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Heinz G. Konsalik

Die strahlenden Hände

Roman

hockebooks

14

Das sowjetische Flugzeug, eine TU-Maschine, landete von Frankfurt kommend, auf dem Moskauer Flugplatz Scheremetjewo.

Ein wundervoller, klarer Herbsttag war es, mit einem stahlblauen, wolkenlosen Himmel und einer weißlichen Sonne. Die Russen kannten das; sie blickten hinauf in diese Sonne, nickten erfahrungsträchtig und wussten: Es wird einen langen, kalten Winter geben. Der Frost hängt schon am Himmel. Genossen, richtet euch darauf ein. Lüftet die Wintersachen, kontrolliert die gefütterten Stiefel, flickt die Wattejacken und wattierten Hosen. Und wenn ihr Fenster habt, durch deren Ritzen es zieht: Jetzt ist noch Zeit, sie mit Klebebändern abzudichten – falls es im Magazin Klebebänder gibt.

Das Flugzeug zog einen weiten Kreis über Moskau. Nicht weil das Wetter so schön war und Moskau wie ein wahres Märchen unter ihnen lag mit dem silbern glitzernden Lauf der Moskwa, dem Kreml mit den golden blitzenden Kirchtürmen, den Parks, der grandiosen Universität im Zuckerbäckerstil, den dunklen Wäldern an den weit verzweigten Stadträndern, den wie Goldstücke verstreuten Klöstern und den riesigen Stadionanlagen – sondern weil die Maschine zu früh von Deutschland kam und noch keine Landeerlaubnis hatte.

Corinna saß an einem Fenster vor einer der Tragflächen und blickte hinunter auf diese grandiose, so modern wirkende und doch ewig von Geheimnissen umwobene Stadt. Moskau! Wer hätte vor noch gar nicht langer Zeit daran gedacht, dass sie jemals hierher käme? Inzwischen hatten schon Hunderttausende von Touristen die sowjetische Metropole gesehen. In jedem Reisekatalog wurden Flüge nach Moskau, Leningrad, Jalta und Sotschi angeboten, Fahrten mit der Transsibirischen Eisenbahn bis an die Grenze zur Mongolei, Reisen nach Irkutsk und zum Baikalsee, Ausflüge in die Taiga. Das Sowjetreich hatte sich vorsichtig geöffnet und zeigte der übrigen Welt auf einigen genau vorgezeichneten und gepflegten Routen, wie schön selbst Sibirien, das Land der Tränen, sein konnte. Sibirien war aber auch das Land der Zukunft, war der unerschöpfliche Topf, aus dem Russland seine Stärke und seine Unbesiegbarkeit löffelte. Ein unendliches Land, reicher als alles auf dieser Welt! Die Ewigkeit Russlands. Nur wenige im Westen begriffen das.

Für Ljudmila und Stefan Doerinck war dieses Russland bisher verschlossen geblieben. Sie hatten es nie probiert, wieder in das Land zu kommen; sie hatten einfach Angst gehabt.

»Man soll das Schicksal nicht versuchen«, sagte Ljudmila immer, wenn das Gespräch auf ihre Heimat kam und wenn Bekannte erzählten, sie seien drei Wochen am Schwarzen Meer gewesen, bestens verpflegt, in Luxushotels wohnend, umgeben von einem Komfort, der an der Riviera oder an Spaniens Goldküsten, auf Teneriffa oder Madeira nicht anders sei. Weiße Strände, Ausflugsboote, Kurkonzerte, Tanzabende, in Sotschi sogar Oper und Ballett, ein Puppentheater und ein Zirkus. Und welche Herzlichkeit bei den Menschen! »Ihr habt nicht das Haus des KGB gesehen – dort würde ich hinkommen, wenn ich nach Poti, in mein Geburtshaus, wollte. Nein, ich werde Russland nie mehr Wiedersehen …«

Nun war alles anders gekommen. Nun schwebten sie langsam über das in der kalten Sonne funkelnde Moskau, drückten die Nasen an den Fensterscheiben platt, das Herz schwer von so viel erschauter Schönheit und von der bangen Erwartung: Wie wird es sein, wenn wir gelandet sind? Wie empfängt man uns? Was wird man spätestens bei der besonders strengen Passkontrolle sagen? Wird man den Pass durchblättern, ernst aufblicken und mit einer fast maschinellen Stimme sagen: »Ljudmila Davidowna? Kommen Sie mit in den Nebenraum!«

Ljudmila saß steif da, mit durchgedrücktem Kreuz, als höre sie schon die kalte Stimme des Milizionärs. Ihr Platz war am Fenster hinter ihrer Tochter Corinna. Ihre linke Hand hatte sie fest in die Hand Stefans gedrückt, der neben ihr auf dem Sitz angeschnallt war und an ihrem Kopf vorbei die Stadt sehen konnte, wenn sich das Flugzeug bei seiner Schleife auf die Seite neigte. Wieder eine Reihe hinter ihnen hockte Dr. Hambach. Er hatte einen Stadtplan von Moskau auf den Knien, einen schönen gezeichneten Plan »Moskau aus der Vogelperspektive«, und freute sich kindisch, wenn er jetzt Straßen, Gebäude, Parks und Kirchen aus dieser Höhe identifizieren konnte.

Am gelassensten reagierte Marius Herbert. Er hatte den Kopf nach hinten gelehnt, die Augen geschlossen und hütete sich, Corinna zu gestehen, dass ihm kotzeschlecht war. Er hatte bisher, von Frankfurt bis Moskau, ein paar Wodka getrunken, Die spürte er jetzt, zusammen mit dem Brathuhnschenkel, den es als Mittagessen gegeben hatte. Die ganze herzergreifende Schönheit der Stadt aus dieser Höhe blieb ohne Nachhall in seiner Seele; er dachte nur: Welch einen mörderischen Wodka haben die hier! Das ist mir noch nie passiert! Oder war das Hühnerbein verdorben? Man müsste jetzt mal so richtig rülpsen können! Die Maschine drehte ab, ging tiefer und überflog ein großes Waldgebiet. Der Flugplatz Scheremetjewo hatte endlich die Landeerlaubnis gegeben. In wenigen Minuten würde man auf sowjetischer Erde stehen. Ljudmila verstärkte den Druck in Stefans Hand und wurde noch steifer. Er tätschelte ihren Arm, beruhigend, Mut machend, mit einem stummen Lächeln.

Dem Flug nach Moskau waren erregende drei Wochen vorausgegangen.

Auf Corinnas Zusage, nach Moskau zu kommen, reagierte die sowjetische Botschaft teils erfreut, teils zurückhaltend. Die Kulturabteilung, die den Besuch vorbereiten sollte, fragte zunächst in Moskau zurück, was man antworten solle, denn Corinna Doerinck hatte in ihrem Brief unter anderem geschrieben: »Meinen Aufenthalt in der UdSSR muss ich davon abhängig machen, dass mich folgende Personen begleiten dürfen: Mein Vater Stefan Doerinck, meine Mutter Ljudmila Davidowna Doerinck, mein Verlobter Marius Herbert und Herr Dr. Ewald Hambach, Arzt in Hellenbrand. Ich bitte um Mitteilung, ob das möglich ist. Selbstverständlich werden alle Kosten von den einzelnen Personen getragen, sodass den staatlichen Stellen keinerlei Unkosten entstehen …«

Die Antwort aus Moskau kam sofort per Fernschreiber: genehmigt. Im Interesse der Forschung ist es selbstverständlich, dass das Institut von Professor Neroschenko die gesamten Kosten übernimmt. Fräulein Doerinck und ihre Begleitung sind Staatsgäste der UdSSR.

»Das klingt gut«, sagte Doerinck, als die Botschaft diese Entscheidung mitteilte. »Damit dürfte auch Ljudmilas Sicherheit garantiert sein. Wir sollten es wagen.«

»Ein Vorschlag von mir.« Dr. Roemer, dem es von Tag zu Tag besser ging, obwohl er nach ärztlicher Berechnung längst mit qualvollen Schmerzen hätte in der Klinik liegen müssen, fächelte sich mit dem Brief der Botschaft Luft ins Gesicht. Er hatte zehn Pfund abgenommen, was man bei seinem kolossalen Körper nicht sah, aber er merkte es dennoch am Kreislauf, der weniger labil geworden war. Die Diät, die Ljudmila ihm nach Corinnas Zusammenstellung kochte, mampfte er tapfer hinunter. Manchmal brüllte er herum, er komme sich wie ein Karnickel vor, nur zum Rammeln gäbe es nichts. Dr. Hambach gegenüber schwor er, sein erster Ausflug nach der Heilung gelte seinem Freund Krautkrämer am Hiltruper See, um dort bei einer Flasche vom besten Burgunder einen gespickten Hirschrücken zu verschlingen. Erst dann werde er wieder ein vollgültiger Mensch sein, hatte er seine Sehnsuchtsarie beendet.

»Mein Vorschlag wäre«, sagte er jetzt, »Corinnas Moskaureise groß in die Presse zu bringen. Das macht es den Russen unmöglich, einen der Teilnehmer verschwinden zu lassen, weil so was einen ungeheuren Rummel hervorriefe, den sie sich nicht leisten können.«

Corinnas Brief war außerdem auch noch eine heiße Diskussion unter vier Augen mit ihrem Vater vorausgegangen. »Wieso soll dieser Kerl mit nach Moskau?«, hatte Stefan Doerinck gefragt, als er Herberts Namen las.

»Er ist kein Kerl – in dem Sinne, wie du es meinst.«

»Heißt das: Ich muss mich auf die Dauer an ihn gewöhnen?«

»Vielleicht.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Meine Tochter und ein hergelaufener Spinner!«

»Ich bin dreißig Jahre alt, Vater. Es ist mein Leben!«

Auch das sagte sie ganz ruhig. Aber wenn sie Stefan Doerinck statt mit »Papa« oder »Papuschka« ganz nüchtern mit »Vater« anredete, dann wusste er, dass es keinen Sinn mehr hatte, weiter in sie zu dringen. Das steife »Vater« war immer ein Alarmsignal gewesen; das hatte er ein paarmal erlebt, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte – und es auch tat. Zum Beispiel damals beim Abbruch des Medizinstudiums. Dann – rätselhaft für ihn, weil er von ihrer Panik nach den Liebesnächten mit Holger Bernau ja keine Ahnung hatte – die Zeit, als sie mit traurigen Augen sinnlos irgendwo herumhockte. Später gab sie die Heilpraktikerausbildung vorzeitig auf und gründete ihre Teppichknüpfwerkstatt, die entgegen Doerincks Prophezeiungen ein großer Erfolg wurde. Und nun hatte sie sich diesen Marius Herbert angelacht! Stefan Doerinck gab es auf, seine Tochter zu begreifen. Nur wenn er Marius ansah, spürte er ein schmerzliches Ziehen in seinem Herzen. Bei Dr. Roemer konnte er mit seinen Vatersorgen nicht landen. »Aber, aber, lieber Stefan!«, dröhnte der Riese und klatschte in die Hände. »Du siehst nur seine abgewetzte Hose. Aber was in der Hose ist, das kann nur Corinna beurteilen! Halt dich da raus, mein Junge!« Und Dr. Hambach sagte weise: »Stefan, ich kenne Bilder von früher, die dich ohne Uniform zeigten – was für ein Hering warst du damals! Nur die Uniform machte dich ansehnlich. Und trotzdem hast du diesen Engel Ljudmila bekommen, und sie ist bei dir geblieben.«

An einem dieser Tage gelang es Dr. Willbreit endlich, mit Roemer zu telefonieren. Zunächst war natürlich Dr. Hambach am Apparat, blickte hinüber zu Roemer, der im Sessel saß und lauwarmes Mineralwasser schlürfte, und sagte so laut, dass Roemer es ohne Schwierigkeiten mithören konnte: »Ah, das ist schön, dass Sie von sich hören lassen, Herr Professor. Ich wollte auch schon bei Ihnen anrufen. Wie stehen die Aktien?«

»Welche Aktien?«, fragte Willbreit unvorsichtig zurück.

»Ihre Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft.«

Roemer seufzte laut, beugte sich nach vorn und hörte angespannt zu.

»Die Dinge laufen.« Willbreits Stimme war kühl. »Kann ich Erasmus sprechen?«

»Ich weiß nicht, ob er Sie sprechen will.«

»Er soll sich selbst in den Arsch beißen!«, brüllte Roemer. »Ich kann’s leider von hier aus nicht.«

»Ich habe es gehört.« Willbreit hatte im Laufe seiner Freundschaft mit Roemer schon so manches runterschlucken und verzeihen müssen – das heute war das wenigste. »Trotzdem. Holen Sie ihn an den Apparat.«

»Er will dich unbedingt sprechen«, gab Dr. Hambach weiter.

»Nein!«, schrie Roemer.

»Fragen Sie ihn«, sagte Willbreit, »ob er ein Feigling sei?«

»Bist du ein Feigling, Erasmus?«

Es gibt keinen Mann, der darauf nicht sofort reagiert. Roemer stemmte sich hoch, riss Hambach das Telefon aus der Hand und röhrte: »Nun hör mal zu, du Körperaufschneider …«

»Nein! Du hörst mir zu!«, schrie Willbreit zurück. »Elise will sich scheiden lassen …«

»Es jubiliert die Vogelschar, wie’s nur bei Vögeln möglich war!«

»Das wird ein Bombenskandal, Erasmus.«

»Was kann mich das noch berühren? Pass nur auf, alter Junge, dass Elise deine Lydia nicht ansteckt.«

»Es geht um dich, Erasmus! Wie fühlst du dich gesundheitlich?«

»Blendend. Das Ergebnis der letzten Röntgenkontrolluntersuchung in Billerbeck bei Dr. Meersmann ist hervorragend. ›Da kann man tatsächlich nur von einem Wunder sprechen‹, hat Meersmann gesagt und gestaunt. ›Ich gestehe: Das habe ich noch nicht gesehen und auch vorher nicht geglaubt!‹ So steht’s mit mir. Und auch sonst wird bald wieder manches stehen!«

Willbreit schwieg einen Moment. Roemers Nachricht war ein Faustschlag. Wenn die fantasievolle Geschichte, dass seine unheimliche Krankheit zurückgegangen sei durch bloßes Streicheln mit den Händen, wirklich die Runde machen sollte, dann würde dies der Schulmedizin großen Schaden zufügen und erregte Diskussionen entfachen. Das war genau das, was man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gebrauchen konnte. In den letzten Tagen war die Öffentlichkeit aufgescheucht worden durch Berichte über Kunstfehler eines bekannten Ordinarius für Orthopädie, dem irreparable Fehloperationen unterlaufen waren. Neun Männer und Frauen, durch seine Operationen zu lebenslangen Krüppeln geworden, hatten Anzeige erstattet. Was Willbreit aber am meisten erregte, waren die Gutachten, die zwei Opfer des Orthopäden vorlegten. Gutachten eines namhaften Professoren-Kollegen, der sich nicht scheute, zu behaupten: »Ein Taxifahrer muss sich alle zwei Jahre auf seinen Gesundheits- und Geisteszustand untersuchen lassen, weil ihm Menschen anvertraut werden. Nur ein Chirurg – und ein Arzt überhaupt – kann unbeaufsichtigt und unbeschränkt praktizieren, bis er vielleicht mit achtzig oder neunzig umfällt. Niemand kontrolliert seinen Geisteszustand, obwohl Hunderte von arglosen, gutgläubigen Menschen durch seine Hände gehen.«

Und nun das! Die Heilung einer kritischen Krankheit durch strahlende Hände. Zum zweiten Mal das Unbegreifliche nach Ljudmilas verschwundenem, das heißt ausgetrocknetem Darmkrebs. An seinen Schläfen spürte Willbreit plötzlich das pulsierende Blut.

»Können wir uns irgendwo treffen, Erasmus?«, fragte er.

»Nein.«

»Bei Krautkrämer …«

»Noch nicht. Dort hebe ich, wenn es soweit ist, mein zweites Leben aus der Taufe, dass die Dachziegel wegplatzen! Ich lade dich dazu ein, Thomas, sobald Corinna zu mir gesagt hat: Jetzt bist du gesund.«

»Komm wenigstens für einen Tag nach Hause«, sagte Willbreit fast bittend.

»Wo ist mein Zuhause?« Roemer schlug mit der Faust gegen die Wand. Willbreit hörte es deutlich. »Wo?«

»Erasmus! Du hast eine so schöne Villa, den Park, den Fischteich, deine Antiquitäten, die Sammlung Meißener Porzellan …«

»Vom Geld meines Schwiegervaters! Als ob ich nicht wüsste, dass man meinen Titel und meine gesellschaftliche Stellung gekauft hat. Jetzt, wo Elise mit einem ungarischen Grafen auf der Matratze gelegen hat, sieht das auf einmal anders aus. Da kann man sich scheiden lassen. Frau Gräfin ist mehr als Frau Landgerichtsdirektor. So ist das, mein lieber Thomas! Aber ich mache es ihr leicht: Ich bleibe hier im Grünen, und wenn ich gesund bin, werde ich durch die Gegend wandern … die Steinfurter Aa entlang, durch die Risauer Berge und runter über Nottuln nach Coesfeld durch die Roruper Mark … Mein Gott, die Welt ist so schön und weit! Es gibt Pellkartoffeln mit Quark, Bauernstuten mit Butter und Knochenschinken, Pfefferpotthast und Knabbeln, Möpkesbrot und Graupensuppe, Grünkohl mit Speck und Luftgeräuchertem, Bohnen durcheinander und Wellfleisch. Und zu allem gehört ein Klarer, ein Münsterländer Doppelkorn – ihr wisst ja alle nicht, wie schön das Leben ist! Was ihr verpasst in eurem Salonmief! Welch ein Glück es ist, auf einer Hügelkuppe zu stehen und über das Land zu blicken, über die verstreuten Höfe, die Felder, die Waldgruppen, die Heide … Da ist ein Frieden, den man regelrecht in sich einsaugen kann.«

»So friedlich, dass man Häuser niederbrennt und mit Giftpfeilen schießt …«

»Was weißt du darüber, Thomas?«

»Nur, was man überall lesen konnte und was so durchsickert. Kann ich dich wieder besuchen, Erasmus?«

»Du bleibst dabei, dass gegen Corinna staatsanwaltlich ermittelt wird?«

»Die Sache läuft nun mal, Erasmus.«

»Dann leck mich bis zu deinem Lebensende am Arsch!«, brüllte Roemer und hieb wieder gegen die Wand. Hambach wunderte sich, dass das alte Gemäuer so etwas aushielt und die Wand nicht zusammenfiel. »Und nenne dich nie mehr meinen Freund! Ich werde das als Beleidigung und Ehrabschneiderei betrachten!«

Er feuerte den Hörer zurück, drehte sich zu Dr. Hambach um und sagte fett: »So! Das hätten wir! Mir ist jetzt richtig wohl, wie nach einer Sturzgeburt.«

»Es fragt sich nur, ob das klug war. Nun hast du einen Feind mehr.«

»Nicht Willbreit! Ihr kennt ihn alle nicht. Der Knabe ist sensibler als eine Seeanemone. Seinen harten Panzer hat er sich nur als Chirurg zugelegt. Der sitzt jetzt am Schreibtisch wie ein verlassener Hund. Und das mit Lydia, seiner Frau, ist ein Drama. Wenn er sie so gründlich beschlafen würde, wie er seine Klinik liebt …« Roemer winkte ab. »In Wirklichkeit ist Willbreit ein armes Würstchen. Sein Beruf frisst ihn mit Haut und Haaren. Ein Arzt aus Leidenschaft, der außerdem noch etwas kann! Und eingewickelt in eine Eitelkeit, die er Ethos nennt. Der Mensch ist schon ein verrücktes Geschöpf!«

Noch ein anderer Arzt fand genauso wie Roemer zu neuer Lebensfreude zurück: der Lungen-Experte Dr. Wewes aus Münster. Nach sieben Behandlungen durch Corinna ließ er sich von einem völlig neutralen und unbeeinflussten Kollegen untersuchen. Er fuhr deshalb extra nach Hamburg, legte sich im Eppendorfer Krankenhaus eine Woche auf die Innere Station und ließ sich durchtesten. Bei Professor Dr. Balthoff deutete er an, dass er ein Gallenempyem befürchte. Das wirkte wie ein Alarm. Balthoff setzte zur Diagnose alles ein, was die moderne Medizin zur Verfügung hatte. Dr. Wewes durchlief ein wahres Labyrinth von Untersuchungen. Am Ende dieser Diagnostikwoche saß er Professor Balthoff gegenüber, erwartungsvoll wie ein Angeklagter vor seinem Richter.

»Wer hat Ihnen eigentlich dieses Gallenempyem eingeredet?«, fragte Balthoff kopfschüttelnd. »Lieber Kollege, da ist nichts, rein gar nichts! Ich möchte nicht weiter fragen, aber ich kann Sie beruhigen.«

Dr. Wewes atmete auf. Die genauen Untersuchungen damals in Münster mit ganz entgegengesetzten Ergebnissen waren ihm noch gegenwärtig, als seien sie gestern gewesen. Wie fast alle Ärzte hatte er vor eigenen Erkrankungen eine tiefsitzende Angst, ja er konnte da sogar in Panik geraten, er gehörte nicht zu jener Sorte von Ärzten, die alarmierende Erscheinungen am eigenen Körper ignorierten und gleichzeitig von ihren Patienten höchste Wachsamkeit verlangten.

»Ich hatte ein Fachgutachten«, sagte er befreit. »Man empfahl mir eine sofortige Cholezystektomie. Wobei man durchblicken ließ, dass eine Pankreasbeteiligung nicht auszuschließen sei.«

»Rätselhaft.« Professor Balthoff blätterte noch einmal, etwas nervös, in den Untersuchungsakten. Die Befunde waren einwandfrei und klar. Negativ. Kollege Wewes war gesund wie ein Fisch im reinen Wasser. »Ich will dem Kollegen in Münster nicht zu nahe treten – aber auch bei intensivster Behandlung kann sich ein Empyem in so kurzer Zeit nicht ausheilen lassen. Zumal eine Operation dann wirklich angezeigt gewesen wäre. Sie geben uns da eine harte Nuss auf, lieber Kollege Wewes …«

Am nächsten Abend schlich sich Dr. Wewes, wie immer seit dem Beginn seiner Behandlung, von hinten durch den Garten in Doerincks Haus. Stefan Doerinck, der ihn vom Arbeitszimmer aus kommen sah, ging hinüber in das Wohnzimmer. »Unser Indianer Schleichfuß kommt wieder«, sagte er. »Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, kommt mir die Galle hoch. Sich von Corinna heilen lassen, aber zu feig, dazu zu stehen!«

»Feigheit ist die hervorstechendste menschliche Eigenschaft«, knurrte Dr. Roemer. Er war herübergekommen, weil Ljudmila angekündigt hatte, sie werde einen echten kaukasischen Schaschlik machen. Mit Lammfleisch von der Keule, Zwiebeln und Tomaten. Nach dem Braten überstrich sie das Fleisch mit einer Beize aus Olivenöl und Minze. »Und wenn mich das vier Wochen zurückwirft«, hatte Roemer gejubelt, »ich komme!«

»Wenn ich sage, ich bin Ihnen immer Dank schuldig, Corinna«, sagte Dr. Wewes kurz darauf in Doerincks Arbeitszimmer, wohin sie sich beide zurückgezogen hatten, »dann wäre das so, als würde man in eine Sammelbüchse für Blinde einen Hosenknopf werfen. Ich möchte Ihnen helfen. Aber wie? Man hat ihr Haus angezündet … wenn Sie für den Neubau eine finanzielle Unterstützung brauchen … verfügen Sie über mich.«

»Ich brauche kein Geld.« Corinna hatte Dr. Wewes noch einmal in höchster Konzentration abgetastet und mit ihren Fingerspitzen gespürt, dass er geheilt war. Solche Erlebnisse erschütterten sie immer wieder. Wenn die Kranken durch die Kraft ihrer Hände symptomfrei geworden waren, kam sie sich jedes Mal vor wie ihr eigener Patient: Sie begriff nicht, dass so etwas möglich war. Sie lebte mit einem Rätsel, mochte es auch noch so umfangreiche wissenschaftliche Erklärungen geben, geheimnisvoll klingende Namen und im Experiment bewiesene Forschungen. Irgendwie blieb es, so sehr man sich gegen diesen Begriff wehren mochte, ein Wunder. Es war alles erklärbar – und doch unbegreiflich.

»Jeder, der zu mir kommt, legt Geld auf den Tisch. Der kleinste Schein ist ein Fünfzigmarkschein. Noch ein halbes Jahr dieser Andrang, und ich könnte mir eine große Villa bauen.«

»Dann tun Sie es, Corinna!«, sagte Dr. Wewes eindringlich. »Bauen Sie eine eigene Klinik. Ich helfe Ihnen dabei.«

»Sie wissen wie jeder meiner Patienten, dass ich kein Geld nehme. Ich will dafür kein Geld.«

»Und was machen Sie mit den vielen Scheinen?«

»Sie liegen da. Ich rühre sie nicht an. Nur Marius führt täglich genau darüber Buch. Er weiß als einziger, wieviel es ist.«

»Und was soll mit dem sich immer mehr ansammelnden Vermögen geschehen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe es nicht verlangt, man hat es dagelassen, und so liegt es noch herum. Ich weiß es wirklich nicht …«

Umso besser glaubten es die Finanzbehörden zu wissen. Zehn Tage vor Corinnas Abflug nach Moskau erschienen eines Morgens, sehr früh, zwei höfliche Herren im Zelt, wiesen einen Ausweis vor und stellten sich als Beamte der Steuerfahndung Münster vor. Im Zusammenhang mit der Strafanzeige, die von der Ärzteschaft gegen Corinna eingereicht worden war, lief auch eine Anzeige bei der Finanzdirektion ein. Um schnell handeln zu können, bekam die Steuerfahndung den Hinweis auf die »merkwürdige Heiltätigkeit der Corinna Doerinck«.

Corinna und Marius befanden sich noch allein im Zelt. Zwar waren schon eine Menge Wagen auf dem Parkplatz vorgefahren, aber da die Sprechstunde erst um neun Uhr begann, herrschte noch tiefe Stille vor dem Zelt.

Herr Wackmüller und Herr Piering – der eine Steuerrat, der andere Oberinspektor – kamen, obwohl sie der Anblick Corinnas beeindruckte, sofort zur Sache.

»Sie haben dem Finanzamt über vier Monate lang keinerlei Angaben über Ihre Einnahmen gemacht«, sagte Steuerrat Wackmüller und setzte sich auf einen Stuhl im sogenannten Warteraum. Oberinspektor Piering blickte sich interessiert um. Eine leichte Aufgabe – bei einer Hausdurchsuchung war dieses Zelt mit seinen paar abgeteilten Zimmern gut zu übersehen.

»Ich hatte keine Einnahmen. Meine Werkstatt und mein Haus sind abgebrannt.«

»Und wovon leben Sie?«

»Vom Ersparten und von Zuwendungen meines Vaters.«

»Und Ihre – sagen wir: Heiltätigkeit?«

Es klang so mokant, dass Marius Herbert bedauerte, Wackmüller nicht vom Stuhl reißen, in den Hintern treten und hinauswerfen zu können.

»Die ist unentgeltlich.«

»Können Sie das beweisen?«

»Fragen Sie alle, die hier gewesen sind.«

»Es ist uns aber bekannt, dass die Kranken Geld hinterlassen.«

»Das stimmt.«

Wackmüller und Piering wechselten einen schnellen Blick. »Aha!«, hakte Piering ein. »Eben sagten Sie noch, Sie behandelten unentgeltlich.«

»Das stimmt.«

»Aber Sie nehmen doch Geld ein.«

»Nein.«

»Sie haben eben bestätigt, dass die Patienten Geld hierlassen.«

»Ja, aber ich nehme es nicht ein.«

»Fräulein Doerinck!« Steuerrat Wackmüller holte zischend Luft. »Es geht hier nicht um germanistische Begriffe. Die Kranken lassen Geld hier, also ist das Ihre Einnahme.«

»Nein.«

»Erklären Sie das bitte!«, sagte Piering ziemlich steif. Wenn sie uns hier verarschen will, dachte er wütend, ist sie bei den Richtigen gelandet. Mit uns nicht mein Fräulein, auch wenn Ihre Hände angeblich noch so sehr leuchten. Wenn alles möglich ist, eins ist sonnenklar: Beim Finanzamt gibt es keine Wunder! Man müsste dann schon Politiker sein, da ist so manches wunderbar.

»Das ist ganz einfach«, fuhr Marius dazwischen, ehe Corinna antworten konnte. »Die Kranken kommen, legen beim Hinausgehen einen Schein in eine große Zinnschale, und da bleibt es, das Geld. Jeden Abend nehme ich es heraus, zähle es, trage es in einem Buch ein und schließe es weg. Dort, im Schrank, liegt es noch! Unberührt.«

»Was Sie mit dem Geld tun, ist Ihre Sache.« Steuerrat Wackmüller knackte mit den Fingern. »Nur versteuern müssen Sie es.«

»Nein«, sagte Corinna und schüttelte den Kopf.

»Aber ja! Es sind Einnahmen …«

»Durchaus nicht. Es sind Geschenke.«

»Auch Geldgeschenke müssen Sie versteuern. Fortwährende freiwillige Zahlungen sind Einnahmen.«

»Nein. Ich nehme diese Geschenke ja nicht an.«

»Aber das Geld liegt doch hier.«

»Genau. Es liegt. Unberührt. Ich will es nicht! Es ist hingelegt worden, es liegt da, aber ich will es nicht.«

»Gewissermaßen ist es eine Fundsache«, sagte Marius genüsslich. »Bis zum heutigen Morgen sind es genau« – er schlug ein Notizbuch auf und hob etwas die Stimme – »zweiundsechzigtausendvierhundert Deutsche Mark. Toll, was? Und heute Abend werden es sicherlich fünfundsechzigtausend Mark sein. Das Geld vermehrt sich wie die Karnickel.«

»Fünfundsechzigtausend Mark!« Steueroberinspektor Piering holte tief Luft. Das war mehr, als sein Jahresgehalt ausmachte. Was man mit Hokuspokus alles verdienen kann! Nicht dass er neidisch war – ein Steuerbeamter, der voll Neid die Steuererklärungen liest, ist fehl am Platze –, aber er fand es ungerecht. »Die müssen Sie versteuern.«

»Nein … sie gehören uns nicht!«, sagte Marius mit bewusst gequälter Stimme.

»Wem sonst?«

»Denen, die das Geld einfach hingelegt haben. Wir wollen es ja nicht.«

»Aber es ist nun mal da!«, rief Wackmüller erregt.

»Das eben ist das Problem. Hier liegen fünfundsechzigtausend Mark, und keiner will sie haben. Was schlägt das Finanzamt vor? Was soll damit gemacht werden? Kann man von einem Geld, das keinem gehört, Steuern verlangen? Wem soll die Zahlungsaufforderung zugeschickt werden? Wer bekommt eine Steuernummer? Stehen dieser Steuernummer die üblich Abzüge zu? Wer soll überhaupt die Steuererklärung schreiben?«

»Halten Sie uns nicht zum Narren!«, rief Piering mit gerötetem Gesicht. »Sie haben das Geld angenommen. Sie haben demnach für die steuerliche Behandlung zu sorgen.«

»Wir haben nichts angenommen. Ich wiederhole: Es wurde gegen unseren Willen hingelegt und wird von uns nur aufbewahrt, bis sich die Besitzer wieder melden und es vielleicht wieder abholen.«

»Das ist doch völlig ausgeschlossen!«

»Genau das befürchte ich auch.« Marius Herbert grinste »Was ist da zu tun? Sie sind die Fachleute!«

»Wir können das Geld einziehen!«, sagte Wackmüller finster.

»Bitte! Ich werde zu diesem Akt sofort Fernsehen und Presse laden.«

»Sie drohen uns?«, rief Piering aufgebracht.

»Drohen? Wir leben in einem demokratischen Land, und jeder amtliche Akt ist öffentlich von Interesse. Wenn die Rechtslage so klar ist, wundert es mich, dass Sie bei Erwähnung der Presse und des Fernsehens so explosiv reagieren.«

Man muss der Ehrlichkeit halber zugeben: Wackmüller und Piering waren nicht zu beneiden. Es war in ihrer Praxis noch nie vorgekommen, dass ein großer Geldbetrag herumlag, geschenkt und gestiftet, und niemand wollte ihn haben. Geld im Niemandsland … Natürlich konnte man es als »Fundsache« zugunsten des Staates einziehen, aber das hätte in diesem Fall zu einem Aufsehen geführt, das man unbedingt vermeiden wollte.

Wackmüller und Piering wechselten wieder ein paar verständigende Blicke und beschlossen, die Entscheidung über diesen kniffligen Fall dem Leiter der Steuerfahndung zu überlassen. Steuerrat Wackmüller verlangte die nicht angerührte Geldsumme zu sehen, zählte die Scheine durch, verglich sie mit den Aufzeichnungen von Marius Herbert und fertigte darüber eine Notiz an. Noch einmal wurde es kritisch, als Oberinspektor Piering, der auf seine Beförderung wartete, erwähnte: »Die Geldsumme stimmt. Wer aber beweist uns, dass nicht vorher ein Betrag abgezweigt wurde und hier natürlich nur das Geld aufgeführt wird, das man übrigließ? Pro Tag so zweihundert Mark beiseite, das fällt ja gar nicht auf.«

»Diesen Satz werden wir uns merken!« Marius Herbert ging zur Tür und riss sie auf. Es war eine unmissverständliche Geste. »Sie bezichtigen uns also des Diebstahls, der Unterschlagung, der Steuerhinterziehung und was weiß ich noch alles!«

»Es war nur so ein Gedanke«, schwächte Piering ab.

»Dafür danken wir!«

Mit verbissenen Gesichtern verließen die Beamten das Zelt, stiegen in ihren Wagen und fuhren nach Münster zurück. Denen werden wir’s zeigen, dachten sie. Die werden noch auf dem Zahnfleisch herumkriechen. Sich mit dem deutschen Fiskus anzulegen, dazu gehören Nerven. Und außerdem: Was auch kommen mag, das Finanzamt hat immer den längeren Arm. Wer einmal angespitzt worden ist, wird auch in den Boden gerammt, früher oder später. Das Finanzamt vergisst nie einen Widerstand.

Am Nachmittag schaltete sich Dr. Roemer wieder ein. Er hörte sich den Bericht von Corinna an, schnaufte laut und wählte die Nummer des Finanzamtes. Der Vorsteher, ein Leitender Regierungsdirektor, war nicht im Haus; der Stellvertreter behauptete, er wisse von nichts; der Chef der Steuerfahndung war ebenfalls unterwegs, und Wackmüller und Piering hatten sich im Amt noch nicht gemeldet.

»Das wird Folgen haben!«, brüllte Roemer den ahnungslosen stellvertretenden Vorsteher an. »Dieser Auftritt stinkt zum Himmel!«

Es war natürlich ganz klar, dass solche Reden keinerlei Wirkung hinterließen, es sei denn negative. Im öffentlichen gesellschaftlichen Leben gibt es zwei Gottheiten: die berühmten »Götter in Weiß«, die Medizinprofessoren in den Krankenhäusern – und die noch mächtigeren Götter in den Finanzburgen.

Aus Holland rief Professor van Meersei an, nachdem er von der Einladung nach Moskau erfahren hatte. Er war doppelt enthusiasmiert – einmal, weil Corinna von den besten Parapsychologen und PSI-Forschern der Welt empfangen werden würde; zum zweiten, weil jetzt feststand, dass Corinnas Behandlung ihn endlich von dem bisher unheilbaren Nasenzucken befreit hatte. Was die besten Neurologen nicht geschafft hatten – nach neunmaligem Streicheln über van Meerseis Gesicht kapitulierten die Nerven, und van Meerseis Nase benahm sich gesittet wie alle anderen Zinken. Die bewundernden Worte, die van Meersei durchs Telefon rief, kamen schon einer Hymne gleich. Er teilte mit, dass er mit der großen Abhandlung über seine Zeit bei Corinna gut vorankomme. Er wolle sie in alle Kultursprachen übersetzen lassen, damit das Phänomen Corinna weltweit bekannt werde.

Und noch etwas teilte er mit: Marikje Kerselaar, die Wunderheilerin mit angeblichen Beziehungen zum königlichen Haus, war vor vier Tagen plötzlich zusammengebrochen und musste in eine Klinik gebracht werden. Man konnte sie nicht fragen, ob sie damit einverstanden war, ihr Geist hatte sich verwirrt. Bei einer gründlichen Generaluntersuchung wurde bei ihr ein Plasmozytom festgestellt. Unheilbar. Ein Todesurteil.

»Ich hab’ es ihr gesagt.« Corinna senkte den Kopf. Wieder überfiel sie eine Art Entsetzen vor sich selbst. »Sie wollte es mir nicht glauben.«

»Du … du hast es gewusst?«, rief van Meersei mit Trompetenstimme. »Eine solche Krankheit? Das ist ja phänomenal!«

Corinna presste die Lippen zusammen und atmete pfeifend durch die Nase. Sie spürte ihren Herzschlag im Hals. »Ich bekomme Angst vor mir, könnt ihr das verstehen?«

Aus dem Labor des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden kam endlich die Analyse des Giftes, mit dem der Pfeil getränkt war, der Molly getötet hatte. Es war ein seltenes, sofort wirksames Gift aus einer Knolle, die nur in Indonesien wuchs. Die Eingeborenen auf Borneo und Celebes hatten es früher benutzt für ihre Blasrohrpfeile. Es war heute nur noch den Toxikologieexperten bekannt … ein ausgestorbener Exote. Kriminaloberrat Fernich sagte es so: »Wir werden gegen eine Wand laufen! Wer kennt in Hellenbrand dieses seltene Gift? Wie kommt jemand hier bei uns an solch ein Zeug? Wer kann mit einem Blasrohr umgehen? Ausgerechnet in Hellenbrand! Ich möchte da mal herumfragen, wer überhaupt Celebes kennt! Bürgermeister Beiler könnte sicher beschwören, dass noch nie ein Hellenbrander auf Borneo oder Celebes gewesen ist. Dieses Gift aber im Kochtopf auf dem Herd herstellen, das kann keiner. Die Chemiker sagen, die Destillation des Giftes aus dem Wurzelsaft sei eine langwierige und schwierige Sache und bei den Urvölkern allein den Medizinmännern vorbehalten gewesen. Wir werden da nie weiterkommen.«

»Dann muss es jemand gewesen sein, der mit den vielen Heilungssuchenden hierhergekommen ist.«

»Sie sagen es, Herr Landgerichtsdirektor.« Fernich war froh, diesen verrückten Fall vorerst als Aktenleiche schlummern lassen zu können. »Falls sich nicht zufällig ein Zeuge meldet, stehen wir auf dem Schlauch. Das Umfeld von Corinna Doerinck ist nicht mehr überblickbar.«

In all diesen Tagen, in denen sich wieder Kolonnen von Autos nach Hellenbrand schoben und aus allen Gegenden Deutschlands Omnibusse voller Kranker anrollten, in letzter Zeit auch aus Holland, Belgien und sogar Frankreich, wo clevere Omnibusunternehmer in Zeitungsanzeigen Wochenendausflüge zu den »Strahlenden Händen« anboten, was den Gastwirten der weiteren Umgebung von Hellenbrand ein dickes Zusatzgeschäft brachte, denn die meisten Kranken kehrten bei solchen Fahrten aus dem Münsterland vollgefressen und stockbetrunken von Korn und Pils, singend und schunkelnd in Heimat zurück – in diesen arbeitsreichen und zermürbenden Tagen entschied sich auch endgültig die Moskaureise von Corinna.

Die sowjetische Botschaft teilte noch mal mit, dass der Antrag genehmigt sei. Man habe zugestimmt, dass Stefan Doerinck, Ljudmila Doerinck, Marius Herbert und Dr. Hambach sie begleiten könnten. Die Kosten übernehme die Akademie der Wissenschaften in Moskau. Dem Schreiben lagen die Formulare zur Erteilung der Visa bei.

»Den Russen muss viel an deinem Besuch in Moskau liegen«, sagte Doerinck. Er blickte hinüber zu Ljudmila; sie hatte die Formulare auf dem Schoß liegen, ihre Lippen bewegten sich lautlos, sie las die Fragen auf Russisch. Ein glückliches Leuchten war in ihren Augen und lag über ihrem Gesicht. Nun ist sie fast sechsunddreißig Jahre meine Frau, dachte er. Deutschland ist ihr Zuhause geworden, aber es wurde ihr nie Heimat. Immer wird Russland ihre Heimat bleiben, wie das Leben auch laufen mag. Es gibt keinen Russen, der außerhalb Russlands ohne sein Heimweh auskommt … »Jetzt wollen wir mal sehen, wie lange die für ein Visum brauchen.«

Es ging sehr schnell. Fast postwendend kamen die Pässe mit dem Einlegevisum zurück. Mit schönen Stempeln – eine der stillen Wonnen der Russen. Ein Papier mit vielen Stempeln kann bei ihnen wahres Entzücken auslösen. Wenn wir Deutschen glauben, einsame Spitze in der Bürokratie zu sein, so irren wir uns genauso wie die Italiener, die in dem Wahn leben, das beste Eis der Welt zu fabrizieren. Für die sowjetische Bürokratie muss ein Superlativ erst noch erfunden werden, und das beste Eis der Welt gibt es nun einmal in Russland. Diese Säulen der Wahrheit hätte nicht einmal ein Samson brechen können.

»In sechs Tagen geht es los!«, sagte Doerinck und schwenkte die Flugtickets, die man mitgeschickt hatte. »Ab Frankfurt mit der Aeroflot! Nun komme ich doch noch nach Moskau. Damals blieben wir kurz vor der Stadt im Schnee stecken, in viel zu dünnen Mänteln, und der Eissturm warf uns um …«

»Das würde ich in Moskau tunlichst nicht laut verkünden«, sagte Dr. Roemer sarkastisch. »Die russische Seele ist sehr empfindsam.«

»Die wissen an der Botschaft längst, dass ich Oberleutnant war und wer Ljudmila ist. Sie wissen, dass ihr Vater Dr. Assanurian in der Verbannung von einem eifersüchtigen Ehemann ermordet wurde, dass auch er magische Kräfte einsetzte, die jetzt in Corinna wiederkehren. Genau das wollen sie bestätigt sehen, und deshalb die Einladung. Man will die Vererbung bio-plasmatischer Feldenergie beweisen und damit das Unsterbliche im Menschen.« Er atmete tief durch, griff nach einem Glas Weinbrand und stürzte ihn hinunter. »Du lieber Himmel, in was werden wir da hineinkommen!«

Um Urlaub vom Schuldienst brauchte Doerinck nicht nachzusuchen, denn er war bereits beurlaubt. Der Boykott eines Teils der Eltern seiner Schüler hatte bei den vorsichtigen Schulbehörden, die jeden Skandal vermeiden wollten, Erfolg gehabt. Schulrat Franziskus Hollenbock hatte nach Absicherung durch die Regierung schweren Herzens – wie er betonte – die Beurlaubung ausgesprochen, und Rektor Ferdinand Hupp hatte drei Tage lang mit wehem Herzen und noch mehr Schiss in der Hose zugesehen, wie Doerinck trotzdem jeden Morgen in die Schule kam und seinen Platz in der Klasse einnahm. »Deine Sturheit bringt dich noch um!«, hatte er gestöhnt. »Stefan, sei doch froh! Volles Gehalt für nichts! Davon träumen andere …«

»Ich bin weder ein Schnorrer noch ein Almosenempfänger!«, hatte Doerinck finster entgegnet. »Mein Geld verdiene ich ehrlich!«

Aber am vierten Tag gab er auf. Er sah die Sinnlosigkeit seiner hartnäckigen Weigerung ein, aber er wollte nicht kampflos den Rückzug antreten. Er verabschiedete sich von seiner Klasse, als käme er nie wieder, und die Kinder sangen zum Abschied sehr sinnig das Lied: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt.«

Doerinck war den Tränen nahe gewesen, als er das Schulhaus verließ. Nach sechsundzwanzig Jahren treuer Pflichterfüllung.

»Das wär’s nun«, sagte er zu Ljudmila, setzte sich in seinen Sessel, seinen Stammplatz, und streckte die Beine von sich. »Ein alter Hund kann sich auf der Ofenbank zusammenrollen.«

Da half es an diesem Tag auch nicht, dass Ljudmila ihm eine Romowaja Baba buk, einen mit Rumsirup getränkten Hefekuchen. Doerinck rührte ihn nicht an. Dafür fraßen ihn Roemer und Dr. Hambach bis zum letzten Krümel auf.

Und nun waren sie über das sonnendurchtränkte Moskau geflogen, sahen unter sich die dunklen Wälder von Scheremetjewo und setzten zur Landung an. In dem Augenblick, als die Räder des Flugzeuges russischen Boden berührten, bekreuzigte sich Ljudmila, wie es auch ihre Mutter getan hatte. »Der Herr sei mit uns!«, sagte sie leise und auf Russisch. »Maria, Mutter Gottes, beschütze uns.«

Der Rückstau der Düsen ließ das Flugzeug erzittern, an den Fenstern tauchten die Flughafengebäude auf, die riesigen Namenslettern, die modernen, weitläufigen Bauten, stolz und imposant.

Sie waren in Moskau.

Wenn sie geglaubt hatten, in die Mühlen der sowjetischen Bürokratie zu geraten, wurden sie jetzt belehrt, dass es auch in der UdSSR »planmäßige Ausnahmen« gab.

Während alle anderen Passagiere zu der Passkontrolle drängten, empfingen zwei breit lächelnde Herren in hellgrauen Anzügen Corinna und ihre Begleitung noch vor der Sperre, hinter der sowjetisches Leben begann. Etwas seitlich von ihnen stand ein Offizier der Miliz herum und tat sehr uninteressiert, aber es war klar, dass man ihn dazu abgestellt hatte, die Ankömmlinge aus Deutschland mit dem Sonderstatus zu begutachten.

»Dr. Latischew … Dr. Boganorow …«, stellten sich die beiden Herren vor, verbeugten sich artig und gaben Corinna und Ljudmila die Hand. Doerinck, Herbert und Dr. Hambach nickten sie lediglich zu. »Willkommen in Moskau. Hatten Sie einen guten Flug? Welch ein Wetter haben Sie mitgebracht. Bis gestern hat es noch geregnet! Das ist ein gutes Zeichen: Die Sonne kommt mit Ihnen nach Moskau …«

Die üblichen Floskeln, gesprochen in einem beinahe akzentfreien Deutsch. Fast war das ein wenig enttäuschend. Aber dann sagte Dr. Latischew etwas, was Doerinck wieder versöhnte: »Wir brauchen uns nicht anzustellen wegen der Pässe; wir haben einen besonderen Weg. Unendlich lang würde das dauern, einschließlich der Zollformalitäten. Ihr Gepäck ist in Frankfurt schon gekennzeichnet worden; es wird sofort aussortiert und kommt zu uns. Darf ich Sie einladen zu einem Begrüßungstrank? Die dams vielleicht zu einem Krimskoje, die gospodá zu einem Wodka?«

»Das ist eine blendende Idee«, sagte Dr. Hambach. Marius Herbert rollte mit den Augen. Wenn das hier so weitergeht, überlebe ich Russland nicht, dachte er. Mein Magen ist ein Feuerofen. Und im Hirn kreisen Nebel.

»Wir haben einen schönen Raum für unsere Gäste«, sagte Dr. Boganorow und kreuzte einen Blick mit dem an der Wand stehenden Milizoffizier. Der Uniformierte kratzte sich die Nase, schien zufrieden zu sein und schlenderte davon. »Darf ich bitten?«

Der separate Raum neben der Passkontrolle war klein, mit biederen Polstermöbeln ausgestattet, zum Flugfeld hin dick verglast und hatte als Ausgang nur eine Tür, die sich öffnete, wenn man auf einen Klingelknopf drückte. Auch Ehrengästen schien man hier nicht ganz zu trauen. Dr. Boganorow bot die Sessel an, setzte sich zwischen Corinna und Ljudmila und sprudelte nur so vor Freundlichkeit. Dr. Latischew verteilte die Getränke, die eine hübsche Stewardess der Aeroflot ins Zimmer brachte, auf einem schönen Lacktablett, das eine russische Landschaft zeigte. Als Marius in dem niedrigen Wasserglas den Wodka roch, wurde ihm wieder übel.

»Professor Neroschenko ist sehr gespannt auf Sie«, sagte Dr. Boganorow und prostete Corinna und Ljudmila mit dem Champagnerglas Krimsekt zu. »Was wir bisher gehört und gelesen haben … erstaunlich, wirklich erstaunlich. Haben Sie schon von unserer Dschuna Davitaschwili gehört?«

»Man hat in Deutschland viel über sie geschrieben.«

»Auch sie stammt aus dem Kaukasus, wie Sie, Ljudmila Davidowna. Dschuna kommt aus dem Dorf Kuban. Die Leute im Dorf, die zu dem damaligen Kind kamen, um sich ihr Ischias oder Magengeschwüre behandeln zu lassen, nannten sie ›die Kinderhexe« Schon da, als Kind, richtete sie ihre Handflächen auf die kranken Körperteile und spürte, dass eine Besserung eintrat. Wie bei Ihnen, Corinna!« Dr. Boganorow trank einen langen Schluck. Neben ihm hustete Marius in sein Wodkaglas; noch eins, und ich liege flach, dachte er verzweifelt… »Welche Gemeinsamkeiten mit unserer Dschuna! Hören Sie nur: Als sie vierzehn war, zogen die Davitaschwilis in die grusinische Hauptstadt Tiflis. Dschuna wurde erst Filmvorführerin, dann Kellnerin, weil sie so normal sein wollte wie alle Mädchen. Aber ihre Gabe, mit den Händen zu heilen, ließ sich nicht unterdrücken. Sie wurde Krankengymnastin und nahm eine Stelle an der Poliklinik in Tiflis an. Ein einflussreicher Genosse holte sie dann nach Moskau. Hier begann es. Von hier aus verbreitete sich ihr Ruhm über die ganze Welt.«

»Man behauptet bei uns, dass es der einflussreiche Genosse Breschnew selbst war«, sagte Stefan Doerinck. »Dschuna soll ihn behandelt und seine Leiden sehr gebessert haben …«

»Kapitalistische Propaganda!« Dr. Latischew winkte ab. »Was man so redet im Westen! Dschuna ist heute eine anerkannte Therapeutin. Sie behandelt privat, in Arztpraxen und in Krankenhäusern. Sie hat eine Lizenz, ihre Liste der Heilungen ist sensationell, und man spricht darüber. Wer kennt bei uns Dschuna nicht!«

»Glückliches Russland!«, sagte Dr. Hambach. »Bei uns in Deutschland entfesselt man eine Hexenjagd gegen jeden, der es wagt, der Schulmedizin zu widersprechen. Corinnas unerbittlichste Gegner sind die Ärzte.«

»Da ist es bei uns anders.« Dr. Boganorow prostete Corinna wieder zu. »Als Dschunas Ruf, eine Wunderheilerin zu sein, sich wie ein Steppenbrand über Russland verbreitete, waren es gerade die Spitzen unserer medizinischen Wissenschaft, die sich mit Begeisterung dieses Phänomens annahmen. Alles, was es an wissenschaftlichen Möglichkeiten gab, Dschunas Gabe zu ergründen und zu durchleuchten, wurde eingesetzt. Das Institut für Physiologie, die biologische Forschungsgruppe von Professor Alexander Gurwitsch, das Institut unseres berühmten Professors Venyamin Puschkin, die Plasmafeld-Forscher Injuschin und Grischenko aus Alma-Ata, die Gruppe um Professor Naumow, Leiter des Kongresses für parapsychologische Forschung in Moskau – alle diese Institutionen und Persönlichkeiten haben Dschuna im Laufe der Jahre getestet. Das Ergebnis: Dschunas Heilkraft ist offiziell anerkannt!«

»Ich wiederhole: glückliches Russland!«, rief Dr. Hambach. »Das absolut akademische Denken gibt es anscheinend nur in Deutschland.«

»Nun soll das gleiche mit Ihnen geschehen, Corinna Stefanowna«, sagte Dr. Latischew. Es war das erste Mal, dass er Corinna in der russischen Art mit Vatersnamen anredete. Doerinck fand, es klinge sehr gut. »Professor Neroschenko wird die besten Wissenschaftler um sich versammeln und Ihre Heilgabe untersuchen. Seien Sie nicht zu stolz, wenn ich Ihnen jetzt sage: Sie müssten nach dem, was wir gehört haben, unsere Dschuna noch übertreffen.«

»Ich bin nicht stolz.« Corinna schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja selbst nicht, wie und warum das alles so in mir ist. Ich fühle die Krankheiten, meine Fingerspitzen ›sehen‹ sie, und die unerklärlichen Strahlen aus meinen Händen zerstören die kranken Zellen und stellen das Gleichgewicht im Körper wieder her.«

»So ist es.« Dr. Boganorow goss die Gläser noch einmal voll. »Wir haben Sie eingeladen, Corinna Stefanowna, um das alles zu erklären. Der ganzen übrigen ungläubigen Welt zu erklären. Genosse Professor Neroschenko wird es Ihnen sagen: Wir leben in einem Zeitalter des völligen geistigen Umbruchs. Alles, was wir bisher wussten, ist nur Stückwerk. Im menschlichen Geist liegen so große Möglichkeiten, wie sie sich kein utopischer Schriftsteller ausdenken kann. Die Wirklichkeit übertrifft alles! Wir haben die Tür einen Spalt weit aufgestoßen, hinter der das Universum und die Unsterblichkeit greifbar sind. Die Dimensionen weiten sich. Die Einsteinsche Theorie wird zum Einmaleins. Die Zeit, die schon Einstein als relativ entlarvte, wird zum Spielball. Könnte der Mensch sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, blieben seine Uhren stehen, und er würde nicht älter. Bewegte er sich schneller als das Licht, würde sich die Zeit zurückdrehen. Es wäre der sechsdimensionale Raum! Der Mensch als körperliches Wesen wird das nie können – aber sein Geist! Sein Kraftfeld! Wir stehen vor der Erkenntnis und dem Beweis der Unsterblichkeit! Und dazu brauchen wir auch Sie, Corinna … als kleines Mosaiksteinchen im neuen Weltbild.«

»Das hört sich ungeheuerlich an!«, sagte Doerinck gefesselt. »Verzeihen Sie mir, wenn ich daran nicht glaube. Das ist zu fantastisch.«

»Wie sollte man Ihnen das übelnehmen?« Dr. Boganorow lächelte breit. »Es ist unsere normale menschliche Dimension der Wirklichkeit. Nur wenige Persönlichkeiten gibt es, die andere Dimensionen entdeckt und begriffen haben. Einer von ihnen ist Professor Neroschenko.«

Nach knapp zwanzig Minuten waren alle Formalitäten erledigt. Die Pässe kamen zurück, ein Milizionär brachte sie in den Gästeraum. Die Koffer, so meldete man, stünden bereits draußen am Auto der Genossen, selbstverständlich bewacht von einem Aeroflot-Angestellten. Auch in Russland kann man einen Koffer nicht einfach herumstehen lassen, vor allem dann nicht, wenn es schöne, aufreizende Lederkoffer aus dem Westen sind.

»Sie wohnen im Hotel Metropol«, sagte Dr. Latischew und half Ljudmila aus dem Sessel, obwohl sie sich mit jugendlichem Schwung erhob. »Auf dem Prospekt Marksa, im Herzen von Moskau, gegenüber vom Bolschoi-Theater, mit Blick auf den Kreml, und –«, Dr. Latischew blinzelte Dr. Hambach und Doerinck an, »– mit dem berühmten Restaurant Metropol im Haus. Sie werden sehr zufrieden sein.«

Die Fahrt von Scheremetjewo nach Moskau über die breite Straße – zuerst Wald, dann auseinandergezogene Siedlungen, in Baumgruppen versteckte Datschas, vorbei an dem Denkmal, das den äußersten Punkt markiert, an dem deutsche Truppen vor Moskau standen – verlief erstaunlich schnell in den bequemen Wolga-Limousinen mit den speziellen Nummernschildern, an denen jeder Milizionär erkennen konnte, dass hier Privilegierte fuhren.

Dr. Boganorow und Dr. Latischew erklärten die Route. Man hielt an dem Denkmal des deutschen Überfalls kurz an. Doerinck hütete sich zu erklären, dass er etwas südlicher von dieser Stelle in einem Erdloch gelegen hatte, ohne die Hoffnung, diesen mörderischen Winter jemals zu überleben. Hier hatte er gesehen, wie seinen Kameraden die erfrorenen Gliedmaßen abbrachen, als seien sie aus Glas. Und hier war ihm auch zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass Russland nie zu besiegen sei.

Im Sonnenglanz tauchten die Türme Moskaus auf. Die Wagen überquerten das riesige Autobahnkreuz bei Aloskino und fuhren über die breite Leningradskoje Chaussee, den Leningradski-Prospekt und die Gorkowo Uliza in die Stadt. Es war ein überwältigender Anblick. Ljudmila, die neben Stefan saß, tastete wieder nach seiner Hand und hielt sie fest.

Moskau, das Herz von Mütterchen Heimat. Dass die alten Augen noch so etwas sehen durften!