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Der Ablauf des militärischen Geschehens entspricht
der geschichtlichen Wahrheit.
Die Namen der handelnden Personen sind frei erfunden.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012

© 2018 Edition Förg, Rosenheim
www.rosenheimer.com

Titelbild: © Bundesarchiv, Bild 146-1971-052-87
Lektorat: Gisela Faller, Stuttgart
Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
Datenkonvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

E-Book ISBN 978-3-933-70883-0 (epub)

Im Gedenken an meinen Freund Hans Klinger, der seine Jugendjahre sinnlos einer wahnwitzigen und unmenschlichen Diktatur opfern musste.

Inhalt

Vorwort

»Und eine Furcht kommt uns, wir sind zu weit gefahren, als dass wir je die Heimat wiedersehen« – welcher Satz könnte den Gemütszustand der deutschen Soldaten in den letzten Kriegsmonaten 1944/45 besser beschreiben als dieser von Bertolt Brecht? Angst um die Familie – der Luftkrieg hatte längst auch die kleinsten Städte erreicht –, Angst ums eigene Leben, Angst vor der drohenden Niederlage und einer ungewissen Zukunft – besonders in der letzten und gleichzeitig blutigsten Phase des Zweiten Weltkrieges waren die deutschen Soldaten einer schier unmenschlichen Last ausgesetzt. Das Ende vor Augen, wusste keiner von ihnen, was der nächste Tag bringen würde. Der Autor hat sich in den vergangenen Jahren mit zahlreichen ehemaligen Kriegsteilnehmern aus dem Süden Bayerns getroffen. Über die Jahre entstanden viele Freundschaften. In langen Gesprächen legten die damaligen Soldaten ihre ganz persönlichen Erlebnisse zum Ende des Krieges dar, stellten Tagebucheintragungen und Manuskripte zur Verfügung. Aus ihnen entstanden zehn ganz unterschiedliche Geschichten, die dem Leser das Grauen am Ende des Zweiten Weltkriegs nahebringen sollen.

Sommernacht

Peter Stuffer, Ruhpolding, Obergefreiter Ostfront, Heeresgruppe Süd

Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Wir liegen seit Tagen an diesem Flussufer. Die Gesichter braungebrannt, Staub zwischen den Zähnen. Franz Schenkenbach, wir nennen ihn den »Stockpreußen«, weil er kein Wort Bayerisch spricht und unsere Witze nicht versteht, der kleine Hans Reichl aus Raubling im Inntal, Georg »Schorsch« Kramer aus Hundham im Oberland, den wir wegen seiner Nickelbrille den Professor nennen, Gerd Ziefer, ein Baum von einem Mann. Dazu noch Auer, Unterhuber, Loferer, Meitinger, Bader, Rampfl, Baier, 120 andere. Und ich. Es gibt viel zu essen, und manchmal dösen wir schwer vom Dosenfutter über die Mittagsstunden die größte Hitze einfach weg. Die Wasserflasche in der Hand schlafen wir im Sitzen, Stehen und manchmal sogar im Gehen ein. Wie der kleine Reichl-Hans, der sich auf Wache an einen Baum lehnt, das Gewehr über die Schulter, den Helm tief ins Gesicht gerückt. Sein Nickerchen knickt ihm für eine Sekunde die Beine. Eingeschlafen am helllichten Tag. Die Mündung seines Karabiners durchbohrt die Oberlippe und trifft auf die vorderen Schneidezähne. Der erste Verwundete unsere Kompanie am Ufer des Bug. Nach zwei Tagen ist sein Gebiss wieder hergestellt, er liegt bei uns im Graben. Pech für ihn, wie wir später erfahren müssen.

Der Bug. Wir sehen ihn von unserer Stellung aus. Unser Ufer ist leicht erhöht. Trotz der sengenden Sonne und des nahen Flusses gibt es für uns Badeverbot. »Wir sind hier nicht auf einem Vergnügungsdampfer«, sagt der Feldwebel. Wir denken, es ist wegen der militärischen Disziplin und weil der Feldwebel, er heißt Hemmberger und ist aus Schwaben, keinen Spaß versteht. Doch eigentlich, das erfahren wir erst später, ist es wegen des Lärms. Lärm ist das, was wir am wenigsten brauchen. Drüben liegt der Russe – eigentlich unser Freund. Unsere Kompanie ist damals durch Polen marschiert, dass es eine wahre Freude war. Wir hatten kaum Feindberührung, sahen immer nur die Staubwolken des polnischen Rückzugs und trafen hier am Bug auf unseren Verbündeten, den Iwan. Das ist fast zwei Jahre her, dazwischen lag für uns noch der Frankreich-Feldzug, bei dem wir viel marschiert sind, aber zum Glück wenig kämpfen mussten.

Von unserem heutigen Verbündeten, dem Russen, sehen wir gerade nichts. Dafür bekommen wir jeden Morgen und Abend ungebetene Gäste vom Wasser herauf. Schwärme von Mücken surren um uns herum. Wir werden dieses leise hohe Brummen in ganz anderem Zusammenhang noch fürchten lernen. Unsere Köpfe sind leer und hohl. Wir erzählen uns Geschichten von daheim, lachen und frotzeln uns gegenseitig. Die Fotos unserer Liebsten sind uns ein Halt. Es könnte wie im Urlaub sein, wären da nicht offene Fragen, die uns martern, uns seit Tagen nicht ruhig schlafen lassen. Wohin geht es? Das ist die wichtigste unter diesen Fragen. »Der Russe lässt uns durchfahren bis Persien, dann kommen wir beim Tommy durch die Hintertür«, sagt Schenkenbach und lacht. Nicht wenige von uns glauben, dass uns unser Verbündeter nach Afrika ziehen lässt, wo Rommel mit seinem Afrika-Korps den Engländern gerade alles abverlangt. Zumindest die Hoffnung auf diese Möglichkeit wollen wir nicht sterben lassen. Oder hat Stalin seinem Verbündeten Hitler die Ukraine verkauft? Was soll es denn sonst sein, das uns bevorsteht? Gegen die Russen ziehen? Viele unsere Generäle kommen aus dem Ersten Weltkrieg. Die werden doch nicht so dumm sein und nochmals einen Zweifrontenkrieg beginnen, denken wir. England ist noch lange nicht am Ende, auch wenn unsere Luftwaffe der Insel zurzeit mächtig zusetzt. Wie blutig die Vergeltung dafür sein wird, wissen wir an diesem 21. Juni 1941 am Steilufer des Bugs nicht.

Der Nachmittag ist unerträglich heiß. Wir bekommen überraschenderweise Sonderverpflegung. Eine Flasche Schnaps für vier Leute, Zigaretten. Marschverpflegung für drei Tage. Marschieren? Wohin? Dass wir nur ein grauer Haufen von Figuren auf einem riesigen Schachbrett sind, die das Schicksal an diesen Fluss gewürfelt hat und bald schon hart prüfen wird, ahnen wir nicht. Unsere Koordinaten lauten: 2. Kompanie, Gebirgsjäger-Regiment 98. Von Lenggries hatte das Schicksal uns über Dukla in Polen an die Loire, zurück zur Schweizer Grenze und jetzt schließlich wieder nach Polen an den Bug geworfen. Und hier warten wir.

Bis die Nacht hereinbricht, dösen die meisten von uns immer vor sich hin. Doch heute ist etwas anders als die letzten Tage. Unser Leutnant, Sepp Kerner, ein munterer, hoch aufgeschossener Mensch aus Mittenwald, hat uns mittags schon vielsagend verkündet: »Da ist was im Busch.« Und tatsächlich sind die höheren Offiziere, die wir sonst kaum zu Gesicht bekommen, heute direkt am Flussufer in dicken Schwärmen vertreten. Sie stecken die Köpfe zusammen. Geheimniskrämerei. In ein paar Stunden werden wir wissen, was die Stunde geschlagen hat. Bis dahin rät uns unser Feldwebel, uns aufs Ohr zu hauen. Doch an Schlaf ist heute noch weniger zu denken als in den kurzen, heißen Nächten davor. Gegen Mitternacht rollen Lkws aus dem rückwärtigen Raum an unser Lager heran. In der mondhellen Nacht erkennen wir die großen Gummiboote auf ihren Rücken. Eine Pionierabteilung. Schön langsam brauchen wir nicht mehr viel Phantasie, um uns auszumalen, was da passieren soll. Unsere Gedanken schweifen nach Hause. Bedrückte Stimmung macht sich breit. Obwohl alle längst wach sind, wagt kaum einer einen Ton zu sagen. Nur wenig Flüstern ist zu hören, bis unsere Gruppenführer uns leise aus den Feldlagern scheuchen. Drei Uhr, das Ende der Geheimniskrämerei. Unser Zugführer Kerner steht vor uns auf einer kleinen Lichtung mitten im nachtfinsteren Wald, eine Taschenlampe baumelt an seiner Brust. Weißes Licht. Wenn es grün wird, ist es für die Welt zu spät. Kerner verliest die Proklamation, die uns ins Verderben stürzen wird. »Soldaten der Ostfront …«

Ostfront? Uns gefriert trotz der schwülen Hitze das Blut in den Adern.

»Soldaten der Ostfront! In diesem Augenblick vollzieht sich ein Aufmarsch, der in Ausdehnung und Umfang der größte ist, den die Welt bisher gesehen hat. Im Verein mit finnischen Kameraden stehen die Kämpfer des Siegers von Narvik am Nördlichen Eismeer. Deutsche Divisionen unter dem Befehl des Eroberers von Norwegen schützen gemeinsam mit den finnischen Freiheitshelden unter ihrem Marschall den finnischen Boden. Von Ostpreußen bis zu den Karpaten reichen die Formationen der deutschen Ostfront. An den Ufern des Pruth, am Unterlauf der Donau bis zu den Gestaden des Schwarzen Meeres vereinen sich unter dem Staatschef Antonescu deutsche und rumänische Soldaten. Die Aufgabe dieser Front ist daher nicht mehr der Schutz einzelner Länder, sondern die Sicherung Europas und damit die Rettung aller. Soldaten der Ostfront, zu diesem Schutz seid ihr heute angetreten.«

Also doch zwei Fronten. In der nächsten Stunde werden wir mit unseren Pionieren über den Bug setzen. Schon hören wir Flugzeuge in Richtung Osten fliegen, große Schwärme. Das Brummen über unseren Köpfen wird stundenlang nicht enden. Wir ahnen in dieser Weltsekunde die Abschüsse unserer Artillerie, die in wenigen Minuten tödliches Eisen durch den Nachthimmel speien wird. Das Licht der Taschenlampe an der Brust unseres Zugführers springt um – von Weiß auf Grün. Das Zeichen für uns, in die Boote zu springen. In diesem Augenblick tut der Krieg seinen ersten Schrei, der Friede seinen letzten Atemzug. Der Überfall auf die Sowjetunion beginnt.

Dreieinhalb Jahre später gibt es mein Regiment praktisch nicht mehr. Die meisten meiner Kameraden der ersten Stunde sind längst tot. Wir hatten das Pech, gleich in den ersten Tagen des Krieges noch im Grenzgebiet in schwerste Kämpfe verwickelt zu werden. Kein Hurra-Marschieren mehr, kein Spaziergang wie gegen Polen. Der Russe ist ein anderes Kaliber. Wir schmecken den Krieg vom ersten Tag an auf den Lippen. Schon in der Nacht des Überfalls haben wir die ersten Toten und über 30 Verwundete. Und so wird es weitergehen, fast jeden Tag, bis zum Untergang unserer Welt.

Ich habe Reichl sterben sehen, als er sich auf eine Handgranate warf, die einer der Ersatzleute, die wir allesamt nicht mochten, versehentlich in den Graben rollen ließ. Reichl sah als Erster das Unheil, warf sich mit seinem Körper auf die Granate, die fast im gleichen Augenblick explodierte. Sein Brustkorb hob sich nur leicht an, dann streckte er alle Glieder von sich. Reichl war sofort tot. Es war das erste Mal, dass ich einen Kameraden nicht begraben konnte, weil der Russe uns dazu keine Zeit ließ. Mit Reichls Körper hatte es mir die Seele zerrissen, und ich musste zum allerersten Mal lauthals weinen. Das war vor zwei Jahren beim Kampf um den Gipfel des Ssemanschcho am Schwarzen Meer. Ich sehe den toten Reichl, dessen Körper uns das Leben gerettet hat, fast jede Nacht vor mir.

Besonders schlimm traf es auch den Professor, den Kramer-Schorsch. Es ist noch nicht lange her. Südlich von Belgrad wird unser Regiment von den Russen eingekesselt. Wir liegen in einem kleinen Wäldchen in Schützenlöchern, tief eingegraben. Zum Glück hatten wir ein paar Stunden dafür Zeit, ehe der Russe mit allem, was er hatte, auf unsere Linien einzuhämmern begann. Der Iwan schießt mit Sprenggranaten, die ein, zwei Meter über dem Erdboden explodieren und eine furchtbare Splitterwirkung haben. Die Granaten zerlegen das Wäldchen zu Kleinholz. Splitter surren über unsere Köpfe. Ein paar Meter neben mir höre ich ein lautes Krachen, das mir das rechte Trommelfell zerplatzen lässt. Ich renne zur Einschlagstelle hinüber. Dort liegt, an einen Baum geschleudert, ein Bündel Mensch, zur Unkenntlichkeit zerrissen. Als ich nachfrage, wer der Tote ist, stellt sich schnell heraus, dass es der Oberjäger Langhans ist. Auch auf ihn warten eine Mutter, eine Braut. Er war verlobt. Ich habe keine Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen. Immer noch kracht es wie wild über uns. Feuerschlag auf Feuerschlag geht auf unsere Stellung nieder. Zum Rennen ist es jetzt zu spät. Zwischen den Granateinschlägen höre ich am anderen Ende des Wäldchens Hilferufe und Jammern. Ich kenne die Stimme: der Professor. Als das Feuer etwas nachlässt bewege ich mich vorsichtig in die Richtung; aus der ich immer noch die Schreie höre. Das Schützenloch, in dem der Professor und der »Huber acht« (die Huber und Meier werden bei uns durchnummeriert) liegen, ist ein einziger Granattrichter. Beide hat es arg erwischt, die Granate hat Huber die Beine abgerissen. Als ich den Huber anspreche, reagiert er nicht mehr. Er war ein stämmiger Mann, zuverlässig und ruhig. Ich habe ihn gerne gemocht. Ich streiche ihm über die Hände. Er wird ruhiger, macht noch einen Atemzug, dann rührt er sich nicht mehr. Einen Schritt daneben liegt unser Professor, der Kramer-Schorsch. Seine Nickelbrille sehe ich nicht mehr, die hat ihm der Luftdruck der Granate weggeblasen. Trotz der einbrechenden Dunkelheit sehe ich, dass ihm die Granate den ganzen Unterleib aufgerissen hat. Er lebt noch, stammelt unverständliche Worte und zerrt am Riemen seines Rucksacks. Ich helfe ihm heraus und lege ihn flach auf den Boden. Ich streiche ihm über den Unterarm. Der Professor merkt, dass sich jemand um ihn kümmert, wird ruhiger. Als ich ihn noch einmal anspreche, reagiert er nicht mehr. Vorsichtig breche ich bei beiden die Erkennungsmarke entzwei, rasch gehe ich weg. Das wird eine schwere Nacht. Der Russe lässt nicht locker. Und das ist gut so, sonst müsste ich denken.

Warum ich gerade jetzt beim Reichl und beim Kramer bin, ist mir schleierhaft. Vielleicht, weil es für mich so einschneidende Erlebnisse waren. Der Tod auf dem Feld ist oft ein anonymer Tod. Viele unserer Kameraden mussten wir einfach liegen lassen. Besonders im Winter, wenn der Boden zu hart war für die Spaten. Schnee und Eis sind ein unruhiges Grab, das Tauwetter im Frühjahr gibt die Leichen wieder frei. Die schaurigsten Monate im Osten sind der April und der Mai, denke ich mir und freue mich, dass ich jetzt so nah an der Heimat bin und nicht über Leichen gehen muss.

Reichl und Kramer sind längst Vergangenheit. Und den Rest meiner Kompanie, meines Zuges, meiner Gruppe von damals am Bug habe ich lange nicht gesehen. Immer wieder hatte ich in den letzten Monaten das Pech, aus der Ausbildung, aus dem Genesungsurlaub heraus oder mitten aus dem Kämpfen bei verschiedensten Einheiten zu landen. Das ist bitter, weil die eigenen Kameraden, die Soldaten, die man kennt, einem Halt geben. In fremden Einheiten, fühlt man sich hilflos, bis zum ersten Feuerhagel, bis sich einer auf einen verlassen hat und weiß, dass er sich verlassen kann. Ich habe Soldaten gesehen, die daran zerbrochen sind, weil sie nach einem Urlaub oder einer Verwundung nicht mehr zurück zu ihrem Haufen kamen. Gerade in den letzten Monaten ist das immer häufiger der Fall. Und mir geht es nicht anders. Ich kann nicht einmal genau beschreiben, wie ich hierher in die Nähe von Posen gekommen bin. Seit Tagen marschiere ich jetzt mit diesem Haufen, der nicht meiner ist, im Eiltempo in Richtung Westen. Die Ostfront ist keine mehr. Unser Marsch gleicht einer Flucht. Zum Glück haben wir einen prima Hauptmann, einen Rheinländer, der unsere Alarmeinheit führt, einen Haufen von 40 Mann. Leider weiß ich seinen Namen nicht mehr. Immer, wenn wir dem nachdrängenden Russen Widerstand leisten, sorgt er umsichtig dafür, dass wir eine anständige Stellung beziehen, uns eingraben, mit unseren wenigen Waffen eine möglichst große Feuerkraft entwickeln können. Dass wir dabei immer nur die Spitzen der russischen Verbände ein bisschen bremsen, weiß der Hauptmann so gut wie wir.

Heute Morgen ist es wieder soweit, zwischen Posen und Schneidemühl, ich glaube, der Ort heißt Waitze. Jedenfalls liegt er an einer Straßengabelung. Irgendein Regimentskommandeur, der Chef eines Auffangstabes oder ein Bataillonskommandeur befindet diese Straßengabel Ende Januar 1945 für wichtig. Wir drehen uns also um, halten für ein paar Stunden inne und unterbrechen unsere Flucht. Unsere schweren Maschinengewehre, für die wir noch ein paar Hundert Schuss Munition haben, weiß Gott, wo der Hauptmann die organisiert hat, gehen bei zwei Bauernhöfen in Stellung. Der Rest von uns liegt auf einer kleinen Anhöhe. Der Hauptmann bildet, wie er es gelernt hat, Reserven. Vier Mann. Wir müssen beinahe lachen, als er den Vieren befiehlt, sich weiter nach hinten abzusetzen und sich für den »Notfall« bereitzuhalten. »Notfall«? Die ganze Wehrmacht ist ein Notfall. Und was sollen schon diese vier Mann ausrichten, wenn der Russe mit Panzern kommt? Wir haben uns kaum eingegraben, da hören wir schon den Kriegslärm auf uns zurollen. Was wird unser Haufen noch halten können, ohne Panzer, ohne schwere Waffen? Und dann kommen die ersten Kolonnen die Straße herauf auf unsere Weggabelung zu. In letzter Sekunde schreit der Hauptmann: »Das ist nicht der Russe! Nicht schießen!« Und tatsächlich: Auf uns zu wälzt sich ein unbeschreiblicher Treck aus menschlichen Leibern, Ochsen, dürren Pferden und halbverhungerten Rindern zu. Hunderte von Frauen, Greisen und Kindern, auf hölzernen Wagen, zu Fuß, in Lumpen gehüllt und offensichtlich mit ihren letzten Habseligkeiten bepackt. Wägelchen, Kinderwagen und Handkarren sind zu sehen. Frauen tragen ihre schreienden Säuglinge, schwer kranke Kinder liegen auf Pritschen, die von dürren Pferden hinter sich hergezogen werden. Man weiß nicht, wer zuerst sterben wird, das Vieh oder der Mensch. Bei uns hier an dieser gottverdammten Gabelung kommen sie plötzlich alle zusammen, die Flüchtlinge aus Schneidemühl und die aus Posen. Und obwohl wir in den nächsten Stunden mit den Russen rechnen, kriechen wir aus unseren Löchern, geben uns zu erkennen und erhaschen das eine oder andere Lächeln. Unser feldgrauer Haufen mit ein paar Gewehren und einem erfahren wirkenden Hauptmann weckt offenbar ihr Vertrauen. Wir vermitteln ein bisschen Sicherheit. Schnell sorgt der Hauptmann dafür, dass sich die Wagen, Tiere und Menschen an der Weggabelung nicht allzu sehr ineinander verknäulen. Es gibt einen mächtigen Stau, der aber langsam in geordnete Bahnen übergeht. »Riesenmassel heute«, sagt einer meiner neuen Kameraden, den ich noch nicht kenne. »Alles Grau in Grau. Da fliegt der Russe nicht gerne.« Und wir blicken zum Himmel und hoffen, die Sonne möge heute noch lange frei haben.

Schnell kommen wir mit den Leuten vom Flüchtlingstreck ins Gespräch. Sie erzählen uns, wie sie vertrieben wurden. Vor zwei Tagen seien in jeder Ortschaft Parteifunktionäre aufgetaucht und hätten die Bewohner aufgefordert, sich vor den nahenden Russen nach Westen abzusetzen. Vielen blieben keine 24 Stunden, um ihre Habseligkeiten zu packen. Viele Bauern wären lieber auf ihrem Hof geblieben und hätten sich den Russen gestellt, doch SS und Polizei hätten sie zur Flucht gezwungen. Fast alle haben ihr Vieh zurücklassen müssen. Ein paar haben aber doch eine Kuh an ihren Wagen gebunden – frische Milch für unterwegs. Viele der Flüchtlinge waren noch familienweise oder mit der Nachbarschaft zusammen. Auch sterbende oder bereits tote Familienmitglieder wurden nicht zurückgelassen.

Die nächsten Stunden wollen die Kolonnen nicht abreißen. Und irgendwie will der Russe diesen Wurm aus Leibern nicht fressen. Das Artilleriefeuer wird bis zum Abend immer leiser. Flüchtlinge berichten, dass keiner auch nur einen Russen gesehen habe. Als die Dunkelheit hereinbricht und der Treck abreißt, schickt unser Hauptmann einen Spähtrupp Richtung Osten. »Mal schauen, was da los ist.« Als die drei Männer gegen Mitternacht zurückkommen, berichten sie von menschenleeren Dörfern, verlassenen Anwesen, schreienden Tieren in den Ställen und auf den Feldern. Es ist, als sei die Menschheit ausgestorben.

Wir sollten nur mehr ein paar Stunden Ruhe haben. Noch vor Morgengrauen blitzt der Himmel auf. Der Russe beginnt wie immer, wenn er sich fürs Vorwärtsmarschieren entschieden hat, mit einem massiven Artillerieschlag. Wir haben mächtig Glück. Die beiden Bauernhöfe in unserer Nähe und unser Haufen werden nur von ein paar Granatwerfern beharkt, während um uns herum überall die Erde von Stalinorgeln und schwersten Geschossen aufgewühlt wird. Wir wussten, was auf uns zukommen würde, und ich weiß, dass wir den Russen keine zehn Minuten Paroli bieten können. Noch in der Nacht muss ich leider die Unzulänglichkeit unserer Verteidigungslinie kennenlernen. Ich bringe eine warme Suppe, die die Bauern für uns bereitet haben, in jedes Schützenloch, das ich finde. Links und rechts von uns liegen ein paar Infanteristen in ebensolchen Löchern wie wir, links hinter uns ein Haufen Volkssturm, zusammengewürfelte Grüppchen aus alten Männern und Schulbuben. Manche tragen Uniformen der Post oder der Bahn, andere haben über ihre Zivilsachen einfach einen Wehrmachtsmantel geworfen. Einige sind mit alten Jagdflinten ausgerüstet. Das sind also die Wunderwaffen, die uns unsere glorreiche Heeresführung versprochen hatte.

Gleich wird es rundgehen. Die Artillerie hört zu feuern auf, das Granatwerferfeuer wird immer weiter nach vorne verlegt, zielt jetzt schon über unsere Köpfe hinweg. Das sind bei jedem Angriff der Russen die unheimlichsten Minuten. Die Erinnerung daran treibt mir heute noch den Angstschweiß zwischen meine Schulterblätter. Dann sehe ich sie, und mein Atem stockt. Hunderte, nein Tausende Russen rollen mit wildem »Urräh« auf unsere kleine Stellung zu. Unsere MGs halten die ersten Reihen nieder. Doch der ersten Walze folgt die zweite, die dritte. Schon wird die Munition knapp. Unsere beiden schweren Maschinengewehre bekommen Volltreffer durch die russische Pak, die viel Zeit hat, sich einzuschießen. Wir haben nichts zur Gegenwehr. Und jetzt ist der Russe auch bei unseren Löchern, links von uns, rechts von uns, wir werden einfach überrollt. Als ich mit meiner MP auf die Russen schieße, die mir am nächsten sind, spüre ich einen stechenden Schmerz in der Schulter, der so stark ist, das ich fast in Ohnmacht falle und meine Waffe aus den Händen gleiten lasse. Es ist, als würde ein gewaltiger Granatsplitter in meinem Oberarm stecken. Ich blute kaum, aber die Schmerzen sind so unerträglich, dass ich für die nächsten Sekunden das Bewusstsein verliere.

Als ich die Augen öffne, bin ich im Schulhaus von Waitze. Ein Sanitäter steht neben mir, schaut sich meine Wunde an und blickt ein bisschen verloren drein. »Nicht schlimm«, stammelt er, doch ich weiß es besser. Der Splitter einer Phosphorgranate hat sich in mein Fleisch gegraben und brennt leise vor sich hin, immer weiter und immer tiefer, bis zum Knochen. Hoffentlich verliere ich meinen Arm nicht, denke ich, als plötzlich die Russen in der Türe stehen. Uns Verwundete in der Schule behandeln sie ganz ordentlich. Wer kann, muss sich bis auf die Unterhose ausziehen. Die Russen durchsuchen alles genau. Wir bekommen einen Teil unserer Klamotten zurück, die Stiefel und alle Wertsachen behalten sie natürlich. Später kommt ein russischer Arzt und versorgt die Schwerstverwundeten, kümmert sich auch um meine Wunde, weiß offenbar genau, was zu tun ist. Wieder verliere ich für Stunden das Bewusstsein, ehe ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einem russischen Lkw lande. Die Fahrt geht nach Osten. Nach viereinhalb Jahren Krieg liegt noch einmal die gleiche Zeit in Gefangenschaft vor mir. Sibirien. Aber der russische Arzt hat mir meinen Arm gerettet.

Hetzjagd

Hans Klinger, Wasserburg, Zugführer Ostfront, Heeresgruppe Süd

Was wird nur aus uns? Unruhe hat uns erfasst. Wir sind nervös, gereizt. Seit Wochen kämpfen wir gegen einen übermächtigen Gegner, haben blutige Verluste und eilen von Niederlage zu Niederlage. Die Zeichen des Untergangs sind unverkennbar. Seit gestern liegen wir an der Donau nahe Wien. So weit ist es schon gekommen. Mein Kradschützenzug gräbt sich wieder einmal ein, die wenigen Spähwagen, die wir noch haben, stellen wir in einem kleinen Wäldchen ab. Sie sind unser Ein und Alles. Sie halten uns am Leben, sind unsere Versicherung. Nur mit ihnen sind wir in der Lage, uns schnell aus gefährlichen Situationen herauszuziehen. So, wie gerade jetzt. Nervös suche ich mit dem Fernglas ständig das andere Ufer der Donau ab. Dort setzen sich die Iwans gerade fest, nisten sich ein, bringen Werfer und Geschütze in Stellung. Zwei T34 schieben sich langsam tastend Richtung Brücke vor. Schon wieder Panzer. Dabei haben wir vorhin, als wir selbst noch auf der anderen Donauseite waren, etliche von ihnen erledigt. Was hat es genützt? Immer wieder kommen neue nach, als würden sie sich beliebig vermehren, hässlichen Fabeltieren gleich, die alles niederstampfen, die Abwehrstellungen, die Widerstandskraft. Und auch die Kampfmoral zerbricht nach und nach unter ihren mörderischen Ketten. Wie lange werden wir Wien unter solchen Umständen noch halten können, drei Tage oder vier, eine Woche noch? Egal nun, wenn bloß Poldi käme, mein Melder, der aber ist wie vom Erdboden verschluckt, einfach unauffindbar. Ausgerechnet der Poldi. Zugegeben, mein zackigster Melder war er zwar nie, der Österreicher, doch gewiss mein zuverlässigster. Und fröhlich konnte der Poldi sein, so mitreißend fröhlich. »... heut kommen d’Engerl auf Urlaub nach Wean ...«, hat er ständig gesungen, erst gestern noch, denn singen konnte er wie einer aus der Schrammel-Familie. Ja, zum Singen wie zum Spielen hatte er Talent. So mies und verloren konnte die Situation kaum sein: Wenn’s nur irgendwie möglich war, stimmte der Poldi ein Liedchen an. Seltsam nur, dass es stets Wienerlieder waren, Lieder vom Heurigen, Lieder von dieser schönen Stadt. Und der »Schmäh« in seiner Stimme war voller Gemüt, voller Melancholie. Doch jetzt, wo mag er jetzt bloß stecken?