückgekehrt nach Deutschland, verfasste er ihr ein Einladungsschreiben, ohne welches sie kein Touristenvisum bekommen hätte. Um die Reise bezahlen zu können, hatte sie sich 700 Dollar von einem Onkel geliehen, der in Santiago beste Beziehungen zur staatlichen Treibstoffvergabestelle pflegte und den Keller seines Hauses als informelle Tankstelle nutzte. Das Geld hatte allerdings nur für den Flug gereicht, weshalb Inés bei ihrer Ankunft neben ihrer Reisetasche gerade mal zehn Euro dabei hatte, die sie sich von einem Mitreisenden am Flughafen hatte spendieren lassen. Nicht genug Bares, um die Reise nach Schmalkalden anzutreten. Ohnehin stand ihr der Sinn keineswegs mehr nach einem Besuch in der beschaulichen Fachwerkstadt am Rande des thüringischen Waldes.

Nein, Inés hatte größere Pläne. Plan A war, ihr dreimonatiges Visum dafür zu nutzen, eine Ehe mit einem deutschen Staatsangehörigen zu schließen. Selbstverständlich, so versicherte sie uns, habe sie keine Liebesheirat im Sinn. Die Ehe habe einzig und allein den Zweck, ihren Aufenthalt zu verstetigen und es ihr zu ermöglichen, den Rest ihrer Kleinfamilie nachzuholen. Sie rechnete sich einerseits bei den deutschen Eingeborenen gute Chancen aus. Wie sie nämlich schon nach wenigen Tagen festgestellt hatte, waren die deutschen Frauen zwar gutaussehend und oft auch blond, hatten aber »keine Figur«. Andererseits musste sie nach dem Besuch mehrerer Salsa-Veranstaltungen feststellen, dass die deutschen Männer »sehr zurückhaltend« seien. Nichtsdestotrotz erkundigten wir uns nach den Voraussetzungen für eine binationale Eheschließung und trafen auf ein Bollwerk von behördlichen Hürden: Ehebefähigungs- beziehungsweise Ledigkeitsbescheinigung, Geburtsurkunde und mancher Stolperstein mehr brachten Inés schließlich zu der Überzeugung, dass ihre Heiratspläne einen längeren Atem brauchten und dass nunmehr Plan B zu verfolgen sei.

Plan B bestand darin, nichts unversucht zu lassen, um dem dreimonatigen Aufenthalt monetären Nutzwert abzuringen. Schließlich musste sie ihrem Onkel seine Dollars zurückzahlen. Und überhaupt wollte sie keinesfalls mit leeren Händen in ihre karibische Heimat zurückkehren. Hamburg, das »Tor zur Welt«, wie die alte Hansestadt seit der Eröffnung des Freihafens 1889 heißt, sollte ihr Profit Center werden. Zwar erklärten wir ihr wortreich, dass bezahlte Arbeit im Kapitalismus ein knappes Gut ist, aber das war für Inés nur graue Theorie. Im kubanischen Realsozialismus, so ihre Erfahrung, musste man sich nicht anstrengen, um Arbeit zu finden. Und anstrengend war die Arbeit oft auch nicht. Umgekehrt konnte man mit den so erworbenen Pesos auch wenig kaufen. Ergo, so folgerte sie, müsse man sich im Kapitalismus eben einfach ein wenig mehr anstrengen, was sie gerne auf sich nehmen wollte. Schließlich war sie nach Deutschland gekommen, um zu »triumphieren«, wie sie sagte.

Nach zwei Wochen erfolgloser Jobsuche als freiberufliche Putzkraft kamen wir zu dem Schluss, dass es an der Zeit wäre, das Konzept zu ändern. Wir schenkten Inés zwei Umzugskisten mit alten Schallplatten und organisierten ein paar Säcke abgelegter Klamotten aus den Speichern befreundeter Wohngemeinschaften. Samstags und sonntags fuhren wir frühmorgens mit der Ware und einem Tapeziertisch zu einem der zahlreichen Flohmärkte im Hamburger Stadtgebiet. Diese Form der Schattenwirtschaft klappte besser. Die seichten Chachacha-LPs unter unseren Schallplatten gingen zu guten Preisen über den Tapeziertisch. Die Platten-Spürnasen glaubten nämlich, dass es sich um gesuchte Sammlerstücke handele, von einer authentischen Kubanerin ahnungslos auf den deutschen Markt geworfen. Und beim Kleidungsverkauf entpuppte sich Inés als Beratungstalent. Unermüdlich nutzte sie die ihr zur Verfügung stehenden hundert Worte Deutsch, damit die Kopftuchträgerinnen, die sich an ihrem Wühltisch zu schaffen machten, diesen nicht ohne ein passendes Teil verließen. Mit einer Gruppe von Ecuadorianern, die sie auf den Flohmärkten kennenlernte, entwickelte sich ein reger Austausch. Sie sprachen kaum Deutsch, lebten ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland und verhielten sich dementsprechend vorsichtig und verschüchtert. Inés mit ihrer resoluten kubanischen Art und ihren etwas besseren Sprachkenntnissen mauserte sich zum beliebten Alphatier der Flohmarkt-Connection. Die Ecuadorianer gaben ihr wertvolle Tipps, wie man sich möglichst preisgünstig durch die Stadt schlägt.

Um ihr die Schamlosigkeit der kapitalistischen Konsumwelt vor Augen zu führen, besuchten wir auch die Topadressen der Hamburger Innenstadt, den Neuen Wall etwa, mit seinen Flagship-Stores und seinen exklusiven Einrichtungshäusern. Doch die astronomischen Preise riefen bei ihr höchstens Belustigung hervor: Wer wäre wohl so umnachtet, sich Prada-Turnschuhe für mehrere hundert Euro zu kaufen, wenn es ein paar S-Bahn-Haltestellen weiter brauchbare und modisch designte Exemplare für ein Zehntel des Preises gibt? Ihren lebensweltlichen Mittelpunkt fand sie in der Großen Bergstraße im Hamburger Stadtteil Altona-Altstadt. Hier gab es das billigste Internet-Café, die günstigsten Hähnchenbeine und vor allem jede Menge preiswerte Wühltisch-Ware. Für den westeuropäischen Mittelständler billiger Tand, aus der Perspektive der kubanischen Mangelwirtschaft gesuchter Stoff. Allen unseren Tiraden über Neoliberalismus zum Trotz schmiedete sich Inés ihre eigene Theorie über die Marktwirtschaft. Im Kapitalismus, pflegte sie zu sagen, gibt es zwar sehr teure Geschäfte, aber eben auch sehr billige. Die Woolworth-Filiale mit ihren zahlreichen Wühltischen, der Asia-Elektronik-Shop oder die Sonderposten-Etage am Goetheplatz bildeten die Grundlage des Import-Geschäftes, das sie zu planen begann. Sie investierte die Einnahmen aus den Flohmarktverkäufen in modische Slips, Sonnenbrillen, Hot Pants und T-Shirts zu Preisen ab 1 Euro. In Santiago de Cuba, versicherte sie glaubwürdig, könne man diese Ware für ein Vielfaches des Einkaufspreises losschlagen. Auch jenseits der Schnäppchenpreise hatte die angejahrte Einkaufsmeile in Altona für unsere kubanische Kleinunternehmerin eine Menge Standortvorteile. Sie konnte sie in zehn Minuten zu Fuß erreichen, hatte von dort aus beste Bus- und S-Bahnverbindungen in die anderen Teile der Stadt. Und nicht zuletzt fungierten der Callshop, der Gemüsetürke und die Stoffstände auf dem Wochenmarkt wie ein Jobcenter, was ihr zuguterletzt doch noch den ein oder anderen Putzjob einbrachte.

Hätte man Inés in eine Runde von Stadtplanern und Lokalpolitikern gesetzt, ihre Liebe zur Großen Bergstraße wäre auf Unverständnis gestoßen. Denn aus offizieller politischer Sicht befindet sich die älteste Fußgängerzone der Stadt in einer Abwärtsspirale. Ein von der Stadtentwicklungsbehörde beauftragtes Forschungsinstitut lässt kaum ein gutes Haar an ihr. Den vorhandenen »Grün- und Freiflächen« fehle es an »Aufenthaltsqualität«. Hier kommen den Gutachtern Bereiche »unbelebt und ungastlich« vor, dort wirkt »die Bebauung ungeordnet und wenig attraktiv«, und so geht es in einem fort. Schlechte Noten bekommt insbesondere der sogenannte Frappant-Komplex, bis 2003 unter anderem Standort eines Karstadt-Kaufhauses. Den Experten gilt der Betonkoloss, Anfang der Siebziger von Neckermann als mondäne Einkaufs- und Gastrowelt erbaut, als »Symbol des Niedergangs«. Ein Foto zeigt die rissige Rampe zum Parkhaus des Frappant, es trägt die Bildunterschrift »unattraktives Parkplatzangebot«. Ein anderes Bild von einem überfüllten Altpapiercontainer belegt, dass die »Vermüllung im Untersuchungsgebiet zum negativen Gesamteindruck« beiträgt. Insgesamt ergibt die Analyse, »dass das Untersuchungsgebiet derzeit nicht mehr die Funktion eines Bezirkszentrums sowie eines wichtigen Zentrums für das öffentliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben einnimmt«1.

Wer an einem sonnigen Samstag in der geschmähten Fußgängerzone von Altona-Altstadt flaniert, muss sich fragen, wo sich die Gutachter herumgetrieben haben. Die Bänke der Bäckereikette in der Fußgängerzone sind voll besetzt, in den Discount-Läden drängeln sich die Menschen, der Wochenmarkt ist gut frequentiert und in den Sonderangeboten vor Woolworth wird eifrig herumgewühlt. Vor der Eisdiele Filippi sitzen Hausfrauen beim Eiskaffee, türkische Kids spielen Fußball, und vor dem Netto-Supermarkt singen ein paar Schäferhund-Punks fröhliche Lieder.

Fußgängerzonen wie diese finden sich überall in der Republik. Sie gewinnen keine Stadtgestaltungs-Wettbewerbe. Es sind typische Stadtteil-Einkaufsstraßen, in denen der Lack von den Bänken bröckelt und auch mal eine Bierflasche im Blumenkübel landet. Wieso ist das »öffentliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben« hier funktionsgestört? Was ist so schwer hinnehmbar daran, dass es im innerstädtischen Bereich einer großen westdeutschen Metropole eine etwas grau gewordene Sonderposten-Einkaufsstraße gibt, in der sich Hartz-IV-Empfänger, Rentner oder Kopftuchträgerinnen noch Butterkuchen mit Kaffee satt leisten können? Um die Große Bergstraße und den maroden Frappant-Komplex wuchert seit Jahren ein öffentlicher Schandfleck-Diskurs, auf welchen von der tageszeitung (»Letzte Hoffnung Abbruch«) bis zur Bild-Zeitung (»Altonas Große Bergstraße stirbt«) alle Hamburger Medien eingestiegen sind. Warum die Stadtplaner dem Gebiet rund um die Große Bergstraße »Anzeichen eines problematischen Stadtquartiers« attestieren, verschweigen sie nicht: »Insgesamt liegt im Stadtteil eine verminderte Kaufkraft vor.« Das Lamento über »Mängel in der Stadtgestalt« oder »unattraktive Wegeverbindungen« schnurrt sich auf ein nüchternes Fazit zusammen: »Der Funktionsverlust insbesondere der Großen Bergstraße manifestiert sich in einer anhaltend sinkenden Kaufkraftbindung.«2 Oder anders gesagt: Es kann noch so viel auf der Straße los sein – wenn die Passanten keine Umsatzbringer sind, liegt eine Störung vor.

Solche Niedergangs-Szenarien und Schandfleck-Diskurse sind die Begleitmusik für die Erschaffung von innerstädtischen Shopping-Welten – eine der zentralen Angriffspunkte des Immobilienmarktes. Seit 1990 haben sich die Verkaufsflächen in den Stadtzentren nahezu verdoppelt. Große Konsortien wie die Hamburger »Einkaufs-Center-Entwicklungsgesellschaft« (ECE) oder die Essener »Management für Immobilien AG« (mfi) errichten überall in der Republik riesige Shopping-Galerien und Einkaufs-Arkaden. Wettergeschützt und vom Bodenbelag bis zu den Grünpflanzen, den Springbrunnen und der unaufdringlichen Hintergrundmusik vollständig durchgestaltet, konkurrieren sie als überdachte Oasen mit einem Stadtraum, den die öffentliche Hand nicht mehr zu gestalten bereit oder in der Lage ist. Während die Shopping-Center von der grünen Wiese in die Innenstädte wandern, verfallen öffentliche Plätze und Fußgängerzonen, gebaut in den wohlfahrtsstaatlichen fünfziger bis siebziger Jahren – zumal an den Rändern der Städte, wo sie große soziale Wohnungsbauprojekte rahmen. Weil sie mit den Malls nicht konkurrieren können, suchen Grundeigentümer und Einzelhändler ihr Heil in der Verwandlung ihrer Einkaufsstraßen in »Business Improvement Districts« (BID) – ein Instrument zur Teilprivatisierung des öffentlichen Raumes, das Hamburg 2005 als erstes Bundesland in Deutschland eingeführt hat. »Malls without walls« nennt man die BIDs im anglosächsischen Raum zu Recht, denn sie übertragen das Mall-Modell auf die Straße. Einkaufsstraßen bekommen ein zentrales Management, private Security-Dienste und Putzkolonnen sorgen für Sicherheit und Sauberkeit, eine einheitliche Straßenmöblierung schafft konsumfördernde »Aufenthaltsqualität« und der »Branchenmix« folgt einem »Leitbild«, sprich: Billiganbieter und Resterampen sollen verschwinden. Draußen sollen damit auch alle die bleiben – und das ist die bittere Konsequenz der Privatisierung öffentlichen Raumes –, die zum Shopping-Geschehen nichts beizutragen haben oder es gar störend beeinflussen könnten: Obdachlose, Bettler, Skateboardfahrer, Punks oder einfach Jugendliche, die in der Fußgängerzone abhängen. Überwachungskameras, der Austausch von Parkbänken durch Sitzschalen, auf denen man nicht liegen kann, oder das Anbringen von sogenannten »Skatestoppern« an Treppen, Geländern und Brunnen stellen klar, wer nicht zur Zielgruppe gehört.

Auch unsere kubanische Bekannte Inés dürfte nicht zur Zielgruppe eines Business Improvement Districts gehören. Zwar verhielt sie sich während ihres gesamten Hamburg-Aufenthaltes durch und durch geschäftssinnig. Aber ihre Vorliebe galt eben Billigtextilien und Made-in-China-Modeschmuck – also den Insignien der kaufkraftmäßigen Deklassierung einer städtischen Einkaufszone.

Als sie uns nach drei Monaten verließ, trug sie sieben Röcke und fünf Sweatshirts übereinander und zog zwei prall gefüllte Koffer hinter sich her, deren Inhalt sie samt und sonders aus den Resterampen und 1-Euro-Shops der Großen Bergstraße bezogen hatte. Auf dem Weg zum Flughafen fühlte sie sich wie eine Königin. Sie hatte es geschafft. Ihr Businessplan hatte sich am Ende einigermaßen zurechtgeschaukelt. Das vom Onkel geliehene Geld war knapp zusammengekommen. Und mit dem Verkauf der Discount-Ware würde sie auf Kuba einen guten Schnitt machen. Genug, um ihrer Familie einen Farbfernseher zu finanzieren. Ohnehin gehörte Fernsehen während ihrer freien Stunden zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Insbesondere eine VHS-Kassette mit der Aufschrift »Die Salsa-Prinzessin«, die sie in einer Umzugskiste entdeckt hatte, fand häufig den Weg in den Player. Die Tanzszenen konnte sie bald perfekt nachtanzen. Und die Welt des »Großen TV-Romans«, eine RTL-Produktion aus dem Jahre 2000, entsprach so ziemlich genau dem, wie sie sich das Leben in einer reichen, westlichen Metropole erträumt hatte: schöne, junge Menschen aus aller Herren Länder, berauscht vom Feuer afrokaribischer Rhythmen, die sich abends in pastellfarbenen Outfits durch saubere, hell erleuchtete Aerobic-Studios tanzen und tagsüber als Krankenschwestern oder Verkäufer an sauberen, hell erleuchteten Arbeitsplätzen ihr Geld verdienen. Dass sie diese Traumwelt draußen vor der Tür nicht antraf, war ihr kein Grund zur Klage. Schließlich sah der heimische Alltag auch nicht so aus wie die Welt der kubanischen Telenovelas. Ihr Hamburg waren nicht die sauber gefegten Caffè-Latte-Oasen mit Alster- oder Elbblick, ihr Hamburg waren die informellen Zwischenzonen, in denen sich auch Stadtbewohner ohne sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz durchschlagen können.

Diese Nischen gehören seit jeher zur städtischen Realität – in gewisser Weise begründen sie sogar die Kultur des Urbanen: dass Menschen jedweder Herkunft und Anschauung in die Stadt eintauchen und in ihr untertauchen können, dass sie als »Fremde« Teil der Stadt werden, dass die Stadt ihre Unterschiedlichkeit produktiv macht. Der US-Soziologe Louis Wirth definiert 1938 die Stadt als »eine relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen«3. Von Georg Simmel, der 1903 mit seinem Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« die moderne Stadtsoziologie begründet, bis zu dem französischen Philosophen Henri Lefèbvre, der 1968 den Begriff »Recht auf Stadt« prägt: Alle beziehen sich auf diese verdichtete Unterschiedlichkeit als Wesensmerkmal des Städtischen.

Die postkolonialen Megacitys des globalen Südens mit ihren Gated Communities 4