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Martin Amanshauser

Die Amerikafalle

Oder: Wie ich lernte, die Weltmacht zu lieben

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In this dying land of plenty
there is a whole lot of nothing to do
CONOR OBERST

Notizen aus dem Land der Superhelden

Es heißt, man solle in Rom immer tun wie die jeweiligen Römer. Die Römer des 21. Jahrhunderts, auch Amerikaner genannt, sind bei oberflächlicher Betrachtung kaum von jemandem wie mir zu unterscheiden. Trotzdem fühlen und denken sie ganz anders. Bevor ich 2017 in die USA flog, war mir das unbekannt.

Bei meiner Ankunft wusste ich nicht, ob sich ein Sheriff mit Doppel-R, Doppel-F oder mit beiden Doppelbuchstaben schrieb. Ich kann Ihnen sagen, ich habe diese Orthographie rasch gelernt. Zunächst war ich davon ausgegangen, dass man während eines 4-monatigen USA-Aufenthalts nicht übermäßig viel lernen oder gar das sogenannte mindset ändern muss. Doch dann stellte sich heraus, dass die Herausforderungen auch abseits der Rechtschreibung warteten. Der Weg zu dieser Erkenntnis war von phantastischen Hochgefühlen und kleineren Katastrophen gepflastert, die ich im Folgenden beschreiben möchte – sie alle sind Teil der Amerikafalle.

Zwischen Januar und Mai 2017, in den ersten Monaten der Ära Donald Trump, ließ mich (48) die Staatliche Universität von Bowling Green, Ohio, als writer in residence ein Semester lang einen wöchentlich 3-stündigen Kurs zum Thema Reisejournalismus abhalten. Als Angestellter der Uni wohnte ich mit Familie (41, 8, 6) in einer Gästewohnung im Erdgeschoss eines Studentenheims am Rand des Campus. Ich erforschte die Kleinstadt, kaufte ein Auto, unternahm Ausflüge in die Umgebung und las meine Texte an Universitäten vor. Der Hauptteil meiner Aufzeichnungen entstand währenddessen. Einen Blick ins Land werfe ich mit einigen USA-Reisereportagen. Im Sommer des gleichen Jahres fuhr ich erneut in die Staaten, um die Sonnenfinsternis und den Yellowstone Nationalpark zu erleben. Trotz der Einwirkung des Wilden Westens empfand ich Amerika als einen Raum kultureller Einheit.

Ich bin kein USA-Fan, aber auch kein Anti-Amerikaner. Ich möchte beides nicht werden. Sehr wohl wurde ich unwillkürlich ein Sympathisant der Amerikaner, ihrer hemmungslosen Neugier, ihrer ungenierten Direktheit und des trockenen Humors. Ich wurde ein Freund ihrer bezaubernden Herzlichkeit und ihres heillosen Optimismus, ohne den gar nichts geht. Ein Freund des Irrsinns, der ein gigantisches Land durchweht, in dem die heftigsten Widersprüche miteinander kämpfen und aus dem alle gängigen Superhelden stammen. Insofern sind dies weniger Notizen über das Land als vielmehr über dessen Bewohner – und darüber, wie ihre Vorzüge und Spleens mit meinen kollidierten.

Überraschungen erlebte ich bereits im Vorfeld. Amerika war überall ein Thema. Mich wunderte der gute Informationsstand auch jener, die nie einen Fuß auf den Kontinent gesetzt hatten oder alles Amerikanische kategorisch ablehnen. Dieses Buch stellt den Anspruch, ihrem Bild einige Aspekte hinzuzufügen. Vorher war ich bestimmt zehn Mal in den USA gewesen, doch erst jetzt nahm ich sie in ihrer Vielfalt und Einheitlichkeit wahr. Ich hatte mir den Melting Pot weniger geschmolzen vorgestellt. Eine der erstaunlichen Erkenntnisse war, dass ich keiner multikulturellen Mischung begegnete, sondern einem klar akzentuierten »Volk«, das gemeinschaftlich, meist human und höchst anti-individuell denkt und handelt.

Auf den ersten Blick ähnelt ihr Wertekatalog sehr stark dem unseren – doch stimmt er in Details so wenig mit ihm überein, dass ich mich frage, ob zwischen Amerikanern und Europäern nicht gerade aufgrund ihrer Verwandtschaft ein ewiges Missverständnis herrschen muss. Ich bemerkte bald, dass die viel geschmähte Freundlichkeit nicht vorgetäuscht oder »falsch« ist. Die obligatorische Pflege eines respektvollen Umgangs von Person A mit Person B – in den USA zur Perfektion getrieben und ritualisiert – führt in der Realität zu einem tendenziell wertschätzenden Umgang. Tatsächlich basieren die liebenswürdigen Umgangsformen auf einer sinnvollen Übereinkunft unter Einwanderern – alle Volksgruppen, alle Einwohner haben so miteinander umzugehen, dass der Lebensstil des Nächsten toleriert wird. Dabei hat sich eine recht strikte Verbotskultur ausgebildet, die Abweichungen vom Regelwerk kaum zulässt und in sozialer Hinsicht sanktioniert.

Dahinter versteckt sich die zivilisatorische Absicht, althergebrachte Rassismen zu überwinden. Migrationsgeschichten, also das Bewusstsein, was es bedeutet, von einem kulturellen Zusammenhang in einen anderen zu geraten, spielen seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle. Der amerikanische Rassismus tritt zwar teilweise strukturell auf, speziell im Rahmen von staatlichen Maßnahmen wie Polizeieinsätzen. Doch selbst wenn er von Teilen der Gesellschaft – neuerdings von ganz oben – gefördert wird, kämpfen mächtige ausgleichende Strömungen gegen ihn an. Wenngleich die amerikanische Demokratie nicht in jeder Hinsicht Vorbild sein kann, spürte ich die Stärke der gewachsenen demokratischen Grundpositionen an vielen Stellen, zum Beispiel angesichts des vorurteilsfreien Charakters einer öffentlichen Schule.

Man sagt, Autoren würden ihre Texte nicht richtig einschätzen. Falls ich aber unversehens ein Amerikaversteher-Buch für Amerikaskeptiker geschrieben haben sollte, würde mich das freuen. Schließlich kann ich nach dem Aufenthalt in dieser vertrackten, verqueren Nation sagen: Ich habe das Land und seine Leute lieben (to love) gelernt. Ja, die Amerikaner wirken wie wir, ja, sie sind völlig anders. Meinetwegen auch seltsam. Aber letztlich nicht seltsamer als wir.

Martin Amanshauser, März 2018

Ankommen & Losfahren

1. Erstmals im Midwest

Als mich eine heiße Heizung am Unterschenkel berührte

Delta Airlines, Abflug Amsterdam. Innerhalb kürzester Zeit wird das Flugzeug auf Kühlschranktemperaturen heruntergefroren. Meine Mitpassagiere nehmen es als Normalität hin, sie scheinen es sogar zu genießen. Amerikaner erwachen bei dieser Kälte erst zum Leben. Ich sitze im Anorak, mit Kapuze und Schal, und versuche zu schlafen. Zu müde, um richtig aufzuwachen, erfriere ich im Halbschlaf beinahe. Wie ein defekter Klappsessel kippt mein Kopf in unregelmäßigen Abständen nach vorne. Ich öffne die Augen. Ein Passagier im T-Shirt knipst gerade ein Handyfoto von mir. Eine Weile fürchte ich, dass ich gesabbert habe, obwohl das ausgeschlossen werden kann, da der Speichel bestimmt zu Eiswürfeln oder Eisfäden gefroren wäre.

Der Flugbegleiter stellt sich als Mike vor, fragt, ob ich einen Orangensaft möchte, und ob ich ihn mit Eis möchte. Breit, massig, über sechzig, polternd-nett, verströmt Mike eine 100 %ige Dosis United States. Er gibt alles preis, was die Passagiere über ihn wissen oder gar nicht wissen wollen. Früher hat er in der Navy gedient. Rätselhafte Karriere, kann denn ein Navy-Veteran als Flugbegleiterin weitermachen? Transferieren sie das alte Navy-Eisen direkt zu Delta?

Landung in Detroit, erstmals im Midwest. Fahrt über den Freeway von Michigan nach Ohio, von einem Swing State in den nächsten. Professor Geoffrey Howes, 61, emeritierter Deutsch-Professor des Department for German, Russian and East Asian Languages, holt uns ab. Für feine Ohren gibt es Unterschiede zwischen den Dialekten von Michigan und Ohio, erklärt er. Er selbst stammt aus Michigan, wuchs in Detroit auf, verbrachte den Großteil seines Berufslebens in Ohio. Laut eigenen Angaben hat er sich eine Art Midwestern-Mischsprache angewöhnt. Sein Deutsch ist unglaublich, er spricht quasi fehlerlos. »Sollte auch so sein«, kommentiert er mein Lob trocken.

Bowling Green: Ich hatte vergessen, wie eine amerikanische Uni- und Kleinstadt aussieht, die Häuser mit den Pappkarton-Wänden, die Vorgärten – nicht durch Zäune, sondern durch den Geist der Fairness klar voneinander getrennt – und die flatternden Fahnen. Bis zum Ende meines Aufenthalts versuche ich zu eruieren, ob jene Hausbewohner mit den star-spangled banners nun zu 100 % oder nur zu 70 % Trumpwähler sind.

Schon am ersten Tag kommt mir ein PKW mit der Aufschrift »Sheriff« unter. Wirkt auf mich zunächst wie eine Faschingslackierung. Bald werde ich solche Wägen normal finden. Neben ihnen befahren reguläre, weiße Polizeiautos die Stadt, und auch die BGSU (die Bowling Green State University, mein Arbeitgeber) betreibt ihre eine eigene Polizei mit weißlackierten Fahrzeugen. Die Kontrolle, die den Staatsbürgern zuteil wird, ist engmaschig. Oder erfreuen sie sich einfach eines hohen Sicherheitsniveaus? Nur, was zum Teufel wird da kontrolliert? Schwerverbrechen gibt es in Wood County kaum welche, versichern mir alle, dafür aber eine Menge Parkvergehen. Im Amt, auf dem ich die Bewilligung für einen Parkplatz am Campus hole, grübelt der Angestellte laut: »Mir leuchtet nicht ein, wieso so viele falsch parken. Es lohnt sich überhaupt nicht, weil wir ja kontrollieren … Trotzdem tun sie es immer wieder.«

Wir bewohnen ein Apartment in den Offenhauer Buildings, zwei solide gebauten Studentenheim-Klötzen mit 9 und 10 Stockwerken, in Farbe und Form ein bisschen die winzigen Brüder des Allgemeinen Krankenhauses in Wien. Die 80-Quadratmeter-Wohnung liegt im Erdgeschoss von Offenhauer East, ihre Panorama-Fenster reichen bis zum Boden. Leider geht keines dieser Fenster auf, einzig die Küchentür lässt sich öffnen. Eine unverkennbar nur bei Atomangriffen pausierende Lüftung, die sensiblere Bewohner zum Ohrenstöpsel-Missbrauch treiben oder ganz verjagen würde, traktiert uns ohne Unterlass mit ihrem permanenten Luftstrom und einem nervigen Surren. Wir werden uns an sie gewöhnen müssen. (Wie reagieren die Organisatoren, wenn extrem empfindliche Künstlernaturen als writer in residence anreisen? Eliminieren sie diese Sensibelchen im Vorfeld? Oder hat der postfordistische Anpassungszwang sie bereits automatisch aussortiert bzw. getötet?) Weniger störend, aber gefährlicher ist die durch den Regler unbeeinflussbare Heizung. Die Heizkörper in Unterkniehöhe sieden auf der Temperatur brennender Kohleöfen. Ich klebe gleich einmal mit einem Stück Haut meines Unterschenkels an einem von ihnen fest. Springe hoch und sause in der Geschwindigkeit von Speedy Gonzales, jaulend, durch die drei Zimmer.

Massenhaft Wundsalbe.

Professor Howes bzw. Geoff, der für meine Betreuung zuständig ist, führt mich über den Campus. Im Administrationsgebäude umschifft er für uns die Klippen der Bürokratie. Bei meiner ersten Vorlesung assistiert er. Seine besonnene Art ist sehr angenehm. Sie passt zu meiner unbesonnenen. Der Kurs hat zwölf Teilnehmer. Eine Studentin ist aus München, eine aus Schladming, neun sind aus Ohio, einer aus Kentucky. Die Mehrzahl hat bereits ein oder zwei Semester in Austauschprogrammen auf der Universität Salzburg studiert. Wenn die Kursteilnehmer Deutsch sprechen, bricht manchmal der Salzburger Dialekt durch.

2. Alltag in Bowling Green

Was ich Gurgelndes im Küchenwaschbecken entdeckte

Bowling Green liegt im Wood County, nicht weit vom westlichen Ende des Eriesees. Das Städtchen hat 30.000 Einwohner, von denen die Hälfte mit der Universität zu tun hat. »Man fährt ins Zentrum, und man ist gleich wieder draußen«, hatte Geoff angekündigt, und so ist es. Erwähnenswert sind die Main Street und ihre imposanteste Querstraße, die Wooster Street. Den Preis für das vornehmste Haus verleihe ich dem Justizgebäude, dem Wood County Courthouse and Jail (erbaut 1894) mit seinem 59 Meter hohen Clock Tower (ein Schlag pro voller Stunde), in dem seit den 1890ern Gericht gehalten wird und bis 1990 ein Gefängnis mit Insassen existierte.

Besuch im Pub, das ich Throwing up nenne – ich glaube, es heißt Stones Throw –, wo Geoffs Ukulele-Band auftritt. Sie spielen unter anderem ein Cover von »Eye of the Tiger«. Habe noch nie eine so überzeugende Version dieses etwas veracht-zigerjahrten Songs gehört wie diese der Grande Royal Ükulelists of the Black Swamp, die im nördlichen Ohio ziemlich bekannt sind.

Neben den paar Restaurants und einer Mikrobrauerei-Garage, die Craft-Bier ausschenkt, sind in Bowling Greens Gastronomie einige Pubs erwähnenswert. In einem findet jeden Mittwoch im Studienjahr eine Jazz Night statt, bei der Studierende mit Lehrkräften zusammenspielen. Diese »Nacht« endet um 22 Uhr, das echte Nachtleben startet nach Mitternacht. Da ich erstmals in meinem Leben zu einem Lehrkörper gehöre, liege ich zu solchen Zeiten jedoch im Bett.

Neben dem architektonisch klassischen Easy Street Café und dem bulgarischen Spezialitätenlokal Naslada Bistro muss ein dritter Ort angesprochen werden, das Grounds for Thought an der Main Street. Der Besitzer betreibt eine eigene Rösterei und importiert lateinamerikanische Kaffeesorten fair. Grounds bezieht sich auf den gemahlenen Kaffee, Thought nimmt auf die geistige Tätigkeit der Studierenden Bezug. Mit seinen Puzzles, Brettspielen und der Second-Hand-Büchersammlung ist das GfT eher Nachbarschaftszentrum als Kaffeehaus im eigentlichen Sinne.

Bowling Green existiert seit 1832. Gegründet und benannt hat es der pensionierte Briefträger Joseph Gordon, der aus einem anderen Bowling Green stammte, nämlich jenem in Kentucky. Er hatte hier einst eine Postsendung ausgetragen, den Ort nicht vergessen und ihn dann aus nostalgischen Gründen nach seinem Herkunftsstädtchen benannt. Bowling war als Sport im 19. Jahrhundert sehr populär, Gordon trug neben seiner Postlertasche gerne auch eine zweite mit Bowling-Equipment. Hatte er am Rand des Großen Schwarzen Sumpfs sein ideales Rasenstück gefunden?

Der Sumpf selbst wurde Ende des Jahrhunderts mit Hilfe der Erfindung des Buckeye Traction Ditchers durch James B. Hill (1856–1945) vollständig trockengelegt. Er konnte über weiche, feuchte Erde fahren, und seine Radaufhängung eignete sich später gut für Panzer. Vorläufig transformierte er aber das morastige Gelände nach der Abholzung in fruchtbares Ackerland. Diese Maschine half danach auch bei der Austrocknung von Florida und Louisiana.

1885 wurde Bowling Green zum village erhoben, das Stadtrecht erhielt es im Jahr 1901. Während dieser Zeit stieß man auf Erdgas, und die vier größten lokalen Unternehmen waren bald Gasproduzenten. Später fand man in der Gegend Öl, ein neuer Boom begann, Autoproduzenten siedelten sich an. Ab 1923 wurden hier Coats Steam Cars produziert, schließlich baute der Ketchup-Hersteller Heinz eine Fabrik. Die Stadt, stark geprägt von weißer Lebensart und Kultur, wurde reich.

Gegenwärtig ist der wichtigste Arbeitgeber die Universität (seit 1910) mit 20.000 Studierenden. Die Bevölkerung ist eine Mischung aus Leuten, die zur Universität gehören, aus Hängengebliebenen, aus jungen Familien und aus jenen ein bisschen verzweifelten Personen, die Ohio zu einem Swing State machen. Bedeutendste Veranstaltung sind die National Tractor Pulling Championships auf dem Messegelände, jeden August seit 1967, mit jährlich 60.000 Besuchern. Die berühmteste Einheimische ist vermutlich die Pornodarstellerin Brandy Talore. Das Schild an der Einfahrt verweist jedoch nicht auf sie, sondern auf einen großen Sohn Bowling Greens, Scott Hamilton, Eiskunstläufer, geboren 1958 in Toledo. Er ging in die Crim Elementary School, eroberte 1984 in Sarajewo eine Goldmedaille und war vier Mal Weltmeister. Heute engagiert er sich gegen Krebs – er hatte Hodenkrebs und Gehirntumor – und für rechtsgerichete Präsidentschaftskandidaten.

Die wegen ihrer Lärmabsonderung zu jeder Uhrzeit von den Bewohnern gerne gescholtene Eisenbahnlinie – niemand schimpft über den Autoverkehr – führt knapp am Zentrum vorbei und teilt das Städtchen in Unibereich und Downtown. Fallen die Schranken, steht Bowling Green still. Es passieren ausschließlich Güterzüge, häufig solche mit über hundert Waggons. Die Lokomotiven geben ihr Herannahen durch ein Crescendo an nervösem Tuten bekannt, in dem sich der dringliche Wunsch ausdrückt, keinen Bewohner niederzurollen. Die Güter werden von Toledo in die Hauptstadt des Bundesstaates, Columbus, transportiert.

Nachrichten aus der writer-in-residence-Wohnung: Der medizinballgroße rote Hüpfball gerät zu nahe an die ungeheuerlich heißen Heizungsschienen und zerplatzt mit einem lauten Knall!

Gleich zu Beginn fällt mir die Umkompliziertheit der Begegnungen auf. Die Leute in Ohio treten mir offener und direkter gegenüber, als ich es gewohnt bin. Auch sprechen sie, obwohl sie an Menschlichem bis zur Klatschsucht interessiert sind, über Freunde und Bekannte ohne die mir angelernte Bitterkeit und Schadenfreude. Ein paar Mal muss ich mich direkt zurückhalten, um niemanden schlechtzumachen. Sage ich nur das Geringste über Abwesende, stoße ich auf überraschte Blicke. »Spricht er auch über mich so, wenn ich nicht da bin?«, scheinen sie zu denken.

Ich spüre bei vielen Gesprächspartnern ein Interesse an mir, das über das Gewohnte und Formelle hinausgeht. Es ist üblich, einander zuzuhören. Mehrere Male wundere ich mich, wie jemand dies und das über mich wissen kann. Ah klar, hab ich ihm selbst erzählt! Ich muss mich zusammenreißen. Ein Aspekt der Amerikafalle ist der, dass man sich unvermutet selbst bloßstellen könnte.

In einem kleinen Tankstellen-Supermarkt will ich ein Mineralwasser, einen Orangensaft und ein Sixer Bud Lights kaufen. Die Kassenfrau fragt nach meiner ID. Ich lache überrascht-verlegen, gebe ihr meinen Führerschein und frage: »You think that I’m too old to drink alcohol?« Sie kann mit dieser Intervention wenig anfangen und räumt die Bud Lights mit steinerner Miene beiseite. Mein Führerschein würde als ID nicht gelten, da er ausländisch sei.

Ich zeige ihr meinen BGSU-Ausweis, die Hardware des Städtchens. Selbst der gilt in ihren Augen nicht. Ich wende ein, dass ich diese Rigidität nicht recht verstehen kann. Würde das nicht bedeuten, dass Ausländer bei ihr prinzipiell kein Bier kaufen dürfen? Sie verweist kalt und höflich auf die policy ihrer Firma, deren Details ich gerne in einem Heftchen, das »over there« liegt, nachlesen könne.

In der Schlange stehen ein paar Halb-Alkoholiker, direkt hinter mir einer, der aussieht wie Gottfried Helnwein. Folgerichtig frage ich Helnwein, ob ich ihm Geld geben darf, damit er meine sechs von der Kassierin gekaperten Bud Lights auslöst. Helnwein antwortet freundlich und verbindlich – so, als wäre er nicht ein Kleinstadt-Säufer, sondern führender Beamter einer Behörde –, dass uns beiden ein solcher Deal leider verboten sei. Wieso? »Because she has seen it already!« Was um Himmels Willen könnte passieren, wenn sie es sieht? Helnwein blickt auf den Boden und sagt bedauernd, dass er es einfach nicht tun kann. Voller Wut und Fassungslosigkeit verlasse ich die Tankstelle. Wie könnte ich dort jemals ein Bier kaufen? Mein Pass wäre ja ein ausländischer. Hätte ich besser meine Kreditkarte von der Fifth Third Bank vorgewiesen?

Geoff mailt mir am nächsten Tag dazu: »Die Kreditkarte hätte auch nicht geholfen. Sie dürfen nur einen Fotoausweis annehmen, der von einem US-Bundesstaat ausgestellt ist.« Mir scheint, sogar für ihn, den Aufgeklärten, ist die Vorgangsweise des Supermarkts kein unfassbarer Skandal, der nach einem Eingriff des Supreme Court schreit – sondern ein wenn schon nicht legitimes, so doch voraussagbares Verhalten einer Institution, mit der man sich besser nicht anlegt. Mich wundert nicht, dass die USA das Land des Bluthochdrucks ist.

An der North Main Street liegt ein Laden mit der Aufschrift Barber Shop, in dem ein 70-jähriger Männerhaare schneidet. Er war mit 21, in den Sechzigerjahren, nahe Kaiserslautern stationiert. Bereits in der Armee schnitt er dann und wann Haare, schon sein Vater war Friseur. Ich halte das Gespräch von Politik fern, damit er mich nicht enttäuscht.

In gewisser Weise gleicht Ohio auf dem Kleidungssektor dem uneleganten Berlin, stellt das Gegenteil des modebewussten Paris dar. Zum Glück kann man hier schwerlich underdressed sein. Man kann sich darauf verlassen, dass einige andere underdresseder sind.

Meine amerikanische Lieblingsmaschine ist ein im Küchen-Waschbecken montierter In-sink-erator (»Abfallentsorger«), der alles zerkleinert, was ihm unterkommt – Reiskörner, Essensreste, Schalen – und der Verstopfungen des Abflusses vorbeugt, falls er sein Versprechen einhält. Seine Tätigkeit liegt außerhalb menschlicher Kontrolle. Von dort unten, wo er arbeitet, dringen gurgelnde Geräusche hervor. Ich bin etwas konsterniert, dass eine solche wundersame, völlig überflüssige Maschinerie Käufer findet. Unschlüssig frage ich Geoff: »Soll man diesen Mechanismus gutheißen und positiv bewerten?« Selbstverständlich, sagt er, man könne, ja solle den In-sink-erator positiv sehen. Seitdem sehe ich ihn positiv.

Ich beobachte, wie ein Müllwagen die Tonnen mit Greifarmen automatisch an sich zieht und ihren Inhalt in seinen Bauch hineinbeutelt – in ästhetischer Hinsicht ein exzellenter Vorgang. Freilich sind Müllmänner bei diesem System überflüssig. Statt eines Teams aus drei Personen arbeitet nur ein Fahrer. Die zwei anderen Kerle hängen arbeitslos rum und wählen Populisten. Plötzlich begreife ich das Konzept der Maschinensteuer, einer gesetzlich verankerten Strafzahlung für Unternehmen, die durch Roboterisierung Jobs vernichten. Schon wenige Wochen in den USA lassen mich mit kommunistischen Ideen liebäugeln.

Einige Bewohner Bowling Greens kämpfen gegen eine Pipeline. Sie heißt NEXUS und soll ein paar Multis ein bisschen reicher machen. Das Unternehmen betreibt im Osten des Staats Fracking. Das gewonnene Erdgas soll nach Michigan transportiert werden und über Kanada nach Europa gelangen. Die 410 Kilometer lange Röhre, ein 2,1-Milliarden-Dollar-Projekt, genehmigt durch die Federal Energy Regulatory Commission, führt natürlich geradewegs durch Privatgründe. Der Staat nimmt sich das Recht, bei »Projekten von öffentlichem Interesse« private Grundstücke zu durchqueren. Die Bautätigkeit hat bereits begonnen, aber Green, eine 25.000-Einwohner-Gemeinde in Ohio, konnte gerichtlich einen vorläufigen Baustop erzwingen, da die Environmental Protection Agency bei der Bewilligung gegen ihre eigenen Regeln verstoßen haben soll.

Die beliebteste Methode, mit der man sich in den USA wehrt, ist die juristische. Persönlich lehnt man sich nur äußerst ungern auf, die Ohnmacht ist groß, die Leute vermitteln das Gefühl, dass die meisten Kämpfe schon im Vorfeld verloren sind. Ich muss dabei an eine Nachricht denken, die sich oft wiederholt: »Einige Dutzend Menschen protestierten vor dem Trump Tower.« Einige Dutzend.

Mein erstes American-Football-Match im TV sollte der Super Bowl LI sein (römisches LI steht für die 51. Auflage), das jährliche Finale eines Minderheitensports, an dem sich nur Teams eines einzigen Landes beteiligen. Die New England Patriots aus Boston sind Favorit gegen die Atlanta Falcons. Wir besuchen die öffentliche Übertragung des Spiels – mit Kindern – in einer methodistischen Kirche. Neben dem TV-Gerät hängen Plakate: »Jesus is our Saviour« und »His name is Jesus«, sie geben diese Infos zur Sicherheit, Christen zweifeln ja immer ein bisschen an ihren Dogmen. Zum Essen gibt es schmierige Fleischbällchen mit Soletti, der Chef (Priester? Hauswart?) ist genuin freundlich. Ob er ahnt, dass ich ungetaufter Atheist bin, quasi jungfräulich? Muss ich nach dem Schlusspfiff seiner Sekte beitreten? Beunruhigt fällt mir ein amerikanisches Kürzel ein: TANSTAAFL! – »There ain’t no such thing as a free lunch!«

Der American-Football-Religion mit ihrem abschreckend dichten Regelwerk trete ich bestimmt nie bei. Das gewalttätige Spiel bietet zwar taktische Finessen, doch kaum gerät etwas in Fluss, wird unterbrochen. Atlanta führt ziemlich schnell ziemlich hoch. »Die Werbung ist so arg«, sagt das ältere meiner Kinder, »da geht’s nur um Kampf … Erwachsenenfilmewerbung.« Die Halbzeitpause hat einen eigenen Namen, sie heißt »Alfa Romeo Halftime«, und niemand lacht darüber. Lady Gaga tritt auf. Man spekulierte, sie würde gegen den Präsidenten agitieren, doch sie wickelt eine brave Performance ab: »We’re here to make you feel good tonight!« Es gibt 41.000 Tweets pro Minute – erfahren wir – mit dem Wort »Gaga«, ein Gaga-Weltrekord! Der Jüngere schläft ein. Im dritten Viertel meint der übermüdete Ältere: »Ich glaube, das schafft niemand, so ein langes Spiel anzuschauen … oder nur ganz wenige …«

Die Methodisten lassen uns gehen, ohne Predigt oder Abkassierung. Mich nötigt niemand zum Beitritt. Ich sei, sagt der Chef, jederzeit willkommen. (So einer merkt das einfach, wenn du Jungfrau bist!)

Daheim nicke ich bei der historischen Aufholjagd der Patriots mehrfach ein. Die Patriots gewinnen 34:28 in der Overtime. »Absolutely stunning!« Finde ich nicht. Bayern, Real Madrid oder Barcelona gewinnen ja am Ende auch immer.

Mein Freund Alex K., der lange in Boston lebte, kommentiert per Mail: »ich hab die langeweile bei den amerikanischen ur-sportarten (football und baseball) als schrecklich empfunden, bis ich gelernt habe: man darf diese spiele nicht wie ein europäisches fussballspiel ansehen, wo ja ständig action herrscht. man braucht ein buch oder eine zeitung dazu, essen, vielleicht spielt man mit den kindern, hängt die wäsche auf, und nebenbei schaut man das spiel. die sekunden, die sie spielen, sind ja im vergleich zu den time outs, pausen, werbungen, vernachlässigbar.«

TV-Oscar-Nacht. In meinem bisherigen Leben hab ich die Oscars ignoriert. Sieht man von den obligatorischen Ausschnitten heulender Stars in den Weltnachrichten ab, ist es das erste Mal, dass ich die Veranstaltung verfolge.

Trotz der Allgegenwärtigkeit des Politischen geht jeder kritische Ansatz unter in einer Dankesorgie für buchstäblich alles und jeden. Dieser elende Zwang der Sieger, ihrem Umfeld zu danken, von den Mitarbeitern bis zur Familie, der Mutter und der Ehefrau, den Tanten, Schwiegervätern, Kindern und dem Reinigungspersonal! Könnte der Veranstalter nicht zu Beginn einen Sammeldank an sämtliche Betroffene aussprechen, und ab da ein rigoroses Dankverbot erlassen?

In der Hauptkategorie »Bester Film« unterläuft ihnen eine Panne. Sie verwechseln die Kuverts, die vermeintlichen Sieger halten schon Dankesreden. Als der Irrtum auffliegt, werden die echten Sieger auf die Bühne gebeten. Was für ein Alptraum, den Oscar zu erhalten, die Dankesorgie zu absolvieren, und gleich darauf zu erfahren, dass alles nur ein Fehler war!

Die Fortsetzung ist typisch amerikanisch. Epic fail hin und her, der Vorfall wird als Würze der Show kommentiert, als Spannungselement. Dass Leute sich als offizielle Sieger hatten feiern lassen und als geprügelte Hunde mit gefrorenem Lächeln von der Bühne schleichen müssen – Nebensache. Das Chaos wird schöngeredet, das Wichtigste: sportlich bleiben.

Auf der Straße, ob in kleinen Orten oder in der großen Stadt, lächeln mich in Bowling Green die Menschen an – auch Frauen. Sogar solche, die gerade Rasen mähen. Das ist total angenehm. Ich überlege, wie lange ich durch Wien spazieren müsste, ehe mich eine fremde Frau anlächelt – einen Tag, eine Woche? Und diese Frau käme bestimmt direkt aus der Psychiatrie.

3. Südlich von Toledo

Als der Manufacturing Belt eines Tages zu rosten begann

Urbane, gebildete US-Bürger sprechen über den Bundesstaat Ohio vor allem abwertend. Ich hingegen verbinde zunächst keine Gefühle mit ihm. Ehrlich gesagt hätte ich Ohio vorher auf einer Landkarte nördlich von Oklahoma verortet. Ich wusste nichts – außer der Geschichte des jungen Gitarristen Ed Crawford. Er soll eines Tages bei den beiden übrig gebliebenen Bandmitgliedern der Gruppe Minutemen aufgetaucht sein, mit den Worten, er sei »Ed from Ohio«, was bei ihnen für Schmunzeln sorgte. Obwohl sie keine neue Band geplant hatten, ließen sie sich von seiner Begeisterung anstecken, woraus fIREHOSE entstand.

Seitdem galt Ohio bei mir als hinterwäldlerisch. So falsch war der Gedanke nicht. In den schlammigen Resten des glazialen Sumpfs im Überschwemmungsgebiet des Eriesees wucherten einst Platanen, Zedern, Eschen und Ulmen. Wegen der Unüberwindlichkeit dieser wetlands lebten in dem unbesiedelbaren Gebiet keine Indigenen. In einem Reisebericht aus dem späten 18. Jahrhundert lese ich, »man and horse had to travel mid-leg deep in mud«. Für 50 Kilometer brauchte man drei Tage. Das Feuchtgebiet reichte bis tief nach Indiana. Dort, wo sich früher der Limberlost Swamp erstreckte, wurde vor zwanzig Jahren ein Nachfolgesumpf wiedererweckt: die Loblolly Marsh Nature Preserve.

In Ohios Norden blieb nach der Trockenlegung des 4.000 Quadratkilometer großen Great Black Swamp im 19. Jahrhundert spärlich Wald übrig. Neben einem Naturdenkmal verschwand auch die endemische Malaria. Die Drainagemaßnahmen dauerten mehrere Jahrzehnte, die feuchten Prärien wandelten sich zu Farmland. Auf den Äckern wachsen heuteWeizen, Mais und Soja.

Im Süden Ohios lebten, als die Europäer kamen, die Fort Ancient People. Schon vor ihrem Kontakt mit den Einwanderern starben viele von ihnen an den neuen, von indigenen Händlern übertragenen Krankheiten. Nach ihrem Verschwinden beanspruchten Irokesen das Land, multi-ethnische Gruppen, die ins Landesinnere verdrängt worden waren. Neben den Shawnees, möglicherweise die direkten Nachfolger der Fort Ancient, gab es Wyandots, Miamis, Delawares, Ottawas, Mingos und Eries. Ohio wurde zum Schauplatz von Schlächtereien wie dem »Yellow Creek Massaker« (1774, für das sich der vorher weißenfreundliche Irokesen-Häuptling Logan blutig rächte), und dem »Gnadenhutten- oder Moravian-Massaker« (1782, mit 96 Toten). Die Siedler hatten die indigene Bevölkerung bald vollständig ausgerottet.

Seit 1803 ist Ohio der 17. Bundesstaat der USA, etwas größer als Österreich. Nördlich begrenzt ihn der Eriesee, südlich der Ohio River. Der Süden des Buckeye-Staates, benannt nach der lokalen Rosskastanie, hat subtropisches Klima, der Norden heiße Sommer und kalte Winter. Meine Anwesenheit beschränkte sich auf den Winter, der, als ich den Bundesstaat verließ, übergangslos in Hitze kippte. Als Freund heißer Temperaturen googelte ich im darauffolgenden Sommer wehmütig die Fahrenheit-Temperaturen von Bowling Green oder Toledo, musste aber feststellen, dass ich nur tiefere Fahrenheit-Werte im Gefühl hatte.

In dem Staat mit seinen 11,61 Millionen Menschen liegen Orte zwischen 727.000 (Columbus) und 79 Einwohnern (Miltonsburg). Seine Einwohner sind zu 83 % weiß und zu 12 % schwarz. Ein Viertel der Bevölkerung soll deutscher Abstammung sein, 13 % irischer. Die Hälfte bekennt sich zu den diversen protestantischen Kirchen, ein Fünftel zur katholischen, in Cleveland und Cincinnati leben jüdische Gemeinden, im Nordosten Amish. Sieben US-Präsidenten wurden in Ohio geboren, und damit rangiert der Bundesstaat hinter Virginia (8) an zweiter Stelle.

Der Rust Belt, in dem Ohio liegt, war einst die größte zusammenhängende Industrieregion und ein wirtschaftlicher Stolz der Nation, als er noch Manufacturing Belt hieß. Er verlief von Chicago (Lebensmittel) über Detroit (Autos) nach Pittsburgh (Stahl) und Boston (Hafen). Als die Schwerindustrie ab den Siebzigerjahren in die Entwicklungsländer verlegt wurde, begann dieser Teil der Welt zu rosten.

Der schwerwiegendste Schlag gegen die US-Industrie erfolgte erst in den Nuller Jahren. Der Niedergang der Ohioer Stahl-und Eisenindustrie, die Standortflucht der Unternehmen und die Maschinisierung brachten neben Bevölkerungsabnahme, Bildungsmangel und hoher Arbeitslosigkeit auch eine Zunahme des Verbrechens und einen florierenden Drogenhandel mit sich. Am schlimmsten erwischte es Detroit, die Motorenstadt (»Motown«), mit den monumentalen Werken von General Motors, Ford und Chrysler. In den vergangenen sechs Jahrzehnten verlor Detroit mehr als 60 % seiner Bewohner, in den letzten 15 Jahren verzeichnete es einen weiteren Rückgang von fast einem Drittel, 80.000 Häuser stehen heute leer, ein Drittel des Stadtgebiets ist unbewohnt.

2010 hatte etwa die herstellende Industrie nur noch 11 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt der USA, des ehemals größten Produktionszentrums der Welt. «Well, you know, lots of people complainin’ that there is no work«, hatte Bob Dylan dieses Symptom bereits bei seinem Erstauftreten, ein Vierteljahrhundert vorher, besungen, «I say, why you say that for? / When nothin’ you got is U.S.-made / They don’t make nothin’ here no more.« 2009 ging General Motors in Konkurs, 2013 musste Detroit selbst Konkurs anmelden. Ehemals viertgrößte Stadt der USA, im Jahr 1980 immerhin noch sechstgrößte, liegt sie nun mit ungefähr 700.000 Einwohnern auf Rang 18, noch hinter Columbus in Ohio, Fort Worth in Texas oder dem boomenden Charlotte in North Carolina. Die Metropolregion hat derzeit 4,3 Millionen Einwohner.

Wie kam es zu dem letzten Schlag gegen das Industriezentrum? Bill Clinton hatte im Jahr 2000 den Beitritt Chinas zur WTO durchgesetzt, damals mit der Argumentation, dass die USA fortan besser nach China exportieren könnte. Es kam umgekehrt. Zu Zehntausenden verloren die amerikanischen Arbeiter neben ihren Jobs das Vertrauen in die Demokratische Partei. Die Wut der arbeitslosen manufacturing workers richtet sich inzwischen gegen das liberale »Establishment«, für das Hillary Clinton jüngst als Symbolfigur stand.

Ohne viele grundsätzliche Sozialleistungen können die Durchschnittsbürger – vor einem halben Jahrhundert noch wohlhabend – ihren Lebensstandard nur halten, indem sie mehrere Jobs gleichzeitig managen und Privatschulden aufnehmen. So haben sie auch kaum Zeit, um sich gegen die Verhältnisse aufzulehnen. Stattdessen protestieren viele an der Wahlurne. Sie wählen tragischerweise jene, die keinerlei Interesse an einer Verbesserung ihrer Lebensumstände haben.

Was Umweltbewusstsein betrifft, liegen die Amerikaner ungefähr auf einer Ebene mit Indien, Ghana oder Zimbabwe. Eines der eindrücklichsten Erlebnisse in Ohio ist die fröhliche Energieverschwendung. Erstens sorgt die Bauweise der Häuser für einen extremen Heizaufwand. Zweitens stellt niemand je den Motor des Autos ab. Drittens laufen die Computer im ganzen Land grundsätzlich über Nacht. Strom ist – wie Benzin – äußerst billig. Die Einwohner verbrennen, weil sie es so gelernt haben, die Vorräte der Erde. Sie kriegen von überallher das Gefühl vermittelt, der Rohstoff, der Brennstoff sei gratis. Es heißt, die Amerikaner würden 5 % der Weltbevölkerung ausmachen und 20 % der Ressourcen verbrauchen.

Todesstrafe war nie eines meiner Themen. Gefühlsmäßig habe ich diese Machtüberschreitung des Staats immer abgelehnt. Je mehr ich jetzt darüber las, desto absurder schien mir diese Höchststrafe.

Ohio exekutierte bisher mehr als 50 Personen. Nach einer unerfreulich verlaufenen Exekution im Jahr 2014 hatte der Gouverneur John Kasich (*1952) die Praxis aussetzen müssen. Der Häftling, namentlich der 1362ste Hingerichtete in den USA seit 1976, starb nach einem 24-minütigen Todeskampf. Ein unerprobtes Medikament war für die Prozedur verwendet worden worden, da die EU Ausfuhrverbote über die bisher verwendeten Qualitätspräparate verhängt hatte, um keine staatlichen Tötungen zu unterstützen. Der Vize-Justizminister Ohios ließ den Kritikern ausrichten, dass »niemand das Recht auf einen schmerzfreien Hinrichtungsvorgang« habe.