Dr. med. Christoph Schenk

Zwischen Leben und Tod - 20 Jahre als Notarzt


Zwischen Leben und Tod - 20 Jahre als Notarzt

© 2018: Kehler-Schenk-Verlag

ISBN 13: 978-3-96111-940-0

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Dr. med. Christoph Schenk, Kira Hinsch

Lektorat: Tanja Kehler

Korrektorat: Katja Rahe, Renate Wieland

 

Impressum / V. i. S. d. P.:
Dr. med. Christoph Schenk

38275 Haverlah

 

Fragen, Lesungen, Kritik:

info@viva-la-reanimation.de

 

Alle Zeiten und Namen von Personen und Orten wurden vom Autor geändert. Ähnlichkeiten mit Namen von real existierenden Personen, Zeiten und Orten sind zufällig und nicht beabsichtigt und geben auf keinen Fall reale Personen und Orte wieder.

 

 

 

 

Dr. med. Christoph Schenk

Zwischen Leben und Tod

- 20 Jahre als Notarzt -

 

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Inhaltsverzeichnis

Widmung      7

Danksagung      9

Vorwort      11

Vorwort „VIVA LA REANIMATION!“      12

Engel      13

Bibi und Tina beim Rodeo      18

Oster-Überraschungs-Ei      24

Couch-Potato      30

Timo und Tarantula      36

Über den Wolken      40

Liebe und so’n Scheiß      48

Augen zu und durch      55

10 kleine Jägermeister      59

Mein rechter, rechter Platz ist frei      65

Let’s do it like they do on the Discovery Channel!      70

Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!      75

Agent 0-0-3,4      82

Tierliebe      86

Hab’ Flugzeuge in meinem Bauch      94

Einmal Scheiße, immer Scheiße      99

Jenni - fast allein zu Haus      105

Die letzte Fahrt      110

Das Kleingedruckte      115

Knockin’ on heaven’s door      122

Ein gebrauchter Tag      129

Kann nur besser werden!      137

Here comes the man in black!      144

Mach mal die Tür auf!      150

An apple a day      157

Über sieben Brücken musst Du geh’n      164

Morgengrauen      169

Weil ich Paris nun mal so mag      175

Dunkle Wolken      187

Under pressure      193

Schicksalsschläge      202

Über den Autor      208

 

 

 

Widmung

Für meine Söhne und TT.

 

Danksagung

Ich bedanke mich ganz herzlich bei allen Lesern des ersten Teils von „VIVA LA REANIMATION!“. Der mich wahrhaft überwältigende Erfolg dieses Buches hat wesentlich zu meiner Motivation beigetragen, immer wieder das aufzuschreiben, was ich als Notarzt erlebe und was mich bis heute bewegt.

Weiter möchte ich meinen ärztlichen und nichtärztlichen Kollegen der verschiedenen Rettungsdienste danken. Ohne ihre Teamarbeit und ihre Ratschläge wären manche meiner „Fälle“ anders ausgegangen.

Auch danke ich den Mitarbeitern meines Verlages, die mir immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.

Dem „Team“ MANDEL / MÜLLER und der Schleswig-Holstein-Zeitung danke ich ganz ausdrücklich für die freundliche Genehmigung die Gastgeschichte „Die letzte Fahrt“ hier veröffentlichen zu dürfen.

Ein herzliches Dankeschön geht auch an meine „Verfolger“ bei Facebook. Ihre „Likes“ motivieren, und Ihre Kommentare geben mir wertvolle Hilfestellung.

Ebenfalls möchte ich all jenen danken, die meine Lesungen besucht und durch ihre Fragen und Kommentare meine Sichtweise auf bestimmte Dinge im Rettungsdienstalltag erweitert haben.

Dem Team der „Notarztbörse“ gilt mein Dank für das erneute Vermitteln von „Honorarjobs“.

Mein herzlicher Dank geht natürlich auch an Katja Rahe und Renate Wieland für ihr gemeinsames Korrektorat.

 

Christoph Schenk

 

 

Zum Schluss danke ich TT für ihr Lektorat, ihr unendlich großes Herz und den kuscheligen Platz, den ich darin haben darf!

Ich liebe Dich! ♥ C.


Vorwort

Nachdem ja schon das Vorgängerbuch nie geplant war als ich Ende 2016 anfing die Erinnerungen an besondere „Fälle“ meiner Notarzttätigkeit für meinen Sohn Yaris aufzuschreiben, ist „Zwischen Leben und Tod“ nun für mich noch überraschender.

Aber: der „Stoff“ geht ja nicht aus! Täglich erleben wir „Fälle“, die man sich nicht ausdenken kann. Ereignisse, die nur das Leben und der Tod schreiben.

In diesem Buch habe ich versucht noch konsequenter medizinische Sachverhalte für jedermann verständlich darzustellen. In einzelnen Geschichten habe ich deshalb kursive Textpassagen eingefügt, in denen medizinische Hintergründe erläutert werden.

 

Ich wünsche gute Unterhaltung!

Christoph Schenk, Frühsommer 2018


Vorwort „VIVA LA REANIMATION!“

Liebe Leser!

Danke, dass Sie sich für dieses Buch interessieren.

Ich bin Unfallchirurg und seit 1996 Notarzt. Mein jüngerer Sohn fragt bis heute oft nach dem Dienst: „Papa, is’ was Spannendes passiert? Erzähl mal!“ – So kam ich auf die Idee, meine Erlebnisse für ihn aufzuschreiben.

Später habe ich diese Erlebnisberichte als Blog unter "www.the110.blog" und bei Facebook unter "e1ns-e1ns-null" veröffentlicht. Beinahe täglich erhielt ich dann Anfragen von Followern nach einem Buch. Bitte sehr, hier ist es.

Namen, Zeiten und Orte sind sämtlich geändert, etwaige Ähnlichkeiten also rein zufällig.

Steigen Sie zu mir in das Notarztauto und erleben Sie unseren täglichen Wahnsinn.

Willkommen im Blaulichtmilieu!

Christoph Schenk, Frühjahr 2017


Engel

Sommer 1986. Unter lautem Flapp-Flapp-Flapp der Rotorblätter erhebt sich der gelbe Hubschrauber. Nach 30 Metern senkrechtem Aufstieg neigt sich die Bo 105 nach vorn und hält Kurs genau gen Westen.

„Hausgeburt“, die knappe Mitteilung auf dem Fax, das uns in den Einsatz schickt.

Ich habe gerade das Physikum am Ende des zweiten Studienjahres bestanden. Das Ende meines Medizinstudiums ist also noch lange nicht in Sicht. Auf dem langen Weg bis zum dritten Staatsexamen sind jetzt mehrere Praktika im Krankenhaus vorgesehen. So verbringe ich heute meine dritte Woche in der Narkoseabteilung eines großen Stadtkrankenhauses in Süddeutschland. Nachdem ich zwei Wochen ahnungs- und hilflos im OP neben dem Narkosegerät stand, ist nun eine Woche Intensiv- und Notfallmedizin dran. Inklusive Rettungshubschrauber-Praktikum.

Nach nur sieben Minuten schweben wir über dem kleinen Dorf. Am gegenüberliegenden Dorfrand stehen wild winkende Menschen. Manfred, unser Pilot, landet in atemberaubendem Tempo auf einer sattgrünen Weide neben der Menschengruppe. Bei noch laufenden Rotoren steigen Notarzt Harry, Sani Olli und ich aus dem Hubschrauber aus. Nach wenigen Metern müssen wir über den Weidezaun klettern. Ein aufgeregter Mann nimmt uns in Empfang und läuft uns dann voran zum angrenzenden Fachwerkhaus.

„Unser Hausarzt Doktor Meier ist schon da. Meine Frau bekommt Zwillinge. Es ging plötzlich los. Eigentlich sollte die Geburt erst in gut drei Monaten sein!“

Ich kann mit dem schweren Notfall-Koffer Harry und Olli kaum folgen. Es geht ins Schlafzimmer der Familie. Der Hausarzt hält ein winziges, nacktes Bündel Mensch auf dem Arm und presst mit seinen bloßen Lippen Luft durch Nase und Mund in den kleinen Körper. Als er uns sieht, unterbricht er.

„Frau Schmidt ist in der 25. Schwangerschaftswoche mit Zwillingen. Vorhin hatte sie den Blasensprung und unmittelbar danach setzten sofort heftige Wehen ein. Es ging alles rasend schnell. Dieses Kind hier ist das Erstgeborene. Das zweite Kind hat sie vor kurzem geboren. Es liegt bei ihr. Die Kinder haben gute Herztöne!“

Der erfahrene Notarzt gibt erste Anweisungen.

„Olli! Manfred soll mit dem Hubschrauber sofort einen Kinder-Intensivmediziner aus der Kinderklinik holen.“

Der Sani lässt gleich alles stehen und liegen und rennt zum Heli zurück, um Manfred mit diesen Infos wieder in die Luft zu schicken.

Nun geht alles rasend schnell. Harry reißt den ersten Koffer auf, drückt mir den Kinderbeatmungsbeutel in die Hand, nimmt das Baby aus den Armen des Hausarztes und legt es sanft vor mir auf einen Sessel.

„Drück mit nur zwei Fingern 20-30 mal pro Minute Luft in das Kind. Und achte drauf, dass die Maske gut um Mund und Nase sitzt!“

Dann reicht er mir noch ein Päckchen mit Goldfolie.

„Wickel aber zuerst das Baby in die Wärmefolie ein!“

Mir zittern die Hände. Ich bin völlig überfordert. Hätte gerne zehn Arme, kann aber nicht mal mit zwei Armen irgendwas koordiniert erledigen. So kriege ich kaum die Packung mit der Folie auf. Letztlich öffne ich das Paket mit den Zähnen, entfalte das goldene Tuch und kremple es irgendwie um den kleinen nackten Menschen. Dann schnell die Beatmungsmaske auf sein blitzeblaues Gesicht und drücken, drücken, drücken.

Harry hat sich in der Zwischenzeit der Mutter und dem zweiten Winzling zugewendet. Das Kind hängt noch an der Nabelschnur. Zusammen mit dem Hausarzt wird das Baby in Sekunden abgenabelt. Und jetzt? Keine Goldfolie mehr da. Harry schickt den Vater der Zwillinge los, um Alufolie aus der Küche zu holen. Dann reißt er ein gutes Stück davon ab und wickelt darin das Kind ein, so dass nur noch der Kopf herausragt. Der Hausarzt kümmert sich im Weiteren um die Mutter.

Olli ist zurück. Hat die kleine Absaugpumpe in der Hand und reicht Harry den dazugehörigen Katheter. Vorsichtig schiebt er den dünnen Schlauch in Mund und Nase des zweiten Babys und saugt Schleim und Fruchtwasser aus den zarten Atemwegen.

Nichts. Keine Reaktion des Winzlings. Kein Husten. Kein Schreien. Harry legt das Baby auf das Bett, kniet sich vor es hin und beginnt sofort mit der Mund-zu-Nase-Beatmung. Unser Equipment ist nur für ein Kind ausgelegt.

Olli nimmt unser EKG und klebt dem Säugling, den ich beatme, die vier Elektroden auf die violette Brust. Piep. Piep. Piep. Im Affentempo rast das kleine Herz. EKG ab, hin zum zweiten Kind. Gleiches Vorgehen. Gleiches Ergebnis. Das Herz schlägt. Harry pustet mit seinem Mund, ich drücke auf den Beutel.

Der Vater läuft wie ein Tiger im Käfig hin und her und her und hin. Ich spüre seine Sorgen, seine Ängste. Ich konzentriere mich auf „mein“ Baby. Maske dicht? Stimmt die Beatmungsfrequenz? Reagiert der kleine Mensch?

So geht es ewig. Harry lässt sich vom Hausarzt beim Beatmen ablösen und kommt zu mir.

„Gut so, wie du es machst! Kannste noch oder soll ich dich ablösen?“

Ich kann noch. Bin wie getrieben. Muss noch können. Bin völlig fokussiert auf den Beatmungsbeutel, die Maske auf dem kleinen Gesicht, die zwei drückenden Finger meiner rechten Hand.

Wir sind jetzt sicher schon fast 30 Minuten hier. Da höre ich endlich den Hubschrauber im Landeanflug. Minuten später kommt der angeforderte Kinderarzt in den Raum. Ein einziger Gedanke schießt mir durch den Kopf: Jetzt wird ja dann alles gut!

Harry gibt dem Pädiater eine kurze Übergabe, beatmet dann sofort weiter. Der Kinderarzt greift in seine Kitteltasche, holt ein Stethoskop raus und geht zunächst zum Neugeborenen im Ehebett. Er öffnet die Alufolie, horcht gründlich auf den kleinen Brustkorb, während Harry weiter mit dem Mund Luft in das Kind presst. Dann bedeutet er Harry aufzuhören, schüttelt den Kopf und schließt die Alufolie über dem Kopf des Kindes.

Dann kommt er zu mir. Mir springt mein Herz aus dem Hals. Ich drücke und drücke und drücke auf den Beutel. Dieser kleine Mensch wird doch aber noch zu retten sein! Der Kinderarzt öffnet die Goldfolie, hört auf die Lungen des Babys, legt dann seine Hand auf meine Schulter, schaut mich an, schüttelt abermals den Kopf und bedeckt den Kopf des Kindes mit einem Zipfel der Goldfolie.

Es ist still.

Scheiße. Medizin kann doch nicht alles.

PS: Ende der Achtzigerjahre lag das Überleben von frühgeborenen Zwillingen in der 25. Schwangerschaftswoche unter optimalen, d.h. Krankenhaus-Bedingungen (!), bei unter 50%. Das Problem in diesem Fall war die fehlende Lungenreife.

Normalerweise dauert eine Schwangerschaft vierzig Wochen.

 

Bibi und Tina beim Rodeo

Frühsommer 2013 in Süddeutschland.

Silas fährt wie Sau. Nach acht Minuten mit Blaulicht auf der Kreisstraße durch die wellige Landschaft erreichen wir den Reiterhof. Mir ist kotzübel von der Raserei.

Gegen den Brechreiz ankämpfend schnappe ich mir das EKG-Gerät und die Medikamententasche aus dem Kofferraum des rot-weißen Passats und laufe in Richtung der mir zuwinkenden weiblichen Teenies. Silas schnappt sich den Rest und kommt dann hinterher.

Es könnte hier traumhaft sein: Strahlende Sonne, blauer Himmel, sattgrüne Flora und beschaulich grasende Pferde auf den Koppeln ringsum. Könnte! Wenn da nicht die aufgeregten Mädchen um mich herum wären, die mit einem Mix aus Klageweib-Gejammer und Justin-Biber-Gekreische diese Idylle stören.

Aus tausend kleinen Mündern prasseln Informationen auf mich ein:

„Bibi weint!“

„Bibi hat sich wehgetan!“

„Bibi kann sich nicht mehr bewegen!“

„Bibi hat sich in die Hose gemacht!“

„Bibi ist von Omi gefallen!“

Ich verstehe nicht. Bibi? Omi?

Ich versuche, mir einen Weg durch die Mädchenschar zu bahnen. Nach 50 Metern stehe ich auf dem Reitplatz und finde schließlich Bibi im Sand liegend. Sie ist vielleicht elf Jahre alt. Ihr Gesicht ist voller Sand, durch den sich ihre Tränen einen kleinen Bachlauf gespült haben. Neben ihr kniet eine junge Frau und hält ihre Hand.

„Hallo, was ist denn passiert?“

„Guten Tag! Ich bin Tina, die Reitlehrerin. Wir hatten unsere Nachmittagsreitstunde. Springtraining mit ganz kleinen Hindernissen. Omi, Bibis Pferd, hat vor einem Hindernis gebockt. Da ist die Kleine dann gestürzt und voll auf den Rücken gefallen. Seither kann sie ihre Beine nicht mehr fühlen und bewegen.“

Ich wende mich an das Mädchen.

„Bibi, ich untersuche dich jetzt schnell. Versuch, dich nicht zu bewegen. Danach bekommst du auch gleich was gegen die Schmerzen! Kannst du dich an alles erinnern? Ist dir schlecht? Haste einen Filmriss?“

„Mein Rücken tut so weh! Ich weiß genau, was passiert ist. Mir ist nicht schlecht.“

„Wir achten darauf, dass alle Kinder einen Helm tragen!“, ergänzt die Reitlehrerin.

„Wo hast du denn noch Schmerzen? Nur am Rücken?“

„Ja, nur da.“

Ich drehe mich um und bitte sie, an meinem Rücken zu zeigen, wo es an ihrem Rücken wehtut. Sie klopft mir auf die untere Brustwirbelsäule.

„Du bekommst jetzt erst mal einen Halskragen. Wir möchten deine Halswirbelsäule schützen. Beweg dich nicht!“

Silas und ich nehmen Bibi vorsichtig den Reithelm ab, dann hält der Sani Bibis Kopf und ich montiere den Plastikkragen.

„Silas, kümmer dich um die Verkabelung: EKG, Blutdruck, Sauerstoff im Blut!“

Jetzt sind auch die Jungs vom Rettungswagen da. Ich gebe ihnen rasch Informationen.

Schnell die Untersuchung fortsetzen. Bibis Pupillen sind ok. Der Reithelm hat den Kopf der Teenagerin offenbar vor Schlimmerem bewahrt. Brustkorb, Bauch und Becken scheinen ebenfalls unverletzt zu sein. Jetzt sehe ich, dass Bibi sich tatsächlich in die Hose gepinkelt hat.

„Hast du bemerkt, dass du dir in die Hose gemacht hast?“

„Hab ich? - Iiiii!“

„Ja. Die Hose ist nass.“

Ich betaste Bibis Beine. „Spürst du das?“

„Was?“

„Na, dass ich deine Beine anfasse!“

„Nee, habe nichts gemerkt.“

Ich kneife Bibi in den Oberschenkel. „Jetzt was gemerkt?“

„Nein. Nur mein Rücken tut so weh!“

Zwischendurch meldet sich Silas mit ersten Messwerten.

„Blutdruck und Puls sind ok.“

"Danke. Bestell den Hubschrauber!"

„Beweg mal das rechte Bein!“, fordere ich unsere Patientin auf.

Nichts passiert. Noch einmal ein Kommando an Bibi. „Versuch mit aller Kraft, das rechte Bein zu bewegen!“

„Ich versuche es doch. Es macht aber nicht, was ich will!“

„Dann jetzt das linke Bein!“

Auch hier passiert nichts.

„Mein Rücken tut so weh!“

Scheiße! Lähmung, Taubheit, Rückenschmerzen und Urinabgang nach Sturz. Querschnittslähmung! Ich habe keinen Röntgenblick, aber wahrscheinlich ist die Wirbelsäule gebrochen.

Wir müssen Gas geben, wenn schlimme Langzeitfolgen überhaupt noch vermieden werden können. Die geschädigten Anteile des Rückenmarks und der daraus entspringenden Nerven müssen schnellstmöglich operiert werden.

„Tropf, Ketanest und Dormicum! Dann auf die Schaufeltrage und im Auto auf die Vakuummatte!“

Die drei Sanis sind flott dabei und bereiten alles vor.

„Ich lege dir jetzt einen Tropf. Das tut ein bisschen weh. Aber dann kriegste gleich ein starkes Schmerzmittel!“

Zum Glück hat Bibi prächtige Adern auf ihrem Handrücken, so dass der Tropf schnell liegt. Anschließend spritze ich ihr erst ein Medikament, das sie in einen leichten Dämmerschlaf versetzt. Danach das Schmerzmittel. Ihre Gesichtszüge werden prompt entspannter.

Gemeinsam legen wir Bibi vorsichtig auf die Schaufeltrage. Anschließend tragen wir sie behutsam in den Rettungswagen. Dann geht‘s auf die Vakuummatratze. So ist die Wirbelsäule für den Transport stabil versorgt.

Langsam fahren wir mit dem Rettungswagen zum örtlichen Sportplatz, wo der Hubschrauber landen soll.

Zehn Minuten später fliegt Bibi im Eurocopter in die 50 Kilometer entfernte Unfallchirurgie.

 

PS: Ich habe zwei Monate später in der unfallchirurgischen Klinik angerufen, um mich nach dem weiteren Schicksal der jungen Patientin zu erkundigen. Bibis Beine blieben trotz schneller Operation gelähmt. Sie hatte schwere Brüche mehrerer Wirbelkörper am Übergang von der Brust- zur Lendenwirbelsäule, so dass die Rückenmarksnerven zerquetscht wurden. In einer neurologischen Reha-Klinik hat Bibi gelernt, mit einem Rollstuhl eine eingeschränkte Mobilität zurückzuerlangen.

PPS: Bibi hatte während ihrer Reitstunde zwar einen Helm, aber keinen Rückenprotektor getragen.


Oster-Überraschungs-Ei

Hilde ist in den letzten Jahren sehr vergesslich geworden. Zuletzt fand sie ihren Heimweg nicht, als sie vom Supermarkt kam. Den sonntäglichen Gottesdienst beim Bischof hat sie aber noch nie verpasst.

Wir sitzen gemütlich beim Frühstück in der Rettungswache. Heute mal richtig üppig: neben dem Üblichen, Brötchen, Wurst, Käse und Marmelade, gibt es heute Nürnberger Würstchen, Bacon, Obstsalat und Rühreier. Schließlich ist heute Ostersonntag!

Da piept es.

„Bewusstlose Person, St. Trinitatis-Kirche.“

Mit vollen Mündern steigen Ben und ich in den roten Q5. Ein schneller Blick in den Schminkspiegel. Noch Eigelb oder Nutella am Mund? Nichts, alles sauber. Blaulicht an und los. Wir müssen zwei Kilometer durch die Stadt fahren. Nach nur fünf Minuten erreichen wir die riesige Kirche.

Am Hauptportal erwartet uns ein in schwarz gekleideter Mann.

„Kommen Sie bitte, Frau Schmitz geht es nicht gut! Sie ist nach dem „Durch ihn und mit ihm“ vom Kniebänkchen aufgestanden und, zack, umgefallen.“

Als wir das Gotteshaus betreten, spricht die versammelte Gemeinde gerade das Vaterunser. In dicken Schwaden hängt Weihrauchnebel in der Luft. Neben der zweiten Bankreihe liegt Hilde. Zwei jüngere Frauen knien neben ihr und halten die kalten Hände der Seniorin.

Der liebe Gott hätte vermutlich nichts dagegen, wenn wir den Gottesdienst HIER stören würden. Ich bedeute den Sanis aber dennoch, Hilde lieber schnell in das nur wenige Meter entfernte Seitenschiff zu ziehen.

Hilde schaut mich aus großen Augen verwundert an.

„Guten Tag, wissen Sie, was passiert ist? Tut Ihnen was weh?“

„Wer sind Sie? Wo bin ich?“

„Wir sind vom Rettungsdienst. Sie sind während des Gottesdienstes ohnmächtig geworden. Tut Ihnen was weh?“, frage ich nochmal.

Hilde versucht sich zu bewegen. Mühsam testet die alte Dame sämtliche Gelenke und Knochen auf Beweglichkeit und Schmerz.

„Nein. Nichts. Was ist bloß mit mir los? Mir ist so schwindelig!“

„Meine Mutti ist plötzlich umgefallen. Einfach so. Sie hat sich für kurze Zeit gar nicht geregt!“, berichtet eine der beiden Frauen.

„Wir untersuchen Sie jetzt erstmal, messen Ihren Blutdruck und schreiben ein EKG. Haben Sie Zucker?“

Hilde scheint zu überlegen. Sie grübelt und grübelt und grübelt. Dann endlich: „Nein. Nur hohen Blutdruck. Aber dafür nehme ich ja immer meine Tablette!“

„Mutti muss einmal am Tag einen Betablocker einnehmen“, ergänzt die zweite Frau.

„Haben Sie noch andere Tabletten außer der für den Blutdruck?“

Hilde denkt wieder nach. „Ich muss noch drei Pillen einer anderen Sorte nehmen. Morgens, mittags und abends je eine. Für was die aber sind, weiß ich gerade nicht.“

„Mutti, das ist doch dein Schmerzmedikament.“

Und dann zu mir gewandt: „Wissen Sie, meine Mutter hat Osteoporose und starke Rückenschmerzen. Die Tabletten haben unserer Mutter aber in den letzten Tagen auch nicht mehr geholfen!“

Ich werfe einen schnellen Blick in Hildes Augen. Die Pupillen reagieren prompt auf das Licht meiner Taschenlampe.

Die Jungs haben die Seniorin an unseren Monitor angeschlossen und den Blutdruck gemessen.

„Der Druck ist 90 zu 50!“, sagt mir Ben noch mit dem Stethoskop in den Ohren. Ein bisschen niedrig, aber noch ok. Dann ein Blick auf das EKG. Das Herz schlägt ganz regelmäßig. Die EKG-Kurve ist wie im Lehrbuch. Aber viel zu langsam! Nur 45 Schläge pro Minute. Normal sind mehr als 60.

„Sinus-Bradykardie! Tropf vorbereiten und Atropin aufziehen. Außerdem die Schrittmacher-Elektroden bereithalten!“

Bei einer Sinus-Bradykardie zeigen sich im EKG reguläre Zacken und Kurven. Allerdings liegt der Herztakt unterhalb des Normalwertes von ca. 60 Aktionen pro Minute. Das führt dazu, dass auch das Gehirn zu wenig durchblutet wird. Schwindel oder Ohnmacht können die Folge sein. Verschiedene Ursachen können zugrunde liegen: Herzerkrankungen, Schilddrüsenunterfunktion, erhöhter Hirndruck, Medikamente und viele andere. Therapeutisch werden Mittel verabreicht, die die Herzfrequenz steigern, ähnlich wie Adrenalin. Falls das nichts nutzt, wird das Herz von außen mit einem elektrischen Schrittmacher angetrieben.

Hilde dämmert weg. Ihr fallen die Augen zu. Ich versuche sie zu wecken.

„Frau Schmitz, machen Sie mal die Augen auf!“, fordere ich die alte Dame auf. Mühsam hebt sie ihre Lider, um sie direkt anschließend wieder kraftlos sinken zu lassen.

„Der Tropf liegt. Läuft 1A!“, sagt Jan, einer der Sanis vom Rettungswagen, stolz.

Hildes Herz schlägt jetzt nur noch 40 Mal pro Minute.