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André Widmer

Ostukraine –
Europas vergessener Krieg

Reportagen aus dem Donbass

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Meinen Eltern

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2018 Rotpunktverlag, Zürich

Umschlagbild: Soldat auf dem Areal des Schachta Butowka, Awdijiwka. Foto: André Widmer, 2017.

Im gedruckten Buch finden sich zusätzlich zahlreiche Bilder.

Inhalt

Einleitung

Die Rückkehr des Schreckens

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DNR

Donezk

Februar 2015 bis September 2017

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Nach der Schlacht

Flughafen Donezk, Debalzewe

Februar/März 2015

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Freiwillig im Dreck

Nowogrodowka, Opytne

Oktober 2015 und Februar/März 2016

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Flüchtlinge im eigenen Land

Kurachowe, Marjinka, Netaylove

Oktober 2016

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»Das hier macht alles keinen Sinn«

Schachta Butowka / Promzona / Zarskaja Ochota, Awdijiwka

März 2017

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Zementierung des Ausnahmezustandes

Opytne, Spartak, Nikischyne, Marjinka

August/September 2017

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Vom Leben in einer Frontstadt

Awdijiwka

August 2017

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Vermisst

Kiew, Velyka Nowosilka

August/September 2017

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»Unsere Berichte sind unangenehme Wahrheiten«

Interview mit Alexander Hug, Vizechef der OSZE-Sonderbeobachtermission in der Ukraine

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Der Bruderkrieg

Die ukrainische Sicht der Dinge

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Nachwort und Gedanken

Dank

Vorgeschichte und Chronologie des Krieges

Einleitung

Die Rückkehr des Schreckens

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Der Krieg ist wieder zurück in Europa. Bezeichnenderweise in einem Land, dessen Name übersetzt aus dem Altslawischen »Grenzgebiet« oder auch »Militärgrenze« bedeutet: »ukraina« – die Ukraine.

Das war vor einigen Jahren so nicht zu erwarten. Denn Europa wähnte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts, nach der Osterweiterung der Europäischen Union sowie des westlichen Militärbündnisses NATO in friedlicheren Zeiten. Die Kriege auf dem Balkan und im Kaukasus in den 1990er-Jahren und zur Jahrtausendwende waren ausgefochten, auch wenn heute die ethnischen und politischen Auseinandersetzungen noch nicht überall in diesen Regionen beendet sind.

Im August 2008 schockierte dann der »Blitzkrieg« zwischen Russland und Georgien die Weltöffentlichkeit. Und mit dem seit 2014 fortwährenden Krieg in der Ostukraine hat sich schließlich eine größere, noch gewalttätigere Bruchstelle am Rande Europas aufgetan. Eine Bruchstelle, die auf unabsehbare Zeit offen bleiben wird und die uns vor Augen führt, dass Frieden auch auf diesem Kontinent nicht selbstverständlich ist. Über 10 000 Tote hat der Krieg im Donbass bis Ende 2017 nach offiziellen Zahlen der UNO gefordert, über 22 000 Menschen wurden verletzt. Über eine Million Menschen sind geflüchtet. Der Krieg in der Ostukraine ist die Rückkehr des Schreckens, den wir aus unseren Breitengraden verbannt geglaubt hatten. Und mit der Annexion der Krim hat Russland – ein Land, das Mitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist – die Grenzen und die territoriale Integrität eines anderen OSZE-Landes missachtet. Nach wie vor gibt es Wirtschaftssanktionen gegen Russland.

Trotz des Krieges ist die Ukraine den eingeschlagenen Weg der Annäherung an die Europäische Union unter der neuen Regierung von Petro Poroschenko weitergegangen. Die Unterstützung für eine proeuropäische Ausrichtung des Landes, aus der Umklammerung des großen Nachbarn Russland, war ja erst der Auslöser für die Proteste auf dem Maidan in Kiew 2013/14, für die Ablösung der prorussischen Regierung und schließlich das Eingreifen des Kremls auf der Krim. Das Assoziierungsabkommen mit der EU ist mittlerweile in Kraft getreten, wenn auch zu Teilen erst vorläufig. Es existiert eine sogenannte vertiefte und umfassende Freihandelszone mit der Ukraine und den zwei weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien und Moldawien. Staatsbürger aller drei Länder dürfen mittlerweile visafrei in die EU einreisen. Was bedeutet der Krieg für die Menschen in der Ostukraine selbst? Und wie präsentiert sich die Situation dort? Davon handelt dieses Buch.

Zwei Abkommen für einen Waffenstillstand wurden in Minsk abgeschlossen. Dennoch gibt es nach wie vor keinen Frieden. Die meisten der vereinbarten Punkte sind nicht oder nicht vollständig umgesetzt. Beiden Seiten können Verstöße angelastet werden. Schwerwiegend dabei ist, dass nach wie vor auch schwere Artillerie verwendet wird. Noch immer sterben Zivilisten und Soldaten. Der Krieg in der Ukraine geht 2018 in sein viertes Jahr. Der Frontverlauf ist, abgesehen von geringen Geländegewinnen, mehrheitlich erstarrt. Was sich nicht stabilisiert hat, ist die Sicherheitslage: Sie ist volatil. Die Menschen in den Gebieten nahe der Front leben noch immer mit der lebensbedrohlichen Gefahr eines Beschusses. Mit dem von den Medien oft verwendeten Begriff »Konflikt« wird die tatsächliche Lage der betroffenen Städte und Dörfer verharmlost – »Krieg« ist das richtige Wort für das, was im Donbass geschieht. Und dieser Krieg traumatisiert die Zivilbevölkerung. Oft geschieht es in den Abendstunden, dass an der Front die Gewalt zurückkehrt, dass die Kampfhandlungen intensiviert werden. Dörfer und Stadtteile in unmittelbarer Frontnähe sind von Granatbeschuss besonders gefährdet. Nach wie vor sind schwere Waffen im Einsatz, das bestätigt auch die OSZE. Auch noch Kilometer von den Schützengräben entfernt ist das Donnergrollen der Detonationen zu hören. Die psychischen Auswirkungen auf die Betroffenen sind groß. Ein Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in der Ukraine erklärte, er habe noch nie so viele alkoholabhängige Frauen angetroffen. Auch ein Ukrainer, mit dem ich die nahe der Front gelegene Kleinstadt Awdijiwka besuchte, war von der großen Anzahl Alkohol trinkender Zivilisten überrascht.

Der Krieg entzweit auch die Familien, denn die Frontlinie durchschneidet Lebenslinien, ja Lebenswelten. Benachbarte Dörfer oder Städte können nicht mehr erreicht werden. Söhne und Töchter und Eltern leben teilweise getrennt dies- und jenseits der Frontlinie, die nur an wenigen kontrollierten Übergängen und unter großem Aufwand überquert werden kann. Langwierige Kontrollen und Checkpoints an vielen Orten zermürben. Bürger der Ukraine, die in den Separatistengebieten leben, müssen einen Passierschein beim Inlandgeheimdienst beantragen, um auf regierungskontrolliertes Territorium gelangen zu können. Das ohnehin schon alles andere als einfach zu bewältigende Leben der Zivilbevölkerung in der Ostukraine wird so noch zusätzlich erschwert.

Hinzu kommt die an vielen Orten beschädigte oder zerstörte Infrastruktur: Strom-, Gas- und Wasserversorgung funktionieren vielerorts nicht. Kaputte Brücken und Straßen erfordern Umwege. Schulen sind beschädigt, sind deshalb geschlossen und die Kinder müssen in andere Ortschaften transportiert werden, damit sie dort unterrichtet werden können. Auch die ärztliche Versorgung könnte besser sein. Noch Jahre nach Kriegsbeginn gibt es Dörfer in der sogenannten grauen Zone nahe der Front, die von der Versorgung abgeschnitten sind. Humanitäre Hilfe ist deshalb sehr willkommen, doch die Leute müssen sich oft auch selbst zu helfen wissen. Kommt hinzu, dass ein großer Teil der Wirtschaft in den Gebieten der Ostukraine darniederliegt.

War der Krieg in der Ukraine voraussehbar? Folgt er einer Logik? Historiker und Politikwissenschaftler können diese Fragen sicher besser beantworten als ich. Dieses Buch will und kann hier Erklärungen nicht liefern. Dennoch lohnt sich hier ein kurzer Blick auf die Geschichte. Die Teilgebiete der heutigen Ukraine haben im Laufe der Jahrhunderte viele Mächte und Einflüsse erlebt – den Kiewer Rus, die Mongolen, die Habsburger, Polen, gar das Osmanische Reich. So ist ein Gebiet mit vielen Ethnien entstanden. Der sich von Russland emanzipierende ukrainische Nationalismus, auf den sich heute nicht wenige Ukrainer berufen, trat am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stärker auf. Heute erinnert unter anderem ein Denkmal von Michail Gruschewski, dem ersten Präsidenten der unabhängigen Volksrepublik Ukraine im Jahre 1917, vor dem Parlamentsgebäude in Kiew an diese Zeit. Dann, von 1932 bis 1933, wütete der sogenannte Holodomor, die große Hungersnot. Die Politik Stalins führte zu Millionen von Toten in der Ukraine. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Ukraine – nun eine sozialistische Sowjetrepublik – verwüstet.

Die jüngste Entwicklung beginnt schon vor und während des Zusammenbruchs der Sowjetunion. In seinem Buch The Last Empire schildert Serhii Plokhy anschaulich, wie stark die Ukraine an der Auflösung des roten Reiches der UdSSR beteiligt war und offenbar bereits die russischen Ansprüche an den Donbass und die Krim geltend gemacht wurden. Schon im August 1991 sei aus der Regierung Jelzin die – zwar kurz darauf wieder zurückgenommene – Erklärung gekommen bezüglich der Überprüfung von Grenzen und der Zugehörigkeit von mehrheitlich russisch besiedelten Gebieten anderer Sowjetrepubliken – so Teile Kasachstans, der Donbass und die Krim.

Die in der jüngeren Zeit hin- und herschwankenden Machtverhältnisse zwischen Europa und Russland zugewandten Regierungen widerspiegeln die tiefe Zerrissenheit der Ukraine: Zwischen einem zu großen Teilen westwärts gewandten Westen und dem Russland zugewandten Osten mit seiner großmehrheitlich russischstämmigen Bevölkerung. Nicht wenige ältere Ukrainer trauern dem Zerfall und der Ordnung der einstigen Sowjetunion nach – ein Phänomen, das auch in vielen anderen ehemaligen Unionsrepubliken beobachtet werden kann.

Es liegt mir fern, hier über die Intentionen und geopolitischen Strategien des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu spekulieren. Klar ist jedoch, dass offene militärische oder politisch noch nicht gelöste Territorialkonflikte den Beitritt ehemaliger Sowjetrepubliken zu westlichen Bündnissen wie die NATO entscheidend erschweren, wenn nicht verunmöglichen. Es fällt auf, dass keiner der beim oder nach dem Zusammenbruch der UdSSR offen zutage getretenen Konflikte außerhalb Russlands je gelöst worden ist. Vielmehr wurden international nicht oder kaum anerkannte selbsternannte De-facto-Staaten gebildet: Transnistrien, der prorussisch orientierte Teil Moldawiens; Südossetien und Abchasien, die vom Mutterland nun militärisch abgetrennten georgischen Provinzen. Oder Bergkarabach, ein mehrheitlich armenisch besiedelter Teil Aserbaidschans; ein Gebiet, das von einem Armenien kontrolliert wird, das seinerseits mit Russland ein Militärabkommen eingegangen ist. Und nun also, seit 2014, die ohne Russland wohl kaum überlebensfähigen selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, die prorussischen Separatistengebiete in der Ostukraine.

Der Krieg hat sicherlich zu einem noch stärkeren Nationalbewusstsein in den regierungskontrollierten Gebieten der Ukraine geführt. Man grenzt sich noch mehr von Russland ab. Und auch von der sowjetischen Vergangenheit. Die Entsowjetisierung von Ortsnamen ist ein klares Indiz dafür, wie diese Entwicklung von staatlicher Seite zusätzlich befeuert wird. Hinzu kommt ein erstarkter Nationalismus. Dieser hat sich in gewissen Fällen in der Ukraine bis zur Militanz entwickelt – noch heute gibt es bewaffnete Einheiten des Rechten Sektors, die sich nicht vollständig der staatlichen Kontrolle unterstellt haben.

Eine schwierige Rolle spielen sicher auch die Medien. Und das nicht nur in Russland und den prorussischen Separatistengebieten, wo Zeitungen, Internetportale und Fernsehstationen mehr oder weniger gleichgeschaltet sind. Die Presse der Ukraine lag 2017 im internationalen Pressefreiheitsindex auf Rang 102 von 180 Ländern – Russland auf Rang 148.

Dieses Buch ist in erster Linie eine Sammlung von Momentaufnahmen aus der kriegsversehrten Ostukraine, keine geopolitische oder historische Analyse. Die Reportagen zeigen, wie sich die Situation vor Ort im Zeitraum zwischen Februar 2015 und September 2017 präsentierte. Beschrieben wird unter anderem die prekäre humanitäre Lage der Zivilbevölkerung einige Tage nach der Schlacht um den Kessel von Debalzewe. Oder der umkämpfte Flughafen Donezk. Besonders wichtig ist es, die Lage der Dörfer in der sogenannten grauen Zone zu schildern. Es sind Ortschaften, in denen nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung zurückgeblieben ist, wo die Sicherheitslage gefährlich ist. Diese Dörfer sind teilweise sehr schwer zu erreichen. Es kommen Zivilisten zu Wort, die in diesen Ortschaften nahe der Frontlinie wohnen, und Menschen, die Vermisste zu beklagen haben. Soldaten und freiwillige Kämpfer reden über Sinn und Unsinn dieses Krieges. Trotz des reportagehaften Charakters dieses Buches sollen auch politische Aspekte beleuchtet werden. Die Interviews mit hohen Repräsentanten der ukrainischen Regierung und der Separatisten bieten dazu eine Gelegenheit. Und das Interview mit Alexander Hug, dem Vizechef der Sonderbeobachtermission der OSZE, bietet einen Einblick in den Mechanismus und die Psychologie dieses Krieges. Nicht zuletzt werden auch die geplanten Reformen aufgezeigt und die Richtung, in die sich die Ukraine sich damit entwickeln könnte.

Alle diese Aspekte sollen eine Übersicht zur aktuellen Situation in der Ostukraine geben. Dennoch: Das Buch liefert keine endgültigen Antworten, sondern wie bereits erwähnt Momentaufnahmen. Allumfassend können die Reportagen nicht sein, denn ein Krieg hat viele Aspekte und viele Gesichter. Dennoch hoffe ich, dass die Leser und Leserinnen dieses Buches sich mit den nun folgenden Texten und Fotos ein Bild davon machen können, was in der Ukraine in den letzten Jahren passiert ist. Dass sie eine Ahnung davon erhalten, welch schwierigen Weg die Menschen im Kriegsgebiet gehen.

Die vorliegenden Reportagen, die teilweise in verschiedenen Zeitungen in der Schweiz und Deutschland erschienen sind, konnte ich mit weiteren Angaben aus früheren Notizen ergänzen und erweitern. Meine Besuche in den Separatistengebieten fanden im Februar/März und August 2015 sowie im September 2017 statt. Im regierungskontrollierten Teil der Ukraine recherchierte ich im Oktober 2015, März und Oktober 2016 sowie im März und August des Jahres 2017. Viele Angaben und Schilderungen, aber auch Zahlen in diesem Buch entstammen eigenen Beobachtungen und Gesprächen. Auf ein detailliertes Quellenverzeichnis habe ich verzichtet. Dort, wo ich aus anderen Berichten zitiere, ist dies im Text ausgewiesen.

Sämtliche Bilder aus der Ostukraine in diesem Buch habe ich selbst fotografiert. Und noch dies: Die Ostukraine ist auch sprachlich ein Grenzgebiet, viele Menschen sprechen Ukrainisch und Russisch. Die Namen von Ortschaften, Städten und Personen wurden nach bestem Wissen und Gewissen, unter anderem nach Leitmedien im deutschsprachigen Raum, ins Deutsche übersetzt.

DNR

Donezk

Februar 2015 bis September 2017

Ein fahles Grau liegt über der Stadt. Nicht viele Menschen sind auf den Gehsteigen unterwegs. Es gibt wenig Straßenverkehr. Zwei Drittel der Geschäfte sind geschlossen. Einige Lokale leer geräumt. Die Geldautomaten von einer dünnen Staubschicht überzogen, außer Betrieb. Uniformierte beim Regierungsgebäude; ein Stand mit Zeitungen der Separatisten an einer Straßenecke. Neben der Haupteingangstüre des Hotels Ramada, wo sich abends in der Bar ausländische Journalisten und Fotografen treffen, prangt ein Verbotsschild: Hier haben Bewaffnete nichts zu suchen. Donezk im Februar und März 2015; Donezk im Jahr eins unter Kontrolle der Separatisten, im Jahr eins des Krieges im Donbass. Die Ausrufung der Donezker Volksrepublik – der Donezkaja narodnaja respublika, im Volksmund kurz DNR – fand am 7. April 2014 statt. Vieles wirkt in der Stadt merkwürdig verlangsamt, es ist keine lebendige Metropole mehr. Donezk wirkt wie gelähmt. Wie ein Schiff mit halber Kraft.

Im Zentrum ist die Lage relativ ruhig. Die Kampfgebiete, und somit die richtige Gefahr, liegen an der Peripherie; genauer gesagt im Osten und Nordosten der Stadt. Doch hier in der Mitte Donezks nimmt das Leben seinen Lauf, wenn auch auf weit weniger geschäftigem Niveau, als man es sich von einer Stadt, die einst fast eine Million Einwohner zählte, vorstellt. Fast noch am meisten los ist beim zentralen offenen Markt, dem Rinok, mit seinen zahlreichen Ständen. Er liegt gleich neben dem Schewtschenko-Boulevard und dem überdachten Bauernmarkt. Viele, wenn auch nicht alle Stände des Rinok, sind geöffnet. Ein junger Mann verkauft auf einem Tischchen Internet-Sim-Karten – und Flaggen der Donezker Volksrepublik sowie von Noworossjia.

Noworossjia: Das ist nebst der DNR und der Luhansker Volksrepublik – im Volksmund natürlich LNR – dieses andere spezielle Gebilde. »Noworossjia« heißt auf Deutsch Neurussland und fasst heute schlicht und einfach die Gebiete Donezk und Luhansk zusammen. Doch bei meinem Besuch im Frühjahr 2015 geistert noch die Idee eines anderen Neurussland herum: Historisch ist damit nämlich der ganze Südosten der Ukraine gemeint, also die Gebiete, die vorwiegend russisch sprechen. Noworossjia bestand hier bereits einmal: ab 1764 und bis zum Zusammenbruch des Zarenreichs. Und so gibt es den Fiebertraum einiger Verwegener, erneut ein neues Neurussland von Charkiw bis Odessa zu bilden.

In Donezk ist eine inoffizielle Flagge Neurusslands zu sehen, die mit ihrem blauen gekreuzten Streifen auf rotem Grund an die Kriegsflagge der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg erinnert. Am 24. Mai 2014 schlossen die beiden neu gegründeten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ein Unionsabkommen; tatsächlich wollte man auch weitere ostukrainische Gebiete wie Charkiw, Dnipropetrowsk oder Odessa aufnehmen. Doch weil die separatistische Bewegung in diesen Gebieten nicht auf genügend fruchtbaren Boden fiel, kam es dort zu keinen Referenden über eine allfällige Unabhängigkeit von der Ukraine.

Der Werbefeldzug der prorussischen Separatisten um die Herzen und den Verstand der Einwohner läuft: Auf den zahlreichen Plakatwänden, die entlang der Straßen stehen, prangt großformatig die Propaganda. Hier der grimmig dreinschauende Chef der Republik, Alexander Sachartschenko, im Tarnanzug unter Gleichgesinnten und mit dem Spruch »Wir danken den Verteidigern der Heimat«. Dort die etwas ältere Aufforderung »Donbass entscheidet am 2. November – Wählen Sie die Staatsmacht«, die 2014 für die Wahlen in den Separatistengebieten warb. An anderer Stelle wiederum wirbt das »Departement des Verteidigungsdienstes des Innenministeriums« mit dem Slogan: »Die Verteidigung von Ihnen und Ihrem Eigentum – eine der Grundaufgaben des Staates.« Ein Plakat zeigt ein schwarz-weißes Bild, auf dem ein Kind einen Weltkriegsveteranen grüßt, daneben ein farbiges Bild, auf dem ein Kind einen verwegenen DNR-Kämpfer anhimmelt: Die heldenhafte Verteidigung gegen Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg wird im Donbass der prorussischen Separatisten der Verteidigung gegen die Ukraine gleichgestellt.

Was in Donezk auch schon gut funktioniert, ist die Gleichschaltung der Medien und damit die Meinungsmache: In den zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben vom 12. und 27. Februar 2015 der Zeitung Donezkaja Respublika, des offiziellen Organs der Republik mit einer Auflage von 50 000 Exemplaren, prangen beide Male auf der Titelseite Fotos mit Präsident Alexander Sachartschenko. Sogar die Kosaken geben mit dem Kasatschi Dosor ein eigenes Blatt heraus, wenn auch ein dünnes. Eine weitere Gazette ist die Novorossjia. Dann gibt es bereits die Fernsehstationen Novorossija TV und den ersten Kanal der Republik, den Perwii Respublikanskii. Empfangen können die Menschen in Donezk natürlich auch zahlreiche russische TV-Programme, nicht aber die ukrainischen Sender. DAN ist die Donezker Nachrichtenagentur – selbstverständlich auch auf separatistenfreundlicher Linie. Antiukrainische Berichte mit aufpeitschendem Inhalt sind nicht unüblich.

Aller Propaganda zum Trotz: Im Frühjahr 2015 leben in der Stadt Donezk nur noch etwa zwei Drittel der Bevölkerung von vor dem Krieg. Einige sind nach Russland geflohen, viele in die Ukraine. 2013 zählte Donezk noch rund 968 600 Einwohner. Die heutige Metropole entstand erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert. Sie hieß während einer längeren Periode der Sowjetzeit – genauer gesagt zwischen 1924 und 1961 – Stalino, nach dem kommunistischen Diktator Josef Stalin. Zwischen 1941 und 1943 war Donezk von den Deutschen besetzt. Die Bevölkerungszahl sank während des Zweiten Weltkrieges stark. Viele flohen damals, dennoch wurden Zehntausende Einwohner ermordet. Nach dem Krieg zählte die Stadt dann noch etwa 175 000 Einwohner, etwa ein Drittel von vor dem Krieg. In den folgenden Jahrzehnten sollte Donezk kontinuierlich wachsen und sich zu einer der größten Städte der Ukraine und zu einem der wichtigsten Wirtschaftsstandorte entwickeln. Schon früh war die Region bekannt für den Kohlebergbau, der Donbass steht heute sinnbildlich für Schächte und Schwerindustrie. In Bezug auf den aktuellen Krieg in der Ostukraine nicht unwesentlich zu wissen: Gemäß der Statistikabteilung der Donezker Region zählte die Stadt 2004 etwa 48,1 Prozent ethnische Russen und 46,6 Prozent ethnische Ukrainer.

Die humanitäre Lage ist in diesen Tagen nicht zum Besten bestellt. Mit den Folgen des Krieges hat auch das Spital Nr. 2 in Gorlowka zu kämpfen. Gorlowka liegt 45 Kilometer nördlich von Donezk. Auch hier verläuft die Frontlinie entlang des Stadtrands. Das Dach des Kinderspitals wurde beschädigt, es dringt Wasser ins Gebäudeinnere. Viele geborstene Fenster sind nur notdürftig mit Plastikfolien abgedichtet worden. Die vielen Einschusslöcher machen klar, dass hier zwischen zwei Gebäuden ein Feuergefecht stattgefunden haben muss. Das Spital, das sonst schon mit rostigem Inventar und großem Geldmangel gebeutelt ist, muss nun auch noch mit den Auswirkungen der Ukrainekrise fertigwerden. Zudem ist in der Stadt erst vor kurzem eine Durchfallepidemie unter Kindern ausgebrochen, wegen des schlechten Trinkwassers. Man ist auf Hilfslieferungen angewiesen: Bei meinem Besuch werden gerade Medikamente, auch aus Russland, entgegengenommen, gewisse Regale sind schon leer.

Stichwort humanitäre Hilfe: Das Einzige, was wirklich und regelmäßig funktioniert, sind die humanitären Konvois aus Russland. Diese Woche ist der mittlerweile 17. Transport mit mehr als 70 Lastwagen aus dem Nachbarland eingetroffen. Entladen wird er in einer Lagerhalle in Makijiwka, einem Nachbarort von Donezk. Und die Medien sind dabei.

Die Separatistengebiete sind von den internationalen Zahlungsströmen abgeschnitten. Weil die Banken geschlossen sind, müssen sich die Leute etwas einfallen lassen. »Einige Rentner gehen auf die ukrainische Seite oder geben ihre Karten jemandem mit, der dorthin gehen kann, um Geld abzuheben. Zudem gibt es noch unregelmäßige Zahlungen von der Volksrepublik – tausend Griwna. Seit es die Republik gibt, passierte das aber nur zwei Mal. So läuft’s«, schildert Dimitry, mein Übersetzer, der aus Donezk stammt. Die Menschen seien auf die Hilfe von Verwandten angewiesen. Einige könnten arbeiten, beispielsweise in Läden. Zudem gebe es einen Tauschhandel. »Besser als nichts«, meint Dimitry. »Die Leute geben kein Geld aus. Sie bekommen humanitäre Hilfe.« DNR – Donezkaja narodnaja respublika. Seit 2014 nun also ist Donezk die Hauptstadt der selbsternannten Volksrepublik. Und es ist vieles nicht mehr wie früher.

Verzweiflung an der Peripherie

Einige Monate später, im August 2015, mein nächster Besuch im Donezker Separatistengebiet. Der Distrikt Oktyabrsky ist eine dicht bebaute Wohngegend im Norden von Donezk. Man erreicht sie nur durch einen Checkpoint, denn das Gebiet liegt nicht weit vom Flughafen entfernt und damit nahe der Front. Immer wieder kommt es zu Einschlägen von Geschossen. In diesem Sommer gibt es an vielen Frontabschnitten Kampfhandlungen, auch im Großraum Donezk. Es hat hier kaum Leute auf der Straße. Viele Fenster der hier weitverbreiteten mehrstöckigen Wohnblocks sind mit Holz oder Plastikplanen notdürftig geflickt, bei anderen sind die Scheiben zersplittert. Ein Markt mit Ständen ist ausgebrannt. »Warum reagiert Europa nicht?« – Nadeshda Tschegodaeva redet sich in ihrem kleinen Büro in Rage. Sie ist Oberärztin im Spital Nr. 21 des Distrikts Oktyabrsky. Fast jeden Tag gerät das Wohngebiet an der Frontlinie unter Beschuss. Erst am Tag zuvor wurde eine Frau tödlich getroffen, nur zweihundert Meter vom Spital entfernt, bei den Wohnblocks. »Wenn in Europa jemand getötet wird, ist das gleich ein Drama. Der Frau, die getötet wurde, quollen die Organe heraus. Warum stoppen die Europäer Poroschenko nicht?«, fragt Tschegodaeva. »Von der Ukraine erhalten wir nur Granaten und Beschuss.« Dabei habe es in diesem Distrikt doch gar keine Panzer und Soldaten und man sei ein ziviles Krankenhaus. »Es ist unklar, warum sie hier schießen.« Hilfe erhalte man immerhin vom IKRK, von Médecins Sans Frontières und den russischen Hilfskonvois. Aus der Ukraine könne man wegen der Blockade nichts bestellen. Nun stockt Nadeshda Tschegodaeva aber der Wortschwall. Die Tränen stehen ihr in den Augen.

Eine Krankenschwester führt durch das Spitalgebäude. Sie zeigt auf reparierte Fenster. In einem Zimmer sitzen ihr Mann und ihr Sohn auf den Betten. Fünfmal ist ihr Haus getroffen worden und seit es so beschädigt wurde, dass es unbewohnbar ist, ist die Familie im Spital untergebracht. Wenn es hier beim Spital Beschuss gibt, begibt man sich sicherheitshalber auf den Korridor, um nicht von Glassplittern berstender Fenster getroffen zu werden. Die Lage ist unsicher. Im Distrikt Oktyabrsky, wo sich das Spital befindet, leben daher fast nur noch die Leute, die nicht wissen, wohin sie sonst gehen sollten. Geblieben ist hier weniger als die Hälfte der Bevölkerung.

Nicht nur in dem Donezker Wohngebiet nahe des völlig zerstörten Flughafens, auch an vielen anderen Orten wird der Waffenstillstand zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee in diesem Sommer massenhaft gebrochen. Bei einer Autofahrt außerhalb Donezks ist eine Rauchsäule zu sehen; aufgrund ihrer geringen Dichte stammt sie höchstwahrscheinlich von der Detonation eines Explosivkörpers und nicht von einem Feuer. In den Nächten sind im Zentrum Donezk immer wieder Detonationen aus den peripheren Gebieten zu hören. Die Lage ist in diesen Tagen äußerst volatil: Der August 2015, wenige Tage vor dem Schulstart am 1. September, ist einer der Monate mit den meisten Waffenstillstandsverletzungen, wenn man den Zahlen des Ukraine Crisis Center glauben kann.

Tonangebend ist in der Region Donezk das Bataillon Wostok. Kommandiert wird es von Alexander Khodakowsky, der aus Donezk selbst stammt und früher einer Spezialeinheit des SBU, des ukrainischen Geheimdienstes, angehörte. Neben den Bataillonen Spartak und Somali am Flughafen gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Einheiten, die für die prorussischen Separatisten im Einsatz sind. Ihre Flaggen wehen an den Stützpunkten und Checkpoints, die unter ihrer Kontrolle stehen. So beispielsweise die sogenannte russisch-orthodoxe Armee oder die Don-Kosaken aus der Gegend um Rostov am Don in Russland. Diese erschienen erst zum Beginn des Krieges in Donezk, während die wenig einflussreichen ukrainischen Kosaken schon davor in Donezk waren. Zunächst kämpften die russischen Kosaken Seite an Seite mit den Separatisten, doch dann wurden sie kaltgestellt, von den Separatisten entwaffnet. Dies, weil sie angeblich plünderten und zunehmend unkontrollierbar wurden. Die Basis der russischen Kosaken im Donezker Gebiet wurde Opfer eines Feuers.

Die Strukturen festigen sich

September 2017. Der Krieg ist längst zum Alltag geworden. Obwohl an verschiedenen Stellen entlang der vermeintlichen Waffenstillstandslinie nach wie vor gekämpft wird, obwohl immer noch Zivilisten und Soldaten sterben, gibt es einen zivilen Grenzverkehr zwischen der ukrainischen Seite und den Separatistengebieten. Dieser wächst kontinuierlich an. Derzeit funktionieren fünf Übergänge – Stanitsa Luhanska ganz im Nordosten, Hnutove ganz im Süden, Majorsk in der Nähe von Gorlowka sowie die Übergänge Marjinka und Nowotroitske im Großraum Donezk. Die Wartezeiten variieren. Die Warteschlangen sind oft sehr lang, können auf Kilometer anwachsen, teilweise müssen die Menschen bis zu 24 Stunden ausharren, wenn sie mit Autos unterwegs sind. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Menschen, die die Übergänge benutzen, fast verdoppelt. Im Sommer 2017 sind es täglich zwischen 30 000 und 40 000 Menschen. Das ergibt rund eine Million pro Monat.

Bei den langen Wartezeiten sind nicht nur sanitäre Einrichtungen gefragt, sondern auch Wasserspender im Sommer und geheizte Warteräume im Winter. Denn längst nicht alle sind mit dem eigenen Auto unterwegs, es hat auch viele Fußgänger. Das IKRK hat Toiletten installiert, weil sich Menschen, die sich während des Wartens ins Unterholz begaben, um dort ihre Notdurft zu verrichten, wegen Minen und nicht explodierter Munition verletzten. Im Winter wiederum wird vom IKRK Tee in geheizten Unterständen ausgeschenkt.