Über Katherine Heiny

Foto: Leila Barbaro

Katherine Heiny veröffentlichte Kurzgeschichten im New Yorker, in Ploughshares, Narrative, Glimmer Train und vielen anderen Zeitschriften. Sie lebt in Washington, D. C., mit ihrem Mann und ihren Kindern. 2015 erschien ihr von der Presse gefeiertes Debüt Glücklich, vielleicht bei Hoffmann und Campe.

 

Marion Hertle, Jahrgang 1977, studierte in Erlangen und Nordirland Deutsche und Englische Literaturwissenschaft. Sie hat u.a. Ray Bradbury, Edna O’Brien und Edgar Rice Burroughs übersetzt, zuletzt übertrug sie für Hoffmann und Campe Die Welt der Farben von Kassia St Clair sowie Dan Daltons Johnny Ruin (beide 2017).

Für Ian

Bevor du meine Geliebte wurdest, führte ich ein tadelloses Leben.

Laurie Colwin

Kapitel Eins

In diesem zwölften Jahr seiner zweiten Ehe erschien es Graham allmählich so, als lebten er und seine Frau in parallelen Universen. Aber schlimmer fand er, dass sein Universum einsam und freudlos war, ihres dagegen dicht besiedelt mit Armeen von Freunden und Bekannten und jeder Menge Leute, die er nicht kannte.

Gerade erledigten sie ihren Samstagvormittagseinkauf bei Fairway, wie man es in einer Ehe oft zusammen machte – aber Graham konnte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie es eben nicht zusammen machten. Seine Frau, Audra, plauderte fast die ganze Zeit über mit Leuten – er fühlte sich wie die Begleitung irgendeines Würdenträgers auf Staatsbesuch oder vielleicht sogar des Präsidentschaftskandidaten –, während er den ganz normalen Einkauf erledigte.

Zuerst trafen sie in der Obst- und Gemüseabteilung irgendeine Frau mit Baby im Kinderwagen und Audra sagte: »Oh, hi! Wie geht’s dir? Gehst du zu diesem Treffen am Dienstag?«, und die Frau antwortete: »Ich weiß noch nicht, da ist noch dieses andere Treffen«, und Audra sagte: »Ich dachte, das sei abgesagt?«, und die Frau antwortete: »Nein, es steht noch auf dem Plan«, und Audra meinte: »Ich wünschte, sie würden nicht immer Termine doppelt legen«, und die Frau: »Ich weiß«, und Audra wieder: »Hm, und wenn wir nicht hingehen, reden die anderen dann schlecht über uns?« »Wahrscheinlich«, sagte die Frau. Und nein, es war nicht so, dass Graham nicht aufgepasst und die genauen Einzelheiten nicht mitgekriegt hatte – es gab einfach keine, genau in dieser Art hatten sie miteinander gesprochen.

Er ließ sich Zeit dabei, die Melonen zu betasten und die Grapefruits auszuwählen, und wurde für sein Trödeln in gewisser Weise sogar belohnt, denn ihm fiel ein, dass sie grüne Trauben hatten kaufen wollen, die aber nicht auf dem Einkaufszettel standen.

»Wer war das?«, fragte er Audra, als sie wieder zu ihm stieß.

»Wer?« Audra warf einen prüfenden Blick in den Einkaufswagen.

»Die Frau, mit der du dich gerade unterhalten hast.«

»Oh, ihre Tochter geht in Matthews Klasse«, sagte Audra und wählte einen Apfel aus. »Und sie hat noch einen Fünfjährigen und ein Kleinkind und dieses Baby, kaum zu glauben, oder? Aber jetzt ist Schluss. Als das Baby eine Woche alt war, musste ihr Mann eine Vasektomie machen lassen. Sie hatte alles arrangiert, ihn morgens geweckt und gesagt: ›Weißt du was? Du hast heute einen Arzttermin.‹ Und er ging tatsächlich hin!«

Sie biss von dem Apfel ab. Audra war einundvierzig, eine schlanke Frau mit einem beinahe ovalen Gesicht. Ehrlich gesagt, dachte Graham manchmal, dass alles an Audra nur beinahe war. Ihre Augen waren nicht tiefbraun, sondern eher haselnussbraun, ihre Lippen waren nicht voll genug, um üppig zu sein, ihre Augenbrauen in der Mitte nicht so hoch, dass man sie geschwungen hätte nennen können, ihr kinnlanges Haar war nicht richtig kastanienbraun und ihre Locken nicht wirklich gekräuselt. Seit Graham sie kannte, trug sie ihre Haare in dieser Länge. Angeblich lockten sie sich, wenn sie kürzer waren, so um ihr Gesicht, dass ihr Kopf zu rund wirkte; ließ sie sie wachsen, wurden die Spitzen zu schwer, und sie musste sie ordentlich durchstufen lassen. (So ist die Ehe: Am Anfang denkt man, man hat den interessantesten Menschen der Welt geheiratet, und zwölf Jahre später hat man den Kopf voll mit unnützem Zeug über Haare. Klar gab es auch noch andere Dinge – ein paar Meilensteine wie ein Kind zu bekommen oder ein Haus zu kaufen –, aber das war’s eigentlich auch schon.) Audra war nicht richtig schön, aber ihre Lebendigkeit sorgte dafür, dass sie alles andere als fade war.

Einen Gang weiter bei den Frühstücksflocken stoppte Audra plötzlich den Wagen. Ein junger Mann direkt dahinter warf ihnen einen bösen Blick zu, aber Audra beachtete das gar nicht.

»Oh! Hey!«, sagte Audra. »Schau mal! Hallo! Hi! Wow! Wie geht’s dir?« Man hätte meinen können, sie begrüße eine ganze Fußballmannschaft und nicht nur eine einzelne Frau in Jeans und T-Shirt, die das Haar zum Knoten hochgebunden hatte.

»Hallo Audra«, sagte die Frau.

»Es tut mir so leid, dass ich es heute nicht zum Yoga geschafft habe, Beverly!« Audra räusperte sich. »Also eigentlich meine ich, Maninder Prem. Noch mal sorry, ich habe vergessen, dass du jetzt bei deinem spirituellen Namen genannt werden möchtest, stimmt doch, oder? Auch im Supermarkt?«

»Du kannst mich Beverly nennen«, sagte die Frau mit neutralem Ton. »Aber bitte denk dran, dass es bei mir keine Rückerstattungen gibt, wenn man zu spät absagt oder nicht kommt.«

»Ja, natürlich«, sagt Audra. »Wir hatten heute Morgen nur einen kleinen – na ja, ich will nicht sagen Notfall, aber einen Zwischenfall – mit meiner Schwiegermutter, einem uralten Glas Kapern im Kühlschrank und einem Krankenhausbesuch …«

Audras Neigung zu beiläufigen Lügen schockierte Graham immer wieder. Seine Mutter lebte in Ohio, und soweit er wusste, ging es ihr prima, obwohl es tatsächlich vorkam, dass sie manche Sachen erschreckend lang im Kühlschrank aufbewahrte.

»Oh, das tut mir wirklich leid«, sagte Beverly, als gäbe es noch mehr dazu zu sagen. Sie tat es aber nicht.

»Ja«, antwortete Audra, als hätte auch sie noch etwas hinzuzufügen, tat es dann aber ebenfalls nicht. Schließlich machte sie eine flattrige Handbewegung und sagte: »Beverly, das ist mein Mann, Graham. Graham, das ist meine Yoga-Lehrerin, Beverly.«

Graham lächelte höflich und gab Beverly die Hand, die ihn kurz von oben bis unten musterte. Er war fünfzehn Jahre älter als Audra, und er spürte, dass Beverly dachte: Ah, eine von diesen Ehen also. Graham wollte ihr sagen, dass seine Beziehung mit Audra nicht eine von diesen Ehen war, sondern so besonders und einzigartig, dass nicht mal er wusste, was genau so einzigartig zwischen ihnen war, es aber auch schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, sich das zu fragen. Er war groß und ganz gut in Form, seine Haare wurden bisher nur an den Schläfen grau, aber plötzlich hatte er das Gefühl, er müsse aufrechter stehen, sich straffen. (War das nur seine Wahrnehmung, oder war Beverly furchtbar abschätzig und wertend, gerade für eine Yoga-Lehrerin?)

»Na dann«, sagte Audra, »wir sehen uns nächste Woche, Beverly.«

Sie gingen weiter, und sowie sie um die nächste Ecke und außer Sichtweite waren, sagte Audra: »Ich habe Yoga heute Morgen vollkommen vergessen«, als wäre ihm das nicht ohnehin klar gewesen.

»Ich glaube, das hat Beverly gemerkt«, sagte Graham.

Audra seufzte. »Ja, vielleicht. Ich weiß nicht, warum ich mal gedacht habe, eine Yoga-Stunde Samstagfrüh wäre eine gute Idee. Muss mich wohl besonders stark gefühlt haben, als ich mich da angemeldet habe.«

Beim Eiscreme-Fach trafen sie ihren Elektriker, Brady Shannon, und Graham wusste sofort, dass Audra extralange mit Brady reden würde, weil sie überzeugt war, dass Elektriker, wenn man sehr, sehr freundlich zu ihnen war, sehr, sehr schnell zur Stelle wären, wenn es etwas zu reparieren gab. Die Tatsache, dass sich diese Herangehensweise als sehr, sehr falsch erwiesen hatte, rüttelte jedoch nicht an ihrer Überzeugung.

»Brady Shannon!«, rief Audra.

»Oh, hallo, Ms Daltry, Mr Cavanaugh«, sagte Brady. Er war ein schmächtiger Mann mit beginnender Glatze in grauem Trainingsanzug und solchen Polstern an den Knien, wie Skateboarder sie trugen. Jedes Mal, wenn Graham ihn sah, trug Brady diese Kniepolster, wahrscheinlich, weil er sich immer hinknien und hinter die Kühlschränke und Waschmaschinen der Leute kriechen musste.

»Ich habe erst heute Morgen an Sie gedacht«, sagte Audra. »Ja, eigentlich denke ich fast jeden Morgen an Sie, wenn ich dusche!« Brady hatte kürzlich ihren Duschkopf repariert. »Ich denke immer: Ach, das fühlt sich himmlisch an, und das verdanke ich alles Brady Shannon!«

Brady grinste Audra an und wippte auf seinen Ballen vor und zurück.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Graham, ob in Audras Gehirn eine Art Verarbeitungseinheit – so etwas wie ein Filter – fehlte. Ständig sagte sie solche Sachen, ohne dass ihr klar zu sein schien, wie das rüberkam. Jetzt stand der arme Brady Shannon hier bei der Gefriertruhe und kam in Wallung.

»Na ja«, sagte Audra ahnungslos, »wie geht’s Ihnen?«

»Oh«, antwortete Brady enttäuscht. Wahrscheinlich hatte er gehofft, Audra würde beschreiben, was sie in der Dusche machte. »Ganz gut.«

Audra berührte Bradys Arm. »Und bitte sagen Sie, wie geht es der lieben Ellen?«

Okay, erstens: Zufällig wusste Graham, dass Audra keine Sachen sagte wie »die liebe Ellen«. Nur hatte sie es gerade getan. Zweitens: Graham hätte wetten könne, dass Brady es nicht mochte, wenn Leute Sachen sagten wie »die liebe Ellen«. Aber als Audra es gerade sagte, hatte es ihm gefallen. Drittens: Ellen war eine Katze.

»Sie kommt zurecht, schätze ich.«

»Blasenentzündungen können sehr schwierig sein«, sagte Audra.

»Weiß ich wohl«, Brady schüttelte den Kopf und machte tststs.

Audra und Brady sprachen noch ein wenig über Ellens Harntrakt und die Gesundheitsprobleme älterer Katzen im Allgemeinen sowie die astronomisch hohen Kosten in der Veterinärmedizin und Bradys Tante Linda, die selbst kürzlich eine üble Blasenentzündung hinter sich gebracht hatte. Außerdem darüber, dass Audra mal eine Woche lang andauernd Preiselbeersaft getrunken hatte, sich dann aber herausstellte, dass es gar keine Blasenentzündung war –

Endlich, endlich kamen sie irgendwann an die Kassenschlange.

Und Audra sagte: »Oh, warte mal, ich will nachsehen, ob Jordan heute arbeitet. Ja, da ist er. Los, wir stellen uns in seiner Schlange an. Komm, hier lang.«

»Wer ist Jordan?«, fragte Graham und steuerte ihren Wagen mit einiger Mühe hinter ihr her.

»Der Typ an der Kasse.«

»Ja, klar, aber warum sollen wir in seine Schlange?«

»Sekunde«, sagte Audra. »Hier.« Sie zog den Wagen vorne an eine Kasse nahe der Tür. Der Kunde vor ihnen legte gerade seine letzten Einkäufe auf das Laufband.

»Audra«, sagte Graham noch mal. »Warum –«

Audra schob sich um die Vorderseite des Einkaufswagens herum, sodass sie direkt neben Graham stand und flüsterte: »Ich dachte, ich hätte dir das erzählt, aber vielleicht auch nicht.« Ihr Atem streifte sein Gesicht warm und weich wie Klee. »Ich war vor ein paar Wochen hier, und Jordan tippte gerade die Einkäufe von einem Mann ein, der Birnen gekauft hatte, aber Jordan drückte versehentlich den falschen Knopf und bonierte sie als diese superteuren asiatischen Birnen, und der Mann wurde stinksauer – ein grässlicher Typ, Graham, sehr derb und rücksichtslos. Er verlangte von Jordan, dass er die asiatischen Birnen stornieren solle, und Jordan versuchte es, hatte es aber noch nie gemacht und die Kasse hängte sich auf. Sie mussten den Supermarktleiter rufen, und der Mann brüllte Jordan an und stürmte ohne seine Einkäufe davon. Ich dachte, Jordan fängt gleich an zu weinen, ganz im Ernst. Er kann nicht älter als zwanzig sein, und er ist so süß und sieht so hilflos aus. Jedenfalls versuche ich jetzt immer, mich an seiner Kasse anzustellen und ihm zu sagen, wie toll er seinen Job macht.«

Vielleicht war das der grundsätzliche Unterschied zwischen ihnen. Audra machte sich Sorgen um Jordans Selbstwertgefühl, und Graham fragte sich, ob Fairway immer noch diese speziellen Birnen hatte. Und falls ja, sollte er dann noch welche holen, damit sie heute koreanische Koteletts mit Birnenmarinade essen konnten?

Audra schob sich wieder vor den Wagen und begann, die Lebensmittel auf das Laufband zu stapeln. Graham spähte an ihr vorbei, um sich Jordan anzusehen. Er war ein großer, dünner Schwarzer mit ordentlichen Cornrows und dem großäugigen, erschreckten Blick eines Rehs. Sehr sorgfältig bonierte er die Einkäufe des Kunden direkt vor ihnen.

Als sie bis zur Kasse vorgerückt waren, sagte Audra: »Guten Morgen, Jordan!«, so laut und deutlich, dass Jordan eine Erbsendose aus der Hand fiel und er sich unter die Kasse beugen musste, um sie aufzuheben.

Er sah Audra unsicher an. »Guten Morgen.« Dann scannte er weiter Dinge ein.

»Wie geht es dir, Jordan?«

Jordan hielt mit einer Flasche Ketchup in der Hand inne. »Ziemlich gut.« Er scannte das Ketchup und griff nach einer Schachtel Cornflakes.

»Ich habe schon gehofft, dass du heute arbeitest«, sagte Audra. »Du machst das immer so toll.«

Wieder hielt Jordan inne. Offensichtlich konnte er nicht scannen und gleichzeitig sprechen. Nach Grahams grober Schätzung hatten sie mindestens fünfzig Posten im Wagen. Wenn also jeder Wortwechsel dreißig Sekunden dauerte –

»Danke«, sagte Jordan schließlich.

Er scannte eine Flasche Orangensaft und eine Packung Nudeln – Grahams Hoffnung begann minimalst zu wachsen – ehe Audra sagte: »Du bist so effizient!«

Jordan stoppte. Graham seufzte. Der Mann in der Schlange hinter Graham seufzte auch.

Jordan schluckte nervös. Sein Hals ragte aus dem zu großen Kragen seiner hellbraunen Uniform hervor, schmal und verletzlich. »Vielen Dank, Ma’am«, flüsterte er.

»Audra?«, sagte Graham schnell.

»Hm?«

»Wir haben den Parmesan vergessen.«

Sie runzelte leicht die Stirn. »Ach ja? Willst du schnell noch mal los und welchen holen?«

Das war das Letzte, was Graham wollte, aber immerhin hatte Jordan mindestens drei Dinge gescannt, während Audra abgelenkt war.

»Ich glaube, wir haben auch die Zahnpasta vergessen«, haspelte er weiter, aber sie hatte sich schon wieder Jordan zugewandt.

»Großartig, Jordan!«, lobte Audra ihn. »Schau dir deinen Fortschritt an!«

(Man musste sich nur mal vorstellen, mit jemandem Sex zu haben, der so unglaublich ermutigend war. Das war – wie fast alles an Audra – gut und schlecht zugleich.)

Graham seufzte wieder und stützte seinen Ellbogen auf den Griff des Einkaufswagens.

 

Als sie vom Supermarkt zurückkamen, entdeckten sie, dass Bitsy und Matthew eine Dominokette durch jedes Zimmer der Wohnung – inklusive Bad – gebaut hatten.

Bitsy wohnte seit ungefähr drei Wochen bei ihnen. Sie als Freundin von ihnen oder auch nur als Audras Freundin zu bezeichnen (Graham hatte Bitsy, als sie bei ihnen einzog, nie zuvor gesehen, und auch Audra kannte sie nur von ein paar Treffen bei einem Buchclub), wäre nicht korrekt gewesen. Graham hatte geglaubt, dass es Menschen namens Bitsy nur unter quietschenden Teenagern gab, aber diese Bitsy war Anfang fünfzig und hatte ein langes, schmales Gesicht, kurz geschorenes, grau meliertes Haar und den sehnigen Körper einer passionierten Läuferin. Sie glich eher einem Windhund als einer Bitsy.

Der Grund – wenn man es überhaupt Grund nennen konnte –, warum Bitsy bei ihnen wohnte, war folgender: Audra arbeitete als freie Graphikerin und hatte bei dem Restaurant in Midtown, das sie beauftragt hatte, einen Entwurf für eine Speisekarte vorbeigebracht; als sie aus dem Büro des Restaurants kam, entdeckte sie zufällig Bitsys Mann (sie kannte ihn von einem Buchclub-Treffen, das bei Bitsy zuhause stattgefunden hatte), wie er mit einem Mädchen im Minirock, Mitte zwanzig, zu Mittag aß. (Audra hatte Graham das Mädchen ausführlich beschrieben und war offensichtlich aufgebracht, weil das Mädchen kniehohe Lederstiefel von Frye trug, die Audra selbst anprobierte hatte, den Reißverschluss an den Waden aber nicht hatte schließen können.) Graham war der Meinung gewesen, dass es ja auch ganz harmlose Gründe geben könnte, warum Bitsys Mann mit einem Mädchen im Minirock zu Mittag aß, aber Audra hatte ihm nur einen vernichtenden Blick zugeworfen. Dann war Bitsys Mann vor etwa einem Monat zu einer Kreativpause nach Ithaca gezogen. (»Kreativpause?«, hatte Audra zu Graham gesagt. »Er ist Banker! So was eindeutig Zweideutiges habe ich ja im ganzen Leben noch nicht gehört!«) Audra setzte das Ganze so zu – seltsamerweise fühlte sie sich irgendwie verantwortlich –, dass sie Bitsy anbot, bei ihnen zu wohnen, obwohl Bitsy und ihr Mann ein hübsches Backsteinhaus in Brooklyn besaßen.

»Hey, Liebling«, sagte Audra gerade zu Matthew und stieg vorsichtig über die Dominosteine, »in der Lobby spielen ein paar Kinder. Warum gehst du nicht zu ihnen runter?«

Solche Dinge sagte sie mindestens einmal pro Tag; offenbar hatte sie in den letzten zehn Jahren nicht bemerkt, dass Matthew kein besonders geselliges Kind war, dass er niemals losziehen und sich irgendwelchen Kindern anschließen würde, die irgendwo miteinander spielten. Er würde es wahrscheinlich nicht mal tun, wenn die Kinder an ihre Tür kämen und nach ihm fragten. Er war wie Graham, nicht wie Audra, und Graham dachte manchmal, dass sie beide Audra großen Frust bereiten mussten.

»Ich will nicht«, sagte Matthew. »Bitsy und ich gehen los und besorgen Batterien für ihre Kamera, und dann filmt sie es, wenn ich die Dominokette anstoße.«

»Okay«, sagte Audra mit einem Seufzer.

»Danke, Bitsy«, sagte Graham.

Sie lächelte ihn an. »Kein Problem.«

Bitsy und Matthew zogen los. Graham folgte Audra in die Küche und begann die Einkäufe auszupacken. »Wie läuft es gerade bei Bitsy und ihrem Mann?«, fragte er.

»Oh, er erzählt ihr nach wie vor den Quatsch von der Kreativpause«, sagte Audra. »Und sie glaubt es ihm auch noch! Sie weiß offenbar wirklich nicht, dass Männer sich seit Hunderten von Jahren zum Affen machen und hinter Mädchen in Miniröcken herjagen.«

»Du scheinst zu vergessen, dass du auch mal ein Minirockmädchen warst«, sagte Graham. »Mein Minirockmädchen nämlich.«

»O nein, das vergesse ich nicht«, sagte Audra. »Deswegen kapiere ich das ja alles – reines Insiderwissen.«

 

Es stimmte, Audra hatte viel Insiderwissen. Und es schien, als ob jeder daran teilhaben wollte. Manchmal fühlte sich Graham, als wäre er mit Warren Buffett verheiratet. Na ja, einem weiblichen Warren Buffett, der sich mit allem auskannte, außer mit Geld. (Vielleicht sollten Warren Buffett und Audra heiraten. Damit wäre jedes mögliche Thema abgedeckt – sie wären das gefragteste Paar auf Erden.)

Die Menschen kamen zu Audra und holten sich bei ihr Rat – also nein, nicht Rat, das war das falsche Wort. Sie kamen zu ihr mit Geheimnissen, Klatsch und persönlichen Problemen aller Art – Interna sozusagen. Freunde fragten sie nach Tipps für Vorstellungsgespräche, danach, wie die Chancen standen, dass ihre Kinder an eine Privatschule kämen, nach Heiratsvermittlern, Friseuren, Au-Pairs, Restaurants, Läden, Nachbarschaftshilfen, Sportstudios, Ärzten, Internetanbietern. Die Leute befragten sie zur Lokalpolitik, dabei wusste sie nicht mal, wer der Bürgermeister von New York war! (Na ja, vermutlich wusste sie das schon, aber wirklich sicher konnte man sich nicht sein.)

Gerade hatte Audras Freundin Lorelei angerufen und angekündigt, dass sie hochkommen würde, um sich Audras Rat wegen eines Meetings mit einem Klienten zu holen.

Lorelei war Audras beste Freundin, schon seit sie zwanzig waren. Sie wohnte im selben Haus im dritten Stock, Graham traf sie manchmal in der Lobby, und etwa einmal im Monat aßen Lorelei, ihr Mann Doug, Audra und Graham zusammen; meistens verbrachten sie auch Thanksgiving miteinander. Graham traf Lorelei also einigermaßen oft, aber es fühlte sich an, als wäre er mit ihr verheiratet, denn seit mittlerweile vierzehn Jahren erzählte ihm Audra Loreleis Meinung zu allem und jedem, zusammen mit ihrer eigenen. »Lorelei findet, du bist zu alt für mich, ich aber nicht«, hatte sie gesagt, als er sie kennenlernte. Oder: »Lorelei und ich, wir denken beide, du hättest gegenüber deiner ersten Frau bei den Unterhaltszahlungen nicht nachgeben sollen.«

Audra machte das ständig so, nicht nur, wenn sie mit Graham alleine war, sondern auch in Läden und Restaurants sagte sie Dinge wie »Lorelei würde niemals so viel für ein Jackett ausgeben, aber ich liebe diese Jacke«, oder »Lorelei und ich mögen beide Jakobsmuscheln, also nehme ich das Menü«. (Hielten die Leute sie für schizophren und dachten, sie würde mit jemandem sprechen, den nur sie selbst sehen kann? Oder dachten sie, sie hätte multiple Persönlichkeiten und Audra war die dominante, die für alle sprach?)

Es klingelte und Graham öffnete Lorelei die Tür.

»Hey, Graham«, sagte Lorelei und lächelte. Sie war eine zierliche Frau mit dunklen Haaren und Sommersprossen, und sie hatte die grünsten Augen, die Graham je gesehen hatte.

Graham kannte, wie gesagt, Loreleis Meinungen zu allem Möglichen, das meiste davon war eher langweilig, angefangen bei ihren Badfliesen (zu dunkel), über seine Mutter (passiv-aggressiv), bis hin zu seinem Rezept für Rindereintopf (unglaublich köstlich). Aber er wusste auch ein paar interessante Dinge über sie. Zum Beispiel, dass die Erfindung farbiger Kontaktlinsen sie betrübte, weil nun jeder dachte, sie würde welche tragen, und auch, dass ihr Mann sie einmal zum Weinen brachte, weil er sich darüber lustig gemacht hatte, wie sie mit Highheels ging, und dass sie als Fünfzehnjährige mit ihrem Freund in einem See rumgemacht hatte und, als er gekommen war, sein Sperma an die Oberfläche trieb und wie eine Qualle um sie herumwaberte.

Natürlich war Graham klar, dass es auch umgekehrt so sein musste und Lorelei alles über ihn wusste, aber irgendwie hatte ihm das immer gefallen. Wie viele Leute hatten schon so intime Kenntnisse von einem anderen Menschen, mit dem sie kaum mehr sprachen als »Der Lachs hier ist wirklich phantastisch«? Manchmal ließ das in Graham eine tiefe Zuneigung zu Lorelei aufkommen.

Und obwohl Lorelei als leitende Kundenbetreuerin bei einer großen Werbeagentur arbeitete, kam sie hierher und suchte bescheiden Audras Rat, einer Teilzeitgraphikerin!

Nicht die Tatsache, dass Audra Graphikdesignerin war, machte es in Grahams Augen seltsam, dass jemand ihren Rat suchte, denn er hielt Audra tatsächlich für ziemlich talentiert. Auch nicht ihre Teilzeitstelle, denn das war mehr oder weniger unumgänglich, zumindest bis Matthew zur High-School ging (oder vielleicht mit fünfundvierzig heiratete). Vielmehr lag es an Audra selbst, die neulich laut überlegt hatte, wo der Sicherungskasten ist (sie lebten seit zehn Jahren in dieser Wohnung), und die oft sagte, dass sie sich glücklich schätzte, im Zeitalter des Handtuchs geboren worden zu sein.

Aber zweifellos kannte Audra viele Leute und wusste Dinge über Leute, und oft genug wusste sie Dinge über Leute, die andere Leute kannten, die wiederum andere Leute kannten, die Brüder im Außenministerium hatten, und das war sehr hilfreich, wenn einem der Pass gestohlen wurde.

Lorelei ging ins Wohnzimmer, um sich mit Audra zu unterhalten, und Graham ging in die Küche, um für alle Tee zu kochen. Er wusste, wie Lorelei ihn trank – nur einen Teebeutel Ceylon, der vier Minuten zog, mit einem Stück Zucker und einem Schuss Zitrone. Er wusste sogar, welche Tasse sie am liebsten mochte – eine altmodische, türkisfarbene mit Emailschicht – und dass sie gern Ingwerkekse dazu nahm, aber die hatten sie gerade nicht da.

Graham machte gerne Tee. Er kochte gern, er backte gern, er mochte Essen, er mochte Küchen. In einem anderen Leben hätte er ohne weiteres einen Unterschlupf der Underground Railroad, einem Netzwerk für Sklaven auf der Flucht, führen können. Auch mitten in der Nacht hätte es ihm nichts ausgemacht, aufzustehen, das Feuer zu schüren und sich die Geschichten der Fliehenden anzuhören, während er ihnen ein Stück Schinken briet und warme Kekse machte. Und obwohl Grahams Teeniezeit in die Siebziger gefallen war und er nie einen Bewusstwerdungskurs besucht hatte, gefiel ihm dieser Gedanke immer. Politisches Engagement, während man in der Spaghettisoße rührte? Was gab es Besseres?

Er hatte in der medizinischen Forschung begonnen – Graham schätzte Routine und Ordnung – und war nun für ein Arzneimittelunternehmen einer Risikokapitalgesellschaft zuständig. Es gab ja leider keinen Markt mehr für Unterschlupfe.

»Also dieses sehr junge Ding in unserem Büro«, erzählte Lorelei gerade, »eigentlich noch ein Mädchen, das den Kaffee macht, hat etwas getweeted, ohne es vorher absegnen zu lassen –«

»Was hat sie denn getweeted?«, fragte Audra.

»Oh, nur irgendwie, dass die Schuhe des Klienten garantiert keine Blasen machen«, sagte Lorelei. »Sie wusste nicht, dass das Wort garantiert gesetzlich bindend ist, und jetzt sind die Kunden stinksauer, und ich muss sie morgen treffen.«

»Wer sind die Kunden?«, fragte Audra.

»Superguardian Footwear«, antwortete Lorelei.

»Augenblick mal, ich schau mir die mal an«, sagte Audra, das dumpfe Klappern ihrer Laptop-Tastatur war zu hören.

Graham versuchte sich zu erinnern, wie solche Gespräche in der Zeit vor Google abgelaufen waren, und stellte fest, dass es ihm nicht gelang, obwohl diese Zeit – wie lange? – erst zehn oder zwölf Jahre her war. (Leute wie seine Mutter lebten immer noch so.) Graham hatte den Eindruck, dass vor Google viel öfter die Themen gewechselt wurden. Oder waren die Gespräche einfach kürzer gewesen? Man sagte: Hast du je von einer Firma namens Superguardian Footwear gehört? Und der andere sagte: Nein, und man antwortete: Oh, na ja, egal. Wir sehen uns morgen.

»Alles klar«, murmelte Audra in dem halb abwesenden Tonfall, mit dem Leute sprechen, wenn sie gleichzeitig auf einen Computerbildschirm sehen. »Mal sehen. Hier ist ihre Website – wow, also dieses Blau gefällt mir wirklich überhaupt nicht.«

»Geh mal auf ihre Firmenseite«, sagte Lorelei. »Vielleicht kennst du den Vize-Präsidenten oder irgendwen.« Sie seufzte. »Ich wünschte, du könntest an meiner Stelle zu diesem Meeting gehen, so wie damals im College, als du für mich mit Jeff Mayberry Schluss gemacht hast.«

»Ich habe für dich mit Jeff Mayberry Schluss gemacht?« Audra klang verwirrt.

»Oh mein Gott, ja, erinnerst du dich nicht?«

»Überhaupt nicht.«

»Ich wollte mit ihm Schluss machen«, erzählte Lorelei, »wollte ihm aber nicht wehtun. Deswegen haben wir viele Rollenspiele gemacht und Telefonate geübt, bei denen du ich warst und ich Jeff, aber immer, wenn er anrief, habe ich es irgendwie nicht hingekriegt. Irgendwann bist du dann ungeduldig geworden, und als er das nächste Mal anrief, hast du so getan, als wärst du ich und gesagt: ›Hör mal, Jeff, irgendwie bin ich gerade in einer ganz seltsamen Situation und wir können uns nicht mehr treffen.‹«

»Hat es funktioniert?« Audra klang amüsiert.

»Ja!«, rief Lorelei. »Das war ja das Erstaunliche dran.«

»So verliebt kann Jeff ja nicht gewesen sein, wenn er nicht mal deine Stimme erkannt hat –«

»Das glaub ich einfach nicht«, unterbrach sie Lorelei. »Seit Jahren – ungelogen – spaziere ich herum und sage Leuten, dass ich irgendwas nicht machen kann, weil ich gerade in einer seltsamen Situation bin. Es ist meine Joker-Antwort auf fast jede unangenehme Frage, und jetzt erfahre ich, dass du dich nicht mal daran erinnerst!«

»Zu wem hast du es denn schon gesagt?«, fragte Audra.

»Zu jedem!«, sagte Lorelei. »Bestimmt habe ich es zu den Leuten gesagt, die Geld für UNICEF sammeln, und zu meiner Schwiegermutter, wenn sie immer fragt, warum ich keine Kinder bekommen habe.«

Das sind die Freuden einer zwanzig Jahre währenden Freundschaft, dachte Graham, eine Erinnerung bis an ihren Ursprung zurückverfolgen zu können, wie einem Bach durch die Wälder und einen Berg hinauf, bis man die Quelle findet, die aus einem Felsen plätschert. Man schiebt die welken braunen Blätter der dazwischenliegenden Jahre beiseite, und das Wasser fließt so süß und rein wie eh und je.

Audras Stimme drang deutlich vom Wohnzimmer herüber. »Also, die einzige Verbindung, die ich zu Superguardian habe – und die bringt uns nicht viel –, ist, dass ihr Personalchef ein Mann namens Columbus Knox ist und ich glaube, dass ich einem Mann mit diesem Namen vor der Raccoon Lodge mal einen geblasen habe, 1990 oder so.«

»Was?«, rief Graham schockiert.

»Es ist schon lange her«, beschwichtigte Audra. »Und ich kannte ihn nicht besonders gut.«

Also eigentlich war es kein bisschen, wie mit Warren Buffett verheiratet zu sein.

 

Am nächsten Tag bestellte in einem Deli die Frau direkt vor Graham ein Reuben-Sandwich mit French Dressing anstatt russischem, und Graham fiel ein, dass seine Ex-Frau das immer ganz genauso gemacht hatte. Und dann bemerkte er, dass die Frau vor ihm seine Ex-Frau war. Wie konnte es sein, dass er ihren Hinterkopf nicht sofort erkannt hatte? Der lange, schlanke Hals und die sorgfältige Bananen-Hochsteckfrisur? Ihre Haare hatten die Farbe von Maisgrannen, und Graham wusste, dass sie sich auch so anfühlten – so weich, dass sie zu zerfallen schienen, wenn man die Strähnen zwischen den Fingern rieb.

»Elspeth?«, fragte er. (»Dämlicher Name«, hatte Audra irgendwann einmal kommentiert – ausgerechnet sie, die mit einer Bitsy und einer Lorelei befreundet war.)

Die Frau drehte sich um und ja, es war eindeutig Elspeth, dieselben blauen Augen, dasselbe blasse Gesicht mit den feinen Augenbrauen. Sie sah älter aus, aber das war sie ja schließlich auch. Ihre Haut wirkte ein klein wenig körnig, wie die feinste Stufe Schleifpapier, wie winzige Kalziumablagerungen an Eierschalen. Unwillkürlich fiel ihm auf, dass seine Augen über ihr Gesicht krochen und wie unangenehm das sein musste. Er zwang sich, damit aufzuhören.

»Graham«, sagte sie. Sonst nichts. Er war froh, dass sie die Hände voll hatte – Taschentücher, eine Dose Soda und ein Glas –, denn das verhinderte, dass er sie in den Arm nehmen oder ihr die Hand geben musste. Er hätte sowieso nicht gewusst, was angebracht gewesen wäre. Gab man jemandem, mit dem man acht Jahre lang verheiratet war, die Hand?

Schweigen breitet sich zwischen ihnen aus wie eine Öllache, schimmernd und gefährlich. Graham war sich sicher, wenn er nach unten sah, konnte er sehen, wie es um seine Schuhe schwarz wurde.

Der Mann vom Imbiss knallte Elspeths Sandwich auf die Theke, wieder zu Graham gewandt sagte sie: »Warum setzt du dich nicht zu mir?«

»Das wäre schön«, sagte Graham. »Such doch schon mal einen Tisch, ich bestelle mir ein Sandwich und komme dann gleich nach.«

Er bestellte sein Sandwich so langsam und wirr, dass der Mann vom Imbiss seufzend die Augen verdrehte. Währenddessen war Graham damit beschäftigt, sich in Erinnerung zu rufen, wie oft er Elspeth seit der Scheidung gesehen hatte. Nicht oft. Einmal war er an ihr am Drehkreuz der Circle Subway vorbeigegangen – sie ging rein und er raus. Sie hatte ihn nicht gesehen, aber er hatte ihren Gesichtsausdruck erhascht, und sie sah so unglücklich aus, dass er sich umdrehte und ihr nachblickte, bis sie die Treppe hinab außer Sichtweite war. Er sagte sich, dass sie nicht seinetwegen unglücklich war. Zu dieser Zeit waren sie seit vier Jahren geschieden. Alles Mögliche konnte sie unglücklich gemacht haben. Dann sah er sie noch mal bei dem Begräbnis eines gemeinsamen Freundes. Elspeth hatte in der Friedhofskapelle ziemlich weit vorne gesessen, groß, schlank und irgendwie majestätisch in ihrem schwarzen Anzug. Jemand musste ihr zugeflüstert haben, dass Graham da war, denn sie hatte den Kopf gedreht – wie ein blasser, blonder Schwan, der aus der Formation ausbricht – und ihn angestarrt. Dann hatte sie wieder nach vorn gesehen, und Graham hatte sich, noch bevor der Gottesdienst zu Ende war, verstohlen wie ein Giftmischer davongeschlichen.

Der Mann hinterm Tresen gab ihm sein Sandwich – Graham war so durcheinander, dass er um ein Haar vergessen hätte zu bezahlen.

Elspeth lächelte, als er sich zu ihr an den Tisch in der Ecke setzte, und Graham erkannte dieses Lächeln wieder. Es war ein liebenswürdiges, geselliges Lächeln, das sie nur manchmal hervorholte, so wie andere Frauen vielleicht ihr bestes Porzellan.

Graham lächelte zurück und nahm dann einen großen Bissen von seinem Sandwich, um ein wenig Zeit zu gewinnen.

»Und«, sagte Elspeth, »wie geht’s Audra und Andrew?«

Jetzt bedauerte Graham seinen großen Bissen, denn er musste eine Weile kauen, ehe er antworten konnte.

»Es geht ihnen gut«, sagte er schließlich. Er machte sich nicht die Mühe, sie bei Matthews Namen zu korrigieren, weil er sich nicht sicher war, ob sie aus irgendeiner passiv-aggressiven Neigung heraus absichtlich den falschen Namen benutzt hatte. »Und du? Wie läuft’s in der Arbeit und so?«

»Arbeit ist ganz gut«, sagte Elspeth und hob mit ihren langen Fingern ihr Sandwich hoch. Sie war Anwältin bei einer Firma in Midtown Manhattan.

»Bist du noch bei Stover Sheppard?«, fragte Graham.

»O ja.«

»Und wohnst du noch in derselben Wohnung?« Plötzlich ging ihm auf, dass er weder Adresse noch Telefonnummer oder E-Mail-Adresse von ihr hatte. Einen Augenblick lang schwebte er im Leeren – war sie real? Was verband sie mit der Welt?

»Ich ziehe gerade um«, sagte Elspeth. »Oder versuche es. Ich will eine Wohnung in dem Gebäude drüben an der 76. Ecke York kaufen. Es heißt Rosemund, erinnerst du dich?«

Graham nickte, obwohl es nicht stimmte.

»Jedenfalls will ich da was kaufen, aber es ist schwierig, der Vorstand muss es bewilligen.«

»Ich kann mir keinen besseren Mieter vorstellen als dich«, sagte Graham aufrichtig und hielt dann eine Sekunde inne. Er war mit dieser Frau verheiratet gewesen, und das Beste, was er über sie sagen konnte, war, dass sie eine großartige Mieterin sei?

»Ich habe gehört, dass sie dort keine Anwälte haben wollen«, sagte Elspeth. »Zu klagefreudig.«

Graham hatte eine kurze Vision, wie Elspeth bei einem Vorstellungsgespräch wirken musste: kühl, herb, perfektionistisch. Ihr Lieblingsgetränk war Gimlet, und sie selbst wirkte auch ein wenig wie dieser sehr scharfe, beißende Cocktail.

»Na ja«, sagte sie. »Und du, wo wohnst du?«

Graham erzählte von seiner Wohnung, und sie verglichen den Hypothekensatz.

Es gab nicht wirklich etwas zu sagen, aber sie hatten beide jeweils noch ein halbes Sandwich vor sich, und deshalb sprachen sie über die Privatisierung der Arbeitnehmer-Entschädigung in West Virginia und Nevada. Der einzig intime Gedanke, der Graham noch durch den Kopf ging, war, dass sie immer noch die ordentlichste Esserin war, die er kannte.

Als er Audra an diesem Abend erzählte, dass er Elspeth getroffen hatte, wurde sie so aufgeregt, dass sie versehentlich eine halbe Flasche Sirup über die Waffel goss, die sie für Matthew zubereitet hatte.

»Das kann ich nicht essen«, sagte Matthew.

»Klar kannst du.« Audra stellte den Teller vor ihn hin. Zu Graham gewandt sagte sie: »Wie sah sie aus? Was hat sie gesagt?«

»Ist sie matschig?«, fragte Matthew. Er aß nichts, was matschig, klumpig, knusprig oder scharf war, also eigentlich gar nichts, was man mit einem interessanten Adjektiv beschreiben konnte.

»Wenn sie matschig ist, mach ich dir noch eine«, sagte Audra abwesend. »Sag schon, Graham.«

»Sie sah aus wie immer, nur irgendwie älter«, sagte er langsam. »Sie trägt ihr Haar immer noch so wie früher.«

»Und?«, drängte Audra weiter.

»Und was?«

Audra machte eine ungeduldige Geste. »Was führt sie für ein Leben? Ist sie glücklich? Warum hat sie nie wieder geheiratet? Wie hält sie es mit Sex?«

Graham sah zu Matthew, der erstaunlicherweise die vollgesogene Waffel aß.

»Also ich glaube nicht, dass ich die Antwort auf eine dieser Fragen kennen möchte«, sagte er schließlich.

»Aber warum habt ihr denn dann überhaupt zusammen gegessen?«, fragte Audra. »Du hättest an einer Bushaltestelle ein bedeutungsvolleres Gespräch führen können!«

Das war Audras Meinung. Aber Graham war sich da nicht so sicher. Eine höfliche Unterhaltung mit jemandem zu führen, dreißig Minuten in der Gesellschaft des anderen zu überstehen, zu merken, dass der andere Mensch einen nicht so sehr verabscheute, dass er nicht am selben Tisch sitzen will – manchmal war das allein schon ein großer Triumph.

 

In mancherlei Hinsicht war es sehr schön, dass Bitsy bei ihnen wohnte, weil sie sich so gut mit Matthew verstand. Sie ließ sich von Matthews heiklen Essgewohnheiten nicht beeindrucken, war sehr geduldig mit seiner langsamen Art, seine Hausaufgaben zu erledigen, und sanftmütig, wenn er sich weigerte, sein Zimmer aufzuräumen. Sie hatte endlos Energie für Origami, Papierflieger und Dominos – Matthews Lieblingsspiele, die Graham und Audra schon vor langem zu langweilig geworden waren.

Und in mancherlei Hinsicht war es nicht schön, dass Bitsy bei ihnen wohnte, denn Audra musste so tun, als wüsste sie nichts von dem Minirockmädchen und Bitsys Mann. Gleichzeitig fühlte sich Audra aber verantwortlich, Bitsy sanft und vorsichtig auf diese Vorstellung vorzubereiten.

»Ich finde, das muss Bitsys Ehemann tun«, sagte Graham.

»Aber er tut es ja nicht!«, protestierte Audra. »Er erzählt ihr diesen ganzen Quatsch von wegen Sabbatical, und sie glaubt ihm. Das ist doch eine Verweigerungshaltung!«

Das führte beim Abendessen zu langen, seltsamen Gesprächen mit Bitsy, bei denen Audra versuchte, Bitsy zur Vernunft zu bringen – was so gut funktionierte, wie einen Fluss mit einem Spatel umlenken zu wollen.

»Erzähl doch mal von Teds Sabbatical«, begann Audra etwa.

»Ich weiß nicht wirklich viel darüber«, sagte Bitsy bedächtig. »Er sagt, es sei sehr persönlich. Er macht viel Yoga.«

»Was noch?«

»Ich glaube, Massagen gehören auch dazu.«

»Da könnte ich drauf wetten«, sagte Audra dann, und Graham verkniff sich ein Stöhnen.

Oder Audra sagte, während sie mit ihrer Gabel Spaghetti drehte, so beiläufig wie möglich: »Äh, ist es unter Bankmanagern eigentlich üblich, eine kreative Auszeit zu nehmen?«

»Ted ist der einzige, den ich kenne«, sagte Bitsy. »Sein Unternehmen war sehr großzügig.«

Spaghettiwickel, spaghettiwickel – »Wo wohnt er denn in Ithaca?«

»In einem sehr kleinen Studio«, erzählte Bitsy. »Er schläft auf einem Futon und benutzt ein Brett auf Sägeböcken als Schreibtisch.«

»Das hört sich an, als würde da jemand sehr Junges wohnen«, kommentierte Audra.

»Ja, stimmt«, gab Bitsy ruhig zurück.

»Es klingt wie die Wohnung, na ja, vielleicht wie die Wohnung einer Zwanzigjährigen.«

»Er ist Untermieter in einer Studentenbude.«

Audras Gabel voller Spaghetti machte kurz vor ihrem Mund halt. »Von einer Studentin

Bitsy nickte. »Ja, sie heißt Jasmin.«

»Jasmin und weiter?«

»Weiß ich nicht«, sagte Bitsy und schnitt ihre Spaghetti. (Irgendwie konnte man sich schon vorher denken, dass sie eine Spaghetti-Schneiderin war, so wie man wusste, dass Audra eine Spaghetti-Wicklerin sein muss.) Audra sah enttäuscht aus. Graham war sich sicher, dass sie sich schon darauf gefreut hatte, Jasmin im Internet zu stalken. Er räusperte sich, um einen Themenwechsel anzukündigen, aber Audra ließ sich nicht abbringen.

»Du solltest Ted mal besuchen«, schlug sie Bitsy vor.

»O nein«, sagte Bitsy. »Ich möchte seinen kreativen Prozess nicht stören.«

»Ein Überraschungsbesuch!«, sagte Audra. »Stell dir vor, wie romantisch –«

»Noch etwas Knoblauchbrot, Bitsy?«, fragte Graham. »Oder Wein? Wasser? Butter? Nein? Matthew, und du? Ja, ich weiß, du trinkst keinen Wein – das ist ja eh klar –, aber Wasser? Und erzähl uns mal von der Schule! Was war heute los?«

Und so weiter und so weiter, bis seine Stimme kratzte.

Später sagte er im Bad zu Audra: »Ich wünschte, du würdest das nicht tun.«

»Was meinst du?«, fragte sie und klemmte ihr Haar hinten fest.

»Diese Gespräche mit Bitsy.« Graham begann seine Zähne zu putzen und hielt dann inne. »Was, wenn sie tatsächlich nach Ithaca fährt, um Ted zu überraschen? Denk doch mal an das Chaos, das du verursachen würdest.«

»Ich kann nicht anders«, sagte Audra. »Sie ist so weltfremd!«

»Du weißt doch, man kann ein Pferd zur Tränke führen«, sagte Graham und hob seine Zahnbürste wieder zum Mund, »aber saufen muss es selbst.«

»Aber man kann dem Pferd doch einen Eiswürfel in den Mund stecken!«, protestierte Audra. »Man kann dem Pferd die Lippen mit einem nassen Tuch anfeuchten! Mehr will ich doch gar nicht – Bitsy ganz, ganz vorsichtig auf das Unvermeidliche vorbereiten.«

Sie drehte den Wasserhahn an ihrem Waschbecken auf und begann ihr Gesicht einzuseifen.

Es gab auch noch andere Fragen hinsichtlich Bitsy, viele sogar. War sie Ted gegenüber wirklich so blind? Wäre es tatsächlich besser, wenn sie die Wahrheit wüsste? Was, wenn sie die Wahrheit gar nicht wissen wollte? Was, wenn sie ihr alles erzählten, und Ted nahm sich tatsächlich nur eine Auszeit? Wie lange würde Bitsy bei ihnen wohnen? Warum war Bitsy hier, wenn Audra sie eigentlich gar nicht wirklich mochte? Warum gehört jemand aus Brooklyn zu einem Buchclub in Manhattan? Stimmte es, dass sie eine Meile in acht Minuten schaffte?

Aber Graham konnte man danach sicher nicht fragen. Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung.

 

Ehrlich gesagt war Audra nicht die Einzige, die mit großer Begeisterung Leute im Internet stalkte. Jetzt gerade, in dieser Sekunde, war es Graham, der sich mit seinem Laptop und dem ersten magischen Whiskey des Tages an den Esstisch setzte und sich dranmachte, eine halbe Stunde lang – dreißig Minuten seines Lebens, die er nie wieder einfordern konnte! – seine Ex-Frau zu stalken. Und ja, er freute sich darauf.

Wieder einmal fragte er sich, was die Menschen wohl vor dem Internet gemacht hatten? Es gab alle möglichen Studien dazu, dass die Leute mehr gelesen, mehr ferngesehen oder mehr telefoniert hatten, mehr Schneeschuhwanderungen gemacht, Bienen gehalten oder Marmelade eingekocht hatten, aber Graham war sich nicht sicher, ob er diesen Studien traute. Vielmehr hegte er den Verdacht, dass die Leute immer noch viel lasen, fernsahen und die ganze verdammte Zeit am Handy hingen, vor allem in Restaurants, wenn man selbst gerade versuchte, die Zeitung zu lesen.

Vielleicht hingen die Leute in den Vor-Internetzeiten öfter planlos herum oder warfen Tennisbälle an die Wand, um dieses angenehme Tock zu hören, oder fragten sich müßig, welchen Kilometerstand die Autos ihrer Freunde hatten. Für Graham war das alles kein großer Verlust. Jedenfalls nicht, solange er hier sitzen und seiner ehemaligen Gattin hinterherspionieren konnte, ohne auch nur sein Wohnzimmer verlassen oder unangenehme Fragen fürchten zu müssen, wie damals als Teenie, als er seine Nachbarn mit dem Fernglas beobachtete (was ihm jetzt wieder einfiel).

Graham nahm den ersten Schluck Whiskey und tippte Elspeths Namen in die Suchmaschine ein.

»Was machst du?«, fragte Audra. Sie saß auf der Couch mit ihrem eigenen Drink neben sich und nähte ein Abzeichen an Matthews Wölflings-Pfadfinderuniform.

»Schaue nur was nach«, sagte Graham gedankenverloren.

Elspeth war nicht bei Facebook, was nicht weiter verwunderlich war. Hätte sie jemand gefragt, ob sie bei Facebook sei, hätte sie wahrscheinlich geantwortet: »Wofür brauche ich denn Facebook?« (Sie war schon immer fähig, Gespräche krass abzuwürgen.)

Sie war auch weder bei Twitter noch bei Instagram. Graham musste sich damit begnügen, zur Stover-Sheppards-Website zu gehen. Da war sie: Elspeth Osbourne, Partner in der Abteilung Mergers and Acquisitions. Elspeths Foto war so gephotoshopt, dass sie darauf nicht mehr aussah wie sie selbst. Vielleicht war sie es auch gar nicht, schoss es Graham plötzlich durch den Kopf. Vielleicht war es nur das Datenbankfoto einer blonden Anwältin. Er las den kurzen Text neben ihrem Foto: Ms Osbourne ist in der Mergers and Acquisitions-Gruppe tätig. Sie berät amerikanische und internationale Unternehmen sowie Private-Equity-Kunden in allen Belangen …

Das war so langweilig, dass Graham sich schon fast wünschte, er hätte in den letzten zehn Minuten einen Tennisball an die Wand geworfen. Er nahm einen größeren Schluck von seinem Whiskey und versuchte, sich an das Haus zu erinnern, in das Elspeth einziehen wollte. Roseland? Nein, das war ein Ballsaal. Rosemund, so hieß es.

Und da war sie, die Website vom Rosemund. Graham klickte auf verschiedene Grundrisse und Fotos – Chrom, Glas, Marmor, Edelstahl. Alles so hell, glatt und glänzend wie der Gehweg nach einem Kälteeinbruch. Kein Wunder, dass Elspeth dort wohnen wollte. Sie hatte eine gründliche Abneigung gegenüber Teppichboden – eigentlich gegenüber allem Weichen. Graham klickte auf die Seite mit den Ausstattungsmerkmalen des Gebäudes. Billardräume, Concierge, Fitness-Center, beheizter Außenpool, Parkgarage, Starbucks. Bedeutete das, dass da tatsächlich ein richtiger Starbucks in der Lobby war? Audra würde nie mehr aus dem Haus gehen, wenn sie dort wohnen würden. Er klickte auf den etwas geheimnisvoll benannten Link »Unser Bewerbungsverfahren« und überflog das Direktionsgremium.

Dann linste er zu Audra hinüber, die in Lampenlicht getaucht noch immer nähte, ein paar Strähnchen in ihrem Haar schimmerten wie Lametta.

Wäre man mit Marie Curie verheiratet, würde man sie vielleicht hin und wieder fragen, was die relative Atommasse von Lithium war. Nicht, um sie auf Trab zu halten, sondern einfach, weil es möglich war. Und jetzt fragte Graham Audra aus demselben Drang: »Kennst du einen von denen?«, und las ihr die Liste der Gremiumsmitglieder vor:

»Ach, du lieber Gott«, sagte Audra. »Marco Luxe ist der Arzt, der Matthew zur Welt gebracht hat.«

Graham runzelte die Stirn. »Ich dachte, das wäre Dr. Medowski gewesen.«

»Es hätte Dr. Medowski sein sollen«, sagte Audra, hielt das Oberteil näher ans Licht und legte es dann wieder auf ihren Schoß, »aber er war bei der Sumpfhuhnjagd! Erinnerst du dich nicht mehr? Ich rief in seiner Praxis an, weil meine Wehen begonnen hatten, und seine Arzthelferin sagte: ›Oh, Dr. Medowski ist nicht da, er ist bei der Sumpfhuhnjagd in den Adirondacks‹, und begann über Sumpfhühner oder Rebhühner oder sonst was zu faseln, und ich sagte: ›Okay, egal, aber ich kriege jetzt ein Baby und ich brauche Dr. Medowski‹, und sie: ›Nun, Sie können stattdessen Dr. Luxe haben‹, und ich: ›Ich will nicht Dr. Luxe, ich will Dr. Medowski‹, und sie: ›Aber es ist doch der erste Tag der Sumpfhuhnsaison‹, in diesem vorwurfsvollen Ton, als hätte ich besser planen können –«

»Denkst du, Dr. Luxe erinnert sich an dich?«, fragte Graham.

»Oh, ganz bestimmt«, sagte Audra heiter.

Und tatsächlich war auch Graham sich da sicher. Audra hatte während der Wehen die ganze Zeit über geredet, selbst bei der Geburt. Er wusste noch, dass der Arzt (also offenbar Dr. Luxe) zur Schwester gesagt hatte: »Die Epiduralanästhesie hat sie richtig aus dem Konzept gebracht«, und die Schwester meinte: »Nein, die ist einfach so.«

»Meinst du, du könntest ihn anrufen?«, fragte Graham, »und ihn um einen Gefallen bitten?«

»Welche Art von Gefallen?«

»Für Elspeth.«

»Ich wüsste nicht, was dagegen spricht«, sagte Audra. Sie stöhnte plötzlich auf. »Ich glaube, ich habe das Oberteil an meine Jeans genäht. O Mann, ich hasse Wölflinge. Holst du mir noch einen Drink, ja?«

 

Matthew wollte einem Origami-Club beitreten, der sich sonntags um neun Uhr früh in der Lower East Side traf; Bitsy hatte ihn mit Matthew zusammen im Internet herausgesucht. Durfte man nun Bitsy die Schuld geben? Wäre es fair, Bitsy zu bitten, Matthew immer sonntags zu den Treffen zu bringen, solange sie bei ihnen wohnte – oder vielleicht noch länger? Nein, wahrscheinlich nicht. Graham seufzte und rief bei der Nummer auf der Website an.

Später würde sich Graham sagen, dass er schon allein an der Art, wie Clayton sich am Telefon meldete, gemerkt hatte, dass er nicht wirklich – also nicht so richtig – normal war. Aber in Wirklichkeit hatte er einfach nicht besonders gut aufgepasst, und ihm war nichts aufgefallen, als sie bereits mehrere Sätze miteinander gewechselt hatten.

»Hallo«, sagte Graham. »Kann ich mit Clayton Pierce sprechen, bitte?«

»Am Apparat.«

»Also«, sagte Graham, »ich rufe wegen des Origami-Clubs an.«

»Okay, okay, also bitte mal langsam«, sagte Clayton. »Erstens: Wie alt sind Sie?«

»Ich rufe für meinen Sohn an«, sagte Graham. »Er ist derjenige, der beitreten möchte.«

»Und Sie?«, fragte Clayton. »Falten Sie?«

»Nein«, sagte Graham, worauf eine kleine, frostige Stille am anderen Ende der Leitung folgte; dieselbe Art Stille, wie wenn man bei einer Swingerparty jemanden fragte, ob er swingt.

»Verstehe«, sagte Clayton. »Wie alt ist Ihr Sohn?«

»Er ist zehn.«

»Hm, hm«, sagte Clayton, wobei er offenbar etwas notierte. »Und wie heißt er?«

»Matthew Cavanaugh.«

»Ist sich Matthew darüber im Klaren, dass unser Club nur für geladene Gäste ist?«

»Äh, nein«, sagte Graham verblüfft. »Das wussten wir nicht.«

»Dann hören Sie mal«, sagte Clayton. »Das ist nicht der Christliche Verein Junger Menschen, wo jeder Landstreicher Mitglied werden kann. Wir haben Grundsätze. Wir sind exklusiv. Wie White’s in London.«

»Oder die Marines«, gab Graham zurück. Die Wenigen. Die Stolzen.