Rasha Abbas

Eine Zusammenfassung von Allem, was war

Erzählungen

Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl

ein mikrotext

Lektorat: Nikola Richter, Tine Mothes
Arabische Version: Almutawassit Publications, Italien

E-Book erstellt mit Booktype

„Sie können mich Samt nennen“, „Der Tag, an dem ich in die Verwüstung zurückkehrte“ zuerst erschienen in:
Weg sein – hier sein. Texte aus Deutschland. Secession Verlag, 2016“

Cover: Lydia Salzer / Inga Israel unter Verwendung von „Curly Poodle. Ch. Rufus Mrs Long Owner“ aus: Charles Henry Lane: All about dogs: a book for doggy people. With illustrations by R.H. Moore. New York, J. Lane, 1900.

Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel

www.mikrotext.de – info@mikrotext.de

ISBN 978-3-944543-56-7

Die Übersetzung wurde von Litprom e.V. mit Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert.

© mikrotext 2018, Berlin

Inhalt

Die syrische Autorin Rasha Abbas zeigt in ihren neuen Erzählungen virtuos die Bandbreite ihrer Kunst: urbane Märchen und Traumlandschaften mit starken zeitgenössischen Bildern. Berührende Figuren, Fantasiegebete, Balladen und Monologe von ungeheurer Dringlichkeit.

Zeitschleifen und russische Raketen über Freibädern, paranoide Teenager, Checkpoints und abgelegene Hotels. Drogentrips, Kinoproduktionen für Diktatoren und Exilanten in WG-Zimmern – in Eine Zusammenfassung von allem, was war flackern die Bilder der alten und neuen Heimat grell auf. Diese starken Erzählungen bezeugen die Unabgeschlossenheit von Krisenerfahrung. Sie sind in traumhaften, videospielartigen Welten angesiedelt, aber auch im staubigen Gelbgrau nahöstlicher Ländlichkeit, in tropischen Sumpflandschaften, in endlosen Eiswüsten oder in Max Liebermanns Villa. Und sie lassen überall das zarte, warme Leben durchschimmern. Eine ganz andere Rasha Abbas als in ihren Geschichten Die Erfindung der deutschen Grammatik.

„Rasha Abbas treibt all das Abwegige, dem sie begegnete, in ihren Geschichten noch tiefer ins Absurde.“ Carolin Haentjes, Tagesspiegel



Rasha Abbas

Eine Zusammenfassung von allem, was war

Erzählungen

Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl

Sie können mich Samt nennen

Was uns zerbricht, das rettet uns. Amen. Mein Name ist unwichtig. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt. Sie können mich Samt nennen.

Während Sie so zu mir herübersehen, denken Sie, Sie würden mich auf keinen Fall zur Tochter haben wollen. Auch nicht, dass Ihre Tochter mit mir befreundet wäre. Es kann Ihnen ja keiner verdenken. Es fängt ja schon an bei den Tattoos. Sie überziehen meinen kompletten Unterarm, einige haben mit der Zeit ihre Form verloren oder ich habe sie absichtlich verstümmelt – besonders die mit den Namen zweier Jungs, die ich einmal geliebt habe –, andere sind in Sprachen verfasst, die ich nicht kenne. Ich habe mich noch nie getäuscht, wenn es darum geht, verächtliche Blicke wahrzunehmen, die auf mich gerichtet sind.

Sie würden sicher nicht wollen, dass Ihre Tochter so wäre wie ich. Ich gehöre nicht einmal zu dem Typ Mädchen, auf das Sie gelegentlich scharf sind, wenn Sie sich mal wieder von Ihrer Midlife-Crisis-Depression ablenken wollen. Dafür habe ich Verständnis. Es kränkt mich nicht im Geringsten.

Mein Name ist unwichtig. Ich bin zwanzig Jahre alt. Ich hatte begonnen, Übersetzen zu studieren.

Vom ersten Monat an fand ich es todlangweilig. Ich wollte in ein anderes Fach überwechseln, aber da war es schon zu spät. So beschloss ich, die Uni ganz hinzuschmeißen und Schauspielerin zu werden. Obwohl es anfangs leicht zu sein schien, wurde ich nie wirklich gut. So ähnlich war es mir schon einmal ergangen, als ich glaubte, Talent zum Malen zu haben, dann aber durch die Aufnahmeprüfung der Kunstakademie fiel. Mein Vater wischte gerade den Boden, als ich mit einem neuen Tattoo zur Tür hereinkam. Es war ein Tiger, mit dem ich meinen Beschluss feiern wollte, nie wieder zur Uni zu gehen. Mein Vater hörte mir zu, sein Blick war an die geschwollenen Mäander des Tattoos geheftet. Er sagte, ich würde immer mehr wie Mutter, das mache ihm Angst. Ich sagte ihm, als Schauspielerin würde ich viel Geld verdienen. Ich würde dafür sorgen, dass es ihm an nichts fehlte. Später bereute ich, das gesagt zu haben. Zwar ließ er mir mein tagelanges Wegbleiben von zu Hause kommentarlos durchgehen – mal sagte ich ihm, ich müsse in einer anderen Stadt Regisseure treffen, mal musste ich an einem Schauspiel-Workshop teilnehmen –, doch wenn er beim Putzen irgendetwas von mir auf dem Boden herumliegen sah, fing er immer an zu zetern, ich solle ihn doch alleine leben lassen, er wolle endlich wieder heiraten. Dann beruhigte er sich und fragte mich, wann es denn nun so weit sein würde, dass ich Geld nach Hause brächte. Ich fing an, mir zu wünschen, dass er wieder zu seiner zweiten Frau zurückkehren und uns einfach vergessen möge wie vor dem Tod meiner Mutter. Eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen er Interesse an meinem Leben gezeigt hatte, war jene, als er – unbemerkt von seiner neuen Frau – in mein Zimmer geschlichen war, um mein Handy zu durchsuchen. Er wollte sehen, ob ich mit meiner Mutter kommunizierte. Nach ihrem Tod hatte er immer wieder versucht, aus uns herauszukitzeln, was genau wir über die Umstände von Mutters Tod wussten.

Trotzdem wünsche ich mir jene Tage zurück. Damals war es immerhin noch besser als heute, wo er die ganze Zeit hier herumsitzt und jeden meiner Schritte überwacht.

Mein Name ist unwichtig. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Wenn Sie mir eine Zigarette geben würden, wäre ich Ihnen dankbar.

Wissen Sie, warum ich so bin? Der Unterschied zwischen mir und Ihnen ist, dass Sie im Gegensatz zu mir Wurzeln haben. Wurzeln, die tief in die Erde reichen. Deshalb wirken Sie so adrett und sauber, deshalb ist Ihr Lächeln so schön. Und deswegen wirke ich so vertrauensunwürdig. Was uns zerbricht, das rettet uns. Das ist so etwas wie ein Gesetz. Wenn ich als Jugendliche ausgeschimpft wurde, dann nannte man mich immer ein wurzelloses Teufelskraut. Das verletzte mich nicht, denn jene wütend dahingeworfene Beleidigung entsprach weitestgehend der Realität. Oder vielleicht habe ich sie auch einfach verinnerlicht. Ich pflegte mein Umfeld genau zu beobachten, auf der Suche nach der Ursache für mein Sosein: so fernab jeder Vertrautheit, jeder tieferen Bindung, so fern von all dem Geplauder, Gezanke und Gelächter, das mich umgab und doch ausschloss. Die Wurzeln der anderen konnte ich genau sehen. Etwa die, die sich in den häuslichen Spiegel geschlagen hatten, vor dem ein Mädchen stand und sich prüfend begutachtete, bevor sie aus dem Haus ging, nach draußen, wo in jedem Winkel ihre Verwandten und Brüder und Freunde auftauchen könnten und exakt wissen würden, was zu tun, was zu sagen war. Sie schienen darauf abgerichtet zu sein. Wie seltsam: abgerichtet auf Alltagsgespräche, Streitigkeiten und darauf, die richtigen Dinge einzukaufen. Vertrautheit schien durch ein unsichtbares, komplexes Geflecht aus miteinander verzweigten Kanälen zu plätschern. Ich fühlte mich nicht immer willkommen. Obwohl ich mich daran erinnere, wie ich oftmals versuchte nachzuahmen, was ich um mich herum sah. Ich war gar nicht einmal so schlecht darin. Aber jene Erde war nicht meine Erde. Es war unübersehbar: Sie spuckte mich aus. Ich wuchs nicht so wie meine wurzelbestückten Widersacher, die es schafften, mir alles, was ich begehrte, zu verderben. Es musste erst viel Zeit vergehen. Erst vor nicht allzu langer Zeit erfuhr ich, dass das, was uns zerbricht, uns rettet und dass ich meinen Trumpf in der Tasche habe, seit ich geboren bin. Und als ich sie so sah, wie sie starr in schmutziger Erde steckten, billige Elemente, da regte sich die Erde und stülpte sich nach innen. Aller Ruhm war nun dem Unkraut, das sich mühelos mit dem Wind vermehrte. Gelobt sei der Name des Herrn. Möge sein Wort auf die Erde niederkommen wie ein Schwerthieb. Der Ruhm gehörte fortan mir, meinem windigen, blauen Element und jenem zusätzlichen, hässlichen Auge, das sich mir auf der Brust geöffnet hatte und das man mir so lange zu zeigen verboten hatte, außer als Narbe. Das Jüngste Gericht war gekommen, die Erde gehörte mir.

Vor einem Jahr bin ich hierhergekommen, in diese Stadt. Vor meiner Reise hatte ich geglaubt, dass ich mich hier endlich zu Hause fühlen würde, unter all den Freaks, die es hier gibt. Ich dachte, hier würde ich mich nicht fremd fühlen wie in meiner Heimat. Doch es kam anders. Wissen Sie eigentlich, wie unmöglich es hier für mich ist, einen Job zu bekommen? Man findet mein Aussehen komisch. Die blauen Strähnen in meinem Haar, den fetten dunklen Lidstrich, die Silberringe in meiner Unterlippe und in meiner Augenbraue, meine mit Tätowierungen überzogenen Arme: Keiner möchte mich damit einstellen. Klar, ich könnte mir fürs Vorstellungsgespräch einfach ordentliche Kleidung anziehen, meine Piercings abnehmen und meine Tattoos unter langen Ärmeln verstecken. Aber das meine ich nicht. Dieses Erscheinungsbild ist doch dafür da, dass wir uns untereinander erkennen. Dass wir erst gar niemandem vormachen, wir hätten so etwas wie Verantwortungsbewusstsein. Dass wir keine Mühe in den Umgang mit Leuten stecken, die uns ohnehin nicht akzeptieren würden. Wir sind wurzellos. Das ist es. Und einfach war es nie. Deswegen bin ich hier. Mir ist kalt von dem ganzen Herumstehen hier auf der Straße und dem Sprechen mit Menschen, die es alle so unglaublich eilig haben.

Mein Name ist unwichtig. Ich bin siebzehn Jahre alt. Sie können mich Samt nennen.

Ich war allein zu Hause. Ich rief meinen Vater an, ich wollte ihn um Geld bitten, um damit Essen zu kaufen. Er sagte, ich solle ruhig vorbeikommen, aber bitte so, dass seine Frau nichts davon mitbekommt, also legte ich auf und lief hinunter in den Park. Dort saß ich eine Weile, als zwei junge Männer, die ebenfalls im Park herumlungerten, versuchten, mir über einen Straßenjungen einen Gruß zu übermitteln, indem sie mir eine Packung Kaugummis durch ihn überbringen ließen. Mit einem Ruck stand ich auf und zog mich schnellen Schrittes ans andere Ende des Parks zurück, wo der Kinderspielplatz war.

Ich suchte mir eine freie Bank und setzte mich hin. Einige Minuten später setzte sich eine Frau mit Kopftuch und braunem Teint neben mich. Sie war groß und schlank und wirkte wie um die vierzig. Mein Gott. Die hatte bestimmt Wurzeln, die ganz tief reichten. Die kümmerte es bestimmt nicht, was andere über ihr Leben sagten. Sie zog ein Falafelsandwich aus einer sauberen Tüte, zerteilte es und gab mir die Hälfte. Ich schämte mich in Grund und Boden, da mir, seit ich den ersten Bissen genommen hatte, Tränen in Strömen die Wangen hinunterliefen. Das Brot war warm, die Falafel noch heiß, und die Frau schien tatsächlich tiefreichende Wurzeln zu haben, denn sie überschüttete mich nicht etwa mit Mitleid, sondern wartete, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte. Dann sagte sie, ohne mich etwas zu fragen, dass sie auf dem Land Alphabetisierungskurse gebe. Ich solle doch auch arbeiten, dann würde es mir bestimmt besser gehen. Ich könne gerne mit ihr arbeiten. Sie fragte mich nach meinen Eltern, worauf ich ihr sagte, dass sie verreist seien. Mir schien, dass ihr das missfiel. Dann fragte sie mich nach meiner Festnetznummer. Ich muss da irgendwie hineingeschlittert sein, denn ich gab ihr unsere richtige Nummer. Obwohl ich ihr so leicht eine falsche hätte geben können.

Ich dankte ihr, ging nach Hause und bereute alles. Würden meine Eltern erfahren, dass ich einer fremden Frau im Park mein Herz über unsere Familienprobleme ausgeschüttet hatte, würden sie mir die Hölle heiß machen. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, dass sie bloß nicht anrufen würde. Doch sie rief an.

Mein Name ist unwichtig. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Sie können mich Samt nennen.

Fassen Sie mich nicht an, wenn Sie nicht aus der Kneipe fliegen wollen. Der einzige Spaß unseres Türstehers, eines regelrechten Hünen, sind Kunden wie Sie, die die Kontrolle verlieren. Es bereitet ihm große Freude, sie zu verprügeln und auf demütigende Weise aus der Kneipe zu schleifen. Anschauen dürfen Sie mich oder meine Kolleginnen, so viel Sie wollen. Man hat mir gesagt, ich muss Sie anlächeln und Ihre Sexwitze ertragen, so lange Sie nur weiter bestellen. Aber anfassen dürfen Sie mich nicht. Sonst schleift der riesige Türsteher Sie nach draußen. Außerdem trage ich ein kleines Messerchen im Saum meines Kleides, und ich glaube, dass ich nicht zögern würde, es gegebenenfalls zu benutzen. Bis jetzt ist es noch nie so weit gekommen. Man nennt mich hier Samt. Sie können mich auch so nennen.

Mein Name ist unwichtig. Ich bin dreißig Jahre alt. Sie können mich Samt nennen und dürfen mir gerne eine Zigarette anbieten.

Ich rauche wahnsinnig gerne, habe aber nicht immer das nötige Geld, um mir Zigaretten zu kaufen. Wenn ich mir selbst welche drehe, fallen sie immer schon auseinander, bevor ich sie überhaupt anzünden kann. Oder das Blättchen brennt viel zu schnell ab. Keine Angst. Ich habe einen Schlafplatz. Bei Verwandten von mir, die auch hier in der Stadt wohnen. Aber ich fühle mich dort so fehl am Platz, weil es a) nicht mein Zuhause ist und ich b) keine Miete zahle. Deshalb ist es mir lieber, wenn meine Gastgeber mich tagsüber gar nicht erst zu Gesicht bekommen und ich dort erst aufkreuze, wenn sie bereits eingeschlafen sind. Jetzt ist es elf Uhr. Dauert also nicht mehr lange, bis ich zurück in die Wohnung kann. Ich arbeite nicht als Prostituierte, wie Sie vermutlich angenommen haben. Ich mag es einfach nur, mich so anzuziehen. Ich liebe diese knappen billigen Fetzen, das Vulgäre daran, das Künstliche. Wobei ich mich natürlich von Ihrer Frage, ob ich sexuelle Dienste anbiete, durchaus geschmeichelt fühle und Ihre Einsamkeit respektiere. Aber leider ist alles, was ich für Sie tun kann, Ihnen meine Geschichte zu erzählen und Ihnen so das Gefühl zu geben, etwas Außergewöhnliches erlebt zu haben. Im Gegenzug verlange ich nur, dass Sie mir eine Zigarette geben, die ich rauchen werde, bis der Bus kommt und ich zu meinem Schlafplatz fahren kann.

Mein Name ist unwichtig. Ich bin siebzehn Jahre alt. Sie können mich Samt nennen.

Das Telefon klingelte oft. Ich hatte Angst ranzugehen. Ich wollte der Dame vom Park – denn ich nahm an, dass sie es war, die da anrief –  weismachen, dass dieses Haus gerade für immer von seinen Bewohnern verlassen wurde und dass niemand mehr ans Telefon gehen würde. Vielleicht würde sie dann mit ihrer Anruferei aufhören, bevor meine Mutter, sollte sie denn eines Tages zurück nach Hause kommen, herausfände, dass ich wildfremden Menschen unsere Familienprobleme anvertraut hatte. Einmal nahm ich meinen Mut zusammen und beschloss, ranzugehen und der Anruferin mit verstellter Stimme zu sagen, sie habe sich verwählt. Ich nahm den Hörer ab, und natürlich war sie es. Sie fragte nach mir, und statt mit meinem Plan weiterzufahren, behauptete ich, ich sei meine Schwester. Sie fragte: „Geht sie denn oft aus dem Haus?“ Ich schwieg. Da rief sie mich bei meinem Namen. Mein Name ist unwichtig. Ich legte schnell auf und ging aus dem Haus.

Mein Name ist unwichtig. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt. Sie können mich Samt nennen. 

Nein, der riesige Türsteher ist nicht derjenige, mit dem ich ausgehe. Dennoch würde ich Ihnen dringend davon abraten, mich während meiner Schicht zu begrapschen. Sonst wirft er Sie nämlich hinaus.

Am Ende wurde ich selbst hinausgeworfen. Alles nur wegen ihr, ihr Name ist auch unwichtig. Ich war überzeugt, sie sei die passende Person für mich. Sie war der einzige Lichtfleck in all dem Dunkel, das geschah. Sie hatte eine eigenartig spitze Nase. Sie konnte mit jenem Gast, der sie im Minutentakt unter dem Vorwand immer neuer Bestellungen zu sich rief, nur um sie dann zu belabern und in Verlegenheit zu bringen, nicht umgehen. Ihr blasses Gesicht wurde tiefrot, und ich konnte sehen, wie sie sich seinetwegen verkrampfte. Ohne lange nachzudenken lief ich zum Tisch. Ich tastete nach dem kleinen Messer in der Tasche meines Kleides.

„Hat der Gast dich begrapscht, Samt?“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und druckste herum. Dann kündigte mir die Chefin der Kneipe. Das Mädchen, dessentwegen man mir gekündigt hatte, sah ich danach nicht mehr. Erst viele Jahre später sprach ich noch einmal mit ihr und erfuhr, dass sie zurück zu ihren Eltern gezogen war, anschließend geheiratet hatte und heute viele süße Kinder hat, die ihr das Haus lebendig halten. Sie hatte ihre Wurzeln in gesegneten Boden gestoßen, während ich noch immer stur auf dem Wind ritt, am Himmelszelt festhängend, mit meinen verstümmelten Tattoos und mit meinen blauen Haaren.

Mein Name ist unwichtig. Ich bin dreißig Jahre alt. Sie können mich Samt nennen.

Ich habe viel zu viel Zeit damit verbracht zu versuchen, Gespräche mit Leuten auf der Straße zu führen. Ich habe heute den letzten Zug verpasst. Das ist nicht das erste Mal, dass ich die Nacht auf der Straße verbringe. Mit großer Mühe bahne ich mir den Weg durch den strömenden Regen.

Das ist der heftigste Niederschlag, den ich seit Jahren erlebt habe. Meine zweitklassige Haartönung hält auch nicht mehr lange. Ich bin dreißig Jahre alt und mein Name ist unwichtig. Im Königreich des Frosts würde man mich eine Prophetin nennen. Ich trage die Einsamkeit auf meinen Schultern, zur Erlösung der Anderen, durch die betäubten Städte, während blaue Haartönung von meiner Frisur tropft. Endlich wird meine Legende aus dem Innersten der Erde emporwachsen: blaue Holzbänke für die Verirrten, deren Farbe nicht vom Regen aufgelöst wird, auf denen Menschen sitzen, die auf dich warten, Menschen, die Essbares aus ihren häuslich sauberen Tüten ziehen und dich eindringlich nach deiner Festnetznummer fragen.

Anleitung zum Rückenschwimmen mit einer Schilka-Flugabwehrrakete

Es heißt, diese Stadt soll einmal schön gewesen sein. Ich kann es nicht beurteilen, ich habe die ganze Zeit mit getrübter Sicht hier gelebt. Als mir klar wurde, dass ich meine Augen vielleicht besser einmal untersuchen lassen sollte, war es schon zu spät. Ich hatte immer geglaubt, die Welt sähe wirklich so aus. Bis mir der Arzt diese starken Brillengläser vor die Augen hielt, damit ich die Zahlen auf der Leuchttafel überhaupt sehen konnte. Als ich die Praxis verließ, wurde mir das ungeheuerliche Ausmaß meines Problems bewusst: Die Straße war ein einziges Spektakel tanzender, schummeriger Lichter. Mir kam der Gedanke, dass ich die ganze Zeit über wie eine blinde Katze gelebt hatte, der man nichts beibringen konnte. Während ich zurück nach Hause ging, fielen mir immer mehr Dinge auf; Indizien dafür, dass etwas im Argen war. Der Regen, der soeben die Gasse nässte, war derselbe, der sie auch voriges Jahr genässt hatte. Ich musste mich sehr anstrengen, Energie in meine Glieder zu pumpen, während ich all dieses Sterben sah, das sich um mich herum vollzog. Nein, dieser Regen hätte nicht zweimal auf dieselbe Gasse fallen dürfen. Das bedeutete nämlich nichts anderes, als dass wir seit mindestens einem Jahr auf der Stelle traten.

Als ich zu Hause ankam, sah ich meinen kleinen Bruder gegen ein Auto gelehnt rauchen. Sein Anblick verstärkte meine Aufgewühltheit noch: Ich hätte mich vielleicht noch mit der Vorstellung abfinden können, bis ans Ende aller Zeiten in ein- und derselben Gasse festzustecken, während ich allmählich unter dem ewig selben Regen vor mich hinrostete, aber ihm durfte es auf keinen Fall so ergehen. Er bemerkte mich und drehte sich zu mir um, um mich zu fragen, wieso ich so miesgelaunt dreinblickte. Die Zeit reichte nicht aus, es ihm zu erklären, ich sagte nur kurz und knapp, dass ich beim Arzt gewesen sei, dass ich eine blinde Katze sei und wolle, dass er auswandert. Er führte mich an der Hand über die Straße. Dabei sagte er, meine Laune werde bestimmt besser, sobald ich erstmal meine neue Brille habe. Er setzte mich vor dem Fahrstuhl ab und ging zurück auf die Straße zu seinen Freunden. Aus dem gläsernen Fahrstuhl sah ich ihn unten kleiner und kleiner werden.

Einige Tage später bekam ich meine Brille. Besser, kein Zweifel. Da es aber schon zu spät war, noch etwas von der Stadt zu sehen, ermöglichte mir die Brille nur den Ausblick auf gestochen scharfe rote Bomben. Sie wurden nachts abgefeuert und zischten vom Berghang, auf den unser hochgelegener Balkon blickte, in eine ferne Gegend, die ich gar nicht kannte. Die Militärhelikopter, die am frühen Morgen langsam über den Himmel ratterten, unterwegs zu anderen Vierteln, konnte ich nun auch sehen.

Wieso lügen? Jene Viertel waren eben nicht Teil meines täglichen Lebens. Ich habe mich immer innerhalb einer fest abgesteckten Fläche bewegt. Erst die Schule, dann die Uni, dann die Ausgeh-Orte, die Cafés: All das liegt in Gegenden, die man heute als „sicher“ bezeichnet – denn sie sind unter der Kontrolle des Regimes. Diese fernen Viertel sprangen einfach nie in den Kreis meiner Wahrnehmung. Erst nach dem Krieg. Und das hat nichts mit meiner Sehschwäche zu tun. Das ist neben der Sehschwäche ein weiterer Grund dafür, warum ich nicht sonderlich an diesem Ort hänge. Diese verrückte Stadt schenkte ihre Schönheit immer nur den Touristen – jenen in der Altstadt, die sich am Anblick der bunten Teppiche und der volkstümlichen Läden freuten. Sie waren angetan von der Herzlichkeit der Menschen, wahrscheinlich weil sie nicht merkten, dass man ihnen auf Arabisch freudestrahlend Schimpfwörter hinterherrief.

Die präzise eingestellten Brillengläser ermöglichten mir zu sehen, was mit der Stadt geschehen war, es war jetzt unübersehbar. Plötzlich schämte ich mich für meine frühere Ablehnung ihr gegenüber. Es war, als sei sie jetzt erst wirklich reif geworden, als hätte die Tragödie ihrer Seele erst den Feinschliff gegeben. Und doch war keiner imstande, sie zu schützen. Was hatten wir also davon?

Das Telefon klingelte. Eine Einladung, irgendwohin. Leute ruhten sich nach den Protesten in Cafés aus. Ein Freund kam an unseren Tisch und lud uns zu einem Ausflug in die Vorstadt ein, um im Swimmingpool seiner Eltern zu baden.